The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri #4 in our series by Johanna Spyri Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the copyright laws for your country before downloading or redistributing this or any other Project Gutenberg eBook. This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Please read the "legal small print," and other information about the eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. 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Johanna Spyri Heidis Lehr- und Wanderjahre Inhalt Zum Alm-Oehi hinauf Beim Grossvater Auf der Weide Bei der Grossmutter Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag Im Hause Sesemann geht's unruhig zu Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehoert hat Eine Grossmama Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab Im Hause Sesemann spukt's Am Sommerabend die Alm hinan Am Sonntag, wenn's laeutet Zum Alm-Oehi hinauf Vom freundlichen Dorfe Maienfeld fuehrt ein Fussweg durch gruene, baumreiche Fluren bis zum Fusse der Hoehen, die von dieser Seite gross und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fussweg anfaengt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kraeftigen Bergkraeutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fussweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf. Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein grosses, kraeftig aussehendes Maedchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand fuehrend, dessen Wangen so gluehend waren, dass sie selbst die sonnverbrannte, voellig braune Haut des Kindes flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der heissen Junisonne so verpackt, als haette es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Maedchen mochte kaum fuenf Jahre zaehlen; was aber seine natuerliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider uebereinander angezogen und drueberhin ein grosses, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine voellig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Naegeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiss und muehsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwaerts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Hoehe der Alm liegt und 'im Doerfli' heisst. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haustuer und einmal vom Wege her, denn das Maedchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Gruesse und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Haeuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tuer: "Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst." Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden. "Bist du muede, Heidi?", fragte die Begleiterin. "Nein, es ist mir heiss", entgegnete das Kind. "Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und grosse Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben", ermunterte die Gefaehrtin. Jetzt trat eine breite gutmuetig aussehende Frau aus der Tuer und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespraech gerieten ueber allerlei Bewohner des 'Doerfli' und vieler umherliegender Behausungen. "Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?", fragte jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene." "Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Oehi, es muss dort bleiben." "Was, beim Alm-Oehi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!" "Das kann er nicht, er ist der Grossvater, er muss etwas tun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grossvater das Seinige tun." "Ja, wenn der waere wie andere Leute, dann schon", bestaetigte die kleine Barbel eifrig; "aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das haelt's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?" "Nach Frankfurt", erklaerte Dete, "da bekomm ich einen extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein." "Ich moechte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender Gebaerde aus. "Es weiss ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuss in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor ihm fuerchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, dass man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet." "Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Grossvater und muss fuer das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu verantworten, nicht ich." "Ich moechte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken laesst. Man sagt allerhand von ihm; du weisst doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?" "Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hoerte, so kaeme ich schoen an!" Aber die Barbel haette schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem Alm-Oehi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm redeten, als fuerchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht fuer ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Doerfli der Alm-Oehi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den saemtlichen Bewohnern sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Oehi, was die Aussprache der Gegend fuer Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Doerfli hinauf verheiratet, vorher hatte sie unten im Praettigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persoenlichkeiten aller Zeiten vom Doerfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Doerfli gebuertig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinuebergezogen, wo sie im grossen Hotel als Zimmermaedchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren koennen, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. - Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darueber hinaus sagen; du weisst, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefuerchtet und ein solcher Menschenhasser war." "Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht praezis wissen, ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wuesste, dass es nachher nicht im ganzen Praettigau herumkaeme, so koennte ich dir schon allerhand erzaehlen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch." "A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt zurueck; "es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Praettigau, und dann kann ich schon etwas fuer mich behalten, wenn es sein muss. Erzaehl mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen." "Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhoere, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich ueberall um. Der Fussweg machte einige Kruemmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Doerfli hinunter uebersehen, es war aber niemand darauf sichtbar. "Jetzt seh ich's", erklaerte die Barbel; "siehst du dort?", und sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die Abhaenge hinauf mit dem Geissenpeter und seinen Geissen. Warum der heut so spaet hinauffaehrt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzaehlen." "Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen", bemerkte die Dete; "es ist nicht dumm fuer seine fuenf Jahre, es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts mehr als seine zwei Geissen und die Almhuette." "Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel. "Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat", entgegnete eifrig die Dete; "eins der schoensten Bauerngueter im Domleschg hat er gehabt. Er war der aeltere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Aeltere wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit boesem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiss kein Mensch wohin, und der Oehi selber, als er nichts mehr hatte als einen boesen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei unter das Militaer gegangen nach Neapel, und dann hoerte man nichts mehr von ihm zwoelf oder fuenfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle Tueren vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze er keinen Fuss mehr, und dann kam er hierher ins Doerfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Buendnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste noch etwas Geld haben, denn er liess den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Doerfli. Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es waere ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natuerlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Grossmutter mit seiner Grossmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Oehi, und da wir fast mit allen Leuten im Doerfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Oehi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hiess er eben nur noch der 'Alm-Oehi'." "Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt die Barbel. "Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erklaerte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Doerfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kraeftig und hatte manchmal so eigene Zustaende gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Oehi verdient habe fuer sein gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Busse tun, aber er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hiess es, der Oehi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pfaefferserdorf in die Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu naehen und flicken verstehe, und frueh im Fruehling kam die Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will; uebermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen." "Und dem Alten da droben willst du nun das Kind uebergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete", sagte die Barbel vorwurfsvoll. "Was meinst du denn?", gab Dete zurueck. "Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst fuenf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?" "Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss", entgegnete die Barbel; "ich habe mit der Geissenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb wohl, Dete, mit Glueck!" Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, waehrend diese der kleinen, dunkelbraunen Almhuette zuging, die einige Schritte seitwaerts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschuetzt war. Die Huette stand auf der halben Hoehe der Alm, vom Doerfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufaellig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefaehrliches Darinwohnen sein musste, wenn der Foehnwind so maechtig ueber die Berge strich, dass alles an der Huette klapperte, Tueren und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Haette die Huette an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie waere unverzueglich ins Tal hinabgeweht worden. Hier wohnte der Geissenpeter, der elfjaehrige Bube, der jeden Morgen unten im Doerfli die Geissen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kraeftigen Kraeuter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfuessigen Tierchen wieder herunter, tat, im Doerfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiss auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Maedchen, denn die friedlichen Geissen waren nicht zu fuerchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geissen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Grossmutter; aber da er immer am Morgen sehr frueh fortmusste und am Abend vom Doerfli spaet heimkam, weil er sich da noch so lange als moeglich mit den Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geissenpeter genannt worden war, weil er in frueheren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfaellen verunglueckt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hiess, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geissenpeterin genannt, und die blinde Grossmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Grossmutter. Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geissen noch nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig hoeher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter uebersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen grosser Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rueckten die Kinder auf einem grossen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Straeuchern und Gebueschen fuer seine Geissen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind muehsam nachgeklettert, in seiner schweren Ruestung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kraefte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Fuessen und leichten Hoeschen ohne alle Muehe hin und her sprang, bald auf die Geissen, die mit den duennen, schlanken Beinchen noch leichter ueber Busch und Stein und steile Abhaenge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden nieder, zog mit grosser Schnelligkeit Schuhe und Struempfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Roeckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhaekeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen ueber das Alltagszeug angezogen, um der Kuerze willen, damit niemand es tragen muesse. Blitzschnell war auch das Alltagsroecklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterroeckchen, die blossen Arme aus den kurzen Hemdaermelchen vergnueglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schoen alles auf ein Haeufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geissen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es zurueckgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zurueck, und wie er unten das Haeuflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fuehlte, fing es ein Gespraech mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geissen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geissen oben bei der Huette an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg und dir neue Struempfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?" Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein. "Du Unglueckstropf!", rief die Base in grosser Aufregung. "Was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?" "Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus ueber seine Tat. "Ach du unglueckseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer sollte nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurueck und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als waerst du am Boden festgenagelt." "Ich bin schon zu spaet", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu ruehren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Haende in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehoert hatte. "Du stehst ja doch nur und reissest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm her, du musst etwas Schoenes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein neues Fuenferchen hin, das glaenzte ihm in die Augen. Ploetzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Saetzen in kurzer Zeit bei dem Haeuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base ruehmen musste und ihm sogleich sein Fuenfrappenstueck ueberreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glaenzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil. "Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Oehi hinauf, du gehst ja auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Huette des Geissenpeter emporragte. Willig uebernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um sein Buendel geschlungen, in der Rechten die Geissenrute schwingend. Das Heidi und die Geissen huepften und sprangen froehlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhoehe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Huette des alten Oehi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugaenglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Huette standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Aesten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch ueber schoene, kraeuterreiche Hoehen, dann in steiniges Gestruepp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan. An die Huette festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Oehi eine Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide Haende auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den anderen ueberholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Guten Abend, Grossvater!" "So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurueck, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Grossvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gestraeuch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Welle stille stand und zusah, was sich da ereigne. "Ich wuensche Euch guten Tag, Oehi", sagte die Dete hinzutretend, "und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jaehrig war, habt Ihr es nie mehr gesehen." "So, was muss das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geissen, du bist nicht zu frueh; nimm meine mit!" Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Oehi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte. "Es muss eben bei Euch bleiben, Oehi", gab die Dete auf seine Frage zurueck. "Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun." "So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. "Und wenn nun das Kind anfaengt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernuenftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?" "Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurueck, "ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Haenden lag, ein einziges Jaehrchen alt, und ich schon fuer mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Naechste am Kind; wenn Ihr's nicht haben koennt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht noetig haben, noch etwas aufzuladen." Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Oehi aufgestanden; er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurueckwich; dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!" Das liess sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Doerfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwaerts wie eine wirksame Dampfkraft. Im Doerfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehoerte und alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Tueren und Fenstern toente: "Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer unwilliger zurueck: "Droben beim Alm-Oehi! Nun, beim Alm-Oehi, ihr hoert's ja!" Sie wurde aber so massleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Troepfli!", und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder und wieder: "Das arme Troepfli!" Die Dete lief, so schnell sie konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hoerte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch uebergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie koenne dann ja eher wieder etwas fuer das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schoenen Verdienst kommen konnte. Beim Grossvater Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Oehi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun grosse Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnueglich um sich, entdeckte den Geissenstall, der an die Huette angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Huette zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Aeste so stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hoerte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Huette herum und kam vorn wieder zum Grossvater zurueck. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Haende auf den Ruecken und betrachtete ihn. Der Grossvater schaute auf. "Was willst du jetzt tun?", fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand. "Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Huette", sagte Heidi. "So komm!", und der Grossvater stand auf und ging voran in die Huette hinein. "Nimm dort dein Buendel Kleider noch mit", befahl er im Hereintreten. "Das brauch ich nicht mehr", erklaerte Heidi. Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen gluehten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten. "Es kann ihm nicht an Verstand fehlen", sagte er halblaut. "Warum brauchst du's nicht mehr?", setzte er laut hinzu. "Ich will am liebsten gehen wie die Geissen, die haben ganz leichte Beinchen." "So, das kannst du, aber hol das Zeug", befahl der Grossvater, "es kommt in den Kasten." Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tuer auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich grossen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Huette. Da stand ein Tisch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Grossvaters Schlaflager, in einer anderen hing der grosse Kessel ueber dem Herd; auf der anderen Seite war eine grosse Tuer in der Wand, die machte der Grossvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Struempfe und Tuecher und auf einem anderen einige Teller und Tassen und Glaeser und auf dem obersten ein rundes Brot und geraeuchertes Fleisch und Kaese, denn in dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Oehi besass und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und stiess sein Zeug hinein, so weit hinter des Grossvaters Kleider als moeglich, damit es nicht so leicht wieder zu finden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: "Wo muss ich schlafen, Grossvater?" "Wo du willst", gab dieser zur Antwort. Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute jedes Plaetzchen aus, wo am schoensten zu schlafen waere. In der Ecke vorueber des Grossvaters Lagerstaette war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab. "Hier will ich schlafen", rief Heidi hinunter, "hier ist's schoen! Komm und sieh einmal, wie schoen es hier ist, Grossvater!" "Weiss schon", toente es von unten herauf. "Ich mache jetzt das Bett!", rief das Kind wieder, indem es oben geschaeftig hin und her fuhr; "aber du musst heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man." "So, so", sagte unten der Grossvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas sein wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch traf. "Das ist recht gemacht", sagte der Grossvater, "jetzt wird das Tuch kommen, aber wart noch" - damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte Boden nicht durchgefuehlt werden konnte -; "so, jetzt komm her damit." Heidi hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber fast nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut, denn durch das feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen. Jetzt breiteten die beiden miteinander das Tuch ueber das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopfte Heidi die Enden eilfertig unter das Lager. Nun sah es recht gut und reinlich aus, und Heidi stellte sich davor und betrachtete es nachdenklich. "Wir haben noch etwas vergessen, Grossvater", sagte es dann. "Was denn?", fragte er. "Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das Leintuch und die Decke hinein." "So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?", sagte der Alte. "Oh, dann ist's gleich, Grossvater", beruhigte Heidi, "dann nimmt man wieder Heu zur Decke", und eilfertig wollte es gleich wieder an den Heustock gehen, aber der Grossvater wehrte es ihm. "Wart einen Augenblick", sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen grossen, schweren, leinenen Sack auf den Boden. "Ist das nicht besser als Heu?", fragte er. Heidi zog aus Leibeskraeften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen, aber die kleinen Haende konnten das schwere Zeug nicht bewaeltigen. Der Grossvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da sah alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor seinem neuen Lager und sagte: "Das ist eine praechtige Decke und das ganze Bett! Jetzt wollt ich, es waere schon Nacht, so koennte ich hineinliegen." "Ich meine, wir koennten erst einmal etwas essen", sagte der Grossvater, "oder was meinst du?" Heidi hatte ueber dem Eifer des Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein grosser Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar nichts bekommen als frueh am Morgen sein Stueck Brot und ein paar Schlucke duennen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise gemacht. So sagte Heidi ganz zustimmend: "Ja, ich mein es auch." "So geh hinunter, wenn wir denn einig sind", sagte der Alte und folgte dem Kind auf dem Fuss nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den grossen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, setzte sich auf den hoelzernen Dreifuss mit dem runden Sitz davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und unten hielt der Alte an einer langen Eisengabel ein grosses Stueck Kaese ueber das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Grossvater mit einem Topf und dem Kaesebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon das runde Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schoen geordnet, denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und wusste, dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde. "So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst", sagte der Grossvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; "aber es fehlt noch etwas auf dem Tisch." Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges Schuesselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten standen zwei Glaeser; augenblicklich kam das Kind zurueck und stellte Schuesselchen und Glas auf den Tisch. "Recht so; du weisst dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?" Auf dem einzigen Stuhl sass der Grossvater selbst. Heidi schoss pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuss zurueck und setzte sich drauf. "Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit unten", sagte der Grossvater; "aber von meinem Stuhl waerst auch zu kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben, so komm!" Damit stand er auf, fuellte das Schuesselchen mit Milch, stellte es auf den Stuhl und rueckte den ganz nah an den Dreifuss hin, so dass das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Grossvater legte ein grosses Stueck Brot und ein Stueck von dem goldenen Kaese darauf und sagte: "Jetzt iss!" Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des Tisches und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schuesselchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner langen Reise war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen Atemzug - denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht holen koennen - und stellte sein Schuesselchen hin. "Gefaellt dir die Milch?", fragte der Grossvater. "Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken", antwortete Heidi. "So musst du mehr haben", und der Grossvater fuellte das Schuesselchen noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnueglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Kaese darauf gestrichen, denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz kraeftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr vergnueglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Grossvater in den Geissenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen saeuberte, dann frische Streu legte, dass die Tierchen darauf schlafen konnten; wie er dann nach dem Schoepfchen ging nebenan und hier runde Stoecke zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Loecher hineinbohrte und dann die runden Stoecke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf einmal ein Stuhl, wie der vom Grossvater, nur viel hoeher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung. "Was ist das, Heidi?", fragte der Grossvater. "Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig", sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung. "Es weiss, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort", bemerkte der Grossvater vor sich hin, als er nun um die Huette herumging und hier einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tuer etwas zu befestigen hatte und so mit Hammer und Naegeln und Holzstuecken von einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder wegschlug, je nach dem Beduerfnis. Heidi ging Schritt fuer Schritt hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der groessten Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr kurzweilig anzusehen. So kam der Abend heran. Es fing staerker an zu rauschen in den alten Tannen, ein maechtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das toente dem Heidi so schoen in die Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz froehlich darueber wurde und huepfte und sprang unter den Tannen umher, als haette es eine unerhoerte Freude erlebt. Der Grossvater stand unter der Schopftuer und schaute dem Kind zu. Jetzt ertoente ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Spruengen, der Grossvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiss um Geiss, wie eine Jagd, und mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi mitten in das Rudel hinein und begruesste die alten Freunde von heute Morgen einen um den anderen. Bei der Huette angekommen, stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schoene, schlanke Geissen, eine weisse und eine braune, auf den Grossvater zu und leckten seine Haende, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi streichelte zaertlich die eine und dann die andere von den Geissen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch zu streicheln, und war ganz Glueck und Freude ueber die Tierchen. "Sind sie unser, Grossvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?", so fragte Heidi hintereinander in seinem Vergnuegen, und der Grossvater konnte kaum sein stetiges "Ja, ja!" zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Geissen ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der Alte: "Geh und hol dein Schuesselchen heraus und das Brot." Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Grossvater gleich von der Weissen das Schuesselchen voll und schnitt ein Stueck Brot ab und sagte: "Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die Base Dete hat noch ein Buendelchen abgelegt fuer dich, da seien Hemdlein und so etwas darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's brauchst; ich muss nun mit den Geissen hinein, so schlaf wohl!" "Gut Nacht, Grossvater! Gut Nacht - wie heissen sie, Grossvater, wie heissen sie?", rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und den Geissen nach. "Die Weisse heisst Schwaenli und die Braune Baerli", gab der Grossvater zurueck. "Gut Nacht, Schwaenli, gut Nacht, Baerli!", rief nun Heidi noch mit Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte sich Heidi noch auf die Bank und ass sein Brot und trank seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter; so machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief, als nur einer im schoensten Fuerstenbett schlafen konnte. Nicht lange nachher, noch eh es voellig dunkel war, legte auch der Grossvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder draussen, und die kam sehr frueh ueber die Berge hereingestiegen in dieser Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind so gewaltig, dass bei seinen Stoessen die ganze Huette erzitterte und es in allen Balken krachte; durch den Schornstein heulte und aechzte es wie Jammerstimmen, und in den alten Tannen draussen tobte es mit solcher Wut, dass hier und da ein Ast niederkrachte. Mitten in der Nacht stand der Grossvater auf und sagte halblaut vor sich hin: "Es wird sich wohl fuerchten." Er stieg die Leiter hinauf und trat an Heidis Lager heran. Der Mond draussen stand einmal hell leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darueber hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein eben leuchtend durch die runde Oeffnung herein und fiel gerade auf Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden Aermchen und traeumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen sah ganz wohlgemut aus. Der Grossvater schaute so lange auf das friedlich schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken trat und es dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurueck. Auf der Weide Heidi erwachte am fruehen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hoerte es draussen des Grossvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher es gekommen war und dass es nun auf der Alm beim Grossvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hoerte und meistens fror, so dass sie immer am Kuechenfenster oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen muessen oder doch ganz in der Naehe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hoeren konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es waere lieber hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte und was es heute wieder alles sehen koennte, vor allem das Schwaenli und das Baerli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Huette hinaus. Da stand schon der Geissenpeter mit seiner Schar, und der Grossvater brachte eben Schwaenli und Baerli aus dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geissen guten Tag zu sagen. "Willst mit auf die Weide?", fragte der Grossvater. Das war dem Heidi eben recht, es huepfte hoch auf vor Freude. "Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schoen glaenzt da droben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist's fuer dich gerichtet." Der Grossvater zeigte auf einen grossen Zuber voll Wasser, der vor der Tuer in der Sonne stand. Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glaenzend war. Unterdessen ging der Grossvater in die Huette hinein und rief dem Peter zu: "Komm hierher, Geissengeneral, und bring deinen Habersack mit." Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Saecklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug. "Mach auf", befahl der Alte und steckte nun ein grosses Stueck Brot und ein ebenso grosses Stueck Kaese hinein. Der Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur moeglich, denn die beiden Stuecke waren wohl doppelt so gross wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl drinnen hatte. "So, nun kommt noch das Schuesselchen hinein", fuhr der Oehi fort, "denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiss weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schuesselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib Acht, dass es nicht ueber die Felsen hinunterfaellt, hoerst du?" - Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Grossvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Grossvater neben dem Wasserzuber aufgehaengt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem Grossvater stand. Er lachte ein wenig. "Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestaetigte er. "Aber weisst was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geissen, da bekommt man schwarze Fuesse. Jetzt koennt ihr ausziehen." Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Woelkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die gruene Alp, und alle die blauen und gelben Bluemchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr froehlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trueppchen feiner, roter Himmelsschluesselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schoenen Enzianen, und ueberall lachten und nickten die zartblaetterigen, goldenen Cystusroeschen in der Sonne. Vor Entzuecken ueber all die flimmernden winkenden Bluemchen vergass Heidi sogar die Geissen und auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und ueberall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen und packte sie in sein Schuerzchen ein, denn es wollte sie alle mit heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort werde wie hier draussen. - So hatte der Peter heut nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut bewaeltigen konnte, denn die Geissen machten es wie das Heidi: Sie liefen auch dahin und dorthin, und er musste ueberallhin pfeifen und rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen zusammenzutreiben. "Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme. "Da", toente es von irgendwoher zurueck. Sehen konnte Peter niemand, denn Heidi sass am Boden hinter einem Huegelchen, das dicht mit duftenden Pruenellen besaet war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfuellt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zuegen ein. "Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht ueber die Felsen hinunterfallen, der Oehi hat's verboten." "Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurueck, bewegte sich aber nicht von der Stelle, denn der suesse Duft stroemte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen. "Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am hoechsten sitzt der alte Raubvogel und kraechzt." Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Hoehe und rannte mit seiner Schuerze voller Blumen dem Peter zu. "Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schuerze schon so angefuellt, dass da wenig Platz mehr gewesen waere, und morgen mussten auch noch da sein. So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geissen gingen nun alle geregelter, denn sie rochen die guten Kraeuter von dem hohen Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewoehnlich Halt machte mit seinen Geissen und sein Quartier fuer den Tag aufschlug, lag am Fusse der hohen Felsen, die, erst noch von Gebuesch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich Felsenkluefte weit hinunter und der Grossvater hatte Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Hoehe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfaeltig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stoessen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen. Heidi hatte unterdessen sein Schuerzchen losgemacht und schoen fest zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein grosses, weites Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Blaeue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind sass maeuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher war eine grosse, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind ueber die zarten, blauen Glockenbluemchen und die goldnen, strahlenden Cystusroeschen, die ueberall herumstanden auf ihren duennen Staengelchen und leise und froehlich hin und her nickten. Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geissen kletterten oben an den Bueschen umher. Dem Heidi war es so schoen zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Luefte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstoecken drueben aufgeschaut, dass es nun war, als haetten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde. Jetzt hoerte Heidi ueber sich ein lautes, scharfes Geschrei und Kraechzen ertoenen, und wie es aufschaute, kreiste ueber ihm ein so grosser Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in grossen Bogen kehrte er immer wieder zurueck und kraechzte laut und durchdringend ueber Heidis Kopf. "Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel ist da, sieh! Sieh!" Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun hoeher und hoeher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich ueber grauen Felsen verschwand. "Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte. "Heim ins Nest", war Peters Antwort. "Ist er dort oben daheim? Oh, wie schoen so hoch oben! Warum schreit er so?", fragte Heidi weiter. "Weil er muss", erklaerte Peter. "Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist", schlug Heidi vor. "Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstaerkter Missbilligung hervorstossend; "wenn keine Geiss mehr dorthin kann und der Oehi gesagt hat, du duerfest nicht ueber die Felsen hinunterfallen." Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte; aber die Geissen mussten die Toene verstehen, denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der gruenen Halde versammelt, die einen fortnagend an den wuerzigen Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig gegeneinander stossend mit ihren Hoernern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geissen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnueglicher Anblick, wie die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz persoenliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Erscheinung fuer sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stuecke, die drin waren, schoen auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die grossen Stuecke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schuesselchen und melkte schoene, frische Milch hinein vom Schwaenli und stellte das Schuesselchen mitten ins Viereck. Dann rief er Heidi herbei, musste aber laenger rufen als nach den Geissen, denn das Kind war so in Eifer und Freude ueber die mannigfaltigen Spruenge und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah und nichts hoerte ausser diesen. Aber Peter wusste sich verstaendlich zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdroehnte, und nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, dass es um sie herumhuepfte vor Wohlgefallen. "Hoer auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt sitz und fang an." Heidi setzte sich hin. "Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals das schoene Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend. "Ja", erwiderte Peter, "und die zwei grossen Stuecke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schuesselchen vom Schwaenli und dann komm ich." "Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen. "Von meiner Geiss, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an", mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es sein leeres Schuesselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stueck von seinem Brot ab, und das ganze uebrige Stueck, das immer noch groesser war, als Peters eigenes Stueck gewesen, das nun schon samt Zubehoer fast zu Ende war, reichte es diesem hinueber mit dem ganzen grossen Brocken Kaese und sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug." Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch nie in seinem Leben haette er so sagen und etwas weggeben koennen. Er zoegerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stuecke hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk, nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geissbub. Heidi schaute derweilen nach den Geissen aus. "Wie heissen sie alle, Peter?", fragte es. Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoss eine nach der anderen, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hoerte mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es waehrte gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der grosse Tuerk mit den starken Hoernern, der wollte mit diesen immer gegen alle anderen stossen, und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behaende Geisschen, wich ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal hintereinander so rasch und tuechtig gegen ihn an, dass der grosse Tuerk oefters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe Hoernchen. Da war das kleine, weisse Schneehoeppli, das immer so eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es troestend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um den Hals des Geissleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du, Schneehoeppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geisslein schmiegte sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still. Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beissen und zu schlucken: "Es tut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm." "Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurueck. "Pah, seine Mutter", war die Antwort. "Wo ist die Grossmutter?", rief Heidi wieder. "Hat keine." "Und der Grossvater?" "Hat keinen." "Du armes Schneehoeppli du", sagte Heidi und drueckte das Tierlein zaertlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen." Das Schneehoeppli rieb ganz vergnuegt seinen Kopf an Heidis Schulter und meckerte nicht mehr klaeglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte. Weitaus die zwei schoensten und saubersten Geissen der ganzen Schar waren Schwaenli und Baerli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Tuerk abweisend und veraechtlich begegneten. - Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Bueschen hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen leichtfertig ueber alles weg huepfend, die anderen bedaechtlich die guten Kraeutlein suchend unterwegs, der Tuerk hier und da seine Angriffe probierend. Schwaenli und Baerli kletterten huebsch und leicht hinan und fanden oben sogleich die schoensten Buesche, stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab. Heidi stand mit den Haenden auf dem Ruecken und schaute dem allen mit der groessten Aufmerksamkeit zu. "Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden, "die schoensten von allen sind das Schwaenli und das Baerli." "Weiss schon", war die Antwort. "Der Alm-Oehi putzt und waescht sie und gibt ihnen Salz und hat den schoensten Stall." Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in grossen Spruengen den Geissen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas begegnet sein, es konnte da nicht zurueckbleiben. Der Peter sprang durch den Geissenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geisslein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterstuerzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehuepft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geisslein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben packen, da stuerzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Ueberraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines froehlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwaerts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Kraeuter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte beguetigend: "Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernuenftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh." Das Geisslein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnueglich die Kraeuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Fuesse gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an welcher sein Gloeckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so fuehrten die beiden den Ausreisser zu der friedlich weidenden Herde zurueck. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe tuechtig durchpruegeln, und der Distelfink wich scheu zurueck, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich fuerchtet!" "Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entruestet: "Du darfst ihm nichts tun, es tut ihm weh, lass ihn los!" Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkuerlich seine Rute niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Kaese gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entschaedigung wollte er haben fuer den Schrecken. "Allen kannst du haben, das ganze Stueck morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehoeppli nie und gar keine Geiss." "Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als eine Zusage. Jetzt liess er den Schuldigen los, und der froehliche Distelfink sprang in hohen Spruengen auf und davon in die Herde hinein. - So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drueben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi sass wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blaugloeckchen und die Cystusroeschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der grosse Schnee drueben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh! Der hohe Felsenberg ist ganz gluehend! Oh, der schoene, feurige Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!" "Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemuetlich und schaelte an seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer." "Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es ueberallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schoen war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?", rief Heidi wieder. "Es kommt von selbst so", erklaerte Peter. "O sieh, sieh", rief Heidi in grosser Aufregung, "auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heissen sie, Peter?" "Berge heissen nicht", erwiderte dieser. "O wie schoen, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist alles ausgeloescht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstoert aus, als ginge wirklich alles zu Ende. "Es ist morgen wieder so", erklaerte Peter. "Steh auf, nun muessen wir heim." Die Geissen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt angetreten. "Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg. "Meistens", gab dieser zur Antwort. "Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen. "Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter. Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindruecke in sich aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhuette ankam und den Grossvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und am Abend seine Geissen erwartete, die von dieser Seite herunterkaemen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwaenli und Baerli hinter ihm drein, denn die Geissen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen, dass das Heidi wiederkomme. Da rannte das Heidi schnell wieder zurueck und gab dem Peter die Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal das Schneehoeppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl, Schneehoeppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass du nie mehr so jaemmerlich meckern musst." Das Schneehoeppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann froehlich der Herde nach. Heidi kam unter die Tannen zurueck. "O Grossvater, das war so schoen!", rief es, noch bevor es bei ihm war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schuettete Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schuerzchen vor den Grossvater hin. Aber wie sahen die armen Bluemchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen. "O Grossvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus. "So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?" "Die wollen draussen stehen in der Sonne und nicht ins Schuerzchen hinein", sagte der Grossvater. "Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Grossvater, warum hat der Raubvogel so gekraechzt?", fragte Heidi nun angelegentlich. "Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zusammen in die Huette und essen zu Nacht, dann sag ich dir's." So wurde getan, und wie nun spaeter Heidi auf seinem hohen Stuhl sass vor seinem Milchschuesselchen und der Grossvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum kraechzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Grossvater?" "Der hoehnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele zusammensitzen in den Doerfern und einander boes machen. Da hoehnt er hinunter: 'Wuerdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Hoehe steigen wie ich, so waer's euch wohler!'" Der Grossvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekraechz des Raubvogels dadurch noch eindruecklicher wurde in der Erinnerung. "Warum haben die Berge keinen Namen, Grossvater?", fragte Heidi wieder. "Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er heisst." Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Tuermen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Grossvater sagte wohlgefaellig: "Recht so, den kenn ich, der heisst Falknis. Hast du noch einen gesehen?" Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem grossen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand. "Den erkenn ich auch", sagte der Grossvater, "das ist die Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?" Nun erzaehlte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schoen es gewesen, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Grossvater auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter haette nichts davon gewusst. "Siehst du", erklaerte der Grossvater, "das macht die Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schoensten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt." Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen, wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf seinem Heulager, und traeumte von lauter schimmernden Bergen und roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehoeppli in froehlichen Spruengen. Bei der Grossmutter Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Geissen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag fuer Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebraeunt und so kraeftig und gesund, dass ihm gar nie etwas fehlte, und so froh und gluecklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Voegelein leben auf allen Baeumen im gruenen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing ueber die Berge hin, dann sagte etwa der Grossvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck ueber alle Felsen ins Tal hinabwehen." Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr ungluecklich aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Geissen so stoerrig an diesen Tagen, dass er die doppelte Muehe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewoehnt, dass sie nicht vorwaerts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals ungluecklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geissen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all den verschieden gearteten Geissen; aber auch das Haemmern und Saegen und Zimmern des Grossvaters war sehr unterhaltend fuer Heidi; und traf es sich, dass er gerade die schoenen runden Geisskaeschen zubereitete, wenn es daheim bleiben musste, so war das ein ganz besonderes Vergnuegen, dieser merkwuerdigen Taetigkeit zuzuschauen, wobei der Grossvater beide Arme bloss machte und damit in dem grossen Kessel herumruehrte. Aber vor allem anziehend war fuer das Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Huette. Da musste es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es auch sein mochte, denn so schoen und wunderbar war gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug bekommen, zu sehen und zu hoeren, wie das wehte und wogte und rauschte in den Baeumen mit grosser Macht. Jetzt gab die Sonne nicht mehr heiss wie im Sommer, und Heidi suchte seine Struempfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein duennes Blaettlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte nicht in der Huette bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm. Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Haende, wenn er frueh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel ueber Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweiss und kein einziges gruenes Blaettlein mehr zu sehen ringsum und um. Da kam der Geissenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster hinaufreichte, und dann noch hoeher, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Haeuschen. Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Huette zudecken wollte, dass man muesste ein Licht anzuenden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und am anderen Tag ging der Grossvater hinaus - denn nun schneite es nicht mehr - und schaufelte ums ganze Haus herum und warf grosse, grosse Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die Huette herum; aber nun waren die Fenster wieder frei und auch die Tuer, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Grossvater am Feuer sassen, jedes auf seinem Dreifuss - denn der Grossvater hatte laengst auch einen fuer das Kind gezimmert -, da polterte auf einmal etwas heran und schlug immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tuer auf. Es war der Geissenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tuer gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so durchkaempfen muessen, dass ganze Massen an ihm haengen geblieben und auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen. "Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als moeglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnuegen, dass er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es ueberall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie ein gelinder Wasserfall. "Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Grossvater. "Nun bist du ohne Armee und musst am Griffel nagen." "Warum muss er am Griffel nagen, Grossvater?", fragte Heidi sogleich mit Wissbegierde. "Im Winter muss er in die Schule gehen", erklaerte der Grossvater; "da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr, General?" "Ja, 's ist wahr", bestaetigte Peter. Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte sehr viele Fragen ueber die Schule und alles, was da begegnete und zu hoeren und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloss ueber einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen musste, so konnte er derweilen schoen trocknen von oben bis unten. Es war immer eine grosse Anstrengung fuer ihn, seine Vorstellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten. Der Grossvater hatte sich ganz still verhalten waehrend dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm oefter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhoerte. "So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Staerkung, komm, halt mit!" Damit stand der Grossvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor, und Heidi rueckte die Stuehle zum Tisch. Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Grossvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, dass es sich ueberall nah zum Grossvater hielt, wo er ging und stand und sass. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein maechtiges Stueck von dem schoenen getrockneten Fleisch der Alm-Oehi ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das vergnuegte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter der Tuer war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag komm ich wieder, heut ueber acht Tag, und du solltest auch einmal zur Grossmutter kommen, hat sie gesagt." Das war ein ganz neuer Gedanke fuer Heidi, dass es zu jemandem gehen sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklaerte: "Grossvater, jetzt muss ich gewiss zu der Grossmutter hinunter, sie erwartet mich." "Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Grossvater abwehrend. Aber das Vorhaben sass fest in Heidis Sinn, denn die Grossmutter hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht fuenf- und sechsmal sagte: "Grossvater, jetzt muss ich gewiss gehen, die Grossmutter wartet ja immer auf mich." Am vierten Tag, als es draussen knisterte und knarrte vor Kaelte bei jedem Schritt und die ganze grosse Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine schoene Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl sass, da begann es wieder sein Spruechlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Grossmutter gehen, es waehrt ihr sonst zu lange." Da stand der Grossvater auf vom Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In grosser Freude huepfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen Aesten lag der weisse Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und funkelte es ueberall von den Baeumen in solcher Pracht, dass Heidi hoch aufsprang vor Entzuecken und ein Mal uebers andere ausrief: "Komm heraus, Grossvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und Gold an den Tannen!" Denn der Grossvater war in den Schopf hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stossschlitten: Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte man die Fuesse nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der Grossvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte beschauen muessen, nahm das Kind auf seinen Schoss, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es huebsch warm bleibe, und drueckte es fest mit dem linken Arm an sich, denn das war noetig bei der kommenden Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Fuessen. Da schoss der Schlitten davon die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Huette vom Geissenpeter. Der Grossvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte: "So, nun geh hinein, und wenn es anfaengt dunkel zu werden, dann komm wieder heraus und mach dich auf den Weg." Dann kehrte er um mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf. Heidi machte die Tuer auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schuesselchen auf einem Gestell, das war die kleine Kueche; dann kam gleich wieder eine Tuer, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhuette, wie beim Grossvater, wo ein einziger, grosser Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein kleines, uraltes Haeuschen, wo alles eng war und schmal und duerftig. Als Heidi in das Stuebchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran sass eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses erkannte Heidi sogleich. In der Ecke sass ein altes, gekruemmtes Muetterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradaus auf das Spinnrad zu und sagte: "Guten Tag, Grossmutter, jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es waehre lang, bis ich komme?" Die Grossmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befuehlte sie dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: "Bist du das Kind droben beim Alm-Oehi, bist du das Heidi?" "Ja, ja", bestaetigte das Kind, "jetzt gerade bin ich mit dem Grossvater im Schlitten heruntergefahren." "Wie ist das moeglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag, Brigitte, ist der Alm-Oehi selber mit dem Kind heruntergekommen?" Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis unten; dann sagte sie: "Ich weiss nicht, Mutter, ob der Oehi selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das Kind wird's nicht recht wissen." Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei es im Ungewissen, und sagte: "Ich weiss ganz gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das ist der Grossvater." "Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer durch vom Alm-Oehi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht", sagte die Grossmutter; "wer haette freilich auch glauben koennen, dass so etwas moeglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!" Diese hatte das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, dass sie nun wohl berichten konnte, wie es aussah. "Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war", gab sie zur Antwort; "aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den zweien gleich." Unterdessen war Heidi muessig geblieben; es hatte ringsum geguckt und alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: "Sieh, Grossmutter, dort schlaegt es einen Laden immer hin und her, und der Grossvater wuerde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er wieder fest haelt, sonst schlaegt er auch einmal eine Scheibe ein; sieh, sieh, wie er tut!" "Ach, du gutes Kind", sagte die Grossmutter, "sehen kann ich es nicht, aber hoeren kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden; da kracht und klappert es ueberall, wenn der Wind kommt, und er kann ueberall hereinblasen; es haelt nichts mehr zusammen, und in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle alles ueber uns zusammen und schlage uns alle drei tot; ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern koennte an der Huette, der Peter versteht's nicht." "Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut, Grossmutter? Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort." Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger. "Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den Laden nicht", klagte die Grossmutter. "Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es recht hell wird, kannst du dann sehen, Grossmutter?" "Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen." "Aber wenn du hinausgehst in den ganz weissen Schnee, dann wird es dir gewiss hell; komm nur mit mir, Grossmutter, ich will dir's zeigen." Heidi nahm die Grossmutter bei der Hand und wollte sie fortziehen, denn es fing an, ihm ganz aengstlich zumute zu werden, dass es ihr nirgends hell wurde. "Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine Augen." "Aber dann doch im Sommer, Grossmutter", sagte Heidi, immer aengstlicher nach einem guten Ausweg suchend; "weisst, wenn dann wieder die Sonne ganz heiss herunterbrennt und dann 'gute Nacht' sagt und die Berge alle feuerrot schimmern und alle gelben Bluemlein glitzern, dann wird es dir wieder schoen hell?" "Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die goldenen Bluemlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr." Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwaehrend: "Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es niemand? Kann es gar niemand?" Die Grossmutter suchte nun das Kind zu troesten, aber es gelang ihr nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betruebnis herauskommen. Die Grossmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jaemmerlich schluchzen musste. Jetzt sagte sie: "Komm, du gutes Heidi, komm hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen kann, dann hoert man so gern ein freundliches Wort, und ich hoere es gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und erzaehl mir etwas, was du machst da droben und was der Grossvater macht, ich habe ihn frueher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit manchem Jahr nichts mehr gehoert von ihm als durch den Peter, aber der sagt nicht viel." Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Traenen weg und sagte troestlich: "Wart nur, Grossmutter, ich will alles dem Grossvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, dass die Huette nicht zusammenfaellt, er kann alles wieder in Ordnung machen." Die Grossmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit grosser Lebendigkeit zu erzaehlen von seinem Leben mit dem Grossvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Grossvater, was er alles aus Holz machen koenne, Baenke und Stuehle und schoene Krippen, wo man fuer das Schwaenli und Baerli das Heu hineinlegen koennte, und einen neuen grossen Wassertrog zum Baden im Sommer, und ein neues Milchschuesselchen und Loeffel, und Heidi wurde immer eifriger im Beschreiben all der schoenen Sachen, die so auf einmal aus einem Stueck Holz herauskommen, und wie es dann neben dem Grossvater stehe und ihm zuschaue und wie es das alles auch einmal machen wolle. Die Grossmutter hoerte mit grosser Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen: "Hoerst du's auch, Brigitte? Hoerst du, was es vom Oehi sagt?" Mit einem Mal wurde die Erzaehlung unterbrochen durch ein grosses Gepolter an der Tuer, und herein stampfte der Peter, blieb aber sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: "Guten Abend, Peter!" "Ist denn das moeglich, dass der schon aus der Schule kommt", rief die Grossmutter ganz verwundert aus. "So geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?" "Gleich", gab der Peter zur Antwort. "So, so", sagte die Grossmutter ein wenig seufzend, "ich habe gedacht, es gaebe vielleicht eine Aenderung auf die Zeit, wenn du dann zwoelf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin." "Warum muss es eine Aenderung geben, Grossmutter?", fragte Heidi gleich mit Interesse. "Ich meine nur, dass er es etwa noch haette lernen koennen", sagte die Grossmutter, "das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schoene Lieder drin, die habe ich so lange nicht mehr gehoert, und im Gedaechtnis habe ich sie auch nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so koenne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht lernen, es ist ihm zu schwer." "Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel", sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte; "der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's merkte." Nun sprang Heidi von seinem Stuehlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: "Gut Nacht, Grossmutter, ich muss auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird", und hintereinander bot es dem Peter und seiner Mutter die Hand und ging der Tuer zu. Aber die Grossmutter rief besorgt: "Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort, der Peter muss mit dir, hoerst du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, dass es nicht umfaellt, und steh nicht still mit ihm, dass es nicht friert, hoerst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?" "Ich habe gar kein Halstuch an", rief Heidi zurueck, "aber ich will schon nicht frieren"; damit war es zur Tuer hinaus und huschte so behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Grossmutter rief jammernd: "Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!" Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Grossvater kommen, und mit wenigen ruestigen Schritten stand er vor ihnen. "Recht so, Heidi, Wort gehalten!", sagte er, packte das Kind wieder fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rueckweg angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Huette ein und erzaehlte der Grossmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese musste sich sehr verwundern und ein Mal ueber das andere sagen: "Gott Lob und Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir laesst, das Kind hat mir so wohl gemacht! Was hat es fuer ein gutes Herz und wie kann es so kurzweilig erzaehlen!" Und immer wieder freute sich die Grossmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte sie immer wieder: "Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!" Und die Brigitte stimmte jedes Mal ein, wenn die Grossmutter wieder dasselbe sagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen Mund weit auseinander vor Vergnueglichkeit und sagte: "Hab's schon gewusst." Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den Grossvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er: "Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's." Sobald er nun, oben angekommen, in seine Huette eingetreten war und Heidi aus seiner Huelle herausgeschaelt hatte, sagte es: "Grossvater, morgen muessen wir den Hammer und die grossen Naegel mitnehmen und den Laden festschlagen bei der Grossmutter und sonst noch viele Naegel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr." "Muessen wir? So, das muessen wir? Wer hat dir das gesagt?", fragte der Grossvater. "Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiss es sonst", entgegnete Heidi, "denn es haelt alles nicht mehr fest und es ist der Grossmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so tut, und sie denkt: 'Jetzt faellt alles ein und gerade auf unsere Koepfe'; und der Grossmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weiss gar nicht, wie man es koennte, aber du kannst es schon, Grossvater; denk nur, wie traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen als du! Morgen wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Grossvater, wir wollen?" Heidi hatte sich an den Grossvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Welle auf das Kind nieder, dann sagte er: "Ja, Heidi, wir wollen machen, dass es nicht mehr so klappert bei der Grossmutter, das koennen wir; morgen tun wir's." Nun huepfte das Kind vor Freude im ganzen Huettenraum herum und rief ein Mal ums andere: "Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!" Der Grossvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgefuehrt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor der Tuer der Geissenpeter-Huette nieder und sagte: "Nun geh hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder." Dann legte er den Sack auf den Schlitten und ging um das Haeuschen herum. Kaum hatte Heidi die Tuer aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Grossmutter aus der Ecke: "Da kommt das Kind! Das ist das Kind!", und liess vor Freude den Faden los und das Raedchen stehen und streckte beide Haende nach dem Kinde aus. Heidi lief zu ihr, rueckte gleich das niedere Stuehlchen ganz nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Grossmutter schon wieder eine grosse Menge von Dingen zu erzaehlen und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertoenten so gewaltige Schlaege an das Haus, dass die Grossmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: "Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es faellt alles zusammen!" Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte troestend: "Nein, nein, Grossmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Grossvater mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird." "Ach, ist auch das moeglich! Ist auch so etwas moeglich! So hat uns doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!", rief die Grossmutter aus. "Hast du's gehoert, Brigitte, was es ist, hoerst du's? Wahrhaftig, es ist ein Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Oehi ist, so sag ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, dass ich ihm auch danken kann." Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Oehi mit grosser Gewalt neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und sagte: "Ich wuensche Euch guten Abend, Oehi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut, und die Mutter moechte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es haette uns das nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran denken, denn sicher -" "Macht's kurz", unterbrach sie der Alte hier; "was Ihr vom Alm-Oehi haltet, weiss ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find ich selber." Brigitte gehorchte sogleich, denn der Oehi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und haemmerte um das ganze Haeuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter das Dach, haemmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Geissenstall hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Tuer trat und vom Grossvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, waere die ganze Umhuellung vom Heidi abgefallen, und es waere fast oder ganz erfroren. Das wusste der Grossvater wohl und hielt das Kind ganz warm in seinem Arm. So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Grossmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen konnte. Vom fruehen Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden Schritt, und ging dann die Tuer auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: "Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzaehlte so lustig von allem, was es wusste, dass es der Grossmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen, sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie frueher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal, wenn Heidi die Tuer hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom Essen weggestellt." Und die Grossmutter sagte wieder: "Wenn mir nur der Herrgott das Kind erhaelt und dem Alm-Oehi den guten Willen! Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese: "Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel." Heidi hatte auch eine grosse Anhaenglichkeit an die alte Grossmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch der Grossvater nicht mehr hell machen konnte, ueberkam es immer wieder eine grosse Betruebnis; aber die Grossmutter sagte ihm immer wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi kam auch an jedem schoenen Wintertag heruntergefahren auf seinem Schlitten. Der Grossvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geissenpeter-Haeuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Naechte durch, und die Grossmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen koennen, das wolle sie auch dem Oehi nie vergessen. Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat Schnell war der Winter und noch schneller der froehliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu. Heidi war gluecklich und froh wie die Voeglein des Himmels und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Fruehlingstage, da der warme Foehn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen wuerde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Bluemlein hervorlocken und die Tage der Weide kommen wuerden, die fuer Heidi das Schoenste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Grossvater allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geissen wusste es so gut umzugehen als nur einer, und Schwaenli und Baerli liefen ihm nach wie treue Huendlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur seine Stimme hoerten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal vom Schullehrer im Doerfli den Bericht gebracht, der Alm-Oehi solle das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe schon mehr als das Alter und haette schon im letzten Winter kommen sollen. Der Oehi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen, wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig ueberbracht. Als die Maerzsonne den Schnee an den Abhaengen geschmolzen hatte und ueberall die weissen Schneegloeckchen hervorguckten im Tal und auf der Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschuettelt hatten und die Aeste wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her von der Haustuer zum Geissenstall und von da unter die Tannen und dann wieder hinein zum Grossvater, um ihm zu berichten, wie viel groesser das Stueck gruener Boden unter den Baeumen wieder geworden sei, und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht erwarten, dass alles wieder gruen wurde und der ganze schoene Sommer mit Gruen und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam. Als Heidi so am sonnigen Maerzmorgen hin und her rannte und jetzt wohl zum zehnten Mal ueber die Tuerschwelle sprang, waere es vor Schrecken fast rueckwaerts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: "Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Grossvater?" "Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Loeffel von Holz", erklaerte Heidi und machte nun die Tuer wieder auf. Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Doerfli, der den Oehi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war. Er trat in die Huette ein, ging auf den Alten zu, der sich ueber sein Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar." Verwundert schaute dieser in die Hoehe, stand dann auf und entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer." Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen, Nachbar", sagte er dann. "Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort. "Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr koennt schon wissen, was meine Angelegenheit ist, worueber ich mich mit Euch verstaendigen und hoeren will, was Ihr im Sinne habt." Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tuer stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete. "Heidi, geh zu den Geissen", sagte der Grossvater. "Kannst ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme." Heidi verschwand sofort. "Das Kind haette schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?" "Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die Antwort. Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf seiner Bank sass und gar nicht nachgiebig aussah. "Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr Pfarrer. "Nichts, es waechst und gedeiht mit den Geissen und den Voegeln; bei denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Boeses von ihnen." "Aber das Kind ist keine Geiss und kein Vogel, es ist ein Menschenkind. Wenn es nichts Boeses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten koennt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat; naechsten Winter kommt es zur Schule, und zwar jeden Tag." "Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt. "Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernuenftigen Tun beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. "Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und vieles lernen koennen, ich haette Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar." "So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im naechsten Winter am eisigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner fast in Wind und Schnee ersticken muesste, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsuechtig und hatte Zufaelle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!" "Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; "es waere nicht moeglich, das Kind von hier aus zur Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb; tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange haettet tun sollen, kommt wieder ins Doerfli herunter und lebt wieder mit den Menschen. Was ist das fuer ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustossen wuerde hier oben, wer wuerde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Huette, und wie das zarte Kind es nur aushalten kann!" "Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das moechte ich dem Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiss, wo es Holz gibt, und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner Huette geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht fuer mich; die Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben voneinander, so ist's beiden wohl." "Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiss, was Euch fehlt", sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar: Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung, wo Ihr sie noetig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann." Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zaehle darauf, Nachbar, im naechsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten, guten Nachbarn. Es wuerde mir grossen Kummer machen, wenn ein Zwang gegen Euch muesste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesoehnt mit Gott und den Menschen." Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht." "So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tuer hinaus und den Berg hinunter. Der Alm-Oehi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt wollen wir zur Grossmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: "Gehen wir heut zur Grossmutter?", war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch bevor die Schuesselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Tuer herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schoenen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhuette lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehoerte. Der Oehi schaute sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespraech zu fuehren, denn sie fing an zu ruehmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr gekannt und man koenne schon sehen, dass es ihm nicht schlecht gegangen sei beim Grossvater. Sie habe aber gewiss auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe ja schon begreifen koennen, dass ihm das Kleine im Weg sein muesse, aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun koennen; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie das Kind etwa unterbringen koennte, und deswegen komme sie auch heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da koenne das Heidi zu einem solchen Glueck kommen, dass sie es gar nicht habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen, und nun koenne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Glueck wie unter Hunderttausenden nicht eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast im schoensten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges Toechterlein, das muesse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer allein und muesse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst haette es gern eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden koennte, wie die Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft fuehrte, denn ihre Herrschaft habe viel Mitgefuehl und moechte dem kranken Toechterlein eine gute Gespielin goennen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt, sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt. Nun koenne gar kein Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glueck und Wohlfahrt bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern moegen und es etwa mit dem eigenen Toechterchen etwas geben sollte - man koenne ja nie wissen, es sei doch so schwaechlich -, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so koennte ja das unerhoerteste Glueck - "Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Oehi, der bis dahin kein Wort dazwischengeredet hatte. "Pah", gab die Dete zurueck und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade, wie wenn ich Euch das ordinaerste Zeug gesagt haette, und ist doch durchs ganze Praettigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht braechte, die ich Euch gebracht habe." "Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Oehi trocken. Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weiss nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten im Doerfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glueck erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein, dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wuenscht. Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe ich alle fuer mich, es ist kein Einziger unten im Doerfli, der nicht mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Oehi; es gibt noch Sachen, die Euch dann koennten aufgewaermt werden, die Ihr nicht gern hoertet, denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch manches aufgespuert, an das keiner mehr denkt." "Schweig!", donnerte der Oehi heraus, und seine Augen flammten wie Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund wie dich heut!" Der Oehi ging mit grossen Schritten zur Tuer hinaus. "Du hast den Grossvater boes gemacht", sagte Heidi und blitzte mit seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an. "Er wird schon wieder gut, komm jetzt", draengte die Base; "wo sind deine Kleider?" "Ich komme nicht", sagte Heidi. "Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann aenderte sie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb aergerlich weiter: "Komm, komm, du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar nicht weisst." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein Huetchen, es sieht nicht schoen aus, aber es ist gleich fuer einmal, setz es auf und mach, dass wir fortkommen." "Ich komme nicht", wiederholte Heidi. "Sei doch nicht so dumm und stoerrig wie eine Geiss; denen hast du's abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Grossvater boes, du hast's ja gehoert, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und jetzt musst du ihn nicht noch boeser machen. Du weisst gar nicht, wie schoen es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und gefaellt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der Grossvater dann wieder gut." "Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte Heidi. "Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim, wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und morgen frueh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen." Die Base Dete hatte das Buendelchen Kleider auf den Arm und Heidi an die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter. Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins Doerfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nuetze nichts, dahin zu gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und grosse Ruten suchen nuetze etwas, denn diese koenne man brauchen. So kam er eben in der Naehe seiner Huette von der Seite her mit sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein ungeheures Buendel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?" "Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Grossmutter hinein, sie wartet auf mich." "Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spaet", sagte die Base eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit zog die Base das Heidi fest weiter und liess es nicht mehr los, denn sie fuerchtete, es koenne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es wolle nicht fort, und die Grossmutter koenne ihm helfen wollen. Der Peter sprang in die Huette hinein und schlug mit seinem ganzen Buendel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte und die Grossmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen muessen. "Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Grossmutter, und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli; warum tust so wuest?" "Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklaerte Peter. "Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Grossmutter jetzt mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete gesehen zum Alm-Oehi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die Grossmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!" Die beiden Laufenden hoerten die Stimme, und die Dete mochte wohl ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief, was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Grossmutter hat gerufen, ich will zu ihr." Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spaet kaemen, sondern dass sie morgen weiterreisen koennten, es koennte ja dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so koenne es ja gleich gehen und dann erst noch der Grossmutter etwas mit heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht fuer Heidi, die ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben. "Was kann ich der Grossmutter heimbringen?", fragte es nach einer Welle. "Etwas Gutes", sagte die Base, "so schoene, weiche Weissbroetchen, da wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen." "Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestaetigte das Heidi. "So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin mit den Broetchen." Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Buendel auf dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Haeusern vom Doerfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Tueren entgegentoenten, nur immer zurueck: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen, das Kind pressiert und wir haben noch weit." "Nimmst's mit?" - "Laeuft's dem Alm-Oehi fort?" - "Es ist nur ein Wunder, dass es noch am Leben ist!" - "Und dazu noch so rotbackig!" So toente es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi kein Wort sagte, sondern nur immer vorwaerts strebte in grossem Eifer. - Von dem Tage an machte der Alm-Oehi, wenn er herunterkam und durchs Doerfli ging, ein boeseres Gesicht als je zuvor. Er gruesste keinen Menschen und sah mit seinem Kaesereff auf dem Ruecken, mit dem ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Oehi aus dem Weg, er koennte dir noch etwas tun!" Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Doerfli, er ging nur durch und weit ins Tal hinab, wo er seinen Kaese verhandelte und seine Vorraete an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im Doerfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trueppchen zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Oehi gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem Menschen mehr auch nur einen Gruss abnehme, und alle kamen darin ueberein, dass es ein grosses Glueck sei, dass das Kind habe entweichen koennen, und man habe auch wohl gesehen, wie es fortgedraengt habe, so, als fuerchte es, der Alte sei schon hinter ihm drein, um es zurueckzuholen. Nur die blinde Grossmutter hielt unverrueckt zum Alm-Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzaehlte sie es immer wieder, wie gut und sorgfaeltig der Alm-Oehi mit dem Kind gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Haeuschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen waere. So kamen denn auch diese Berichte ins Doerfli herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die Grossmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut hoeren, weil sie nichts mehr sehe. Der Alm-Oehi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geissenpeters; es war gut, dass er die Huette so fest zusammengenagelt hatte, denn sie blieb fuer lange Zeit ganz unberuehrt. Jetzt begann die blinde Grossmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi hoeren koennte, eh ich sterben muss!" Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Toechterlein, Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestossen wurde. Jetzt sass es im so genannten Studierzimmer, das neben der grossen Essstube lag und wo vielerlei Geraetschaften herumstanden und -lagen, die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier gewoehnlich sich aufhielt. An dem grossen, schoenen Buecherschrank mit den Glastueren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Toechterchen der taegliche Unterricht erteilt wurde. Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde, blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die grosse Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fraeulein Rottenmeier?" Die Letztere sass sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Huelle um sich, einen grossen Kragen oder Halbmantel, welcher der Persoenlichkeit einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhoeht wurde durch eine Art von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fraeulein Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, fuehrte die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht ueber das ganze Dienstpersonal. Herr Sesemann war meistens auf Reisen, ueberliess daher dem Fraeulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein Toechterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen Wunsch geschehen duerfe. Waehrend oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fraeulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustuer die Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fraeulein Rottenmeier so spaet noch stoeren duerfe. "Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie den Sebastian herunter, drinnen im Korridor." Dete tat, wie ihr geheissen war, und der Bediente des Hauses kam die Treppe herunter mit grossen, runden Knoepfen auf seinem Aufwaerterrock und fast ebenso grossen runden Augen im Kopfe. "Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fraeulein Rottenmeier noch stoeren duerfe", brachte die Dete wieder an. "Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurueck; "klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne weitere Auskunft verschwand der Sebastian. Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer Tinette mit einem blendend weissen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes und einer spoettischen Miene auf dem Gesicht. "Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!" Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete hoeflich an der Tuer stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so fremden Boden. Fraeulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam naeher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte sein einfaches Baumwollroeckchen an und sein altes, zerdruecktes Strohhuetchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame. "Wie heissest du?", fragte Fraeulein Rottenmeier, nachdem auch sie einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte. "Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme. "Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?", fragte Fraeulein Rottenmeier weiter. "Das weiss ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi. "Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschuetteln. "Jungfer Dete, ist das Kind einfaeltig oder schnippisch?" "Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden fuer das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete, nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoss gegeben hatte fuer die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfaeltig und auch nicht schnippisch, davon weiss es gar nichts; es meint alles so, wie es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte guetige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig." "Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte Fraeulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch sagen, dass mir das Kind fuer sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin fuer Fraeulein Klara muesste in ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und ueberhaupt ihre Beschaeftigungen zu teilen. Fraeulein Klara hat das zwoelfte Jahr zurueckgelegt; wie alt ist das Kind?" "Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwaertig, wie alt es sei; es ist wirklich ein wenig juenger, viel trifft es nicht an, ich kann's so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch etwas dazu sein, nehm ich an." "Jetzt bin ich acht, der Grossvater hat's gesagt", erklaerte Heidi. Die Base stiess es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen. "Was, erst acht Jahre alt?", rief Fraeulein Rottenmeier mit einiger Entruestung aus. "Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und was hast du denn gelernt? Was hast du fuer Buecher gehabt bei deinem Unterricht?" "Keine", sagte Heidi. "Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?", fragte die Dame weiter. "Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht", berichtete Heidi. "Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht lesen!", rief Fraeulein Rottenmeier im hoechsten Schrecken aus. "Ist es die Moeglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?" "Nichts", sagte Heidi der Wahrheit gemaess. "Jungfer Dete", sagte Fraeulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in denen sie nach Fassung rang, "es ist alles nicht nach Abrede, wie konnten Sie mir dieses Wesen zufuehren?" Aber die Dete liess sich nicht so bald einschuechtern; sie antwortete herzhaft: "Mit Erlaubnis der Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie haben wolle; die Dame hat mir beschrieben, wie es sein muesse, so ganz apart und nicht wie die anderen, und so musste ich das Kleine nehmen, denn die Groesseren sind bei uns dann nicht mehr so apart, und ich dachte, dieses passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muss ich aber gehen, denn meine Herrschaft erwartet mich; ich will, wenn's meine Herrschaft erlaubt, bald wieder kommen und nachsehen, wie es geht mit ihm." Mit einem Knicks war die Dete zur Tuer hinaus und die Treppe hinunter mit schnellen Schritten. Fraeulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch da, dann lief sie der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen, dass sie noch eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte, wenn das Kind wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal und, wie sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen. Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tuer, wo es von Anfang an gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus schweigend allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: "Komm hierher!" Heidi trat an den Rollstuhl heran. "Willst du lieber Heidi heissen oder Adelheid?", fragte Klara. "Ich heisse nur Heidi und sonst nichts", war Heidis Antwort. "So will ich dich immer so nennen", sagte Klara; "der Name gefaellt mir fuer dich, ich habe ihn aber nie gehoert, ich habe aber auch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so kurzes, krauses Haar gehabt?" "Ja, ich denk's", gab Heidi zur Antwort. "Bist du gern nach Frankfurt gekommen?", fragte Klara weiter. "Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der Grossmutter weisse Broetchen!", erklaerte Heidi. "Du bist aber ein kurioses Kind!", fuhr jetzt Klara auf. "Man hat dich ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir bleibest und die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird nun ganz lustig, weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas ganz Neues in den Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nahe ans Gesicht heran, so, als waere er auf einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gaehnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fraeulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr grosses Taschentuch hervor und haelt es vor das ganze Gesicht hin, so, als sei sie ganz ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiss recht gut, dass sie nur ganz schrecklich gaehnt dahinter, und dann sollte ich auch so stark gaehnen und muss es immer hinunterschlucken, denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgaehne, so holt Fraeulein Rottenmeier gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch lieber Gaehnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann zuhoeren, wie du lesen lernst." Heidi schuettelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen hoerte. "Doch, doch, Heidi, natuerlich musst du lesen lernen, alle Menschen muessen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals boese, und er erklaert dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas erklaert, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten und gar nichts sagen, sonst erklaert er dir noch viel mehr und du verstehst es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas gelernt hast und es weisst, dann verstehst du schon, was er gemeint hat." Jetzt kam Fraeulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurueck; sie hatte Dete nicht mehr zurueckrufen koennen und war sichtlich aufgeregt davon, denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlaesslich sagen koennen, was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie nicht wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rueckgaengig zu machen, war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze Sache angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer hinueber, und von da wieder zurueck, und kehrte dann unmittelbar wieder um und fuhr hier den Sebastian an, der seine runden Augen eben nachdenklich ueber den gedeckten Tisch gleiten liess, um zu sehen, ob sein Werk keinen Mangel habe. "Denk Er morgen Seine grossen Gedanken fertig und mach Er, dass man heut noch zu Tische komme." Mit diesen Worten fuhr Fraeulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die Jungfer Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte als sonst gewoehnlich - und sich mit so spoettischem Gesicht hinstellte, dass selbst Fraeulein Rottenmeier nicht wagte, sie anzufahren; umso mehr schlug ihr die Aufregung nach innen. "Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette", sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; "es liegt alles bereit, nehmen Sie noch den Staub von den Moebeln weg." "Es ist der Muehe wert", spoettelte Tinette und ging. Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltueren zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber sich in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fraeulein Rottenmeier gegenueber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer, um den Rollstuhl hinueberzustossen. Waehrend er den Griff hinten am Stuhl, der sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi vor ihn hin und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf einmal fuhr er auf. "Na, was ist denn da Besonderes dran?", schnurrte er Heidi an in einer Weise, wie er es wohl nicht getan, haette er Fraeulein Rottenmeier gesehen, die eben wieder auf der Schwelle stand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: "Du siehst dem Geissenpeter gleich." Entsetzt schlug die Dame ihre Haende zusammen. "Ist es die Moeglichkeit!", stoehnte sie halblaut. "Nun duzt sie mir den Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!" Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt. Fraeulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es sollte den Platz ihr gegenueber einnehmen. Sonst kam niemand zu Tische, und es war viel Platz da; die drei sassen auch weit auseinander, so dass Sebastian mit seiner Schuessel zum Anbieten guten Raum fand. Neben Heidis Teller lag ein schoenes, weisses Broetchen; das Kind schaute mit erfreuten Blicken darauf. Die Aehnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, musste sein ganzes Vertrauen fuer den Sebastian erweckt haben, denn es sass maeuschenstill und ruehrte sich nicht, bis er mit der grossen Schuessel zu ihm herantrat und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt, dann zeigte es auf das Broetchen und fragte: "Kann ich das haben?" Sebastian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf Fraeulein Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage fuer einen Eindruck auf sie mache. Augenblicklich ergriff Heidi sein Broetchen und steckte es in die Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam ihn an; er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte es: "Soll ich auch von dem essen?" Sebastian nickte wieder. "So gib mir", sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians Grimasse wurde sehr bedenklich, und die Schuessel in seinen Haenden fing an gefaehrlich zu zittern. "Er kann die Schuessel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen", sagte jetzt Fraeulein Rottenmeier mit strengem Gesicht. Sebastian verschwand sogleich. "Dir, Adelheid, muss ich ueberall die ersten Begriffe beibringen, das sehe ich", fuhr Fraeulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. "Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich am Tische bedient", und nun machte die Dame deutlich und eingehend alles vor, was Heidi zu tun hatte. "Dann", fuhr sie weiter, "muss ich dir hauptsaechlich bemerken, dass du am Tisch nicht mit Sebastian zu sprechen hast, auch sonst nur dann, wenn du einen Auftrag oder eine notwendige Frage an ihn zu richten hast; dann aber nennst du ihn nie mehr anders als _Sie_ oder _Er_, hoerst du? Dass ich dich niemals mehr ihn anders nennen hoere. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette. Mich nennst du so, wie du mich von allen nennen hoerst; wie du Klara nennen sollst, wird sie selbst bestimmen." "Natuerlich Klara", sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge von Verhaltungsmassregeln, ueber Aufstehen und Zubettegehen, ueber Hereintreten und Hinausgehen, ueber Ordnunghalten, Tuerenschliessen, und ueber alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fuenf Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an den Sesselruecken und schlief ein. Als dann nach laengerer Zeit Fraeulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer Unterweisung, sagte sie: "Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?" "Heidi schlaeft schon lange", sagte Klara mit ganz belustigtem Gesicht, denn das Abendessen war fuer sie seit langer Zeit nie so kurzweilig verflossen. "Es ist doch voellig unerhoert, was man mit diesem Kind erlebt!", rief Fraeulein Rottenmeier in grossem Aerger und klingelte so heftig, dass Tinette und Sebastian miteinander herbeigestuerzt kamen; aber trotz allen Laerms erwachte Heidi nicht, und man hatte die groesste Muehe, es so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach gebracht werden konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch Klaras Schlafstube, dann durch die Stube von Fraeulein Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das nun fuer Heidi eingerichtet war. Fraeulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz gewaltig seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es sass auf einem hohen, weissen Bett und vor sich sah es einen grossen, weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weisse Vorhaenge, und dabei standen zwei Sessel mit grossen Blumen darauf, und dann kam ein Sofa an der Wand mit denselben Blumen und ein runder Tisch davor, und in der Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie Heidi sie noch gar nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, dass es in Frankfurt sei, und der ganze gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweisungen der Dame, soweit es sie gehoert hatte. Heidi sprang nun von seinem Bett herunter und machte sich fertig. Dann ging es an ein Fenster und dann an das andere; es musste den Himmel sehen und die Erde draussen, es fuehlte sich wie im Kaefig hinter den grossen Vorhaengen. Es konnte diese nicht wegschieben; so kroch es dahinter, um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so hoch, dass Heidi nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass es durchsehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurueck; aber immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es frueh am Morgen, denn Heidi war gewoehnt, frueh aufzustehen auf der Alm und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tuer und zu sehen, wie's draussen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben sei, ob die Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen offen haben. Wie das Voegelein, das zum ersten Mal in seinem schoen glaenzenden Gefaengnis sitzt, hin und her schiesst und bei allen Staeben probiert, ob es nicht dazwischen durchschluepfen und in die Freiheit hinausfliegen koenne, so lief Heidi immer von dem einen Fenster zum anderen, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden koenne, denn dann musste man doch etwas anderes sehen als Mauern und Fenster, da musste doch unten der Erdboden, das gruene Gras und der letzte schmelzende Schnee an den Abhaengen zum Vorschein kommen, und Heidi sehnte sich, das zu sehen. Aber die Fenster blieben fest verschlossen, wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft haette, sie aufzudruecken; es blieb alles eisenfest aufeinander sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, dass alle Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf und ueberdachte nun, wie es waere, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Grasboden kaeme, denn es erinnerte sich, dass es gestern Abend vorn am Haus nur ueber Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an seiner Tuer und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte kurz: "Fruehstueck bereit!" Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf dem spoettischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben, und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch empor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen wuerde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Geraeusch, es war Fraeulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und in Heidis Stube hineinrief: "Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Fruehstueck ist? Komm herueber!" Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer sass Klara schon lang an ihrem Platz und begruesste Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnuegteres Gesicht als sonst gewoehnlich, denn sie sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen wuerde. Das Fruehstueck ging nun ohne Stoerung vor sich; Heidi ass ganz anstaendig sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara wieder ins Studierzimmer hinuebergerollt und Heidi wurde von Fraeulein Rottenmeier angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr Kandidat kommen wuerde, um die Unterrichtsstunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren, sagte Heidi sogleich: "Wie kann man hinaussehen hier und ganz hinunter auf den Boden?" "Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus", antwortete Klara belustigt. "Man kann diese Fenster nicht aufmachen", versetzte Heidi traurig. "Doch, doch", versicherte Klara, "nur du noch nicht, und ich kann dir auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so macht er dir schon eines auf." Das war eine grosse Erleichterung fuer Heidi zu wissen, dass man doch die Fenster oeffnen und hinausschauen koenne, denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi erzaehlte mit Freuden von der Alm und den Geissen und der Weide und allem, was ihm lieb war. Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fraeulein Rottenmeier fuehrte ihn nicht, wie gewoehnlich, ins Studierzimmer, denn sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem Zweck ins Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in grosser Aufregung ihre bedraengte Lage schilderte und wie sie in diese hineingekommen war. Sie hatte naemlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe laengst gewuenscht, es moechte eine Gespielin fuer sie ins Haus aufgenommen werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den Unterrichtsstunden ein Sporn, in der uebrigen Zeit eine anregende Gesellschaft fuer Klara sein wuerde. Eigentlich war die Sache fuer Fraeulein Rottenmeier selbst sehr wuenschbar, denn sie wollte gern, dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme, wenn es ihr zu viel war, was oefters geschah. Herr Sesemann hatte geantwortet, er erfuelle gern den Wunsch seiner Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquaelerei in seinem Hause - "was freilich eine sehr unnuetze Bemerkung von dem Herrn war", setzte Fraeulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte Kinder quaelen!" Nun aber erzaehlte sie weiter, wie ganz erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und fuehrte alle Beispiele von seinem voellig begriffslosen Dasein an, die es bis jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn Kandidaten buchstaeblich beim Abc anfangen muesse, sondern dass auch sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu beginnen haette. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklaeren werde, zwei so verschiedene Wesen koennten nicht miteinander unterrichtet werden ohne grossen Schaden des vorgerueckteren Teiles; das waere fuer Herrn Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rueckgaengig zu machen, und so wuerde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin zurueckgeschickt wuerde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung aber duerfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und niemals einseitig im Urteilen. Er troestete Fraeulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der einen Seite so zurueck sei, so moechte sie auf der anderen umso gefoerderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins Gleichgewicht kommen werde. Als Fraeulein Rottenmeier sah, dass der Herr Kandidat sie nicht unterstuetzen, sondern seinen Abc-Unterricht uebernehmen wollte, machte sie ihm die Tuer zum Studierzimmer auf, und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit grossen Schritten im Zimmer auf und nieder, denn sie hatte zu ueberlegen, wie die Dienstboten Adelheid zu benennen haetten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben, sie muesste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort musste sich hauptsaechlich auf das Verhaeltnis zu den Dienstboten beziehen, dachte Fraeulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungestoert ueberlegen, denn auf einmal ertoente drinnen im Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstaende und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stuerzte hinein. Da lag auf dem Boden alles uebereinander, die saemtlichen Studien-Hilfsmittel, Buecher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbaechlein hervorfloss, die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden. "Da haben wir's", rief Fraeulein Rottenmeier haenderingend aus. "Teppich, Buecher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch nie geschehen! Das ist das Unglueckswesen, da ist kein Zweifel!" Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die Verwuestung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht bestuerzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnuegtem Gesicht die ungewoehnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun erklaerend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig, fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie eine Kutsche gesehen." "Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_ Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhoeren und still zu sitzen hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen waere! Was wuerde mir Herr Sesemann -" Fraeulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter der geoeffneten Haustuer, stand Heidi und guckte ganz verbluefft die Strasse auf und ab. "Was ist denn? Was faellt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!", fuhr Fraeulein Rottenmeier das Kind an. "Ich habe die Tannen rauschen gehoert, aber ich weiss nicht, wo sie stehen, und hoere sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute enttaeuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Foehns in den Tannen aehnlich geklungen hatte, so dass es in hoechster Freude dem Ton nachgerannt war. "Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das fuer Einfaelle! Komm herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fraeulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun sehr verwundert vor der grossen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu hoeren. "Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder", sagte Fraeulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du das verstehen?" "Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde still zu sitzen. Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gaehnen war heute gar keine Zeit gewesen. Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann seine Beschaeftigung selbst zu waehlen; so hatte Fraeulein Rottenmeier ihm am Morgen erklaert. Als nun nach Tisch Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fraeulein Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da war, da es seine Beschaeftigung selbst waehlen konnte. Das war dem Heidi sehr erwuenscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persoenlichkeit, die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen koenne. Richtig, nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem grossen Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Kueche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit grosser Deutlichkeit: "Sie oder Er!" Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur moeglich war, und sagte ziemlich barsch: "Was soll das heissen, Mamsell?" "Ich moechte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Boeses wie heute Morgen", fuegte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her. "So, und warum muss es denn heissen Sie oder Er, das moecht ich zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurueck. "Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fraeulein Rottenmeier hat es befohlen." Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fraeulein Rottenmeier befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so fahre die Mamsell nur zu." "Ich heisse gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein wenig geaergert; "ich heisse Heidi." "Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich Mamsell sage", erklaerte Sebastian. "Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heissen", sagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen musste, wie Fraeulein Rottenmeier befahl. "Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer hinzu. "Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank zurechtlegte. "Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?" "So, gerade so", und er machte den grossen Fensterfluegel auf. Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu koennen; es langte nur bis zum Gesims hinauf. "Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hoelzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der groessten Enttaeuschung zog es sogleich den Kopf wieder zurueck. "Man sieht nur die steinerne Strasse hier, sonst gar nichts", sagte das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?" "Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort. "Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen kann ueber das ganze Tal hinab?" "Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und sieht weit ueber alles weg." Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tuer hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Strasse hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es koenne nur ueber die Strasse gehen, so muesste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Strasse hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Strasse hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi dachte, sie haetten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der naechsten Strassenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Ruecken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?" "Weiss nicht", war die Antwort. "Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter. "Weiss nicht." "Weisst du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?" "Freilich weiss ich eine." "So komm und zeige mir sie." "Zeig du zuerst, was du mir dafuer gibst." Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schoenes Kraenzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, ueber die gruenen Abhaenge! "Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?" Der Junge zog die Hand zurueck und schuettelte den Kopf. "Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnuegt sein Bildchen wieder ein. "Geld." "Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?" "Zwanzig Pfennige." "So komm jetzt." Nun wanderten die beiden eine lange Strasse hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Ruecken trage, und er erklaerte ihm, es sei eine schoene Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe. Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der Junge stand still und sagte: "Da." "Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest verschlossenen Tueren sah. "Weiss nicht", war wieder die Antwort. "Glaubst du, man koenne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?" "Weiss nicht." Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kraeften daran. "Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiss jetzt den Weg nicht mehr zurueck, du musst mir ihn dann zeigen." "Was gibst du mir dann?" "Was muss ich dir dann wieder geben?" "Wieder zwanzig Pfennige." Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tuer geoeffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann ziemlich erzuernt auf die Kinder und fuhr sie an: "Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Koennt ihr nicht lesen, was ueber der Klingel steht: 'Fuer solche, die den Turm besteigen wollen'?" Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort. Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich." "Was hast du droben zu tun?", fragte der Tuermer; "hat dich jemand geschickt?" "Nein", entgegnete Heidi, "ich moechte nur hinaufgehen, dass ich hinuntersehen kann." "Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spass nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich der Tuermer um und wollte die Tuer zumachen. Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoss und sagte bittend: "Nur ein einziges Mal!" Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!" Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tuer nieder und zeigte, dass er nicht mitwollte. Heidi stieg an der Hand des Tuermers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden diese immer schmaeler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Tuermer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster. "Da, jetzt guck hinunter", sagte er. Heidi sah auf ein Meer von Daechern, Tuermen und Schornsteinen nieder; es zog bald seinen Kopf zurueck und sagte niedergeschlagen: "Es ist gar nicht, wie ich gemeint habe." "Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm nun wieder herunter und laeute nie mehr an einem Turm!" Der Tuermer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tuer, die in des Tuermers Stuebchen fuehrte, und nebenan ging der Boden bis unter das schraege Dach hin. Dort hinten stand ein grosser Korb und davor sass eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Voruebergehenden davor warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi stand still und schaute verwundert hinueber, eine so maechtige Katze hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze Herden von Maeusen, so holte sich die Katze ohne Muehe jeden Tag ein halbes Dutzend Maeusebraten. Der Tuermer sah Heidis Bewunderung und sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die Jungen ansehen." Heidi trat an den Korb heran und brach in ein grosses Entzuecken aus. "Oh, die netten Tierlein! Die schoenen Kaetzchen!", rief es ein Mal ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komischen Gebaerden und Spruenge zu sehen, welche die sieben oder acht jungen Kaetzchen vollfuehrten, die in dem Korb rastlos uebereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen. "Willst du eins haben?", fragte der Tuermer, der Heidis Freudenspruengen vergnuegt zuschaute. "Selbst fuer mich? Fuer immer?", fragte Heidi gespannt und konnte das grosse Glueck fast nicht glauben. "Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein Leid antun musste. Heidi war im hoechsten Glueck. In dem grossen Hause hatten ja die Kaetzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen! "Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte schnell einige fangen mit seinen Haenden, aber die dicke Katze sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr erschrocken zurueckfuhr. "Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Tuermer, der die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm gelebt. "Zum Herrn Sesemann in dem grossen Haus, wo an der Haustuer ein goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklaerte Heidi. Es haette nicht einmal so viel gebraucht fuer den Tuermer, der schon seit langen Jahren auf dem Turm sass und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm. "Ich weiss schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehoerst doch nicht Herrn Sesemann?" "Nein, aber die Klara, sie hat eine so grosse Freude, wenn die Kaetzchen kommen!" Der Tuermer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen. "Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen koennte! Eins fuer mich und eins fuer Klara, kann ich nicht?" "So wart ein wenig", sagte der Tuermer, trug dann die alte Katze behutsam in sein Stuebchen hinein und stellte sie an das Essschuesselchen hin, schloss die Tuer vor ihr zu und kam zurueck: "So, nun nimm zwei!" Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weisses und dann ein gelb und weiss gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter. Der Junge sass noch auf den Stufen draussen, und als nun der Tuermer hinter Heidi die Tuer zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen Weg muessen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?" "Weiss nicht", war die Antwort. Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustuer und die Fenster und die Treppen, aber der Junge schuettelte zu allem den Kopf, es war ihm alles unbekannt. "Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem Fenster sieht man ein grosses, grosses, graues Haus und das Dach geht so" - Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger grosse Zacken in die Luft hinaus. Jetzt sprang der Junge auf, er mochte aehnliche Merkmale haben, seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustuer mit dem grossen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er draengend: "Schnell! Schnell!" Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tuer zu; den Jungen, der verbluefft draussen stand, hatte er gar nicht bemerkt. "Schnell, Mamsellchen", draengte Sebastian weiter, "gleich ins Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fraeulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine Mamsell an, so fortzulaufen?" Heidi war ins Zimmer getreten. Fraeulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebastian rueckte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem Stuhl sass, begann Fraeulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen, wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlaesst, ohne zu fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst bis zum spaeten Abend; es ist eine voellig beispiellose Auffuehrung." "Miau", toente es wie als Antwort zurueck. Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in immer hoeheren Toenen, "du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spass zu machen? Huete dich wohl, sag ich dir!" "Ich mache", fing Heidi an - "Miau! Miau!" Sebastian warf fast seine Schuessel auf den Tisch und stuerzte hinaus. "Es ist genug", wollte Fraeulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung toente ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass das Zimmer." Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch einmal erklaeren: "Ich mache gewiss" - "Miau! Miau! Miau!" "Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du Fraeulein Rottenmeier so boese machst, warum machst du immer wieder 'miau'?" "Ich mache nicht, die Kaetzlein machen", konnte Heidi endlich ungestoert hervorbringen. "Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fraeulein Rottenmeier auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft sie fort!" Damit stuerzte die Dame ins Studierzimmer hinein und riegelte die Tueren zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren fuer Fraeulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schoepfung. Sebastian stand draussen vor der Tuer und musste erst fertig lachen, eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich nicht mehr halten, kaum noch seine Schuessel auf den Tisch setzen. Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die Hilferufe der geaengsteten Dame schon laengere Zeit verklungen waren. Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kaetzchen auf ihrem Schoss, Heidi kniete neben ihr und beide spielten mit grosser Wonne mit den zwei winzigen, grazioesen Tierchen. "Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie muessen uns helfen; Sie muessen ein Nest finden fuer die Kaetzchen, wo Fraeulein Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fuerchtet sich vor ihnen und will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie hintun?" "Das will ich schon besorgen, Fraeulein Klara", entgegnete Sebastian bereitwillig; "ich mache ein schoenes Bettchen in einem Korb und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte bestaendig vor sich hin, denn er dachte: "Das wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fraeulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet. Nach laengerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fraeulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tuer auf und rief durch das Spaeltchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere fortgeschafft?" "Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurueck, der sich im Zimmer zu schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und leise fasste er die beiden Kaetzchen auf Klaras Schoss und verschwand damit. Die besondere Strafrede, die Fraeulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute fuehlte sie sich zu erschoepft nach all den vorhergegangenen Gemuetsbewegungen von Aerger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend zurueck, und Klara und Heidi folgten vergnuegt nach, denn sie wussten ihre Kaetzchen in einem guten Bett. Im Hause Sesemann geht's unruhig zu Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustuer geoeffnet und ihn zum Studierzimmer gefuehrt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian die Treppe voellig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen sein." Er riss die Tuer auf - ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Ruecken stand vor ihm. "Was soll das heissen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich lehren, Glocken herunterzureissen! Was hast du hier zu tun?" "Ich muss zur Klara", war die Antwort. "Du ungewaschener Strassenkaefer du; kannst du nicht sagen 'Fraeulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fraeulein Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch. "Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklaerte der Junge. "Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weisst du ueberhaupt, dass ein Fraeulein Klara hier ist?" "Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurueck den Weg gezeigt, macht vierzig." "Da siehst du, was fuer Zeug du zusammenflunkerst; Fraeulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo du hingehoerst, bevor ich dir dazu verhelfe!" Aber der Junge liess sich nicht einschuechtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Strasse, ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir." "Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tuer, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fraeulein hoert es gern." Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen. "Es ist ein Junge da, der durchaus an Fraeulein Klara selbst etwas zu bestellen hat", berichtete Sebastian. Klara war sehr erfreut ueber das aussergewoehnliche Ereignis. "Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss." Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fraeulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. - Kamen die Toene von der Strasse her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertoenen? Und dennoch - wahrhaftig - sie stuerzte durch das lange Esszimmer und riss die Tuer auf. Da - unglaublich - da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit groesster Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hoerten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu. "Aufhoeren! Sofort aufhoeren!", rief Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde uebertoent von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu - aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Fuessen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Fuessen durch - eine Schildkroete. Jetzt tat Fraeulein Rottenmeier einen Sprung in die Hoehe, wie sie seit vielen Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskraeften: "Sebastian! Sebastian!" Ploetzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik uebertoent. Sebastian stand draussen vor der halb offenen Tuer und kruemmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fraeulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken. "Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!", rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkroete erfasst hatte, drueckte ihm draussen etwas in die Hand und sagte: "Vierzig fuer Fraeulein Klara, und vierzig fuers Spielen, das hast du gut gemacht"; damit schloss er hinter ihm die Haustuer. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fraeulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart aehnliche Graeuel zu verhueten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken wuerde. Schon wieder klopfte es an die Tuer, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein grosser Korb gebracht worden, der sogleich an Fraeulein Klara selbst abzugeben sei. "An mich?", fragte Klara erstaunt und aeusserst neugierig, was das sein moechte; "zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht." Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder. "Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt", bemerkte Fraeulein Rottenmeier. Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb. "Herr Kandidat", sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren unterbrechend, "koennte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?" "In einer Hinsicht koennte man dafuer, in einer anderen dawider sein", entgegnete der Herr Kandidat; "_dafuer_ spraeche der Grund, dass, wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist -"; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes sass nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kaetzchen darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie ueberall herum, dass es war, als waere das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen ueber die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fraeulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Fuesse herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzuecken: "Oh, die niedlichen Tierchen! Die lustigen Spruenge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!" Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fuss in die Hoehe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fraeulein Rottenmeier sass erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskraeften zu schreien: "Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!", denn vom Sessel aufzustehen konnte sie unmoeglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen. Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschoepfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er fuer die zwei von gestern bereitet hatte. Auch am heutigen Tage hatte kein Gaehnen waehrend der Unterrichtsstunden stattgefunden. Am spaeten Abend, als Fraeulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlaenglich erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer herauf, um hier eine gruendliche Untersuchung ueber die strafwuerdigen Vorgaenge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die saemtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigefuehrt hatte. Fraeulein Rottenmeier sass weiss vor Entruestung da und konnte erst keine Worte fuer ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte. "Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiss nur _eine_ Strafe, die dir empfindlich sein koennte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen laesst." Heidi hoerte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstossende Raum in der Almhuette, den der Grossvater Keller nannte, wo immer die fertigen Kaese lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen. Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fraeulein Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzaehlen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll." Gegen diesen Oberrichter durfte Fraeulein Rottenmeier nichts einwenden, umso weniger, da er wirklich in Baelde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verliess sie das Zimmer. Es verflossen nun ein paar ungestoerte Tage, aber Fraeulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stuendlich trat ihr die Taeuschung vor Augen, die sie in Heidis Persoenlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara war sehr vergnuegt; sie langweilte sich nie mehr, denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklaeren und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hoernchen oder einem Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: "Es ist eine Geiss!", oder: "Es ist ein Raubvogel!" Denn die Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den spaeteren Nachmittagsstunden sass Heidi wieder bei Klara und erzaehlte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: "Nun muss ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!" Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfaelle und bewies Heidi, dass es doch sicher dableiben muesse, bis der Papa komme; dann werde man schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine froehliche Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es noch dablieb, sein Haeuflein Broetchen fuer die Grossmutter wieder um zwei groesser wuerde, denn mittags und abends lag immer ein schoenes Weissbroetchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es haette das Broetchen nie essen koennen beim Gedanken, dass die Grossmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen konnte. Nach Tisch sass Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit Sebastian drueben im Esszimmer ein Gespraech fuehren durfte es auch nicht, das hatte Fraeulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in hoehnischem Ton mit ihm und spoettelte es fortwaehrend an, und Heidi verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete. So sass Heidi taeglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die Alm wieder gruen war und wie die gelben Bluemchen im Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es koenne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Broetchen in das grosse rote Halstuch zusammen, setzte sein Strohhuetchen auf und zog aus. Aber schon unter der Haustuer traf es auf ein grosses Reisehindernis, auf Fraeulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zurueckkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzueglich auf dem gefuellten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los. "Was ist das fuer ein Aufzug? Was heisst das ueberhaupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du's doch wieder und dazu noch voellig aussehend wie eine Landstreicherin." "Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen", entgegnete Heidi erschrocken. "Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fraeulein Rottenmeier schlug die Haende zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wuesste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, dass er das je erfaehrt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? Sag!" "Nein", entgegnete Heidi. "Das weiss ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir, gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor lauter Wohlsein weisst du nicht, was du noch alles anstellen willst!" Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so muss das Schneehoeppli immer klagen, und die Grossmutter erwartet mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geissenpeter keinen Kaese bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt obenueber fliegen wuerde, so wuerde er noch viel lauter kraechzen, dass so viele Menschen beieinander sitzen und einander boes machen und nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist." "Barmherzigkeit, das Kind ist uebergeschnappt!", rief Fraeulein Rottenmeier aus und stuerzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte. "Holen Sie auf der Stelle das unglueckliche Wesen herauf!", rief sie ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestossen. "Ja, ja, schon recht, danke schoen", gab Sebastian zurueck und rieb sich den seinen, denn er war noch haerter angefahren. Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Koerper. "Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er aber Heidi, das sich nicht ruehrte, recht ansah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte troestend: "Pah! Pah! Das muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschuechtern lassen! Na? Immer noch auf demselben Fleck? Wir muessen hinauf, sie hat's befohlen." Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernuenftiges Mamsellchen, hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwoelfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kaetzchen sind auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und tun wie naerrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?" Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich. Am Abendessen heute sagte Fraeulein Rottenmeier kein Wort, aber fortwaehrend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinueber, so als erwartete sie, es koennte ploetzlich etwas Unerhoertes unternehmen; aber Heidi sass maeuschenstill am Tisch und ruehrte sich nicht, es ass nicht und trank nicht; nur sein Broetchen hatte es schnell in die Tasche gesteckt. Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam, winkte ihn Fraeulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein, und hier teilte sie ihm in grosser Aufregung ihre Besorgnis mit, die Luftveraenderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindruecke haetten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzaehlte ihm von Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besaenftigte und beruhigte Fraeulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung das noetige Gleichgewicht einstellen koenne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht ueber das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande sei. Fraeulein Rottenmeier fuehlte sich beruhigter und entliess den Herrn Kandidaten zu seiner Arbeit. Am spaeteren Nachmittag stieg ihr die Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstuecke der Klara in den noetigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen wuerde. Sie teilte ihre Gedanken darueber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tuecher und Huete schenken wollte, verfuegte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurueck mit Gebaerden des Abscheus. "Was muss ich entdecken, Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank fuer Kleider, Adelheid, im Fuss dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!" - "Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus, "schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrueckten Strohhut auf dem Tisch!" "Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die Broetchen sind fuer die Grossmutter", und Heidi wollte der Tinette nachstuerzen, aber es wurde von Fraeulein Rottenmeier festgehalten. "Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehoert", sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurueck. Aber nun warf sich Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Grossmutter keine Broetchen mehr. Sie waren fuer die Grossmutter, nun sind sie alle fort und die Grossmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerspringen. Fraeulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi, weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hoer mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Broetchen fuer die Grossmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen waeren ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!" Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst haette es gar nicht mehr zu weinen aufhoeren koennen. Es musste auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten Anfaelle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, fuer die Grossmutter?" Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr, sei nur wieder froh!" Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es sein Broetchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die merkwuerdigsten Gebaerden, wenn er in Heidis Naehe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt." Als Heidi spaeter in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdruecktes Strohhuetchen unter der Decke versteckt. Mit Entzuecken zog es den alten Hut hervor, zerdrueckte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentuechlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Huetchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Huetchen oben darauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon forttun." Darauf hatte er es in aller Freude fuer Heidi gerettet, was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte. Der Hausherr hoert allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehoert hat Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann grosse Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn eben war der Hausherr von seiner Reise zurueckgekehrt, und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge schoener Sachen mit nach Hause. Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten, um sie zu begruessen. Heidi sass bei ihr, denn es war die Zeit des spaeten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara begruesste ihren Vater mit grosser Zaertlichkeit, denn sie liebte ihn sehr, und der gute Papa gruesste sein Klaerchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich leise in eine Ecke zurueckgezogen hatte, und sagte freundlich: "Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen, Klara und du? Nicht zanken und boese werden, und dann weinen und dann versoehnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?" "Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi. "Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf Klara schnell ein. "So ist's gut, das hoer ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand. "Nun musst du aber erlauben, Klaerchen, dass ich etwas geniesse; heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!" Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fraeulein Rottenmeier den Tisch ueberschaute, der fuer sein Mittagsmahl geruestet war. Nachdem Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenueber Platz genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fraeulein Rottenmeier, was muss ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klaerchen ist ganz munter." "Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist mit betroffen, wir sind fuerchterlich getaeuscht worden." "Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein. "Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine Gespielin fuer Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiss, wie sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermaedchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu beruehren, durch das Leben gehen." "Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die Schweizerkinder den Erdboden beruehren, wenn sie vorwaerts kommen wollen; sonst waeren ihnen wohl Fluegel gewachsen statt der Fuesse." "Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fraeulein fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorueberziehen." "Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fraeulein Rottenmeier?" "Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster, als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich getaeuscht worden." "Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann. "Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit was fuer Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevoelkert hat; davon koennte der Herr Kandidat erzaehlen." "Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fraeulein Rottenmeier?" "Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Auffuehrung dieses Wesens waere nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es Anfaelle von voelliger Verstandesgestoertheit hat." Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht fuer wichtig gehalten; aber Gestoertheit des Verstandes? Eine solche konnte ja fuer seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute Fraeulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Stoerung zu bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tuer aufgetan und der Herr Kandidat angemeldet. "Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!", rief ihm Herr Sesemann entgegen. "Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee mit mir, Fraeulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich - keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen ist und das Sie unterrichten. Was hat es fuer eine Bewandtnis mit den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem Verstand?" Der Herr Kandidat musste erst seine Freude ueber Herrn Sesemanns glueckliche Rueckkehr aussprechen und ihn willkommen heissen, weswegen er ja gekommen war; aber Herr Sesemann draengte ihn, dass er ihm Aufschluss gebe ueber die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Kandidat: "Wenn ich mich ueber das Wesen dieses jungen Maedchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so moechte ich vor allem darauf aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlaessigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspaeteten Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines laengeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse Dauer ueberschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite -" "Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie geben sich wirklich zu viel Muehe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten Sie ueberhaupt von diesem Umgang fuer mein Toechterchen?" "Ich moechte dem jungen Maedchen in keiner Art zu nahe treten", begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das junge Maedchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die Entwicklung dieses, ich moechte sagen noch voellig, wenigstens teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet -" "Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht stoeren, ich werde - ich muss schnell einmal nach meiner Tochter sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tuer hinaus und kam nicht wieder. Drueben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Toechterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um: "Hoer mal, Kleine, hol mir doch schnell - wart einmal - hol mir mal" - (Herr Sesemann wusste nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden) - "hol mir doch mal ein Glas Wasser." "Frisches?", fragte Heidi. "Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurueck. Heidi verschwand. "Nun, mein liebes Klaerchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an sein Toechterchen heranrueckte und dessen Hand in die seinige legte, "sag du mir klar und fasslich: Was fuer Tiere hat diese deine Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fraeulein Rottenmeier denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das sagen?" Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber fuer Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzaehlte erst dem Vater die Geschichten von der Schildkroete und den jungen Katzen und erklaerte ihm dann Heidis Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach Haus schicke, Klaerchen, du bist seiner nicht muede?", fragte der Vater. "Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus. "Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi erzaehlt mir auch so viel." "Schon gut, schon gut, Klaerchen, da kommt ja auch deine Freundin schon wieder. Na, schoenes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte. "Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi. "Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte Klara. "Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Strasse ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in die andere Strasse hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit den weissen Haaren laesst Herrn Sesemann freundlich gruessen." "Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist denn der Herr?" "Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: 'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte: 'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann sagte er den Gruss und auch noch, Herr Sesemann solle sich's schmecken lassen." "So, und wer laesst mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann. "Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes Ding haengt daran mit einem grossen roten Stein und auf seinem Stock ist ein Rosskopf." "Das ist der Herr Doktor" - "Das ist mein alter Doktor", sagten Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen Betrachtungen ueber diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich zufuehren zu lassen. Noch an demselben Abend erklaerte Herr Sesemann, als er allein mit Fraeulein Rottenmeier im Esszimmer sass, um allerlei haeusliche Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und angenehmer als jede andere. "Ich wuensche daher", setzte Herr Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und seine Eigentuemlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie uebrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fraeulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe fuer Sie in Aussicht, da in naechster Zeit meine Mutter zu ihrem laengeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl, Fraeulein Rottenmeier?" "Jawohl, das weiss ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hilfe. - Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause, schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschaefte wieder nach Paris, und er troestete sein Toechterchen, das mit der nahen Abreise nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der Grossmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte. Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte, der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt wuerde, um sie abzuholen. Klara war voller Freude ueber die Nachricht und erzaehlte noch an demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Grossmama, dass Heidi auch anfing, von der 'Grossmama' zu reden, worauf Fraeulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fuehlte sich unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann spaeter entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fraeulein Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklaerte ihm hier, es habe niemals den Namen 'Grossmama' anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnaedige Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so abschliessenden Blick zurueck, dass Heidi sich keine Erklaerung mehr erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte. Eine Grossmama Am folgenden Abend waren grosse Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und dass jedermann grossen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weisses Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Fuessen finde, wohin sie sich auch setzen moege. Fraeulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erloeschen sei. Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stuerzten die Treppe hinunter; langsam und wuerdevoll folgte Fraeulein Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein Zimmer zurueckzuziehen und da zu warten, bis es gerufen wuerde, denn die Grossmutter wuerde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte seine Anrede. Es waehrte gar nicht lange, so steckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertuer und sagte kurz angebunden wie immer: "Hinuebergehen ins Studierzimmer!" Heidi hatte Fraeulein Rottenmeier nicht fragen duerfen, wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehoert und nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tuer zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Grossmutter mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und lass dich recht ansehen." Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: "Guten Tag, Frau Gnaedige." "Warum nicht gar!", lachte die Grossmama. "Sagt man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp gehoert?" "Nein, bei uns heisst niemand so", erklaerte Heidi ernsthaft. "So, bei uns auch nicht", lachte die Grossmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich die Grossmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten, wie?" "Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon immer so gesagt." "So, so, verstehe schon!", sagte die Grossmama und nickte ganz lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Grossmama gefiel dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schoene weisse Haare, und um den Kopf ging eine schoene Spitzenkrause, und zwei breite Baender flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Grossmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete. "Und wie heisst du, Kind?", fragte jetzt die Grossmama. "Ich heisse nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heissen, so will ich schon Acht geben -"; Heidi stockte, denn es fuehlte sich ein wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fraeulein Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer nicht recht gegenwaertig war, dass dies sein Name sei, und Fraeulein Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten. "Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben Eingetretene ein, "dass ich einen Namen waehlen musste, den man doch aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu muessen, schon um der Dienstboten willen." "Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch einmal 'Heidi' heisst und an den Namen gewoehnt ist, so nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!" Es war Fraeulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie bestaendig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war nichts zu machen; die Grossmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fuenf Sinne hatte die Grossmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte. Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte die Grossmama sich neben sie auf einen Lehnstuhl und schloss ihre Augen fuer einige Minuten; dann stand sie schon wieder auf - denn sie war gleich wieder munter - und trat ins Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schlaeft", sagte sie vor sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kraeftig an die Tuer. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken ein wenig zurueck bei dem unerwarteten Besuch. "Wo haelt sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann. "In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nuetzlich beschaeftigen koennte, wenn es den leisesten Taetigkeitstrieb haette; aber Frau Sesemann sollte nur wissen, was fuer verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausfuehrt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum erzaehlen koennte." "Das wuerde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen saesse wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie koennten zusehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzaehlen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, ich will ihm einige huebsche Buecher geben, die ich mitgebracht habe." "Das ist ja gerade das Unglueck, das ist es ja eben!", rief Fraeulein Rottenmeier aus und schlug die Haende zusammen. "Was sollte das Kind mit Buechern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc erlernt; es ist voellig unmoeglich, diesem Wesen auch nur _einen_ Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besaesse, er haette diesen Unterricht laengst aufgegeben." "So, das ist merkwuerdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen Sie mir's herueber, es kann vorlaeufig die Bilder in den Buechern ansehen." Fraeulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste sich sehr verwundern ueber die Nachricht von Heidis Beschraenktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr schaetzte; sie gruesste ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf, ueberaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gespraech mit ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich. Heidi erschien im Zimmer der Grossmama und machte die Augen weit auf, als es die praechtigen bunten Bilder in den grossen Buechern sah, welche die Grossmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Grossmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit gluehendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stuerzten ihm ploetzlich die hellen Traenen aus den Augen, und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die Grossmama schaute das Bild an. Es war eine schoene, gruene Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den gruenen Gebueschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestuetzt, der schaute den froehlichen Tierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen. Die Grossmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schoene Geschichte dazu, die erzaehl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schoene Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzaehlen. Komm, nun muessen wir etwas besprechen zusammen, trockne schoen deine Traenen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder froehlich." Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhoeren konnte. Die Grossmama liess ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun sind wir wieder froh zusammen." Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir was erzaehlen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?" "O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass man es nicht lernen kann." "Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?" "Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer." "Das waere! Und woher weisst du denn diese Neuigkeit?" "Der Peter hat es mir gesagt und er weiss es schon, der muss immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer." "So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehoert und seine Buchstaben angesehen." "Es nuetzt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabaenderliche. "Heidi", sagte nun die Grossmama, "jetzt will ich dir etwas sagen: Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine grosse Menge von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst - du hast den Hirten gesehen auf der schoenen, gruenen Weide -; sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzaehlte, alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm fuer merkwuerdige Dinge begegnen. Das moechtest du schon wissen, Heidi, nicht?" Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehoert, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich nur schon lesen koennte!" "Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's waehren, das kann ich schon sehen, Heidi, und nun muessen wir mal nach der Klara sehen; komm, die schoenen Buecher nehmen wir mit." Damit nahm die Grossmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer. Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fraeulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem Kinde eine Veraenderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es nicht heimgehen koenne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht fuer immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden wuerde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Grossmama und Klara auch so denken wuerden. So durfte es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen moechte, denn dass die Grossmama, die so freundlich mit ihm war, auch boese wuerde, wie Fraeulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus der Huette - da war es auf einmal in seinem grossen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drueckte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass niemand es hoere. Heidis freudloser Zustand entging der Grossmama nicht. Sie liess einige Tage voruebergehen und sah zu, ob die Sache sich aendere und das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren wuerde. Als es aber gleich blieb und die Grossmama manchmal am fruehen Morgen schon sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit grosser Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast du einen Kummer?" Aber gerade dieser freundlichen Grossmama wollte Heidi nicht sich so undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so freundlich waere; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen." "Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Grossmama. "O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so ungluecklich aus, dass es die Grossmama erbarmte. "Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drueckt. Das verstehst du, nicht wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm fuer alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem Boesen behuete?" "O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind. "Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weisst du nicht, was das ist?" "Nur mit der ersten Grossmutter habe ich gebetet, aber es ist schon lang, und jetzt habe ich es vergessen." "Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drueckt und quaelt und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann ueberall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht." Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles, alles sagen?" "Alles, Heidi, alles." Das Kind zog seine Hand aus den Haenden der Grossmama und sagte eilig: "Kann ich gehen?" "Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und hinueber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel nieder und faltete seine Haende und sagte dem lieben Gott alles, was in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum Grossvater. - Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung ueber einen merkwuerdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier" - sie rueckte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?" "Im Gegenteil, gnaedige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene haette werfen koennen, denn nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine voellige Unmoeglichkeit sein muesse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden -" "Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?", setzte hier Frau Sesemann ein. In sprachlosem Erstaunen schaute der ueberraschte Herr die Dame an. "Es ist ja wirklich voellig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur, dass das junge Maedchen nach all meinen gruendlichen Erklaerungen, und ungewoehnlichen Bemuehungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kuerzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weiter greifenden Erlaeuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Maedchens zu bringen, sozusagen ueber Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfaengern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass die gnaedige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Moeglichkeit vermutete." "Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestaetigte Frau Sesemann und laechelte vergnueglich; "es koennen auch einmal zwei Dinge gluecklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide koennen nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen." Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tuer hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig sass hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem groessten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das grosse Buch liegen mit den schoenen Bildern, und als es fragend nach der Grossmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja, nun gehoert es dir." "Fuer immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor Freude. "Gewiss, fuer immer!", versicherte die Grossmama; "morgen fangen wir an zu lesen." "Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf Klara hier ein; "wenn nun die Grossmama wieder fortgeht, dann musst du erst recht bei mir bleiben." Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schoenes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, ueber seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schoenen bunten Bilder gehoerten. Sagte am Abend die Grossmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr beglueckt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schoener und verstaendlicher vor, und die Grossmama erklaerte dann noch so vieles und erzaehlte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine gruene Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnueglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schoenen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schaefchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hueten musste und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der Erklaerungen bekommen, welche die Grossmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schoene Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Grossmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte. Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab Die Grossmama hatte waehrend der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fraeulein Rottenmeier, wahrscheinlich der Ruhe beduerftig, geheimnisvoll verschwand, sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fuenf Minuten war sie wieder auf den Fuessen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschaeftigt und unterhalten. Die Grossmama hatte huebsche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schuerzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Naehen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die schoensten Roecke und Maentelchen, denn die Grossmama hatte immer Zeugstuecke von den praechtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer wieder der Grossmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die groesste Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein sehr nahes Verhaeltnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen. Es war die letzte Woche, welche die Grossmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem grossen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Grossmama, dass es ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht froehlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?" "Ja", nickte Heidi. "Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?" "Ja." "Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh mache?" "O nein, ich bete jetzt gar nie mehr." "Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hoeren? Warum betest du denn nicht mehr?" "Es nuetzt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehoert, und ich glaube es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiss gar nicht gehoert." "So, wie weisst du denn das so sicher, Heidi?" "Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der liebe Gott hat es nie getan." "Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott ist fuer uns alle ein guter Vater, der immer weiss, was gut fuer uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut fuer uns ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut fuer dich; der liebe Gott hat dich schon gehoert, er kann alle Menschen auf einmal anhoeren und uebersehen, siehst du, dafuer ist er der liebe Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl wusste, was fuer dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das Heidi soll schon einmal haben, wofuer es bittet, aber erst dann, wenn es ihm gut ist, und so wie es darueber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es doch besser gewesen waere, ich haette ihm seinen Willen nicht getan, dann weint es nachher und sagt: Haette mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofuer ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich gemeint habe.' Und waehrend nun der liebe Gott auf dich niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und taeglich zu ihm kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt, da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn einer es so macht und der liebe Gott hoert seine Stimme gar nie mehr unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und laesst ihn gehen, wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert: 'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!' Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen, dass er alles gut fuer dich machen werde, so dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst?" Heidi hatte sehr aufmerksam zugehoert; jedes Wort der Grossmama fiel in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen. "Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi reumuetig. "So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei nur getrost!", ermunterte die Grossmama, und Heidi lief sofort in sein Zimmer hinueber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm niederschauen moege. - Der Tag der Abreise war gekommen, es war fuer Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Grossmama wusste es so einzurichten, dass sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute Grossmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als waere alles vorueber, und solange noch der Tag waehrte, sassen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es nun weiter kommen sollte. Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da war, da die Kinder gewoehnlich zusammensassen, trat Heidi mit seinem Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer vorlesen; willst du, Klara?" Der Klara war der Vorschlag recht fuer einmal, und Heidi machte sich mit Eifer an seine Taetigkeit. Aber es ging nicht lange, so hoerte schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen begonnen, die von einer sterbenden Grossmutter handelte, als es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Grossmutter tot!", und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las, war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun sei die Grossmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer lauterem Weinen: "Nun ist die Grossmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Broetchen mehr bekommen!" Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklaeren, dass es ja nicht die Grossmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war, dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untroestlich weiter, denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Grossmutter koenne ja sterben, waehrend es so weit weg sei, und der Grossvater auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und koenne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren. Waehrenddessen war Fraeulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte noch Klaras Bemuehungen, Heidi ueber seinen Irrtum aufzuklaeren, mit angehoert. Als das Kind aber immer noch nicht aufhoeren konnte zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbruechen den Lauf laesst, so nehme ich das Buch aus deinen Haenden und fuer immer!" Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiss vor Schrecken, das Buch war sein hoechster Schatz. Es trocknete in groesster Eile seine Traenen und schluckte und wuergte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter, so dass kein Toenchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu ueberwinden und nicht aufzuschreien, dass Klara oefter ganz erstaunt sagte: "Heidi, du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe." Aber die Grimassen machten keinen Laerm und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles wieder ins Geleise fuer einige Zeit und war tonlos voruebergegangen. Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so mit anzusehen und Zeuge sein zu muessen, wie Heidi bei Tisch die schoensten Gerichte an sich voruebergehen liess und nichts essen wollte. Er fluesterte ihm auch oefter ermunternd zu, wenn er ihm eine Schuessel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Loeffel voll, noch einen!", und dergleichen vaeterlicher Raete mehr; aber es half nichts: Heidi ass fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war, und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen hinein, so dass es gar niemand hoeren konnte. So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Steinstrassen heraus, sondern kehrte gewoehnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch grosse, schoene Strassen, wo Haeuser und Menschen in Fuelle zu sehen waren, aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schoenen gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen, und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weissen Mauern am Hause gegenueber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der Peter wieder zur Alm fuehre mit den Geissen, da die goldenen Cystusroeschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer staenden. Heidi setzte sich in seinem einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Haenden die Augen zu, dass es den Sonnenschein drueben an der Mauer nicht sehe; und so sass es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos niederkaempfend, bis Klara wieder nach ihm rief. Im Hause Sesemann spukt's Seit einigen Tagen wanderte Fraeulein Rottenmeier meistens schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit der Daemmerung von einem Zimmer ins andere oder ueber den langen Korridor ging, schaute sie oefters um sich, gegen die Ecken hin und auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es koennte jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Raeumen herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich aufgeruesteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Raeumen etwas zu besorgen, wo der grosse geheimnisvolle Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten Ratsherren mit den grossen, weissen Kragen so ernsthaft und unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmaessig die Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas von dort herauf- oder von oben herunterzutragen waere. Tinette ihrerseits machte es puenktlich ebenso; hatte sie oben oder unten irgendein Geschaeft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es moechte etwas herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen koennte. Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in die abgelegenen Raeume geschickt, so holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen koennte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass jedes gut haette allein gehen koennen; aber es war so, als denke der Herbeigerufene immer bei sich, er koenne den anderen auch bald fuer denselben Dienst noetig haben. Waehrend sich solches oben zutrug, stand unten die langjaehrige Koechin tiefsinnig bei ihren Toepfen und schuettelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!" Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam, stand die Haustuer weit offen; aber weit und breit war niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Raeume des Hauses durchsucht, um zu sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken koennen und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tuer doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hoelzerne Balken vorgeschoben - es half nichts: Am Morgen stand die Tuer weit offen; und so frueh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte - die Tuer stand offen, wenn auch ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Tueren an allen anderen Haeusern noch fest verrammelt waren. Endlich fassten sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den grossen Saal stiess, zuzubringen und zu erwarten, was geschehe. Fraeulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen des Herrn Sesemann hervor und uebergab dem Sebastian eine grosse Liqueurflasche, damit Staerkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen koenne, wo sie noetig sei. Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen gleich an, sich Staerkung zuzutrinken, was sie erst sehr gespraechig und dann ziemlich schlaefrig machte, worauf sie beide sich an die Sesselruecken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drueben zwoelf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an; der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief, legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war nun wieder ganz munter geworden. Es war alles maeuschenstill, auch von der Strasse war kein Laut mehr zu hoeren. Sebastian entschlief nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der grossen Stille, und er rief den Johann nur noch mit gedaempfter Stimme an und ruettelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es droben schon ein Uhr geschlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl sitze und nicht in seinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief: "Nun, Sebastian, wir muessen doch einmal hinaus und sehen, wie's steht; du wirst dich ja nicht fuerchten. Nur mir nach." Johann machte die leicht angelehnte Zimmertuer weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustuer ein scharfer Luftzug her und loeschte das Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieser stuerzte zurueck, warf den hinter ihm stehenden Sebastian beinah ruecklings ins Zimmer hinein, riss ihn dann mit, schlug die Tuer zu und drehte in fieberhafter Eile den Schluessel um, solang er nur umging. Dann riss er seine Streichhoelzer hervor und zuendete sein Licht wieder an. Sebastian wusste gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann stehend, hatte er den Luftzug nicht so deutlich empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht besah, tat er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiss und zitterte wie Espenlaub. "Was ist's denn? Was war denn draussen?", fragte der Sebastian teilnehmend. "Sperrangelweit offen die Tuer", keuchte Johann, "und auf der Treppe eine weisse Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf - husch und verschwunden." Dem Sebastian gruselte es den ganzen Ruecken hinauf. Jetzt setzten sich die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis dass der neue Morgen da war und es auf der Strasse anfing, lebendig zu werden. Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen stehende Haustuer zu und stiegen dann hinauf, um Fraeulein Rottenmeier Bericht zu erstatten ueber das Erlebte. Die Dame war auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen. Sobald sie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch keinen erhalten hatte; er moege sich nur sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hause zurueckkehren, denn da geschaehen unerhoerte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die Nachricht, dass fortgesetzt die Tuer jeden Morgen offen stehe; dass also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt allnaechtlich offen stehender Hauspforte und dass man ueberhaupt nicht absehen koenne, was fuer dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch nach sich ziehen koenne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei ihm unmoeglich, so ploetzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe auch, sie sei voruebergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben, so moege Fraeulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie fragen, ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss wuerde seine Mutter in kuerzester Zeit mit den Gespenstern fertig, und diese trauten sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein Haus zu beunruhigen. Fraeulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieses Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst. Sie schrieb unverzueglich an Frau Sesemann, aber von dieser Seite her toente es nicht eben befriedigender, und die Antwort enthielt einige ganz anzuegliche Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie gedenke nicht, extra von Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen, weil die Rottenmeier Gespenster sehe. Uebrigens sei niemals ein Gespenst gesehen worden im Hause Sesemann, und wenn jetzt eines darin herumfahre, so koenne es nur ein lebendiges sein, mit dem die Rottenmeier sich sollte verstaendigen koennen; wo nicht, so solle sie die Nachtwaechter zu Hilfe rufen. Aber Fraeulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin hatte sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung gesagt, denn sie befuerchtete, die Kinder wuerden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte sehr unbequeme Folgen fuer sie haben. Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer hinueber, wo die beiden zusammensassen, und erzaehlte mit gedaempfter Stimme von den naechtlichen Erscheinungen eines Unbekannten. Sofort schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa muesse nach Hause kommen und Fraeulein Rottenmeier muesse zum Schlafen in ihr Zimmer hinueberziehen, und Heidi duerfe auch nicht mehr allein sein, sonst koenne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie wollten alle in _einem_ Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht brennen lassen, und Tinette muesste nebenan schlafen und der Sebastian und der Johann muessten auch herunterkommen und auf dem Korridor schlafen, dass sie gleich schreien und das Gespenst erschrecken koennten, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr aufgeregt und Fraeulein Rottenmeier hatte nun die groesste Muehe, sie etwas zu beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie mehr allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben Raume schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fuerchten sollte, so muesste Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi fuerchtete sich mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen das Kind noch gar nie etwas gehoert hatte, und es erklaerte gleich, es fuerchte das Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fraeulein Rottenmeier an ihren Schreibtisch und schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen Vorgaenge im Hause, die allnaechtlich sich wiederholten, haetten die zarte Konstitution seiner Tochter dergestalt erschuettert, dass die schlimmsten Folgen zu befuerchten seien; man habe Beispiele von ploetzlich eintretenden epileptischen Zufaellen oder Veitstanz in solchen Verhaeltnissen, und seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn dieser Zustand des Schreckens im Hause nicht gehoben werde. Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tuer und schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief und einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften Stuecke aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb geoeffneten Laden von oben herunter; in dem Augenblick schellte es noch einmal so nachdruecklich, dass jeder unwillkuerlich eine Menschenhand hinter dem tuechtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte die Hand erkannt, stuerzte durchs Zimmer, kopfueber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf die Fuesse und riss die Haustuer auf. Herr Sesemann gruesste kurz und stieg ohne weiteres nach dem Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter und voellig unveraendert sah, glaettete sich seine Stirn, die er vorher sehr zusammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst hoerte, sie sei so wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen sei, dass es ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus herumfahre, weil er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen musste. "Und wie fuehrt sich das Gespenst weiter auf, Fraeulein Rottenmeier?", fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den Mundwinkeln. "Nein, Herr Sesemann", entgegnete die Dame ernst, "es ist kein Scherz. Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf Fuerchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden sein." "So, davon weiss ich nichts", bemerkte Herr Sesemann, "muss aber bitten, meine voellig ehrenwerten Ahnen nicht verdaechtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will allein mit ihm reden." Herr Sesemann ging hinueber und Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fraeulein Rottenmeier sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine Gedanken. "Komm Er her, Bursche", winkte er dem Eintretenden entgegen, "und sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt, so um Fraeulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?" "Nein, meiner Treu, das muss der gnaedige Herr nicht glauben; es ist mir selbst nicht ganz gemuetlich bei der Sache", entgegnete Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit. "Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schaeme Er sich, Sebastian, ein junger, kraeftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzueglich zu meinem alten Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er moechte unfehlbar heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu konsultieren. Er muesse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden, Sebastian?" "Jawohl, jawohl! Der gnaedige Herr kann sicher sein, dass ich's gut mache." Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu seinem Toechterchen zurueck, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu benehmen, die er noch heute ins noetige Licht stellen wollte. Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fraeulein Rottenmeier sich zurueckgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas aengstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begruessung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: "Nun, nun, fuer einen, bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter." "Nur Geduld, Alter", gab Herr Sesemann zurueck; "derjenige, fuer den du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst abgefangen haben." "Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden muss?" "Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei mir spukt's!" Der Doktor lachte laut auf. "Schoene Teilnahme das, Doktor!", fuhr Herr Sesemann fort; "schade, dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht geniessen kann. Sie ist fest ueberzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten abbuesst." "Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?", fragte der Doktor noch immer sehr erheitert. Herr Sesemann erzaehlte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnaechtlich die Haustuer geoeffnet werde, nach der Angabe der saemtlichen Hausbewohner, und fuegte hinzu, um fuer alle Faelle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr unerwuenschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des Hausherrn zu erschrecken - dann koennte ein kleiner Schrecken, wie ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein -; oder auch es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu sein, dass niemand sich herauswage - in diesem Falle koennte eine gute Waffe auch nicht schaden. Waehrend dieser Erklaerungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen schoenen Weines, denn eine kleine Staerkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwuenscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten. Nun wurde die Tuer ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Korridor hinausfliessen, es konnte das Gespenst verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemuetlich in ihre Lehnstuehle und fingen an, sich allerlei zu erzaehlen, nahmen auch hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwoelf Uhr, eh sie sich's versahen. "Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht", sagte der Doktor jetzt. "Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen", entgegnete der Freund. Das Gespraech wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es voellig still, auch auf den Strassen war aller Laerm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor. "Pst, Sesemann, hoerst du nichts?" Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hoerten sie, wie der Balken zurueckgeschoben, dann der Schluessel zweimal im Schloss umgedreht, jetzt die Tuer geoeffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der Hand nach seinem Revolver. "Du fuerchtest dich doch nicht?", sagte der Doktor und stand auf. "Behutsam ist besser", fluesterte Herr Sesemann, erfasste mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermassen mit Leuchter und Schiessgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus. Durch die weit geoeffnete Tuer floss ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weisse Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand. "Wer da?", donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei. Mit blossen Fuessen im weissen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blaettlein im Winde von oben bis unten. Die Herren schauten einander in grossem Erstaunen an. "Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine Wassertraegerin", sagte der Doktor. "Kind, was soll das heissen?", fragte nun Herr Sesemann. "Was wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?" Schneeweiss vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos: "Ich weiss nicht." Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall gehoert in mein Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehoert." Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz vaeterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu. "Nicht fuerchten, nicht fuerchten", sagte er freundlich im Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes dabei, nur getrost sein." In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfaeltig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte beguetigend: "So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?" "Ich wollte gewiss nirgends hin", versicherte Heidi; "ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da." "So, so, und hast du etwa getraeumt in der Nacht, weisst du, so, dass du deutlich etwas sahst und hoertest?" "Ja, jede Nacht traeumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich sei beim Grossvater, und draussen hoer ich's in den Tannen sausen und denke: Jetzt glitzern so schoen die Sterne am Himmel, und ich laufe geschwind und mache die Tuer auf an der Huette und da ist's so schoen! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi fing schon an zu kaempfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufstieg. "Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Ruecken?" "O nein, nur hier drueckt es so wie ein grosser Stein immerfort." "Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zurueckgeben?" "Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte." "So, so, und weinst du denn so recht heraus?" "O nein, das darf man nicht, Fraeulein Rottenmeier hat es verboten." "Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig! Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?" "O ja", war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher das Gegenteil. "Hm, und wo hast du mit deinem Grossvater gelebt?" "Immer auf der Alm." "So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?" "O nein, da ist's so schoen, so schoen!" Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen ueberwaeltigten die Kraefte des Kindes; gewaltsam stuerzten ihm die Traenen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus. Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: "So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts schaden, und dann schlafen, ganz froehlich einschlafen; morgen wird alles gut." Dann verliess er das Zimmer. Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, liess er sich dem harrenden Freunde gegenueber in den Lehnstuhl nieder und erklaerte dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: "Sesemann, dein kleiner Schuetzling ist erstens mondsuechtig; voellig unbewusst hat er dir allnaechtlich als Gespenst die Haustuer aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch voellig werden wuerde; also schnelle Hilfe! Fuer das erste Uebel und die in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, naemlich, dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurueckversetzest; fuer das zweite gibt's ebenfalls nur _eine_ Medizin, naemlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept." Herr Sesemann war aufgestanden. In groesster Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: "Mondsuechtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand sieht zu und weiss etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und abgemagert seinem Grossvater zurueck? Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!" "Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zaehe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kraeftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewoehnt ist, so kann es wieder voellig gesunden; wenn nicht - du willst nicht, dass das Kind dem Grossvater unheilbar oder gar nicht mehr zurueckkomme?" Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: "Ja, wenn du so redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt werden." Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen, denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustuer, die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon der helle Morgenschimmer herein. Am Sommerabend die Alm hinan Herr Sesemann stieg in grosser Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er so ungewoehnlich kraeftig an die Tuer, dass die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hoerte die Stimme des Hausherrn draussen: "Bitte sich zu beeilen und im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet werden." Fraeulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fuenf des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwaerts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum. Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je fuer die verschiedenen Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzufuehren. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fraeulein Rottenmeier war unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles sass, wie es musste, nur die Haube sass verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Ruecken. Herr Sesemann schrieb den raetselhaften Anblick dem fruehen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geschaeftsverhandlungen. Er erklaerte der Dame, sie habe ohne Zoegern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die saemtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken - so nannte Herr Sesemann gewoehnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war -, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es muesse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen. Fraeulein Rottenmeier blieb vor Ueberraschung wie in den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehoert haette; stattdessen diese voellig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Auftraege. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewaeltigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres. Aber Herr Sesemann hatte keine Erklaerungen im Sinn; er liess die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewoehnliche Bewegung im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzaehlte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine naechtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen wuerde, was dann mit den hoechsten Gefahren verbunden waere. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung koenne er nicht auf sich nehmen, und Klara muesse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein koenne. Klara war sehr schmerzlich ueberrascht von der Mitteilung und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im naechsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernuenftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer fuer Heidi in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken koenne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schoene Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in grosser Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewoehnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas Ausserordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und erklaerte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wuensche, sie moechte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die Base sah sehr enttaeuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit grosser Beredsamkeit, heute waere es ihr leider voellig unmoeglich, die Reise anzutreten, und morgen koennte sie noch weniger daran denken, und die Tage darauf waere es am allerunmoeglichsten, um der darauf folgenden Geschaefte willen, und nachher koennte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entliess die Base ohne weiteres. Nun liess er den Sebastian vortreten und erklaerte ihm, er habe sich unverzueglich zur Reise zu ruesten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann koenne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Grossvater werde diesem alles erklaeren. "Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian", schloss Herr Sesemann, "und dass Er mir das puenktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden fuer das Kind; fuer sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollstaendig, dass nur grosse Gewalt sie aufzubringen vermoechte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schliesst von aussen die Tuer ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und koennte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustuer aufmachen wollte; versteht Er das?" "Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?", stiess Sebastian jetzt in groesster Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein grosses Licht aufgegangen ueber die Geistererscheinung. "Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuss, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine laecherliche Mannschaft." Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Oehi. Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und wiederholte jetzt zu oefteren Malen in seinem Innern: "Haett ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube hineinreissen lassen, sondern waere dem weissen Figuerchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft tun wuerde!", denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit. Unterdessen stand Heidi voellig ahnungslos in seinem Sonntagsroeckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgeruettelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen gefoerdert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering. Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das Fruehstueck bereitstand, und rief: "Wo ist das Kind?" Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm 'guten Morgen' zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: "Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?" Heidi blickte verwundert zu ihm auf. "Du weisst am Ende noch gar nichts", lachte Herr Sesemann. "Nun, heut gehst du heim, jetzt gleich." "Heim?", wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiss, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt. "Nun, willst du etwa nichts wissen davon?", fragte Herr Sesemann laechelnd. "O ja, ich will schon", kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden. "Gut, gut", sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und Heidi winkte, dasselbe zu tun. "Und nun tuechtig fruehstuecken und hernach in den Wagen und fort." Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, dass es gar nicht wusste, ob es wache oder traeume und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustuer stehen werde. "Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen", rief Herr Sesemann Fraeulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; "das Kind kann nicht essen, begreiflicherweise. - Geh hinueber zu Klara, bis der Wagen vorfaehrt", setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu. Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinueber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen. "Komm, Heidi, komm", rief ihm Klara entgegen. "Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut's dich?" Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schuerzen, Tuecher und Naehgeraet, "und sieh hier, Heidi", und Klara hob triumphierend einen Korb in die Hoehe. Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwoelf schoene, weisse, runde Broetchen, alle fuer die Grossmutter. Die Kinder vergassen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: "Der Wagen ist bereit!" - da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schoenes Buch von der Grossmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Broetchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig - auch das alte rote Tuch lag noch da, Fraeulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein schoenes Huetchen auf und verliess sein Zimmer. Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fraeulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rote Buendelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden. "Nein, Adelheid", sagte sie tadelnd, "so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du ueberhaupt nicht mitzuschleppen. Nun lebe wohl." Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Buendelchen nicht wieder aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen groessten Schatz nehmen. "Nein, nein", sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, "das Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge Katzen oder Schildkroeten mit fortschleppen, so wollen wir uns darueber nicht aufregen, Fraeulein Rottenmeier." Heidi hob eilig sein Buendelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten, sie wuerden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wuenschte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schoen fuer alle Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es: "Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal gruessen und ihm auch vielmals danken." Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern Abend gesagt hatte: "Und morgen wird alles gut." Nun war es so gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen. Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: "Glueckliche Reise!", und der Wagen rollte davon. Bald nachher sass Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen Korb auf dem Schosse fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Haenden lassen, seine kostbaren Broetchen fuer die Grossmutter waren ja darin, die musste es sorgfaeltig hueten und von Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darueber. Heidi sass maeuschenstille waehrend mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Grossvater, auf die Alm, zur Grossmutter, zum Geissenpeter, und nun kam ihm alles vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue Gedanken auf, und auf einmal sagte es aengstlich: "Sebastian, ist auch sicher die Grossmutter auf der Alm nicht gestorben?" "Nein, nein", beruhigte dieser, "wollen's nicht hoffen, wird schon noch am Leben sein." Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurueck; nur hier und da guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Broetchen der Grossmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach laengerer Zeit sagte es wieder: "Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen koennte, dass die Grossmutter noch am Leben ist." "Jawohl! Jawohl!", entgegnete der Begleiter halb schlafend; "Wird schon noch leben, wuesste auch gar nicht, warum nicht." Nach einiger Zeit drueckte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem fruehen Aufstehen war es so schlafbeduerftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es tuechtig am Arm schuettelte und ihm zurief: "Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen, in Basel angekommen!" Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi sass wieder mit seinem Korb auf dem Schoss, den es um keinen Preis dem Sebastian uebergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertoente laut der Ruf: "Maienfeld!" Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch ueberrascht worden war. Jetzt standen sie draussen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal hinein. Sebastian sah ihm wehmuetig nach, denn er waere viel lieber so sicher und ohne Muehe weitergereist, als dass er nun eine Fusspartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig um sich, wen er etwa beraten koennte ueber den sichersten Weg nach dem 'Doerfli'. Unweit des kleinen Stationsgebaeudes stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Roesslein davor; auf diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar grosse Saecke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Doerfli vor. "Hier sind alle Wege sicher", war die kurze Antwort. Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen koenne, ohne in die Abgruende zu stuerzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Doerfli befoerdern koennte. Der Mann schaute nach dem Koffer hin und mass ihn ein wenig mit den Augen; dann erklaerte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Doerfli fahre, und so gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden ueberein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Doerfli aus koenne das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt werden. "Ich kann allein gehen, ich weiss schon den Weg vom Doerfli auf die Alm", sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehoert hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und ueberreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Grossvater und erklaerte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die muesse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die Broetchen, und darauf muesse genau Acht gegeben werden, dass sie nicht verloren gehe, denn darueber wuerde Herr Sesemann ganz fuerchterlich boese und sein Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das Mamsellchen nur ja bedenken. "Ich verliere sie schon nicht", sagte Heidi zuversichtlich und steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Fuehrer war noch in der Naehe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wusste, er haette eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der Fuehrer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, waehrend Sebastian, froh ueber seine Befreiung von der gefuerchteten Bergreise, sich am Stationshaeuschen niedersetzte, um den zurueckgehenden Bahnzug abzuwarten. Der Mann auf dem Wagen war der Baecker vom Doerfli, welcher seine Mehlsaecke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie jedermann im Doerfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder heimkommen und waehrend der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespraech an: "Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Oehi war, beim Grossvater?" "Ja." "So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit her heimkommst?" "Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat." "Warum laeufst du denn heim?" "Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst waer ich nicht heimgelaufen." "Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir's erlaubt hat, heimzugehen?" "Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Grossvater auf die Alm als sonst alles auf der Welt." "Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst", brummte der Baecker; "nimmt mich aber doch wunder", sagte er dann zu sich selbst, "es kann wissen, wie's ist." Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Baeume am Wege, und drueben standen die hohen Zacken des Falknis-Berges und schauten zu ihm herueber, so als gruessten sie es wie gute alte Freunde; und Heidi gruesste wieder, und mit jedem Schritt vorwaerts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte, es muesse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kraeften laufen, bis es ganz oben waere. Aber es blieb doch still sitzen und ruehrte sich nicht, aber alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Doerfli ein, eben schlug die Glocke fuenf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Baeckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und wohin und wem beide zugehoerten. Als der Baecker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: "Danke, der Grossvater holt dann schon den Koffer", und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi draengte sich mit einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm unwillkuerlich Platz machte und es laufen liess, und einer sagte zum anderen: "Du siehst ja, wie es sich fuerchtet, es hat auch alle Ursache." Und dann fingen sie noch an, sich zu erzaehlen, wie der Alm-Oehi seit einem Jahr noch viel aerger geworden sei als vorher und mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wuesste wohin, so liefe es nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Baecker in das Gespraech ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle, und erzaehlte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und ueberhaupt koenne er sicher sagen, dass es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es selbst begehrt habe, zum Grossvater zurueckzugehen. Diese Nachricht brachte eine grosse Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Doerfli so verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus daselbst war, in dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus allem Wohlleben zum Grossvater zurueckbegehrt habe. Heidi lief vom Doerfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit musste es aber ploetzlich stille stehen, denn es hatte ganz den Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer steiler, je hoeher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch einen Gedanken: "Wird auch die Grossmutter noch auf ihrem Plaetzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Huette oben in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt war es oben - vor Zittern konnte es fast die Tuer nicht aufmachen - doch jetzt - es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da, voellig ausser Atem, und brachte keinen Ton hervor. "Ach du mein Gott", toente es aus der Ecke hervor, "so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben koennte! Wer ist hereingekommen?" "Da bin ich ja, Grossmutter, da bin ich ja", rief Heidi jetzt und stuerzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Grossmutter heran, fasste ihren Arm und ihre Haende und legte sich an sie und konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Grossmutter so ueberrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr sie mit der Hand streichelnd ueber Heidis Kraushaare hin, und nun sagte sie ein Mal ueber das andere: "Ja, ja, das sind seine Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich das noch erleben laesst!" Und aus den blinden Augen fielen ein paar grosse Freudentraenen auf Heidis Hand nieder. "Bist du's auch, Heidi, bist du auch sicher wieder da?" "Ja, ja, sicher, Grossmutter", rief Heidi nun mit aller Zuversicht, "weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein hartes Brot mehr essen, siehst du, Grossmutter, siehst du?" Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Broetchen nach dem andern aus, bis es alle zwoelf auf dem Schoss der Grossmutter aufgehaeuft hatte. "Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn fuer einen Segen mit!", rief die Grossmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Broetchen und immer noch eines folgte. "Aber der groesste Segen bist du mir doch selber, Kind!" Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich ueber seine heissen Wangen und sagte wieder: "Sag noch ein Wort, Kind, sag noch etwas, dass ich dich hoeren kann." Heidi erzaehlte nun der Grossmutter, welche grosse Angst es habe ausstehen muessen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe nun gar nie die weissen Broetchen bekommen, und es koenne nie, nie mehr zu ihr gehen. Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: "Sicher, es ist das Heidi, wie kann auch das sein!" Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar nicht genug verwundern darueber, wie Heidi aussehe, und ging um das Kind herum und sagte: "Grossmutter, wenn du doch nur sehen koenntest, was fuer ein schoenes Roecklein das Heidi hat und wie es aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhuetlein auf dem Tisch gehoert dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin aussiehst." "Nein, ich will nicht", erklaerte Heidi, "du kannst es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes." Damit machte Heidi sein rotes Buendelchen auf und nahm sein altes Huetchen daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kuemmerte das Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Grossvater beim Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi sein Huetchen so sorgfaeltig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans Heimgehen zum Grossvater. Aber die Brigitte sagte, so einfaeltig muesse es nicht sein, es sei ja ein praechtiges Huetchen, das nehme sie nicht; man koennte es ja etwa dem Toechterlein vom Lehrer im Doerfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Huetlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Huetchen leise hinter die Grossmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schoenes Roecklein aus, und ueber das Unterroeckchen, in dem es nun mit blossen Armen dastand, band es das rote Halstuch, und nun fasste es die Hand der Grossmutter und sagte: "Jetzt muss ich heim zum Grossvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute Nacht, Grossmutter." "Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder", bat die Grossmutter und drueckte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht loslassen. "Warum hast du denn dein schoenes Roecklein ausgezogen?", fragte die Brigitte. "Weil ich lieber so zum Grossvater will, sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin." Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tuer hinaus, und hier sagte sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: "Den Rock haettest du schon anbehalten koennen, er haette dich doch gekannt; aber sonst musst du dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Oehi sei jetzt immer boes und rede kein Wort mehr." Heidi sagte 'gute Nacht' und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die gruene Alm, und jetzt war auch drueben das grosse Schneefeld an der Schesaplana sichtbar geworden und strahlte herueber. Heidi musste alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Ruecken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen Fuessen auf das Gras, es kehrte sich um, da - so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie so im Traum gesehen - die Felshoerner am Falknis flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld gluehte und rosenrote Wolken zogen darueber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Traenen die Wangen herunter, und es musste die Haende falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er es wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schoen sei und noch viel schoener, als es gewusst hatte, und dass alles wieder ihm gehoere; und Heidi war so gluecklich und so reich in all der grossen Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum vergluehte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg hinan, dass es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die Tannenwipfel ueber dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Huette, und auf der Bank an der Huette sass der Grossvater und rauchte sein Pfeifchen, und ueber die Huette her wogten die alten Tannenwipfel und raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht sehen konnte, was da herankam, stuerzte das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es nichts sagen, als nur immer ausrufen: "Grossvater! Grossvater! Grossvater!" Der Grossvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der Hand darueber fahren. Dann loeste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. "So, bist du wieder heimgekommen, Heidi", sagte er dann; "wie ist das? Besonders hoffaertig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?" "O nein, Grossvater", fing Heidi nun mit Eifer an, "das musst du nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Grossmama und der Herr Sesemann; aber siehst du, Grossvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein koennte, und ich habe manchmal gemeint, ich muesse ganz ersticken, so hat es mich gewuergt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz frueh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran - aber es steht vielleicht alles in dem Brief" - damit sprang Heidi auf den Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und legte beide in die Hand des Grossvaters. "Das gehoert dir", sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche. "Meinst, du koenntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?", fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Huette einzutreten. "Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider fuer ein paar Jahre." "Ich brauch es gewiss nicht, Grossvater", versicherte Heidi; "ein Bett hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, dass ich gewiss nie mehr andere brauche." "Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal brauchen koennen." Heidi gehorchte und huepfte nun dem Grossvater nach in die Huette hinein, wo es vor Freude ueber das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf - aber da stand es ploetzlich still und rief in Betroffenheit von oben herunter: "Oh, Grossvater, ich habe kein Bett mehr!" "Kommt schon wieder", toente es von unten herauf, "wusste ja nicht, dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!" Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten Platze, und nun erfasste es sein Schuesselchen und trank mit einer Begierde, als waere etwas so Koestliches noch nie in seinen Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schuesselchen hinstellte, sagte es: "So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts auf der Welt, Grossvater." Jetzt ertoente draussen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss Heidi zur Tuer hinaus. Da kam die ganze Schar der Geissen huepfend, springend, Saetze machend von der Hoehe herunter, mittendrin der Peter. Als er Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle voellig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: "Guten Abend, Peter!", und stuerzte mitten in die Geissen hinein: "Schwaenli! Baerli! Kennt ihr mich noch?", und die Geisslein mussten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Koepfe an Heidi und fingen an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und draengten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf und ueber zwei Geissen weg, um gleich in die Naehe zu kommen, und sogar das schuechterne Schneehoeppli draengte mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den grossen Tuerk auf die Seite, der nun ganz verwundert ueber die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass er es sei. Heidi war ausser sich vor Freude, alle die alten Gefaehrten wieder zu haben; es umarmte das kleine, zaertliche Schneehoeppli wieder und wieder und streichelte den stuermischen Distelfink und wurde vor grosser Liebe und Zutraulichkeit der Geissen hin und her gedraengt und geschoben, bis es nun ganz in Peters Naehe kam, der noch immer auf demselben Platze stand. "Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!", rief ihm Heidi jetzt zu. "Bist denn wieder da?", brachte er nun endlich in seinem Erstaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer getan hatte bei der Heimkehr am Abend: "Kommst morgen wieder mit?" "Nein, morgen nicht, aber uebermorgen vielleicht, denn morgen muss ich zur Grossmutter." "Es ist recht, dass du wieder da bist", sagte der Peter und verzog sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnuegen, dann schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch nie mit seinen Geissen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwaenlis und den andern um Baerlis Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei Geissen in den Stall eintreten und die Tuer zumachen, sonst waere der Peter niemals mit seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Huette zurueckkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, praechtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darueber hatte der Grossvater ganz sorgfaeltig die sauberen Leintuecher gebreitet. Heidi legte sich mit grosser Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Waehrend der Nacht verliess der Grossvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn sein grosses, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendgluehen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehoert, es war wieder daheim auf der Alm. Am Sonntag, wenn's laeutet Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Grossvater, der mitgehen und den Koffer vom Doerfli heraufholen wollte, waehrend es bei der Grossmutter waere. Das Kind konnte es fast nicht erwarten, die Grossmutter wieder zu sehen und zu hoeren, wie ihr die Broetchen geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn es konnte ja nicht genug die heimatlichen Toene von dem Tannenrauschen ueber ihm und das Duften und Leuchten der gruenen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken. Jetzt trat der Grossvater aus der Huette, schaute noch einmal rings um sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: "So, nun koennen wir gehen." Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Oehi alles sauber und in Ordnung in der Huette, im Stall und ringsherum, das war seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu koennen, und so sah nun alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der Geissenpeter-Huette trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon hatte die Grossmutter seinen Schritt gehoert und rief ihm liebevoll entgegen: "Kommst du, Kind? Kommst du wieder?" Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch fuerchtete sie, das Kind koennte ihr wieder entrissen werden. Und nun musste die Grossmutter erzaehlen, wie die Broetchen geschmeckt haetten, und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie meine, sie sei heute viel kraeftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter fuegte hinzu, die Grossmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Broetchen essen wollen, gestern und heut zusammen, und sie kaeme gewiss noch ziemlich zu Kraeften, wenn sie so acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte. Heidi hoerte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. "Ich weiss schon, was ich mache, Grossmutter", sagte es in freudigem Eifer; "ich schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss noch einmal so viel Broetchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte schon einen grossen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man mir sie weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele wieder, und das tut sie schon." "Ach Gott", sagte die Brigitte, "das ist eine gute Meinung; aber denk, sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen uebrigen Batzen haette, der Baecker unten im Doerfli macht auch solche, aber ich vermag kaum das schwarze Brot zu bezahlen." Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl ueber Heidis Gesicht: "Oh, ich habe furchtbar viel Geld, Grossmutter", rief es jubelnd aus und huepfte vor Freuden in die Hoehe, "jetzt weiss ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage musst du ein neues Broetchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann sie heraufbringen vom Doerfli." "Nein, nein, Kind!", wehrte die Grossmutter; "das kann nicht sein, das Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Grossvater geben, er sagt dir dann schon, was du damit machen musst." Aber Heidi liess sich nicht stoeren in seiner Freude, es jauchzte und huepfte in der Stube herum und rief ein Mal uebers andere: "Jetzt kann die Grossmutter jeden Tag ein Broetchen essen und wird wieder ganz kraeftig, und - oh, Grossmutter", rief es mit neuem Jubel, "wenn du dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist vielleicht nur, weil du so schwach bist." Die Grossmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht trueben. Bei seinem Herumhuepfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Grossmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: "Grossmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen; soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?" "O ja", bat die Grossmutter freudig ueberrascht; "kannst du das auch wirklich, Kind, kannst du das?" Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberuehrt gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf seinen Schemel zur Grossmutter hin und fragte, was es nun lesen solle. "Was du willst, Kind, was du willst", und mit gespannter Erwartung sass die Grossmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben. Heidi blaetterte und las leise hier und da eine Linie: "jetzt kommt etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Grossmutter." Und Heidi begann und wurde selbst immer eifriger und immer waermer, waehrend es las: "Die gueldne Sonne Voll Freud und Wonne Bringt unsern Grenzen Mit ihrem Glaenzen Ein herzerquickendes, liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder Die lagen darnieder; Aber nun steh ich, Bin munter und froehlich, Schaue den Himmel mit meinem Gesicht. Mein Auge schauet, Was Gott gebauet Zu seinen Ehren, Und uns zu lehren, Wie sein Vermoegen sei maechtig und gross. Und wo die Frommen Dann sollen hinkommen, Wenn sie mit Frieden Von hinnen geschieden Aus dieser Erde vergaenglichem Schoss. Alles vergehet, Gott aber stehet Ohn alles Wanken, Seine Gedanken, Sein Wort und Wille hat ewigen Grund. Sein Heil und Gnaden Die nehmen nicht Schaden, Heilen im Herzen, Die toedlichen Schmerzen, Halten uns zeitlich und ewig gesund. Kreuz und Elende - Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht. Freude die Fuelle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten, Dahin sind meine Gedanken gericht'." Die Grossmutter sass still da mit gefalteten Haenden, und ein Ausdruck unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Traenen die Wangen herabliefen. Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: "Oh, noch einmal, Heidi, lass es mich noch einmal hoeren: 'Kreuz und Elende Das nimmt ein Ende' -" Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen: "Kreuz und Elende - Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwuenschtes Gesicht. Freude die Fuelle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten, Dahin sind meine Gedanken gericht'." "O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du mir wohl gemacht, Heidi!" Ein Mal ums andere sagte die Grossmutter die Worte der Freude, und Heidi strahlte vor Glueck und musste sie nur immer ansehen, denn so hatte es die Grossmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte truebselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als saehe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schoenen himmlischen Garten hinein. Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Grossvater draussen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die Grossmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zurueck; denn dass es der Grossmutter wieder hell machen konnte und sie wieder froehlich wurde, das war nun fuer Heidi das allergroesste Glueck, das es kannte, noch viel groesser, als auf der sonnigen Weide und bei den Blumen und Geissen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tuer nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Grossvater kenne es jetzt schon, dachte es bei sich; aber den Hut wies es hartnaeckig zurueck, die Brigitte sollte ihn nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so erfuellt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem Grossvater alles erzaehlen musste, was ihm das Herz erfreute, dass man die weissen Broetchen auch unten im Doerfli fuer die Grossmutter holen koenne, wenn man nur Geld habe, und dass es der Grossmutter auf einmal so hell und wohl geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte, kehrte es wieder zum Ersten zurueck und sagte ganz zuversichtlich: "Gelt, Grossvater, wenn die Grossmuttter schon nicht will, so gibst du mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein Stueck geben kann zu einem Broetchen und am Sonntag zwei?" "Aber das Bett, Heidi?", sagte der Grossvater; "ein rechtes Bett fuer dich waere gut, und nachher bleibt schon noch fuer manches Broetchen." Aber Heidi liess dem Grossvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablaessig, dass der Grossvater zuletzt sagte: "Das Geld ist dein, mach, was dich freut; du kannst der Grossmutter manches Jahr lang Brot holen dafuer." Heidi jauchzte auf: "O juhe! Nun muss die Grossmutter gar nie mehr hartes, schwarzes Brot essen, und, o Grossvater! Nun ist doch alles so schoen wie noch gar nie, seit wir leben!", und Heidi huepfte hoch auf an der Hand des Grossvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die froehlichen Voegel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft und sagte: "Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan haette, was ich so stark erbetete, dann waere doch alles nicht so geworden, ich waere nur gleich wieder heimgekommen und haette der Grossmutter nur wenige Broetchen gebracht und haette ihr nicht lesen koennen, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles ausgedacht, so viel schoener, als ich es wusste; die Grossmama hat es mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer so beten, wie die Grossmama sagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Grossvater, und wir wollen es nie mehr vergessen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst." "Und wenn's einer doch taete?", murmelte der Grossvater. "Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch und laesst ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und er jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen nur: Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun laesst ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen koennte." "Das ist wahr, Heidi, woher weisst du das?" "Von der Grossmama, sie hat mir alles erklaert." Der Grossvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine Gedanken verfolgend, vor sich hin: "Und wenn's einmal so ist, dann ist es so; zurueck kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er vergessen." "O nein, Grossvater, zurueck kann einer, das weiss ich auch von der Grossmama, und dann geht es so wie in der schoenen Geschichte in meinem Buch, aber die weisst du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon erfahren, wie schoen die Geschichte ist." Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des Grossvaters Hand losliess und in die Huette hineinrannte. Der Grossvater nahm den Korb von seinem Ruecken, in den er die Haelfte der Sachen aus dem Koffer hineingestossen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen waere ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein grosses Buch unter dem Arm: "Oh, das ist recht, Grossvater, dass du schon dasitzt", und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder gelesen, dass das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit grosser Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draussen auf des Vaters Feldern die schoenen Kuehe und Schaeflein weideten und er in einem schoenen Maentelchen, auf seinen Hirtenstab gestuetzt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. "Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut fuer sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schoene Tiere, wie auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hueten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern, welche die Schweinchen assen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: 'Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm sagen, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen, aber lass mich nur dein Tageloehner bei dir sein.' Und wie er von ferne gegen das Haus seines Vaters kam, da sah ihn der Vater und kam herausgelaufen - was meinst du jetzt, Grossvater?", unterbrach sich Heidi in seinem Vorlesen; "jetzt meinst du, der Vater sei noch boese und sage zu ihm: 'Ich habe dir's ja gesagt!'? Jetzt hoer nur, was kommt: Und sein Vater sah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihm um den Hals und kuesste ihn, und der Sohn sprach zu ihm: 'Vater, ich habe gesuendigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen.' Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: 'Bringt das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Fuesse, und bringt das gemaestete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und froehlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden worden.' Und sie fingen an, froehlich zu sein." "Ist denn das nicht eine schoene Geschichte, Grossvater?", fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasass und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern. "Doch, Heidi, die Geschichte ist schoen", sagte der Grossvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Grossvater hin und sagte: "Sieh, wie es ihm wohl ist", und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehoert als sein Sohn. Ein paar Stunden spaeter, als Heidi laengst im tiefen Schlafe lag, stieg der Grossvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Laempchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Haenden, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Grossvater reden musste, denn lange, lange stand er da und ruehrte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Haende, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: "Vater, ich habe gesuendigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen!" Und ein paar grosse Traenen rollten dem Alten die Wangen herab. - Wenige Stunden nachher in der ersten Fruehe des Tages stand der Alm-Oehi vor seiner Huette und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete ueber Berg und Tal. Einzelne Fruehglocken toenten aus den Taelern herauf, und oben in den Tannen sangen die Voegel ihre Morgenlieder. Jetzt trat der Grossvater in die Huette zurueck. "Komm, Heidi!", rief er auf den Boden hinauf. "Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Roecklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!" Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Grossvater, dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Roeckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Grossvater stehen und schaute ihn an. "O Grossvater, so hab ich dich nie gesehen", brach es endlich aus, "und den Rock mit den silbernen Knoepfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so schoen in deinem schoenen Sonntagsrock." Der Alte blickte vergnueglich laechelnd auf das Kind und sagte: "Und du in dem deinen; jetzt komm!" Er nahm Heidis Hand in die seine, und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten toenten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzuecken und sagte: "Hoerst du's, Grossvater? Es ist wie ein grosses, grosses Fest." Unten im Doerfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu singen an, als der Grossvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen stiess der zunaechst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte: "Hast du das gesehen? Der Alm-Oehi ist in der Kirche!" Und der Angestossene stiess den Zweiten an und so fort, und in kuerzester Zeit fluesterte es an allen Ecken: "Der Alm-Oehi! Der Alm-Oehi!", und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass der Vorsaenger die groesste Muehe hatte, den Gesang schoen aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorueber, denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhoerer davon ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine grosse Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon draussen standen, schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in grosser Aufregung das Unerhoerte, dass der Alm-Oehi in der Kirche erschienen war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustuer, wie der Oehi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei. Aber doch war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte zum andern: "Es wird wohl mit dem Alm-Oehi nicht so boes sein, wie man tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand haelt." Und der andere sagte: "Das hab ich ja immer gesagt, und zum Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er so bodenschlecht waere, sonst muesste er sich ja fuerchten; man uebertreibt auch viel." Und der Baecker sagte: "Hab ich das nicht zuallererst gesagt? Seit wann laeuft denn ein kleines Kind, das zu essen und zu trinken hat, was es will, und sonst alles Gute, aus alledem weg und heim zu einem Grossvater, wenn der boes und wild ist und es sich zu fuerchten hat vor ihm?" Und es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Oehi auf und nahm ueberhand, denn jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese hatten so manches von der Geissenpeterin und der Grossmutter gehoert, das den Alm-Oehi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war, und das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und mehr so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte. Der Alm-Oehi war unterdessen an die Tuer der Studierstube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht ueberrascht, wie er wohl haette sein koennen, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er ergriff die Hand des Alten und schuettelte sie wiederholt mit der groessten Herzlichkeit, und der Alm-Oehi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte: "Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte vergessen moechte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und dass er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr Pfarrer hat ja in allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rate folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Doerfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist nichts fuer das Kind dort oben, es ist zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten mich von der Seite ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht tun." Die freundlichen Augen des Pfarrers glaenzten vor Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und drueckte sie in der seinen und sagte mit Ruehrung: "Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch eh Ihr in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht gereuen, bei mir sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle Zeit willkommen sein, und ich gedenke manches Winterabendstuendchen froehlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir lieb und wert, und fuer das Kleine wollen wir auch gute Freunde finden." Und der Herr Pfarrer legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf und nahm es bei der Hand und fuehrte es hinaus, indem er den Grossvater fortbegleitete, und erst draussen vor der Haustuer nahm er Abschied, und nun konnten alle die herumstehenden Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Oehi die Hand immer noch einmal schuettelte, gerade als waere das sein bester Freund, von dem er sich fast nicht trennen koennte. Kaum hatte dann auch die Tuer sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so draengte die ganze Versammlung dem Alm-Oehi entgegen, und jeder wollte der Erste sein, und so viele Haende wurden miteinander dem Herankommenden entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst ergreifen, und einer rief ihm zu: "Das freut mich! Das freut mich, Oehi, dass Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!", und ein anderer: "Ich haette auch schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch geredet, Oehi!" Und so toente und draengte es von allen Seiten, und wie nun der Oehi auf alle die freundlichen Begruessungen erwiderte, er gedenke, sein altes Quartier im Doerfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erst einen rechten Laerm, und es war gerade so, wie wenn der Alm-Oehi die beliebteste Persoenlichkeit im ganzen Doerfli waere, die jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden Grossvater und Kind von den meisten begleitet, und beim Abschied wollte jeder die Versicherung haben, dass der Alm-Oehi bald einmal bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab zurueckkehrten, blieb der Alte stehen und schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: "Grossvater, heut wirst du immer schoener, so warst du noch gar nie." "Meinst du?", laechelte der Grossvater. "Ja, und siehst du, Heidi, mir geht's auch heut ueber Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte." Bei der Geissenpeter-Huette angekommen, machte der Grossvater gleich die Tuer auf und trat ein. "Gruess Gott, Grossmutter", rief er hinein; "ich denke, wir muessen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der Herbstwind kommt." "Du mein Gott, das ist der Oehi!", rief die Grossmutter voll freudiger Ueberraschung aus. "Dass ich das noch erlebe! Dass ich Euch noch einmal danken kann fuer alles, das Ihr fuer uns getan habt, Oehi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!" Und mit zitternder Freude streckte die alte Grossmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete sie herzlich schuettelte, fuhr sie fort, indem sie die seinige fest hielt: "Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem Herzen, Oehi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst, bevor ich unten bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir das Kind ist!", und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie geschmiegt. "Keine Sorge, Grossmutter", beruhigte der Oehi; "damit will ich weder Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's Gott, noch lange so." Jetzt zog die Brigitte den Oehi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das schoene Federnhuetchen und erzaehlte ihm, wie es sich damit verhalte, und dass sie ja natuerlich so etwas einem Kinde nicht abnehme. Aber der Grossvater sah ganz wohlgefaellig auf sein Heidi hin und sagte: "Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf tun will, so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn nur." Die Brigitte war hoechlich erfreut ueber das unerwartete Urteil. "Er ist gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!", und in ihrer Freude streckte sie das Huetchen hoch auf. "Was aber auch dieses Heidi fuer einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon manchmal denken muessen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Oehi?" Dem Oehi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es koennte dem Peterli nichts schaden; aber er wuerde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten. Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tuer herein, nachdem er zuerst mit dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte davon; er musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der Stube still und streckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereignis, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an das Heidi, den man ihm auf der Post im Doerfli uebergeben hatte. Jetzt setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anstoss vor. Der Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie erzaehlte Heidi, dass es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause, sie es nicht lang hintereinander so aushalten koenne und so lange den Vater gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden Herbst festgestellt habe, und die Grossmama wolle auch mitkommen, denn sie wolle auch das Heidi und den Grossvater besuchen auf der Alm. Und weiter liess die Grossmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan, dass es der alten Grossmutter die Broetchen habe mitbringen wollen, und damit sie diese nicht trocken essen muesse, komme gleich der Kaffee noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der Alm komme, so muesse das Heidi sie auch zur Grossmutter fuehren. Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung ueber diese Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die grosse Erwartung alle gleich betraf, dass selbst der Grossvater nicht bemerkte, wie spaet es schon war, und so vergnuegt und froehlich waren sie alle in der Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude ueber das Zusammensein an dem heutigen, dass die Grossmutter zuletzt sagte: "Das Schoenste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein troestliches Gefuehl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Oehi, und das Kind morgen schon?" Das wurde der Grossmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Grossvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das friedliche Gelaeut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen Almhuette, die ganz sonntaeglich im Abendschimmer ihnen entgegenglaenzte. Wenn aber die Grossmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch manche neue Freude und Ueberraschung fuer das Heidi wie fuer die Grossmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Grossmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die erwuenschte Ordnung und Richtigkeit, nach aussen wie nach innen. End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE *** This file should be named 7heid10a.txt or 7heid10a.zip Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7heid11a.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7heid10b.txt Produced by Gunther Olesch Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. 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If the value per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 If they reach just 1-2% of the world's population then the total will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! This is ten thousand titles each to one hundred million readers, which is only about 4% of the present number of computer users. 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