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Ungarn (Komitate, Bevölkerung).

A. Ungarn mit Siebenbürgen.

Gebiet und Komitat Areal QKil. Einwohner 1881

I. Am linken Donauufer

Árva 2077 81643

Bars 2673 142691

Gran 1123 72166

Hont 2650 116080

Liptau 2258 74758

Neograd 4355 191678

Neutra 5726 370099

Preßburg 4311 314173

Sohl 2730 102500

Trentschin 4620 244919

Turócz 1150 45933

Zusammen: 33674 1756640

II. Am rechten Donauufer:

Baranya 5133 293414

Eisenburg 5035 360590

Komorn 2944 151699

Ödenburg 3307 245787

Raab 1381 109493

Somogy 6531 307448

Tolna 3643 234643

Veszprim 4166 208487

Weißenburg 4156 209440

Wieselburg 1944 81370

Zala 5122 359984

Zusammen: 43363 2562355

III. Zwischen der Donau und Theiß

Bács-Bodrog 11079 638063

Csongrád 4314 228413

Heves 3802 208420

Jazygien etc. 5374 278443

Pest-Pilis etc. 12605 988532

Zusammen: 37173 2341871

IV. Am rechten Theißufer:

Abauj-Torna 3331 180344

Bereg 3724 153377

Borsod 3527 195980

Gömör und Kis-Hont 4275 169064

Sáros 3822 168013

Ung 3053 126707

Zentplin 6208 275175

Zips 3605 172881

Zusammen: 31546 1441541

V. Am linken Theißufer:

Békés 3558 229757

Bihar 10919 446777

Hajdu 3353 173329

Marmaros 0355 227436

Szabolcs 14917 214008

Szatmár 6491 29309

Szilágy 3671 171079

Ugocsa 1191 65377

Zusammen: 44456 1820855

VI. Längs der Flüsse Maros und Theiß

Arad 6443 303964

Csanád 1618 109011

Krassó-Szörény 9751 381304

Temes 7136 396045

Torontál 9495 530988

Zusammen: 34444 1721312

VII. Siebenbürgen:

Bistritz-Naszód 4014 95017

Csik 4493 110940

Fogaras 1875 84571

Großkokelb. 3116 132454

Háromszék 3556 125277

Hermannstadt 3314 141627

Hunyad 6932 248464

Klausenburg 5149 196307

Kleinkokelb. 1646 92214

Kronstadt 1797 83929

Maros-Torda 4324 158999

Szolnok-Doboka 5150 193677

Torda-Aranyos 3370 137031

Udvarhely 3418 105520

Unterweißenb. 3577 178021

Zusammen: 55731 2084048

Ungarn: 280387 13728622

B. Fiume samt Gebiet

C. Kroatien und Slawonien (mit ehem. Militärgrenze).

Komitate:

Lyka-Krbava 6211 174239

Modrus-Fiume 4879 203173

Agram 7211 419879

Warasdin 2521 229063

Belovar-Kreutz 5048 219529

Pozega 4942 166512

Virovititz 4851 183226

Syrmien 6870 296878

Zusammen: 42533 1892499

Länder der ungar. Krone: 322940 15642102

In Bezug auf die Bevölkerung nimmt U. unter den europäischen Staaten die achte Stelle ein. Nach der letzten Volkszählung (1880/81) betrug die Zivilbevölkerung 15,642,102 Seelen (gegen 15,417,324 Seelen im J. 1870). Die Zahl der aktiven Soldaten und Honveds (Landwehr) belief sich auf 97,157 Mann, daher ergibt sich eine Gesamtbevölkerung von 15,739,259 Seelen. Von 1870 bis 1881 hat dieselbe nur um 1,44 Proz. zugenommen und zwar zumeist nur im W. und in der Mitte des Landes. Bei den frühern Erhebungen zählte man: 1850: 13,1, 1857: 13,7, 1869: 15,4 Mill. Einw. Ursachen dieser geringen Zunahme waren anfangs die Nachwehen der Freiheitskriege und wiederholte Choleraepidemien, zuletzt jedoch Seuchen, Mißwachs, Auswanderung und enorme Sterblichkeit der Kinder (bis zu 55 Proz.). Die Dichtigkeit der Bevölkerung ist eine mittlere, denn es entfallen auf 1 qkm durchschnittlich 48 Einw. Am dichtesten bevölkert sind die fruchtbaren und minder gebirgigen Landstriche im W. und NW., am gleichmäßigsten das Innere des Landes, am dünnsten der Nordosten, Osten und Südosten. Von der Zivilbevölkerung entfallen auf die beiden Geschlechter:

Männer Frauen

in Ungarn (samt Siebenbürgen) 6749646 6978976

- Fiume samt Gebiet 9598 11383

- Kroatien-Slawonien 589615 604800

- der ehemaligen Militärgrenze 354051 344033

Zusammen: 7702910 7939192

In U., wo auf je 1000 Einw. 10 Ehen, 45 Geburten und 37 Sterbefälle entfallen, gibt es 163 Städte, 1872 Märkte, 15,394 Dörfer und 4152 Pußten, wovon auf U. allein (mit Siebenbürgen) 143 Städte, 1822 Märkte, 10,873 Dörfer und 3917 Pußten entfallen. Die volkreichsten Städte (mit über 20,000 Einw.) sind: Budapest, Szegedin, Maria-Theresiopel, Debreczin, Hódmezö-Vásárhely, Preßburg, Kecskemét, Arad, Temesvár, Großwardein, Mako, Klausenburg, Kronstadt, Szentes, Fünfkirchen, Agram, Kaschau, Stuhlweißenburg, Czegléd, Zombor, Miskolcz, Nyiregyháza, Kiskun-Félegyháza, Ödenburg, Nagy-Körös, Werschetz, Jászberény, Neusatz, Mezötur, Zenta, Raab und Fiume. Die schönsten Dörfer sind jene der Deutschen, der Ungarn und Slowaken; am schlechtesten wohnt der Rumäne und Ruthene.

Rationalität. Religionsverhältnisse. Unter den verschiedenen Nationalitäten nehmen die Ungarn (Magyaren, s. d.) als die herrschende Nation die erste Stelle ein. Das Übergewicht verdanken sie nicht nur ihrer größern Anzahl (45 Proz.: 6,445,487 Einw.), sondern auch dem Umstand, daß sie die Mitte und zwar den fruchtbarsten Teil des Landes in ungeteilter Masse bewohnen. Der magyarische Volksstamm wohnt dicht zwischen der Donau und Theiß im Alföld (70,9 Proz. der dortigen Bevölkerung), am rechten Donauufer und in den übrigen ebenen Landstrichen im eigentlichen U.; in den siebenbürgischen Komitaten dagegen bewohnen die Magyaren (dort Szekler genannt) die höchst gelegenen Teile in den östlichen Komitaten. Am schwächsten sind sie am linken Donauufer (25,7 Proz.), im Theiß-Maroswinkel (15,6 Proz.) und in Kroatien-Slawonien (3,9 Proz.) vertreten. Von den übrigen Nationalitäten sind die Slawen am zahlreichsten. Von den Serbokroaten (2,352,339 Einw.) wohnen die Serben zur Hälfte im SO. von U., zur Hälfte in Kroatien-Slawonien und der ehemaligen Militärgrenze, die Kroaten aber meist in Kroatien; die Slowaken (1,864,529 Einw.) bilden eine kompakte Bevölkerung im N. und NW., mit einzelnen Ausläufern bis tief nach dem Süden (Békés und Csanád); in den östlichen Karpathen von Marmaros bis nach Sáros und bis in die Zips haben sich die Ruthenen (356,062 Einw.) niedergelassen. Die Rumänen (2,405,085 Einw.), gleichfalls ein kompakter Volksstamm, bewohnen den Osten, Nordosten und Siebenbürgen. Die Deutschen (1,953,911 Einw.) sind fast über das ganze Land zerstreut und meist in den westlichen Komitaten unterhalb der Donau (Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg), in den südlichen Landstrichen (Tolna, Baranya, Bács-Bodrog, Torontál, Temes) sowie im südlichen Siebenbürgen (Hermannstadt, Groß-Kokelburg, Kronstadt) und in den Komitaten Zips und Bistritz-Naszód ansässig. In den Komitaten Wieselburg, Ödenburg, Eisen-

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Ungarn (Nationalcharakter, Religionsverhältnisse, geistige Kultur).

burg, zum Teil auch in Preßburg, haben sie sich schon seit Karl d. Gr. angesiedelt; in die übrigen Landstriche sind deutsche Kolonisten teils in ganzen Stämmen, zuerst unter Geisa II., aus Köln und Flandern nach der Zips und in die Bergstädte (s. Gründner, Krikerhäuer), teils in kleinern Scharen aus Schwaben und Franken etc. (meist im 17. und 18. Jahrh.) eingewandert. Der Rest der Bevölkerung Ungarns (264,639 Einw.) sind Albanesen, Armenier, Bulgaren, Griechen, Italiener und Makedowalachen oder Zinzaren, welche im SO. und im S. wohnen; die Armenier und Griechen leben meist in Handelsstädten. Die Zigeuner (75,911, Magyaren und Rumänen) sind im Land zerstreut und halten sich meist in der Nähe kleinerer Orte, am zahlreichsten im Gömörer Komitat und in Siebenbürgen, auf. Unter den mannigfaltigen Nationaltrachten ist die ungarische die schönste. Sie besteht aus eng anliegenden Beinkleidern, verschnürtem Wams oder Attila (Rock), einer Pelzmütze oder einem Kalpak. Über der Schulter hängt ein Pelz oder Dolmán. Als Fußbekleidung dienen hohe, oft mit Schnüren verzierte Stiefel (Zischmen) oder kurze Schnürstiefel (Topanken). Der slawische Bauer trägt gewöhnlich ein weißes Kamisol von grobem Tuch, blautuchene Beinkleider und große, hohe Stiefel, im Sommer ein kurzes, mit einem Gürtel befestigtes Hemd, ein leinenes Unterbeinkleid (Gatye) und einen großen Hut. Die Alltagstracht des ungarischen Landmanns ist hier und da von jener des Slawen nicht wesentlich verschieden. Als Fußbekleidung trägt der Slawe Bundschuhe (krpec), der Gebirgsbewohner hohe Filzstiefel. Bei kaltem Wetter wirft der slawische Bauer ein mantelartiges Kleid aus grobem weißen Tuch (szurowicza) um, während der Ungar sich in ein grobtuchenes braunes Oberkleid (guba) oder in einen Schafpelz (ungar. ködmön, slaw. kozuch) hüllt. Hauptstücke der Kleidung sind noch die Pelzmütze und ein großer, weiter, mit Ziegenfellen ausgeschlagener Schafpelz (juhászbunda). Das weibliche Geschlecht kleidet sich fast allgemein in Rock und Jacke von blauem oder grünem Halbtuch, die ungarischen Mädchen tragen überdies blaue, bis unter die Kniee reichende, reich mit Schnüren besetzte Pelze. Eine beliebte Speise des Karpathenbauers ist Hirsebrei (kasa), der Ungarn Gulyás (mit Zwiebeln und Paprika gewürztes, nach Hirtenweise gekochtes Fleisch). Der Ungar ist meist mittelgroß, muskulös, ebenmäßig gebaut, hat eine scharf geschnittene Gesichtsbildung, ein dunkles, feuriges Auge und schwarzes Haar. Die Frauen entwickeln sich frühzeitig und haben regelmäßige Züge. Der Ungar ist gutmütig und sehr gastfreundlich, besitzt ein feuriges, leicht erregbares Temperament, viel rednerische Begabung und große Vaterlandsliebe, ist als Soldat äußerst tapfer und dient am liebsten zu Pferd (als Husar). Fröhlichkeit und Liebe für Musik und Tanz sind das Erbteil fast aller ungarischen Völkerschaften. Sehr schön und ungemein charakteristisch sind die ungarischen Nationaltänze (Csárdás) und Volksweisen, erstere bald sehr ernst, bald ungemein heiter und lebhaft (Lassu und Friss), letztere meist düster und schwermütig. Eigentümlich sind die Nationalgesänge der Slowaken und Serben. Die Magyaren beschäftigen sich meist mit Ackerbau, Viehzucht und Fischfang oder sind selbständige Handwerker. Die Slowaken treiben Ackerbau oder leben als nomadisierende Hirten, Arbeiter in den Berg- und Hüttenwerken, Flößer, Fuhrleute, Hausierer oder Drahtbinder. Als sogen. Rastelbinder durchziehen sie ganz Europa, ja selbst Amerika. Die Ruthenen liegen dem Viehhandel ob, sind Fuhrleute oder handeln mit Eisenwaren. Die Slawonier und Kroaten treiben Ackerbau und Handel, die Deutschen Gewerbe, Handel, Landwirtschaft, Bergbau etc. Die Armenier sind meist Kaufleute, Pachter und Viehhändler; die Griechen und Juden beschäftigen sich fast ausschließlich mit Handel; die Zigeuner sind Musikanten und Schmiede. Der Religion nach sind in U. die Römisch-Katholiken überwiegend (7,849,692) und haben am rechten Donauufer sowie im NW. die absolute Majorität; die Kroaten sind fast ausschließlich römisch-katholisch. Griechisch-katholisch sind Ruthenen und Rumänen (1,497,268), griechisch-orientalisch die Serben und ein Teil der Rumänen (2,434,890). Der evangelischen Kirche Augsburgischer Konfession gehören meist Slowaken und Deutsche im N. und W. an (1,122,849) sowie die siebenbürgischen Sachsen; die Evangelischen Helvetischer Konfession (2,031,803) haben ihren Hauptsitz in vorzugsweise ungarischen Gebieten; die Unitarier (55,792) leben fast nur in Siebenbürgen. Die Juden endlich (638,314) sind mit Ausnahme des Südwestens und Südostens überall verbreitet und bewohnen am dichtesten die an Galizien grenzenden nordöstlichen Komitate sowie die Handelsplätze. Bis 1848 waren sie aus den Berg- und einigen königlichen Freistädten ausgeschlossen, genießen aber seit 1868 volle Gleichberechtigung.

Bildung und Unterricht.

Die geistige Kultur des Landes ist in erfreulichem Fortschritt begriffen, und die Volksbildung der Deutschen und Ungarn steht jener in Österreich nicht nach. In U. (samt Siebenbürgen) ohne Kroatien-Slawonien gab es im J. 1887 unter 13,749,603 Einw. 2,377,558 schulpflichtige Kinder (17,29 Proz.), von diesen besuchten thatsächlich 1,929,377 die Schule (gegen 1,152,115 im J. 1869). Die Anzahl der Volksschulen betrug 16,538 (gegen 13,798 im J. 1869), jene der Lehrer 24,148 (gegen 17,792 im J. 1869). Letztere werden in 71 Lehrer- und Lehrerinnen-Präparandien (1869 bestanden nur 46) herangebildet, an denen 683 Professoren thätig sind (1869 nur 271). Die Kinderbewahranstalten, deren man 532 (gegen 215 im J. 1876) zählte, besuchten 49,051 Kinder (1876 nur 18,624). Von den bestehenden 179 Mittelschulen sind 151 Gymnasien (darunter 89 Obergymnasien) mit 2356 Professoren und 35,803 Schülern und 28 Realschulen (darunter 21 Oberrealschulen) mit 557 Professoren und 6816 Schülern. Theologische Lehranstalten gibt es 53, Rechtsakademien 11. U. besitzt gegenwärtig 2 Universitäten und zwar in Budapest mit 173 Professoren und 3679 Hörern und in Klausenburg mit 65 Professoren und 535 Hörern (eine dritte Universität soll demnächst errichtet werden). Außerdem hat auch Kroatien-Slawonien eine Universität in Agram. In Budapest befindet sich auch das königliche Josephs-Polytechnikum, mit 47 Professoren und über 600 Hörern sowie ein Rabbinerseminar. Besondere Bildungsanstalten sind: das Ludoviceum (militärische Hochschule für Honvédoffiziere), die Landestheater- und Musikakademie, die Meisterschulen für Malerei und Bildhauerei, die Landes-Musterzeichenschule samt dem Zeichenlehrerseminar, die Kunstgewerbeschule und die Handelsakademie in Budapest; ferner die Berg- und Forstakademie in Schemnitz, die nautische Akademie in Fiume, die landwirtschaftliche Akademie in Ungarisch- Altenburg, 6 Hebammenschulen sowie mehrere Handels-, landwirtschaftliche, Ackerbau-, Weinbau-, Berg-, Kunstschnitzerei- und Hausindustrieschulen in verschiedenen Orten. An philanthropischen Anstal-

Ungarn (Ackerbau und Viehzucht).

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ten bestehen 3 Taubstummenanstalten, eine Blindenanstalt, eine Idiotenanstalt, 67 Waisen- und Rettungshäuser etc. Unter den wissenschaftlichen und Kunstinstituten sind zu erwähnen: die 1830 errichtete ungarische Akademie der Wissenschaften, die Kisfaludy-, die Petösi-, die Geographische, die Geologische und die Historische Gesellschaft, jene der Naturforscher und Ärzte, das geologische und das meteorologische Institut, das königlich ungarische statistische Landesbüreau und das Budapester statistische Büreau, das Nationalmuseum mit seinen Sammlungen und Galerien, das Landesgewerbemuseum, das Handelsmuseum (im Industriepalast), das Landesarchiv, die Landesgemäldegalerie, die historische Porträtgalerie, der Landesrat für bildende Kunst, das Künstlerhaus und die Landeskommission zur Erhaltung der Baudenkmäler (sämtlich in Budapest); ferner das Bruckenthal-Museum in Hermannstadt, das städtische Museum in Preßburg, das südungarische Museum in Temesvar, das kroatisch-slawonische Nationalmuseum in Agram, die Museen in Deva, Klausenburg, Maros Vasarhely etc. und zahlreiche wissenschaftliche Vereine, Sammlungen, Bibliotheken und Archive in fast allen, selbst in kleinern Städten. Unter den Theatern steht obenan das ungarische Nationaltheater und die königliche Oper in Budapest; ferner bestehen daselbst noch vier ungarische Theater (Volks-, Festungs- und zwei Sommertheater) und ein deutsches Theater und außerdem viele ständige Theater in den größern Provinzstädten Arad, Hermannstadt, Kaschau, Klausenburg, Ödenburg, Preßburg, Raab, Stuhlweißenburg, Szegedin, Temesvar etc. (In Hermannstadt, Ödenburg, Preßburg und Temesvar wird auch deutsch gespielt.) In U. erscheinen 760 periodische, darunter 94 politische, Zeitschriften (525 ungarische, 133 deutsche, 34 kroatische, 11 slawische, 11 serbische, 15 rumänische etc.).

Land- und Forstwirtschaft.

U., dessen agrarische Verhältnisse durch verschiedene Grundentlastungsgesetze in den Jahren 1847/48, 1853, 1868, 1871 und 1873 geregelt wurden, ist vorzugsweise ein Agrikulturstaat. Der Grund ist zumeist entweder Eigentum von Großgrundbesitzern oder aber kleiner bäuerlicher Besitz. In U. und Siebenbürgen ist das Pachtsystem oder die Verwaltung durch Ökonomiebeamte sehr entwickelt, in den Nebenländern fast ganz fremd. In neuerer Zeit haben sowohl Staat als auch Herrschaften vielfach das englische "Farmersystem" eingeführt. Auf großen Gütern wird die Landwirtschaft rationell betrieben, weniger von den Bauern, bei welchen insbesondere die "Dreifelderwirtschaft" gebräuchlich ist. Seit Aufhebung des Unterthanenverbandes wird der Mangel an ländlichen Arbeitern stets fühlbarer, und dies fördert auf großen Gütern die Anwendung von Maschinen. Zur Hebung der Landwirtschaft hat der Landes-Agrikulturverein, von den Komitats- und vielen sonstigen landwirtschaftlichen Vereinen unterstützt, Bedeutendes beigetragen. Für einzelne Zweige sind auch Wanderlehrer bestellt. Die produktive Bodenfläche des ganzen Landes beträgt 53,3 Mill. Katastraljoch (früher nur 47,1) oder 30,7 Mill. Hektar (95,1 Proz.); hiervon entfallen auf Ackerland 22,4, auf Weinland 0,7, auf Gärten 0,7, auf Wiesen 6,0, auf Weide 7,5, auf Röhricht 0,1 und auf Waldland 15,8 Mill. Katastraljoch. Unproduktiv sind 3,1 Mill. Katastraljoch. U., wo seit 1877 der bestehende, vielfach mangelhafte provisorische Kataster reguliert wurde, ist ein so reiches Getreideland, daß es nicht nur sein eignes Bedürfnis an Cerealien vollkommen deckt, sondern auch dem Ausland bedeutende Quantitäten ablassen kann. Man baut Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Mais, Hirse, Heidekorn, ferner Kartoffeln, Spargel, Kohl, Rüben, Runkelrüben zur Zuckerfabrikation, Mohn, Wasser- und Zuckermelonen, Kürbisse, Gurken. Hülsenfrüchte aller Art. Obstkultur wird in vielen Gegenden fleißig betrieben; das Ödenburger Obst bildet gedörrt undeingemacht einen bedeutenden Handelsartikel. Im W. gibt es ganze Kastanien-, im S., wo auch Feigen und Mandeln gezogen werden, Pflaumenwälder. Besonders zahlreich sind Walnußbäume. Hinsichtlich des Weinbaues, eines der wichtigsten Produktionszweige Ungarns, nimmt es nach Frankreich die erste Stelle in Europa ein (s. Ungarweine). Der Ertrag beläuft sich auf ca. 9, in guten Jahren auf 16 Mill. hl. Die Pflege des Maulbeerbaums zur Seidenzucht, für welche in Szegszard ein königliches Seidenbauinspektorat besteht (in Pancsova und Neusatzstaatliche Seiden- und Lehrspinnereien), wird besonders in Ödenburg, Eisenburg, Tolna, Bacs-Bodrog und in der frühern Militärgrenze betrieben. Von Manufaktur- und Handelspflanzen baut man Hanf, besonders in Bacs-Bodrog, Flachs, am meisten in der Zips und in Saros, Safflor, Waid, Wau, Krapp und andre Farbepflanzen, etwas Safran, von Ölgewächsen außer Lein besonders Raps und Rübsen; ferner Hopfen, einige Gewürzpflanzen, wie Kümmel, Fenchel, Senf, Anis, roten türkischen Pfeffer (Paprika) und Süßholz. Der ungarische Tabak ist der Menge und Güte nach ein Haupterzeugnis, dessen jährlicher Ertrag 1/2 - 2/3 Mill. metr. Ztr. beträgt. Die berühmtesten Tabaksorten liefern die Orte: Vitnyed (Komitat Ödenburg), Veg (Komorn), Verpelet und Debrö (Heves), Glogovacz (Arad), Pereszleny (Hont), Nagysalu (Eisenburg), Csetnek (Gömör), Szendrö (Borsod) etc. In den ausgedehnten Waldungen gewinnt man große Quantitäten Eicheln zur Schweinemast, Galläpfel, Knoppern, Rinden, Harze, Kohlen, Pottasche etc. In den ebenen holzarmen Gegenden brennt man Schilf, Rohr, Stroh und getrockneten Kuhmist. Die große Ausdehnung der Wiesen und Weiden, besonders im N., machen U. für die Viehzucht be-sonders geeignet. In letzter Zeit hat sich die seit Jahrhunderten hervorragende Pferdezucht bedeutend gehoben, wozu die berühmten Staatsgestüte zu Mezöhegyes (im Csanader), Kisber und Babolna (Komorner Komitat) und Fogaras (in Siebenbürgen) mit 2800 arabischen und englischen Pferden, 4 Hengstedepots und 858 Beschälstationen mit 3968 Pferden im Gesamtwert von 16,8 Mill. Gulden, über 100 große Privatgestüte sowie die Wettrennen in Budapest, Preßburg, Ödenburg, Kaschau, Arad, Debreczin und Klausenburg mit Staatspreisen und Staatsprämien für Pferdezüchter nicht wenig beitragen. Die meiste Pferdezucht findet man im Landstrich von Bekes über Csanad und Torontal bis an die südliche Grenze, im Komitat Bacs-Bodrog, in Syrmien, im ehemaligen Haidukendistrikt und in Siebenbürgen. Die Gesamtzahl der Pferde betrug 1881: 1,8 Mill. (darunter 96,600 Hengste). Das ungarische Hornvieh (weißhaarig, mit langen, gekrümmten Hörnern) ist in Bezug auf Arbeitskraft, Schnelligkeit, Mastfähigkeit, Fleischreichtum vorzüglich; dagegen ist die Ergiebigkeit und Güte der Milch geringer. Am stärksten ist die Rindviehzucht in den Komitaten am rechten Donauufer und in den nördlichen wiesenreichen Komitaten; dagegen sind die früher so reichen Landstriche zwischen Donau und Theiß jetzt vieharm. In den Thälern und auf Gebirgsabhängen findet sich das kleinhörnige und kurzfüßige Rind, im Komitat So-

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Ungarn (Forstwesen, Bergbau, Industrie).

mogy und in Siebenbürgen auch der Büffel. 1881 betrug der Hornviehbestand 4,6 Mill. Stück (darunter 39,000 Stiere und 93,000 Büffel). U. gehört zu den an Schafen reichsten Ländern Europas; es wird nicht nur das grobwollige Zigaiaschaf im Tiefland und das krauswollige im Gebirge gezüchtet, sondern seit mehr als 100 Jahren auch die edle Schafzucht betrieben (1881: 9,2 Mill. Schafe, darunter 6 Mill. veredelte). Der jährliche Export an Wolle beträgt über 1¼ Mill. metr. Ztr. Die Schweinezucht ist ausgedehnter als irgendwo in Mitteleuropa, am bedeutendsten in der ehemaligen kroatischen Militärgrenze, in den Komitaten Csanád, Zala, Somogy, Tolna, Baranya, Békés, Bihar, in Siebenbürgen und in einigen kroatisch-slawonischen Komitaten (Schweine 4½ Mill. Stück, jährliche Ausfuhr fast 700,000 Stück). Die Geflügelzucht (Hühner, Gänse, Enten, Truthühner) ist sehr verbreitet; an Federn werden gegen 15,000 metr. Ztr. nach Deutschland, Holland und in die Schweiz ausgeführt. Groß ist der Reichtum an Fischen, besonders in der Theiß, Donau und den Seen. Man fängt vorzüglich Karpfen, Barben, Hausen, Störe, Lachsforellen, den Fogas etc. U. hat noch die reichsten Jagdreviere. Auf den Felsen der Tátra hausen selbst Gemsen, in den Wäldern der Marmaros Bären, und Wölfe werden in Menge erlegt. Die Waldungen sind reich an Rotwild, das auch gehegt wird. Ebenso gibt es schöne Fasanerien. Unzählbare Scharen von Vögeln, namentlich Sumpf- und Wasservögel, bevölkern die sumpfigen Schilfwälder längs der Donauufer. Trappen finden sich in Menge in den Ebenen, Adler in den Felsgebirgen. In Bezug auf Holzreichtum nimmt U. die vierte Stelle in Europa ein. Die Waldbestände (im N. meist Fichten und Tannen, im O. daneben auch viel Buchen, im Tiefland nur Akazien, Pappeln, Götterbäume und wenig Eichen, im S. vorzugsweise Eichen und Buchen) sind meist ärarische oder Eigentum der Herrschaften und Städte. Die Staatswälder werden in neuster Zeit sorgfältig kultiviert, im kleinern Waldbesitz dagegen wird viel Raubwirtschaft getrieben. Um die Hebung des Forstwesens, zu dessen Regelung ein neues Forstgesetz erlassen wurde, hat sich der Ungarische Landesforstverein verdient gemacht. Die Ausbildung der Forstleute erfolgt an der Schemnitzer Montan- und Forstakademie.

Bergbau und Industrie.

Hinsichtlich seiner mineralischen Schätze gehört U. zu den reichsten Ländern Europas: es besitzt unerschöpfliche Salz-, Eisen- und Kohlenlager und ungemein reiche Kupfer-, Silber-, Gold- und andre Erzgänge. In Bezug auf edle Metalle nimmt es nach Rußland die nächste Stelle ein. Hauptsitz der Goldproduktion ist Siebenbürgen, dessen Bergwerke (Abrudbánya, Böröspatak, Almás, Offenbánya etc.) schon den Römern bekannt waren. Im eigentlichen U. sind reiche Gold- und Silberbergwerke in Kremnitz, Schemnitz, Nagy- und Felsöbánya etc.; außerdem wird in den Flüssen Aranyos, Maros, Szamos etc. Fluß- und Waschgold, Silber in großer Menge zu Schmöllnitz und Oravicza gewonnen. Die reichsten und ältesten Kupferbergwerke, deren Ertrag sich jedoch mindert, sind in Margitfalva, Szepes-Igló, Schmöllnitz, Libethen, Nagybánya etc. in der Zips. Reiche Eisenerze finden sich in den Komitaten Zips, Gömör und Abauj-Torna. Das meiste Blei wird im Schemnitzer Bergdistrikt, viel Nickel und Kobalt in Dobschau und Libethen, Antimon und Quecksilber bei Rosenau, Magurka und Schmöllnitz gewonnen. Von Edelsteinen verdient eine besondere Erwähnung der Edelopal, dessen einzige Heimat U. (Staats-Opalgruben zu Vörösvágás im Sároser und Nagy-Mihály im Zempliner Komitat) ist. Der größte dort gefundene Opal (im kaiserlichen Naturalienkabinett zu Wien) wird auf 2 Mill. Gulden geschätzt. Außerdem findet man Chalcedone, Granate, Hyacinthe, Amethyste, Karneole, Achate, Bergkristalle (Marmaroser Diamanten), Turmalin, Quarze und Quarzsand, Flußspat, Hornstein, Töpferthon und treffliche Porzellanerde an vielen Orten, Dachschiefer im Borsoder Komitat und in Marienthal bei Preßburg. Die besten Mühlsteine liefert Geletnek im Barser Komitat. Marmor wird in den Komitaten Zips, Komorn, Baranya, Veszprim, Abauj-Torna, Liptau etc. gebrochen. Außerdem gewinnt man Granit, Gneis, Porphyr, Basalt, Sand- und Kalkstein, Kreide, Gips, Talk, Serpentin, Asbest und Walkererde. Braunkohlen finden sich in zahlreichen und mächtigen Lagern hauptsächlich im Brennberg bei Ödenburg; Steinkohlen bei Fünfkirchen, in Anina-Steierdorf, Szekul und in Reschitza im Krasso-Szörényer Komitat, im Schylthal, in Siebenbürgen etc. Die ergiebigsten Salzbergwerke sind zu Szlatina, Rónaszek und Sugatag in der Marmaros sowie zu Deésakna, Torda, Parajd, Maros-Ujvar und Vizakna in Siebenbürgen. In Sóvár wird nur Sudsalz erzeugt. Die Salzproduktion, die in U. als Staatsmonopol betrieben wird, belief sich 1887 auf 1,598,983 metr. Ztr. Salpeter und Pottasche finden sich an vielen Orten im natürlichen Zustand, am meisten zwischen der Theiß und dem Berettyó. Alaunstein erzeugt man bei Nuczaly im Bereger Komitat. Torf wird in Sumpfgegenden, besonders im Hanság, aber auch in der Zips gestochen. Bergöl gibt es in der Marmaros, im Komitat Bihar, in Siebenbürgen, Kroatien etc., jedoch nur in geringer Menge. Bernstein findet sich auf der Magura in der Zips. Die Produktion der Bergwerke und Hütten in den Ländern der ungarischen Krone betrug 1887:

Menge Wert

Gold . . . 1862 kg 2597377 Guld.

Silber . . 17665 - 1588184 "

Kupfer . . 5394 metr. Ztr. 184370 "

Blei . . . 17792 " " 220384 "

Roheisen . 1927532 " " 6563599 "

Steinkohle . 7864081 " " 3788041 "

Braunkohle . 17234396 " " 4998150 "

dazu Antimon, Nickel und Kobalt, Bleiglätte in geringern Mengen. Der Gesamtwert der Montanprodukte Ungarns repräsentierte 1887 einen Wert von 21 Mill. Guld., jener der Salzproduktion von 14 Mill. Guld. Mineralquellen zählt man in U. über 900, darunter berühmte Thermen und Mineralwässer; hervorzuheben sind außer den unter "Karpathen" (S. 558) bereits angeführten Kurorten noch die Schwefelquellen in Hárkány (Komitat Baranya), Tapolcza (Zala), Töplitz (Kroatien), Warasdin, die Thermen in Krapina (Kroatien) und die Jodquellen in Lippik (Slawonien). Die Industrie Ungarns deckt bei allem Überfluß an Rohstoffen noch nicht den inländischen Bedarf, weil die Gewerbthätigkeit sich früher meist auf die gewöhnlichen Lebensbedürfnisse beschränkte und das Fabrikwesen sich erst seit kurzem eines Aufschwungs erfreut. In Metallen arbeiten zahlreiche Eisen- und Stahlhämmer, Eisengießereien (Budapest, Krompach, Rhonitz, Salgó-Tarján, Munkács, Anina-Steierdorf, Resitza und Dernö), Blech- und Drahtwerke, Armaturfabriken etc.; den besten Stahl liefert Diós-Györ (Borsoder Komitat). Auch an Kupferschmieden, Gold- und Silberarbeitern ist kein Mangel. Die Maschinenfabrikation ist besonders in Budapest ent-

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Ungarn (Handel und Verkehr).

wickelt, wo es zahlreiche große Etablissements gibt. Von beträchtlicher Ausdehnung ist die Töpferei; man fertigt schönes Fayencegeschirr; Schemnitz, Kremnitz, Debreczin liefern irdene Pfeifenköpfe; große Porzellan- und Majolikafabriken bestehen in Budapest, Fünfkirchen, Herend. Etwa 70 Glashütten (meist in Oberungarn) erzeugen geringere und feinere Glaswaren. Die chemische Industrie liefert vorzugsweise Salpeter, Alaun, künstliche Farben, Soda, Pottasche, Stearinkerzen (Budapest und Hermannstadt), Glycerin, Seife, Zündwaren, Stärke, Leim, Tinte, Siegellack, Parfüme, Lacke, Teerprodukte, Schwefelsäure. Von besonderer Wichtigkeit sind die großen Petroleumraffinerien in Fiume, Siebenbürgen und Südungarn (Oravicza, Orsova). Der Waldreichtum des Landes hat überall eine lebhafte Holzindustrie hervorgerufen. Bauhölzer werden fabrikmäßig, Hausgeräte von der sehr ausgebreiteten Hausindustrie geliefert, welche auch Korbflechterei und in neuester Zeit auch Schnitzerei betreibt. Besonders entwickelt ist die Wagenfabrikation, ebenso auch Tischlerei, Stroh- und Rohrflechterei und der Schiffbau. Unter den Handwerkern zeichnen sich die Zischmen- (Stiefel aus Korduan) und Schnürmacher, Kürschner, Riemer und Gerber aus. Spinnerei und Weberei sind im N. Hauptgegenstand der Hausindustrie; grobes Wolltuch erzeugen unzählige Tuchmacher, feinere Tuche einige größere Fabriken; Erzeugnisse der Textilindustrie sind ferner: grobe Decken, Teppiche, Halinatücher für sogen. Halinas (Bauernmäntel) etc. Bedeutend ist die Lederfabrikation. Papier liefern über 70 Mühlen und einige große Fabriken (die größte in Fiume). Von größter Bedeutung ist die Mühlenindustrie, deren Mittelpunkt Budapest ist. Im ganzen Land gibt es über 25,000 Mühlen, darunter 500 Dampf- und Kunstmühlen. Die Rübenzuckerfabrikation hat abgenommen, gegenwärtig bestehen in U. bloß 14 Fabriken (1871: 26), neue sind jedoch im Entstehen. Nagy-Surány und Diószeg (bei Neutra) verarbeiten jährlich 308,000, bez. 454,000 metr. Ztr. Rüben. Von Wichtigkeit sind zahlreiche große Spiritusfabriken (94), Branntweinbrennereien (95,366) mit einer jährlichen Gesamtproduktion (1887) von 90 Mill. Hektolitergraden, Rosoglio- und Likörfabriken und die Bierbrauereien (110) mit einer jährlichen Produktion von 631,098 hl Bier, die größten in Steinbruch bei Budapest. Die Tabaksfabrikation ist Staatsmonopol.

Handel und Verkehr.

Der Handel, sowohl im Innern als nach außen, ist sehr lebhaft. Letzterer erfolgt von Fiume (s. d.) aus und den übrigen kroatisch-ungarischen Häfen an dem Adriatischen Meer, ferner auf der Donau und mittels der Eisenbahnen. Hauptgegenstände der Ausfuhr sind landwirtschaftliche Produkte, Hilfsstoffe und Halbfabrikate, namentlich: Getreide, Mehl, Schweine, Schafwolle, Bau- und Werkholz, Wein, Weintrauben, Obst, Spirituosen, Kleidungsstücke, Putz- und Modewaren, Leder-, Eisen- und Zeugwaren, Möbel, Hausgeräte etc., und bei der Einfuhr: Industrieartikel, Kleider, Putz- und Seidenwaren, Kurz- und Schmuckwaren, Eisen- und andre Fabrikate, Leder und Lederwaren, Kolonialartikel, Tabaksfabrikate etc. Die volkswirtschaftlichen Interessen Ungarns weichen mehrfach von denen der cisleithanischen Länder ab. U. ist als Agrikulturstaat naturgemäß für den Freihandel gestimmt; Österreich dagegen möchte seine bedeutende Industrie durch Zölle schützen. Hohe Schutzzölle hätten für U. nur dann einen Zweck, wenn es ein eignes Zollgebiet bilden und dadurch seine eigne Industrie schützen könnte. Die Handelspolitik Österreich-Ungarns verteuert für letzteres jene Fabrikate, die es importiert, und beschränkt den Export seiner Rohprodukte. Deshalb sucht U. sich auch in volkswirtschaftlicher Beziehung, in Bezug auf den Handel, Verkehr und Kredit von Österreich zu emanzipieren und hat insbesondere die Entwickelung der eignen Industriezweige in letzter Zeit durch Errichtung neuer Unterrichtsanstalten, Museen, Gewerbeschulen und Lehrwerkstätten sowie durch Gewährung von Steuerfreiheiten und sonstigen staatlichen Begünstigungen zu fördern getrachtet. Die ersten Handelsplätze sind: Budapest, Arad, Debreczin, Kaschau, Raab, Temesvar, Klausenburg, Kronstadt, Hermannstadt, Sissek, Essek etc. Bei dem Mangel guter Landstraßen in Mittelungarn haben die Eisenbahnen und Flüsse eine erhöhte Bedeutung; die Donau wird ganz, Drau, Save, Temes, Theiß werden teilweiset mit Dampfschiffen befahren. Seit 1867 wurde der Eisenbahnbau sehr eifrig fortgesetzt, und jetzt sind Bahnen nach allen Richtungen hin im Betrieb, wovon infolge der bereits durchgeführten Verstaatlichung, mit Ausnahme der Österreichisch-Ungarischen Staatsbahn, der Südbahn u. der Kaschau-Oderberger Bahnlinien sowie außer einigen kleinern Lokal- und Vizinalbahnen, mehr als die Hälfte (1888: 5184km) Staatseigentum ist. Die Hauptlinien sind: die ungarischen Staatsbahnen (von Budapest nach Bruck, Ruttka, Kaschau, Predeal, Arad-Tövis, Semlin-Belgrad, Fünfkirchen, sowie die Linien Stuhlweißenburg-Graz, die Alföld-Fiumaner und zahlreiche andre Nebenlinien), die Kaschau-Oderberger Bahn, die Österreichisch-Ungarische Staatsbahn (Wien-Budapest-Orsova, Temesvar-Bazias, Preßburg-Sillein, Trentschin-Vlarapaß etc.), die Südbahn (Wiener-Neustadt-Kanizsa-Barcs, Budapest-Pragerhof, Komorn -Stuhlweißenburg, Steinbrück-Agram-Sissek etc.), die Arad-Csanáder Bahnen, die Arad-Temesvárer Bahn, die Nordostbahn (Szerencs-Marmaros-Sziget, Debreczin- Királyháza, Nyiregyháza-Ungvár, Sátoralja-Ujhely-Kaschau etc.), die Raab-Ödenburg-Ebenfurter Bahn und verschiedene Vizinal- und Lokalbahnen im ganzen Land. An der Spitze des gegenwärtig vereinigten Post- und Telegraphendienstes stehen 9 Post- und Telegraphendirektionen, denen 3998 Postämter (darunter 241 ärarische) mit 21,910 Beamten und 1509 Telegraphenstationen (680 Staats- und 829 Bahnstationen) unterstehen. Mit der Briefpost wurden 1886: 97 Mill. Briefe, 50,5 Mill. Zeitungen und 41 Mill. sonstige Sendungen, mit der Fahrpost 9,7 Mill. Pakete befördert. Der Postanweisungsverkehr betrug 237 Mill. Gulden. Den seit 1886 eingeführten Postsparkassendienst besorgen 2990 Postämter (jährliche Einlage 3 Mill. Guld.). Die Länge der Telegraphenlinien beträgt 19,000 km (1867: 6,7), auf denen jährlich 6 Mill. Telegramme befördert werden (1867: 0,6). Außer der Hauptanstalt der Österreichisch- Ungarischen Bank in Budapest bestehen in U. noch 19 Filialen und 62 Nebenstellen, Geldinstitute in allen Städten und bedeutenden Orten, zusammen 127 Bank- und Kreditinstitute, 397 Sparkassen und 454 Genossenschaften (Volksbanken, Vorschußvereine etc.). Gewerbe- u. Handelskammern in 12 größern Städten; Münzen, Maße und Gewichte sind die nämlichen wie in Österreich; seit 1876 sind die Metermaße und -Gewichte eingeführt.

Staatsverfassung und -Verwaltung.

Nach seinem frühern Umfang bestand U. aus den S. 1000 bereits erwähnten vier Kreisen und den Nebenländern Kroatien und Slawonien. 1849 wurden beide letztere nebst dem kroatischen Litorale und Fiume

1006

Ungarn (Staatsverfassung und Verwaltung, Rechtspflege, Finanzen).

sowie die Murinsel als eignes Kronland abgelöst, ferner die Komitate Bács-Bodrog, Torontál, Temes und Krasó als Woiwodschaft Serbien und Temeser Banat ausgeschieden und die 1835 zu U. geschlagenen Komitate Kraszna, Mittel-Szolnok und Zarand, der Distrikt Kövar und die Stadt Zilah wieder mit Siebenbürgen vereinigt. Seit 1867 ist indessen U. nicht nur in seinem frühern Umfang wiederhergestellt, sondern demselben auch Siebenbürgen und die Serbisch-Banater Militärgrenze einverleibt. Kroatien-Slawonien behielt für die innere Verwaltung feine Autonomie mit eigner Gesetzgebung und Landesregierung, an deren Spitze der Ban steht; in Bezug auf Finanzen, Handel, Verkehr und Militärangelegenheiten aber wurde es mit U. unter Wiederherstellung der frühern administrativen Einteilung vereinigt. 1876 erhielten die Gemeinden in U. eine neue Organisation, und auch die administrative Einteilung wurde abgeändert; namentlich wurde Siebenbürgen (s. d.) in 15 neugebildete Komitate eingeteilt und das Gebiet mehrerer ungarischer Komitate geregelt. In U. bestehen seitdem die S. 1001 angeführten 63 Komitate. In kirchlicher Beziehung zerfällt U. in vier römisch-katholische Erzbistümer. Dem Erzbischof von Gran (Fürst-Primas von U.) sind die Bistümer Stuhlweißenburg, Fünfkirchen, Veszprim, Steinamanger, Raab, Neutra, Neusohl und Waitzen, die Erzabtei Martinsberg sowie die griechischkatholischen Bistümer Munkacs und Eperies, dem Erzbischof zu Erlau die Bistümer Rosenan, Ztps, Kaschau und Szatmar, dem in Kalocs a die Bistümer Großwardein, Csanad und Siebenbürgen, dem von A gram die Bistümer Bosnien-Syrmien und Zengg-Modrus sowie das griechischkatholische Bistum Kreutz untergeordnet. Die katholische Kirche des griechischen Ritus hat ein Erzbistum zu Karlsburg mit dem Sitz in Blasendorf; diesem unterstehen die Bistümer Großwardein, Lugos und Szamos-Ujvar. Überdies erteilt der König von U. noch 34 Bischofstitel, mit welchen Sitz und Stimme im Öberhaus verbunden sind. In U. gibt es 8600 geistliche Personen und 283 Klöster der römisch-katholischen Kirche sowie über 2600 geistliche Personen und Klöster der griechisch-katholischen Kirche. Die griechisch-orientalische Kirche serbischer Nationalität hat ein Erzbistum in Karlowitz, mit Bistümern in Ofen, Neusatz, Temesvár, Werschetz, Pakratz und Karlstadt, die griechisch-orientalische Kirche rumänischer Nationalität hingegen ein Erzbistum in Hermannstadt mit Bistümern in Arad und Karansebes. Zu beiden Erzbistümern gehören 3600 geistliche Personen. Die evangelische Kirche Helvetischer Konfession zählt vier Superintendenzen in U. und einein Siebenbürgen; die evangelische Kirche Augsburgischer Konfession ebenfalls vier in U. und eine in Siebenbürgen. Die Unitarier haben einen Bischof in Siebenbürgen.

U. bildet feit 1867 mit Österreich die österreichischungarische Monarchie, welche aus zwei unabhängigen und gleichberechtigten Staaten besteht. Jeder der beiden Staaten besitzt seine besondere Verfassung, Legislative und Verwaltung. Beide sind jedoch nicht bloß durch die Person des Monarchen verkünden, sondern haben auch gemeinsame Angelegenheiten. Solche sind: die auswärtigen Angelegenheiten mit Einschluß der diplomatischen und kommerziellen Vertretung im Ausland; das Kriegswesen und die Kriegsmarine, jedoch mit Ausschluß der Rekrutenbewilligung sowie der Dislozierung und Verpflegung der Armee; das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinsamen Auslagen; schließlich die Gesetzgebung über Zollwesen und indirekte Steuern sowie die Feststellung des Münzwesens und des Geldfußes. Die gesetzgebende Gewalt hinsichtlich der gemeinsamen Angelegenheiten wird von zwei, vom österreichischen Reichsrat und ungarischen Reichstag auf ein Jahr gewählten Delegationen ausgeübt, die aus je 60 Mitgliedern bestehen (40 Abgeordneten und 20 Oberhausmitglieder). Der ungarische Reichstag besteht aus der Magnatentafel (Oberhaus) und aus dem Abgeordnetenhaus. Mitglieder des Oberhauses sind: die in U. begüterten großjährigen Erzherzöge, die Erzbischöfe, Bischöfe und einige Äbte und Pröpste, die Reichswürdenträger und Kronhüter, die Öbergespäne, der Gouverneur von Fiume und die ungarischen Fürsten, Grafen und Barone, endlich zwei kroatisch-slawonische Landtagsdeputierte und 50 vom König auf Lebenszeit ernannte Mitglieder. Das Abgeordnetenhaus zählt 458 Abgeordnete, wovon einer auf Fiume und 40 auf Kroatien-Slawonien entfallen. Die Munizipien (Komitate und königliche Freistädte) sind in Wahlkreise eingeteilt, deren jeder einen Abgeordneten auf fünf Jahre wählt. Das aktive Wahlrecht beginnt mit dem 20., das passive mit dem 24. Lebensjahr. Der Reichstag wird in Budapest abgehalten. Der Präsident und Vizepräsident der Magnatentafel werden vom König ernannt, den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses dagegen wählt dieses selbst auf die fünfjährige Dauer einer Legislatur. Die Abgeordneten bekommen Diäten und Quartiergeld, die Mitglieder der Magnatentafel erhalten keine Diäten. Für Kroatien Slawonien (s. d., S. 240) besteht ein besonderer Landtag. Die Komitate und größern königlichen Freistädte bilden sogen. Munizipien, an deren Spitze vom König ernannte Qbergespäne sowie von den Munizipalausschüssen gewählte Vizegespäne in den Komitaten und Bürgermeisterin den Städten stehen. Vertreter der Munizipien sind die Munizipalausschüsse, welch e zur Hälfte aus den Höchstbesteuerten (Viritisten), zur Hälfte aus gewählten Mitgliedern bestehen; sie üben das Selbstverwaltungsrecht aus und wählen ihre Administrativbeamten. Seit 1876 besteht in jedem Munizipium zur Leitung und Überwachung der ganzen Verwaltung ein Verwaltungsausschuß aus 20 teils ernannten, teils gewählten Mitgliedern. Die übrigen Städte und Gemeinden (Städte mit geregeltem Magistrat, Großund Kleingemeinden) stehen unter der Aufsicht der Komitate. Jedes Komitat ist in mehrere Stuhlrichteramtsbezirke geteilt. Die Regierung des Landes besteht aus zehn Ministern: Ministerpräsident, Minister des Innern, Finanzminister, Justizminister, Ackerbauminister, Handelsminister, Honvédminister, Minister für Kultus und Unterricht, für Kroatien und Slawonien und Minister bei Sr. Majestät dem König.

Die Rechtspflege ist seit 1867 von den Munizipien und der Administration getrennt, und in den letzten Jahrzehnten sind viele neue Gesetze geschaffen (Wechsel-, Handels- und Strafrecht, Zivil- und Strafprozeß, Konkurs-, Notariats- u. Advokatenordnung etc.). In U. mit Siebenbürgen und Fiume bestehen 380 Bezirks (Einzel-) Gerichte und 65 königliche Gerichtshöfe als Gerichte erster Instanz. In zweiter Instanz fungieren die königlichen Tafeln in Budapest und Maros-Vasarhely; oberste Behörde ist die königliche Kurie (oberster Kassations- und Gerichtshof) in Budapest. Die Finanzen sind seit 1868 in das Stadium fast völliger Selbständigkeit getreten. Zu den gemeinsamen Ausgaben trägt U. 30, seit Einverleibung

1007

Ungarn (Wappen etc.; Geschichte bis 1061).

(Provinzialisierung) der Militärgrenze 32, Österreich aber 70 (68) Proz. bei. Zur Verzinsung und Amortisation der österreichischen Staatsschuld zahlt U. jährlich eine Summe von 30,312,000 Gulden. Trotz der steten Eröffnung neuer Einnahmequellen ist es nicht gelungen, das Defizit zu beseitigen. Einen Überblick über die Finanzen Ungarns gewährt folgende Zusammenstellung (in Millionen Gulden):

Jahr Einnahmen Ausgaben Überschuß +

Defizit -

1869 233,7 184,1 +49,6

1874 203,0 247,3 -44,3

1879 222,2 256,4 -34,2

1884 311,9 329,0 -17,1

1885 326,0 337,9 -11,9

1886 329,6 343,6 -14,0

1887 328,2 350,2 -22,0

1888 332,6 345,0 -12,4

1889 350,7 356,8 - 6,1

Im J. 1889 entfallen von den Einnahmen auf:

Mill. Guld.

direkte Steuern 99,40

Indirekte 39,68

Zölle 0,48

Stempel u. Gebühren 27,64

Tabaksmonopol 46,25

Lotto 2,51

Salzmonopol 15,91

Staatsgüter 2,46

Staatswälder 6,54

Montan u. Münzwesen 15,28

Post und Telegraphen 2,35

Ungar. Staatsbahnen 39,90

Von den Ausgaben dagegen auf:

Mill. Guld.

den königl. Hofstaat 4,65

Reichstagsauslagen 1,25

gemeinsame Auslagen 23,02

Staatsschuldenquote 132,77

Grundentlastung 19,40

Auslagen der Gefälle 56,70

Post und Telegraphen. 9,23

Unterrichtswesen 6,70

Justiz 12,09

Honveds (Landwehr) 9,81

In U. bestehen 14 Finanz-, 3 Berg- und 6 Staatsgüterdirektionen, ferner eine Lottodirektion. Die Staatsschuld beläuft sich (1889) auf 1130, das Staatsvermögen auf 1273 Mill. Guld. Über das Heerwesen vgl. Österreichisch-Ungarische Monarchie, S. 501 f. - Das Wappen Ungarns ist ein mit der (vom Papst Silvester um 1000 dem König Stephan [s. d. 4)] geschenkten) Stephanskrone bedeckter, der Länge nach geteilter Schild, rechts mit vier roten und vier weißen Streifen, links im roten Feld mit silbernem Patriarchenkreuz, das aus einer auf dreifachem grünen Hügel ruhenden Krone hervorgeht (s. Tafel "Österreichisch-Ungarische Länderwappen"). Die Nationalfarben sind Grün, Weiß, Rot (s. Tafel "Flaggen I"). Der einzige ungarische Orden ist der Stephansorden (s. d. 1).

[Litteratur.] Vgl. außer den ältern Werken von Chaplovics (Pest 1829) und Fenyes (s. d.): Palugyai, Geschichtliche, geographische und statistische Beschreibungen von U. (ungar., das. 1855, 4 Bde.); I. Hunfalvy, Physikalische Geographie des ungarischen Reichs (ungar., das. 186365, 3 Bde.); "U. und Siebenbürgen in malerischen Originalansichten" (Stahlstiche von Rohbock, Text von Hunfalvy, Darmst. 1864, 3 Bde.); Keleti, Unser Land und sein Volk (ungar., Pest 1871); Grassauer, Landeskunde von Öfterreich-U. (Wien 1875); Schwicker, Das Königreich U. (das. 1886); Kronprinz Rudolf, Österreich-U. in Wort und Bild (das. 1887 ff.); für die ethnographischen Verhältnisse: Czoernig, Ethnographie (das. 1855, 3 Bde.); P. Hunfalvy, Ethnographie Ungarns (deutsch von Schwicker, Budapest 1876); die betreffenden Teile des Sammelwerks "Die Völker Österreich-Ungarns" (Teschen 1881-86) und zwar Bd. 3 (Die Deutschen in U. und Siebenbürgen, von Schwicker), Bd. 5 (Magyaren, von Hunfalvy), Bd. 6 (Rumänen, von Slavici), Bd. 10 (Slowenen, von Suman; Kroaten, von Stare), Bd. 11 (Serben, von Stefanovics), Bd. 12 (Zigeuner, von Schwicker); Vambéry, Der Ursprung der Magyaren (Leipz. 1882); Löher, Die Magyaren und andre Ungarn (das. 1874); ferner Ulbrich, Staatsrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie (Freiburg 1884); Schwicker, Statistik von U. (Stuttg. 1876), und die Veröffentlichungen des königlichen ungarischen Statistischen Büreaus; Ditz, Die ungarische Landwirtschaft (Leipz. 1867); Bedö, Wirtschaftliche Beschreibung der ungarischen Staatsforsten (Pest 1878); Gutmann, Ungarisches Montanhandbuch (Wien 1881); M. Wirth, U. und seine Bodenschätze (Frankf. a. M. 1884); über Kurorte und Heilquellen die Werke von Wachtel (Ödenb. 1859) und Chyzer (Stuttg. 1887); Heksch, Führer durch U. und seine Nebenländer (Wien 1882). Karten: Spezialkarte des Königreichs U. (1:144,000 in 140 Blättern, seit 1869); Steinhauser, Orts- und Straßenkarte des Königreichs U. (l:1,296,000, 1882). Vgl. auch die bei Österreich, S. 498 angegebenen allgemeinen Werke und Karten.

Gechichte.

U., das in der Römerzeit die Provinz Pannonien und einen Teil von Dacien bildete, war seit dem Verfall des römischen Reichs das Ziel von Einfällen und dauernden Niederlassungen zahlreicher Völker (Germanen, Hunnen, Slawen, Avaren u. a.), von denen noch beträchtliche Trümmer vorhanden waren, als um 890 die Magyar en (bei den Slawen Ugri, Ungri, bei den Deutschen Ungarn benannt), aus ihren bisherigen Wohnsitzen zwischen Donau und Don von den Petschenegen verdrängt, in U. einfielen und es unter ihrem Herzog Almus und dessen Sohn Arpad 890-898 eroberten. Die Anfänge christlicher Kultur wurden von dem rohen Volk zerstört, das sein Nomadenleben auch in U. fortsetzte und nach Vernichtung des großmährischen Reichs und nach Zurückdrängung der bayrischen Herrschaft bis an die Enns mit seinen schnellen Reiterscharen auf weiten Raubzügen die Nachbarlande, namentlich Italien und Deutschland, verwüstete. Erst ihre beiden Niederlagen durch die Deutschen bei Riade (933) und bei Augsburg (955) bändigten ihre zügellose Kriegslust und zwangen sie, hinter den Grenzen der ihnen entrissenen Ostmark sich zu einem seßhaften Leben zu bequemen. Arpads Urenkel Geisa (972-997) und dessen Sohn Stephan der Heilige (997 bis 1038) rotteten das Heidentum mit Feuer und Schwert aus und organisierten die christliche Kirche; Stephan nahm den Königstitel an, ließ sich mit der vom Papst geschenkten Krone krönen (1001) und gab dem Reich eine Verfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads für erblich erklärt und mit der höchsten richterlichen und vollziehenden Gewalt ausgerüstet, ferner Prälaten, Magnaten (hoher Adel) und niederer Adel als die privilegierten Stände anerkannt, aus den beiden ersten der Reichssenat gebildet und das Land in 72 Komitate (Gespanschaften) geteilt wurde. Unter Stephans Neffen, dem Sohn seiner Schwester Maria und des venezianischen Dogen Otto Orseolo, König Peter, bewirkte der nationale Haß gegen die Fremdherrschaft des Italieners und gegen das Christentum eine Reaktion des rohen Heidentums; Peter wurde 1041 und nachdem er von Kaiser Heinrich III., der den an seiner Stelle gewählten heidnischen König Aba 1044 besiegte, wieder zurückgeführt und 1045 in Stuhlweißenburg mit U. belehnt worden war, 1046 von neuem vertrieben. Ihm folgte der Arpade Andreas, der das halb vertilgte Christentum aufrichtete und die deutsche Lehnshoheit wieder abschüttelte, aber 1061 von seinem Bruder Bela gestürzt wurde, welcher die aufrührerischen Großen unterdrückte und das Christentum mit blu-

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Ungarn (Geschichte 1063-1527)

tiger Strenge befestigte. Nach seinem Tod (1063) erhielt mit deutscher Hilfe Andreas' Sohn Salomo die Krone, wurde aber 1074 von Belas Sohn Geisa vertrieben. Derselbe ließ sich 1075 krönen, starb jedoch schon 1077 und hatte seinen Bruder Wladislaw zum Nachfolger, welcher 1088 Nordkroatien unter warf. Ihm folgte fein Neffe Koloman (1095-1114), welcher 1102-12 Dalmatien eroberte, mit dem Papst 1106 ein Konkordat abschloß und treffliche Gesetze über das Grundeigentum, die Finanzen und das Gerichtswesen erließ. Die Regierungen Stephans II. (1114-31),Belas II., des Blinden (1131-41),und Geisas (1141-61) waren durch äußere Kriege und innere Unruhen bewegt. Nach des letztern Tod folgten durch die Einmischung des griechischen Kaisers Manuel in die stets streitige Thronfolgeordnung längere Wirren, während deren neben Geisas ältestem Sohn, Stephan III. (1161-73), noch zwei Könige existierten, bis endlich Geisas zweiter Sohn, Bela II: (1173 bis 1196), den Thron bestieg, der dem griechischen Kaiserreich den Lehnseid leisten mußte; derselbe unterwarf Kroatien und Dalmatien wieder und eroberte Bulgarien und Galizien, das fortan der Zankapfel zwischen U., Polen und Rußland blieb. Sein Nachfolger war sein Sohn Emmerich (1196 - 1204), dann dessen unmündiger Sohn Wladislaw (1204l205), der aber von Belas III. jüngerm Bruder, Andreas II. (1205-35), verdrängt wurde. Unter diesem, der 1217 einen erfolglosen Kreuzzug unternahm, erzwangen sich der Reichsadel 1222 in der Goldenen Bulle und 1231 auch der Klerus ausgedehnte Rechte und Freiheiten. Unter Bela IV. (1235-70) wurde U. 1241 von den Mongolen furchtbar verwüstet und entvölkert. Daher wurden zahlreiche deutsche und italienische Ansiedler in das Land gezogen und der Bürgerstand durch Vermehrung der Freistädte gehoben. 1244 wurde Bosnien der ungarischen Herrschaft gesichert, und nach andern Seiten hin wurden die Grenzen Ungarns erwettert. Nach Stephans V. (1270-72) frühem Tod folgte sein unmündiger Sohn, Wladislaw IV., der Kumane, nach dessen Ermordung (1290) Andreas' II. Enkel Andreas III. auf den Thron erhoben wurde. Mit ihm erlosch 14. Jan. 1301 der Mannsstamm der Arpaden.

Zwar begünstigte ein Teil der ungarischen Stände den Sohn von Andreas' Tochter, Wenzel III. von Böhmen, der als Wladislaw V. gekrönt wurde, aber die unhaltbare Krone dem Herzog Otto von Bayern überließ. Die Mehrheit wurde aber schließlich für den vom Papst und vom deutschen König begünstigten Karl Robert von Neapel aus dem Haus Anjou, der mütterlicherseits mit den Arpaden verwandt war, gewonnen, welcher, wiederholt von seinen Anhängern ausgerufen und gekrönt, 1308 allgemeine Anerkennung fand. Karl I. Robert (1308-42) führte die abendländischen höfischen Sitten, Pflege der Wissenschaften, geregeltes Gerichtsverfahren u. dgl., aber auch Luxus und Prachtliebe beim Adel ein; auch eroberte er 1314 das venezianische Dalmatien. Nach ihm bestieg sein ältester Sohn, Ludwig I., der Große (1342-82), den Thron, der vorübergehend auch über Neapel herrschte und 1370 zum König von Polen gewählt wurde. Derselbe behauptete und erweiterte in glücklichen Kriegen die äußere Macht des Reichs, vollendete die Bekehrung der Kumann zum Christentum, regelte das Erbrecht der adligen Güter, gab den Städten eigne Gerichtsbarkeit und Handelsfreiheit und gründete 1367 eine Universität in Fünfkirchen sowie zahlreiche Schulen. Er hatte zu seiner Nachfolgerin in U. seine Tochter Maria ernannt, welche sich mit dem Luxemburger Siegmund vermählte. Die Großen riefen jedoch ihren Vetter, Karl den Kleinen von Neapel, als König aus. Erst nach dessen Ermordung (1386) erlangte Siegmund mehr und mehr Anerkennung und behauptete sich auch nach Marias Tod (1392). Als er aber auf dem Kreuzzug gegen die Türken 1396 bei Nikopolis besiegt wurde, empörten sich die Großen gegen ihn und nahmen ihn 1401 sogar in Ofen gefangen. Da sie sich jedoch über die Wahl eines andern Königs nicht verständigen konnten, ward Siegmund 1404 allgemein als König wieder anerkannt, gab dem Land zur Verteidigung gegen die Türken eine bessere Heeresorganisation und berief 1405 einen Nationalkonvent, zu dem er zum erstenmal Abgeordnete der Städte heranzog, die sich mit dem niedern Adel zur Ständetafel (neben der Magnatentafel der Prälaten und des hohen. Adels)vereinigten; er erwarb Kroatien und Dalmatien wieder und brachte auch Bosnien unter ungarische Oberhoheit. Siegmund, seit 1410 auch Kaiser, starb 1437 ohne männliche Erben und hinterließ seine Reiche U. und Böhmen seinem Schwiegersohn Albrecht von Österreich (als deutscher König Albrecht II.), der aber schon 1439 starb. Die ungarischen Stände erkannten nun nicht dessen nachgebornen Sohn Wladislaw Posthumus als König an, sondern beriefen wegen der wachsenden Türkengefahr den polnischen König Wladislaw III. (V.) auf den Thron, der aber schon 10. Nov. 1444 in der großen Schlacht bei Warna gegen die Türken Sieg und Leben verlor. Nun wurde Wladislaw (VI.) Posthumus zum König erklärt und der Nationalheld Johann Hunyades, welcher die Türken glänzend besiegt hatte, 1446 zum Gubernator Hungariae oder Reichsverweser ernannt, der zwar 17.-20 Okt. 1448 gegen die Türken die Schlacht auf dem Amselfeld verlor, aber 14. Juli 1456 an der Spitze eines Kreuzheers bei Belgrad glänzend siegte. Nach Wladislaws Tod (November 1457) wählte der Reichstag zu Pest 1458 Hunyades' Sohn Matthias Corvinus zum König; nur ein kleiner Teil der Großen stellte den Kaiser Friedrich III. als Gegenkönig auf. Matthias beförderte im Innern Bildung und Wohlstand und focht nicht nur glücklich gegen die Türken, sondern auch gegen den König Georg Podiebrad, an dessen Stelle er sich 1469 in Olmütz zum König von Böhmen krönen ließ, und entriß Friedrich IIL sein Erbland Niederösterreich. Er starb 6. April 1490 in Wien, worauf der Reichstag die Krone Wladislaw V.(VI:) von Böhmen, aus dem Haus der Jagellonen, übertrug, welcher mit Kaiser Maximilian I. 1415 eine Doppelheirat seiner Kinder Ludwig und Anna mit dessen Enkeln Maria und Ferdinand sowie eine Erbverbrüderung abschloß. Auf seinen Befehl ward 1512 das erste umfassende Gesetzbuch Ungarns, das Tripartitum, zusammengestellt, das, 1517 von Verböczy vollendet, bis auf die neueste Zeit als Corpus juris hungaricum in Geltung war. Ein Bauernaufstand (der "Kuruzzenkrieg") wurde 1514 von Johann Zapolya unterdrückt. Wladislaws Sohn Ludwig II. (1516-1526) fiel 29. Aug. 1526 in der unglücklichen Schlacht bei Mohacs gegen Sultan Suleiman H., welcher darauf ganz U. mit seinen Heerscharen überschwemmte.

Ungarn unter den Habsburgern.

Da Ludwig II. keine Nachkommen hinterließ, entstand ein verderblicher Zwist über die Thronfolge. Auf Grund der mit dem Haus Habsburg geschlossenen Erbverbrüderung wählte der Reichstag zu Preßburg 16. Dez. 1526 den Erzherzog Ferdinand von Österreich zum König; Ferdinand wurde, nachdem er 1527 die Verfassung beschworen, zu Stuhlweißenburg

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Ungarn (Geschichte 1527-1848).

gekrönt. Ein Teil der Großen rief aber Johann Zapolya zum König aus, welcher sich den Türken in die Arme warf. Im Vertrag von Großwardein (25. Febr. 1538) ward U. so geteilt, daß Zapolya Siebenbürgen und U. jenseit der Theiß, Ferdinand den Nordwesten erhielt, während der mittlere größte Teil des Landes nebst Ofen, wo ein Pascha residierte, im Besitz der Türken verblieb; ja, diese versuchten, von Zapolya und seinem Sohn und Nachfolger unterstützt, immer wieder, ganz U. sich zu unterwerfen; dazu kamen unter Ferdinands Nachfolgern Marimilian II. (1564-76), Rudolf II. (1576-1608), Matthias (1608-19), Ferdinand II. (1619-37) und Ferdinand III. (1637-57) religiöse Streitigkeiten, indem die seit 1561 eingewanderten Jesuiten die trotz aller Bedrückungen zahlreichen Protestanten auszurotten suchten und sie dadurch zu Aufständen reizten. 1604 erhoben sich die Protestanten unter Stephan Bocskay und erzwangen 1606 einen Frieden, in dem die Religionsfreiheit in beschränktem Maß gewährleistet und Bocskay als Fürst von Siebenbürgen anerkannt wurde. Siebenbürgen behauptete seine Unabhängigst auch unter Bethlen Gabor und den Raköczys und blieb neben der Furcht vor den Türken eine Stütze der Protestanten. Leopold L (1657-1705) erließ, sowie er einen Vorteil über die Türken errungen hatte, sofort die strengsten Maßregeln gegen die Ketzer in U. Dies veranlaßte 1665 eine große Magnatenverschwörung gegen die habsburgische Herrschaft, die erst 1671 grausam unterdrückt wurde. Ein neuer Aufstand Emmerich Tökölys wurde von einem Einfall der Türken unter Kara Mustafa unterstützt, der 1683 bis vor Wien vordrang und es belagerte. Seine Niederlage (12. Sept.) entschied das Schicksal Ungarns: die kaiserlichen Heere drangen siegreich in U. ein, erstürmten 1686 Ofen und machten nach 145jähriger Dauer der Türkenherrschaft daselbst ein Ende. Durch das Blutgericht von Eperies (1687), durch welches Leopold die Siege seiner Feldherren schändete, wurden Hunderte vom protestantischen Adel dem Henker überliefert und dessen Widerstandskraft gebrochen. Hierauf erlangte der Kaiser für sein Haus auf dem Preßburger Reichstag 1687 die Erblichkeit der ungarischen Krone und beseitigte aus der Goldenen Bulle die Klausel wegen des Widerstandsrechts, bestätigte aber im übrigen die alte ungarische Verfassung. Im Frieden von Karlowitz (1699) gaben die Türken ganz U. mit Ausnahme des Banats sowie Siebenbürgen heraus, und nachdem ein neuer Kuruzzenaufstand unter Franz Rakocz von Joseph I. (1605-11) durch den Szatmarer Frieden beendigt worden, erlangte Karl VI. (1711-40) infolge der Siege des Prinzen Eugen im Passarowitzer Frieden 1718 auch das Banat sowie die Kleine Walachei und einen Teil Serbiens mit Belgrad. Letztere Lande gingen allerdings nach einem neuen unbesonnen unternommenen und ungeschickt geführten Türkenkrieg (1737-39) wieder verloren, und die Grenzen Ungarns wurden so festgestellt, wie sie noch heute sind.

Nach Karls Tod bestieg 20. Okt. 1740 kraft der vom ungarischen Reichstag anerkannten Pragmatischen Sanktion von 1723 seine Tochter Maria Theresia (1740-80) den Thron. In dem Kampf um ihr Erbe erhoben sich die Ungarn begeistert für ihren "König" Maria Theresia und verhalfen ihr zum Sieg. Die Kaiserin widmete daher U. ihre besondere Fürsorge, beschützte die Protestanten, regelte 1765 die Unterthanenverhältnisse durch das Urbarium u. dgl. Joseph II. (1780-90) hob die Leibeigenschaft auf, erließ ein Toleranzedikt, zog die Klöster ein, beseitigte die Vorrechte des Adels, beschränkte den Zunftzwang, vernichtete die Komitatseinteilung, führte das Deutsche als Geschäftssprache ein etc. und erbitterte durch rücksichtslose Verletzung der nationalen und Standesvorurteile alle Stände so sehr, daß er, um einem allgemeinen Aufstand vorzubeugen, 28. Jan. 190 mit Ausnahme der beiden ersten Reformen alle Maßregeln zurücknehmen mußte. Auch der neue Türkenkrieg, den er 1788 im Bund mit Rußland unternahm, war erfolglos und verschaffte U. im Frieden von Sistowa (4. Aug. 1791) nur den Besitz von Alt-Orsova. Josephs Nachfolger Leopold II. (1790-92) berief sofort zur Versöhnung der Gemüter einen Reichstag (den ersten seit 25 Jahren) nach Ofen. Franz I. (1792-1835) lenkte dagegen wieder ganz in die absolutistischen Bahnen ein und berief Reichstage nur, um sich Geld und Mannschaften für die fortwährenden Kriege gegen Frankreich, welche U. zwar nur vorübergehend berührten, ihm aber große Opfer auflegten, bewilligen zu lassen. Nach wiederhergestelltem Frieden wurde lange kein Reichstag berufen und 1820 eigenmächtig eine neue Rekrutierung angeordnet und die Steuern auf mehr als das Doppelte erhöht. Erst 1825 trat wieder ein Reichstag zusammen, weil die Ausführung jener Maßregeln auf Widerstand stieß. Der Reichstag bewilligte sofort das geforderte Truppenkontingent und die Erhöhung der Steuern, verlangte aber, daß der König sich verpflichte, ohne Mitwirkung des Reichstags keine Steuern zu erheben und denselben alle drei Jahre einzuberufen. Die Opposition des Reichstags, geführt von Männern wie Szechenyi, erstrebte neben einer modernen, wirklich konstitutionellen Verfassung auch nationale Ziele, namentlich offizielle Anerkennung der magyarischen Sprache. Zu diesem Zweck ward 1825 eine ungarische Akademie errichtet und das Magyarische von den höhern Ständen als Umgangssprache gewählt. Die Regierung betrachtete diese Bestrebungen als unschädlich und ließ die Zulassung des Magyarischen als Geschäftssprache zu, widersetzte sich aber entschieden der Forderung liberaler Reformen und beantwortete die liberalen Regungen in der Litteratur und Presse mit Einsperrung der Unruhstifter; sie stützte sich hierbei auf eine ziemlich starke konservative Partei unter Graf Aurel Dessewffy, welche für ihre Standesvorrechte und Interessen eintrat. Aus dem Gegensatz dieser konservativen zu der liberalkonservativen Partei unter Szechenyi und der eigentlichen Oppositionspartei unter Ludwig Batthyányi und Kossuth entwickelte sich, namentlich seit der Thronbesteigung Ferdinands I. (1835-48), ein lebhafter Parteikampf auf den Reichstagen, durch welchen das Volk politisch aufgeklärt und geschult und der vaterländische Sinn bedeutend gehoben wurde. Die Liberalen errangen Sieg auf Sieg: 1840 den Erlaß einer Amnestie, 1843 die Zulassung Nichtadliger zu den bisher dem Adel vorbehaltenen Ämtern. Den Reichstag von I847 eröffnete König Ferdinand 12. Nov. mit einer Rede in magyarischer Sprache.

Die ungarische Insurrektion und ihre Folgen.

Als die Februarrevolution von 1848 der liberalen Bewegung in ganz Europa einen mächtigen Anstoß gab, trat die Opposition offen mit dem Endziel ihrer Wünsche, einer neuen freisinnigen Konstitution und einem selbständigen ungarischen Ministerium, hervor. Diese Forderungen wurden auf Antrag Kossuths 16. März in einer Adresse an den Kaiser ausgesprochen und nach Überreichung derselben sofort bewilligt. Der Palatin Erzherzog Stephan ward zum Stellvertreter des Kaisers für U., Batthyányi zum

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Ungarn (Geschichte 1848-1849).

Ministerpräsidenten ernannt. Die Roboten wurden abgeschafft, der Zehnte durch Verzicht des Klerus beseitigt, gleiche Besteuerung, die Bildung einer Nationalgarde, Preßfreiheit und Schwurgerichte, endlich Umgestaltung des Reichstags zu einer wirklichen Volksvertretung beschlossen. Der Kaiser genehmigte alle diese Beschlüsse, als er den Reichstag 11. April schloß, und das Ministerium, welches seinen Sitz nach Pest verlegte, begann sofort die Ausführung derselben sowie eine straffere Einigung aller Länder der Stephanskrone. Die Unduldsamkeit der herrschsüchtigen Magyaren rief aber beiden nichtmagyarischen Völkern Widerstand hervor. Namentlich die Kroaten sagten sich völlig von U. los und wählten Jellachich zum Banus. Der neugewählte ungarische Reichstag, welcher 5. Juli 1848 in Pest durch den Palatin eröffnet wurde, bewilligte dem Ministerium sofort 200,000 Mann Landwehr und 42 Mill. Gulden zur Unterdrückung der slawischen Lostrennungsgelüste. Aber der Hof, ermutigt durch die Siege in Italien, verweigerte die Genehmigung dieser Beschlüsse; 14. Aug. wurde dem Erzherzog Stephan die Vollmacht der Stellvertretung entzogen, und als der Reichstag auf Kossuths Antrag eine Deputation von l20 Mitgliedern nach Wien schickte, welche energisches Einschreiten gegen den kroatischen Ausstand, Verlegung des Hoflagers nach Pest und Rücksendung aller ungarischen Regimenter in die Heimat verlangte, wurden diese Forderungen 9. Sept. abgelehnt und der bisher verleugnete Jellachich in seine Ehren und Würden wieder eingesetzt. Der geheimen Zustimmung des Wiener Hofs sicher, rückte Jellachich 11. Sept. mit dem kroatischen Heer über die ungarische Grenze, indem er in einer Proklamation die Errichtung eines österreichischen Gesamtstaats als sein Ziel verkündete. Die Pester Nationalversammlung ernannte den Erzherzog Stephan zum Oberbefehlshaber der ungarischen Armee und übertrug, als dieser 25. Sept. auf Verlangen des Hofs sein Amt niederlegte, die Leitung der Verteidigung einem Ausschuß unter Kossuths Vorsitz. Der vom Kaiser zum Oberkommandanten von U. ernannte Graf Lamberg wurde von der Nationalversammlung nicht anerkannt und 28. Sept. vom Pöbel auf der Brücke zwischen Ofen und Pest ermordet. Damit war der offene Krieg erklärt; 29. Sept. kam es bei Velencze zum ersten Treffen zwischen Kroaten und Ungarn. Während die Ungarn sich mit der revolutionären Opposition im Wiener Reichsrat in Verbindung setzten, hob ein kaiserliches Manifest vom 3. Okt. die ungarische Nationalersammlung und ihre Beschlüsse auf und ernannte Jellachich zum Alter ego des Kaisers in U. Der Wiener Oktoberaufstand (s. Österreichisch Ungarische Monarchie, Geschichte, S. 518) verzögerte die kriegerischen Maßregeln gegen U.; aber da die Ungarn Wien zu spät und bloß mit 18,000 Mann zu Hilfe kamen, welche 30. Okt. bei Schwechat zum Rückzug gezwungen wurden, fiel die Hauptstadt 3l. Okt. in die Gewalt Windischgrätz, welcher der ungarischen Armee eine 14tägige Frist zur Niederlegung der Waffen stellte und nach deren erfolglosem Ablauf Mitte Dezember die Kriegsoperationen gegen U. begann; um dieselbe Zeit verschärfte der ungarische Reichstag den Konflikt, indem er 15. Dez. 1848 die Abdankung Kaiser Ferdinands für ungültig erklärte und gegen die Thronbesteigung Franz Josephs Protest erhob. Windischgrätz rückte 18. Dez. in Preßburg ein; Jellachich drang nach einem Gefecht mit Görgei bis Wieselburg vor und schlug Perczel 29. Dez. bei Mór; nur in Siebenbürgen kämpfte der Pole Bem mit Glück und behauptete das untere Theißgebiet. Die Hauptstadt Ofen Pest wurde 5. Jan. 1849 von den Ungarn geräumt, und der Reichstag und der Landesverteidigungsausschuß schlugen ihren Sitz in Debreczin auf. Nur die Unfähigkeit Windischgrätz', der in dem ihm unerwarteten und unverständlichen Rückzug der Ungarn einen tief angelegten Plan argwöhnte und daher Bedenken trug, kühn vorzudringen, gab den Ungarn Zeit, ihre Streitkräfte zu vermehren und zu sammeln. Görgei, der sich in die Karpathen zurückgezogen hatte, nötigte den aus Galizien bis Kaschau vorgedrungenen General Schlik zum Rückzug und stellte die Verbindung der ungarischen Armeen untereinander und mit der Regierung in Debreczin her. Den Oberbefehl über die gesamte ungarische Armee erhielt der Pole Dembinski, der aber im Kriegsrat mit einer starken Opposition unter Görgei zu kämpfen hatte. Dembinski verlor 27. Febr. die Schlacht von Kapolna gegen Windischgrätz, dem es gelang, sich mit Schlik zu vereinigen, und mußte sich hinter die Theiß zurückziehen. Wiederum erlaubte Windischgrätz' Unthätigkeit der ungarischen Regierung, ihre Rüstungen zu vollenden und insgesamt 112 Infanteriebataillone und 6 Husarenregimenter neu aufzustellen. Mit dem reorganisierten und verstärkten Heer errang der neue Oberbefehlshaber Görgei eine Reihe von glänzenden und erfolgreichen Siegen bei Gödöllo (6. April), Waitzen (9. April), Nagy-Sarlo (19. April) und Mocsa (27. April) über Windischgrätz und nach dessen Abberufung über Welden. Die Österreicher räumten 24. April Pest und zogen sich in Unordnung auf Preßburg zurück. Auch aus Siebenbürgen und demBanat wurden die österreichischen Truppen durch Bem und Perczel vertrieben.

Durch diese Siege verleitet, beschloß der Reichstag in Debreczin 14. April auf Kossuths Antrag die Absetzung der habsburg-lothringischen Dynastie und die völlige Selbständigkeit des alle Nebenländer umfassenden ungarischen Staats. Dieser Beschluß, welcher nebst der Ernennung Kossuths zum Gubernator (Kormanyzo) 15. April in einem besondern Manifest der Nation verkündet wurde, entzog den Ungarn den sichern Rechtsboden und störte die bisherige Einmütigkeit der Nation; Görgei mißbiligte ihn entschieden und hielt sich auch in der Kriegführung streng an die Verteidigung der ungarischen Verfassung und Gesetze, unterließ es daher auch, mit seinem siegreichen Heer nach Mähren und Österreich vorzudringen und sich mit den dortigen unzufriedenen Elementen zu vereinigen. Er unternahm vielmehr die Belagerung Ofens, das 21. Mai erstürmt wurde, worauf Regierung und Reichstag nach Pest zurückkehrten, dessen Besitz für den eigentlichen Gang des Kriegs nutzlos war. Die österreichische Regierung hatte aber jetzt einen berechtigten Grund, die Ungarn für Revolutionäre zu erklären und die Hilfe Rußlands für die Sache der Legitimität anzurufen. Der Zar Nikolaus leistete dieselbe bereitwilligst, und sofort rückten russische Truppen in Siebenbürgen ein; die Hauptarmee unter Paskewitsch, 100,000 Mann stark, überschritt von Galizien aus die Karpathen. Auch Öfterreich verstärkte seine Streitkräfte und stellte an deren Spitze den General Haynau, einen rücksichtslos harten, aber energischen Mann. Die ganze gegen U. verfügbare reguläre Streitmacht belief sich auf 275,000 Mann mit 600 Geschützen, welchen die Ungarn nur 135,000 Mann entgegenstellen konnten. Während Bem in Siebenbürgen der Übermacht erlag, Jellachich 7. Juni Perczel besiegte und Peterwardein einschloß, Haynau 28. Juni Raab erstürmte, blieb Gör-

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Ungarn (Geschichte 1849-1865).

gei hartnäckig bei Komorn stehen, lieferte daselbst noch 2. Juli eine unentschiedene Schlacht und verließ es erst 12. Juli, nachdem 9. Juli die Regierung zum zweitenmal Pest hatte verlassen müssen und nach Szegedin geflohen war. Am 14. Juli zogen die Österreicher wieder in Pest ein. Die Siege Vetters über Jellachich bei Hegyes (14. Juli) und Görgeis über die Russen bei Waitzen (17. Juli) konnten gegen die Übermacht nichts mehr nützen. Haynau rückte gegen Szegedin vor, welches die Ungarn aufgeben mußten, und schlug Dembinski 5. Aug. bei Szöreg, Bem 9. Aug. bei Temesvar. Kossuth legte darauf 11. Aug. in Arad die Leitung der Regierung nieder und übertrug Görgei, der inzwischen mit seiner Armee, das linke Theißufer abwärts marschierend, in Arad angelangt war, die Diktatur. An der Möglichkeit fernern Widerstandes verzweifelnd, faßte der neue Diktator, übrigens mit Vorwissen und Zustimmung der Regierung, den Beschluß, sich nicht den verhaßten Österreichern, sondern den Russen zu ergeben, und streckte 13. Aug. mit 22,000 Mann bei Vilagos vor General Rüdiger bedingungslos die Waffen. Ihm folgten 16. Aug. Oberst Kazinczy mit 10,000 Mann, 17. Aug. Damjanich in Arad u. a.; nur Komorn wurde von Klapka hartnäckig verteidigt, bis es 2. Okt. eine ehrenvolle Kapitulation erlangte. "U. liegt zu den Füßen Ew. Majestät!" schrieb Paskewitsch an den Zaren.

Daß die Ungarn die Unterwerfung unter den hochmütigen Zaren der direkten Verständigung mit der österreichischen Regierung, welcher sie übrigens von Rußland auf Gnade oder Ungnade überliefert wurden, vorzogen, war für die Österreicher beleidigend und reizte ihren Zorn aufs äußerste. Von den gefangenen Häuptern der Insurrektion (mehreren, wie Kofsuth u.a., war die Flucht nach der Türkei geglückt) wurde nur Görgei auf russische Intervention verschont; 13 Generale und Obersten wurden auf Haynaus Befehl 6. Okt. in Arad teils erschossen, teils gehenkt, Ludwig Batthyanyi und andre vornehme politische Führer in Pest zum Tode durch den Strang verurteilt. Den Hinrichtungen folgten zahllose Verurteilungen zu mehrjähriger Kerkerhaft. Erst im Juli wurde Haynau, der das Standrecht mit blutiger Strenge handhabte, abberufen. Nachdem der Kaiser im Herbst 1851 den Erzherzog Albrecht zum Gouverneur von U. ernannt und 1852 selbst das Land besucht hatte, wurde den kriegsgerichtlichen Prozessen ein Ende gemacht und eine teilweise Amnestie erlassen. Die ungarische Verfassung wurde für verwirkt erklärt und U. zu einem bloßen Kronland des neuen österreichischen Gesamtstaats umgewandelt, die Nebenländer Siebenbürgen, Kroatien und Slawonien und das Temeser Banat von der ungarischen Krone getrennt und zu selbständigen Kronländern erhoben. Über U. ergoß sich ein Strom meist slawischer Beamten, welche das Land in den zentralisierten Staat einfügen und die Reaktion gegen die liberalen Neuerungen durchführen sollten. 1853 wurden österreichische Justiz und Verwaltung boktroyiert. Für die Regelung des Verhältnisses zwischen den Grundbesitzern und den frühern Grundholden, des sogen. Urbarialverbandes, wurden zweckmäßige Einrichtungen getroffen; für die materielle Entwickelung des Landes zeigte sich die Regierung bemüht; auch wurden nach einem längern Besuch des Kaisers 1857 die konfiszierten Güter der kriegsrechtlich Verurteilten zurückgegeben und die ungarische Sprache in Schule und Gericht zugelassen. Die Nation, durch die fehlgeschlagene Insurrektion niedergedruckt und erschöpft, setzte der Regierung ihren oft erprobten passiven Widerstand entgegen und beharrte auf dem Verlangen nach Wiederherstellung der Verfassung. Selbst fegensreiche kaiserliche Verordnungen, wie das Protestantenpatent vom 1. Sept. 1859, welches für die evangelische Kirche in U. eine auf dem Gemeindeprinzip beruhende vortreffliche Verfassung einführte, wurden von den Ungarn als verfassungswidrig zurückgewiesen.

Wiederherstellung des ungarischen Staats.

Die Notlage der Monarchie nach dem italienischen Krieg von 1859 zwang die Regierung zur Nachgiebigkeit: nachdem Erzherzog Albrecht durch den Ungarn Benedek ersetzt worden, wurde durch das Oktoberdiplom vom 20. Okt. 1866 die alte Verfassung Ungarns vor 1848 im wesentlichen wiederhergestellt und der Landtag zur Beratung eines neuen Wahlgesetzes berufen, welches eine Vertretung aller Stände ermöglichen sollte. Die ungarische Hofkanzlei, die Komitatsverwaltung, die ungarische Justiz mit der Curia regia und dem Judex cnriae in Pest, das Amt eines Tavernicus, die ungarische Sprache als Amtssprache wurden wiederhergestellt. Die fremden Beamten mußten das Feld räumen, die deutschen Gesetze wurden für aufgehoben erklärt. Alle diese Zugeständnisse wurden von den Ungarn aber nur als Abschlagszahlung angenommen, als Preis der Versöhnung die völlige Wiederherstellung des alten Rechtszustandes mit Einschluß der Gesetze von 1848 und eine Amnestie gefordert. Im Februar 1861 berief die Regierung gleichzeitig mit der Verkündigung einer neuen Verfassung für den Gesamtstaat den Landtag nach dem Wahlgesetz von 1848 ein; derselbe wurde 6. April eröffnet. Das Unterhaus, in welchem der Schwerpunkt der Verhandlungen lag, spaltete sich in zwei Parteien, die Adreßpartei unter Deák, welche den Standpunkt der Nation der Februarverfassung gegenüber in einer Adresse an den Monarchen darlegen und damit den Weg der Verhandlungen betreten wollte, und die Beschlußpartei unter Koloman Tisza, welche die Rechtsgültigkeit der 48er Gesetze durch einfachen Beschluß erklären wollte. Nach langen Debatten siegte 5. Juni die Adreßpartei mit 155 gegen 152 Stimmen, aber ihre Adresse, welche Personalunion mit Österreich verlangte, wurde 8. Juli vom Kaiser mit der Forderung einer vorherigen Revision der 48er Gesetze beantwortet. Als der Landtag darauf in einer zweiten Adresse die Pragmatische Sanktion und die Gesetze von 1848 als die allein annehmbare Grundlage bezeichnete, die Krönung Franz Josephs von der Wiedervereinigung der Nebenländer mit U. abhängig machte, die Beschickung des Wiener Reichsrats ablehnte und gegen jeden Beschluß desselben protestierte, brach die Wiener Regierung alle weitern Verhandlungen ab; "Österreich kann warten", erklärte Schmerling in der Hoffnung, daß U. sich schließlich der Februarverfassung fügen werde. Bis dahin wurde, nachdem der Landtag 21. Aug. 1861 aufgelöst worden, wieder absolutistisch regiert; gleichzeitig suchte man die öffentliche Meinung durch eine Amnestie der politischen Sträflinge und Flüchtlinge sowie durch eine Spende von 20 Mill. zur Linderung einer entsetzlichen Hungersnot (1863) zu gewinnen. Aber schon 1865 wurde in Wien das Regierungssystem wieder geändert: von dem liberalen Zentralismus Schmerlings ging man zum altkonservativen Föderalismus Belcredis über. Nach einem neuen Besuch des Kaisers in Pest wurden die Führer der altkonservativen Partei in U., Graf Mailath und Baron Sennyey, an die Spitze der ungarischen Regierung gestellt und 14. Dez. 1865 der Landtag von neuem

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Ungarn (Geschichte 1865-1878).

eröffnet. Die Thronrede versprach die Wiederherstellung der Integrität der ungarischen Krone, erkannte die Rechtskontinuität und die formelle Gültigkeit der Gesetze von 1848 an, forderte aber deren Revision vor der Einführung. Die Verhandlungen hierüber und über die Feststellung der gemeinsamen Angelegenheiten der Gesamtmonarchie waren noch nicht zum Abschluß gediehen, als wegen des Kriegs mit Preußen der Landtag 26. Juni 1866 geschlossen wurde. In dem Streite, der nach dem Frieden von Prag in Österreich über die Neugestaltung des Reichs ausbrach (s. Österreichisch-Ungarische Monarchie, S. 522), nahmen die Ungarn unter Führung Deáks von Anfang an eine klare, bestimmte Stellung ein und errangen dadurch einen glänzenden Sieg. Um einer Auflösung der Monarchie in fünf Königreiche und der Herrschaft der Slawen vorzubeugen, entschied sich der leitende Minister v. Beust mit Zustimmung der Deutschliberalen für den Dualismus, für die Teilung des Reichs in eine westliche Hälfte, wo die Deutschen, und eine östliche Hälfte, wo die Magyaren das Übergewicht haben sollten. Beust verständigte sich in persönlichen Verhandlungen mit den Führern der Deákpartei über die Bedingungen des Ausgleichs zwischen Österreich und U. Dem Reichstag, wie der Landtag nun wieder hieß, ward 18. Febr. 1867 die Wiederherstellung der Verfassung von 1848, für welche nur wenige Modifikationen ausbedungen wurden, sowie die Einsetzung eines besondern verantwortlichen Ministeriums unter dem Vorsitz von Julius Andrássy angezeigt. Siebenbürgen und das Banat wurden sofort mit U. wieder verschmolzen, mit Kroatien ward ein Ausgleich vorbehalten, der am 20. Sept. 1868 zu stande kam. U. ward als selbständiger Staat anerkannt, der mit Österreich durch gewisse gemeinsame Angelegenheiten verbunden war und zunächst auf zehn Jahre ein Zoll- und Handelsbündnis mit ihm schloß. Von den anerkannten Staatsschulden und von den gemeinsamen Ausgaben für das Auswärtige, Heer und Marine übernahm U. bloß 30 Proz., stand aber in den Delegationen der österreichischen Reichshälfte ebenbürtig zur Seite. Mit allem Pomp früherer Jahrhunderte erfolgte 8. Juni 1867 in Budapest die feierliche Krönung des Königs, und damit war die Versöhnung der Magyaren mit der Dynastie besiegelt. Die heimgekehrten Flüchtlinge schlossen sich ehrlich der neuen Ordnung der Dinge an, das Volk bethätigte bei jeder Gelegenheit seine Loyalität, und der Reichstag, in welchem die gemäßigte Deákpartei zunächst noch die entschiedene Mehrheit hatte, nahm 1868 bereitwilligst das Wehrgesetz in der Fassung der Regierung an; nicht nur das stehende Heer, sondern auch die Landwehr wurde unter den Befehl des Reichskriegsministeriums gestellt, die letztere jedoch als Honvédarmee unter dem Kommando des Erzherzogs Joseph besonders organisiert. Das Bewußtsein des durch Ausdauer und Klugheit errungenen Siegs trieb die Magyaren an, den freiheitlichen Ausbau des Nationalstaats möglichst rasch zu vollenden. Die politische Gleichstellung der Juden, die fakultative Zivilehe, ein Volksschulgesetz u. a. wurden beschlossen. Das Nationalitätengesetz vom 29. Nov. 1868 bestimmte, daß alle Bewohner Ungarns die einheitliche und unteilbare ungarische Nation bilden, die ungarische Sprache Staatssprache sein sollte. Das Übergewicht der Magyaren bei den Wahlen wurde durch Verteilung der Wahlbezirke und des Stimmrechts aufrecht erhalten. Vor allem wollte man die materielle Entwickelung des Landes durch Eisenbahnen fördern, und durch Anleihen für den Bau von Staatseisenbahnen und durch Zinsgarantien für Privateisenbahnen belastete das Ministerium Lónyay, welches November 1871 an Stelle des Andrássyschen getreten war, den Staatshaushalt so sehr, daß, als noch schlechte Ernten, Überschwemmungen u. dgl. hinzukamen, bald ein bedenkliches Defizit in den Einnahmen (1874: 31 Mill.) eintrat und man schon 1873 zu neuen Steuern schreiten mußte; der geträumte ungeheure Aufschwung des Landes erwies sich als eine Illusion. Auch die Ministerien der Deákpartei, welche nach Lónyays Rücktritt (November 1872) die Regierung übernahmen, Szlávy und Bittó, vermochten selbst durch Anleihen der Finanznot nicht abzuhelfen, und dies bewirkte die Auflösung der Deákpartei, an deren Stelle jetzt als herrschende Partei im Reichstag die aus einem Teil der Deákpartei und dem gemäßigten Teil der bisherigen Radikalen gebildete liberale Partei trat. Das Haupt der neuen Partei war Koloman Tisza, welcher im Februar 1875 zunächst unter Wenckheim als Minister des Innern, seit 16. Okt. aber als Ministerpräsident die Seele der Regierung wurde. Das Defizit wurde zunächst vom Finanzminister Szell durch eine Reform der Steuererhebung bedeutend gemindert; dann erlangte Tisza bei den Verhandlungen mit Österreich über die Erneuerung des Handelsvertrags und des finanziellen Ausgleichs für U. eine günstigere finanzielle Stellung durch Erhöhung der Zölle und Anteil an der Nationalbank. Schwierig schien sich die Lage Ungarns zu gestalten beim Ausbruch der orientalischen Krisis 1875. Die Magyaren waren der slawischen Bewegung, welche sich im Aufstand der Herzegowina, in der bulgarischen Empörung und im serbisch-türkischen Krieg kundgab, durchaus abgeneigt und gaben ihre Sympathien für die Türken bei verschiedenen Gelegenheiten geräuschvoll zu erkennen. Das Einschreiten Rußlands auf der Balkanhalbinsel, seine glänzenden Erfolge im Winter 1877/78 und die Neutralität der Reichsregierung diesen Ereignissen gegenüber erweckten in U. die größten Besorgnisse. In dieser Zeit bewiesen Tisza und die von ihm geleitete Mehrheit des Reichstags eine wirklich staatsmännische Klugheit. Sie bereiteten der auswärtigen Politik des Reichs keine Schwierigkeiten, ja als die Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 große Verluste und Kosten verursachte und die Entrüstung über die unpopuläre Unternehmung in U. aufs höchste stieg, gelang es Tisza, den Sturm zu beschwichtigen und sich und die liberale Partei in der Herrschaft zu behaupten. In den Delegationen konnte die Reichsregierung auf die Unterstützung der Ungarn und damit auf die Annahme ihrer Anträge auch gegen die deutschliberale Partei in Osterreich rechnen: die Kosten der Okkupation und die Organisation der neuen Provinzen wurden von ihnen bewilligt, das Wehrgesetz auf neue zehn Jahre genehmigt. Dafür thaten der Hof und die Reichsregierung alles, um Tisza und die liberale Partei zu unterstützen. Die nicht seltenen Beispiele von Bestechlichkeit von Beamten und Mitgliedern der herrschenden Partei und von Beteiligung derselben an Geldgeschäften, die zu Skandalen und Duellen führten, schadeten der ungarischen Regierung nicht ernstlich. In der rücksichtslosen Magyarisierung Ungarns, in der Unterdrückung der Deutschen, namentlich der Siebenbürger Sachsen, wurde dem Ministerium von Wien aus völlig freie Hand gelassen, während gleichzeitig in Österreich die deutschliberale

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Ungarweine - Ungehorsam.

Verfassungspartei wegen ihrer kurzsichtigen Opposition gegen die auswärtige Politik der Krone ihre maßgebende Stelle einbüßte. Indem Tisza entschieden dafür eintrat, daß der Staat vor allem ungarisch sein, gleichzeitig aber in der Gesamtmonarchie seine Interessen nachdrücklich zur Geltung bringen müsse, gelang es ihm immer wieder, die Opposition im Parlament zu besiegen und bei den Wahlen die Mehrheit zu behalten. In der That war das Programm der äußersten Linken, Losreißung von Österreich, unausführbar und, wenn es ausgeführt worden wäre, von den schädlichsten Folgen für U. Die Finanzverhältnisse nahmen immer noch die besondere Aufmerksamkeit in Anspruch, da das Desizit aus dem Staatshaushalt nicht zu beseitigen war. Es wurden daher frühere Anleihen zu einem geringern Zinsfuß konvertiert und neue Steuern eingeführt, andre erhöht. Die Magyarisierung der Schulen wurde 1883 durch ein Gesetz über die Mittelschulen, welches die Kenntnis des Magyarischen für alle Prüfungen vorschrieb, fortgesetzt. Die Ablehnung eines Gesetzes über die Eheschließung zwischen Christen und Juden durch das Oberhaus (1884) brachte die lange beabsichtigte Reform desselben in Gang. Dieselbe wurde 1886 zum Gesetz erhoben, beseitigte die alte Magnatentafel, die nahezu 900 zu zwei Dritteln gänzlich verarmte Mitglieder zählte, und bestimmte, daß fortan außer 50 von der bisherigen Tafel zu wählenden Magnaten, 30 von der Regierung zu ernennenden Mitgliedern, den katholischen Prälaten und den protestantischen Kirchenhäuptern das Magnatenhaus aus denjenigen Magnaten bestehen solle, welche 3000 Gulden Grundsteuer zahlten. Die Opposition versuchte vergeblich, Tisza zu stürzen; selbst ein Anfang 1889 mit Volksaufläufen verbundener heftiger Ansturm gegen das neue Wehrgesetz, welches die Pflichten der Einjährig-Freiwilligen verschärfte und die Kenntnis der deutschen Sprache von allen Reserve und Landwehroffizieren verlangte, vermochte die Stellung des gewandten Mannes nicht zu erschüttern.

[Litteratur.] Schwandtner, Scriptores rerum hungaricarum (Wien 1746-48, 3 Bde.); Endlicher, Rerum hungar. monumenta Arpadiana (St. Gallen 1849); Katona, Historia critica regum Hungariae (Pest 1779-97, 42 Bde.); Pray, Annales regum Hungariae (Wien 176470, 5 Bde.); Engel, Geschichte des ungarischen Reichs und seiner Nebenländer (Halle 17971804, 4 Bde.); Derselbe, Geschichte des Königreichs U. (Wien 181415, 5 Bde.); Feßler, Geschichte der Ungarn und ihrer Landsassen (neue Bearbeitung von Klein, Leipz. 1867 bis 1883, 5 Bde.); Mailáth, Geschichte der Magyaren (2. Aufl., Regensb. 1852-53, 5 Bde.); Szalay, Geschichte Ungarns (deutsch von Wögerer, Pest 1870 bis 1875, 3 Bde.); Horváth, Geschichte Ungarns (deutsch, das. 1863, 2 Bde.), und desselben größeres Werk in ungarischer Sprache (3. Aufl., das. 1873, 8 Bde.); Krajner, Die ursprüngliche Staatsverfassung Ungarns (Wien 1872); Büdinger, Ein Buch ungarischer Geschichte, 10581100 (Leipz. 1866); Marczali, Ungarns Geschichtsquellen im Zeitalter der Arpaden (Berl. 1882); Salamon, U. im Zeitalter der Türkenherrschaft (deutsch, Leipz. 1887); Horvath, Fünfundzwanzig Jahre aus der Geschichte Ungarns, 182348 (deutsch, das. 1867, 2 Bde.); Szemere, Hungary from 1848 to 1860 (Lond. 1860); Vargyas, Geschichte des ungarischen Freiheitskampfes (Preßb. 1869); Springer, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809, Bd. 1 u. 2 (Leipz. 1863-65); Rogge, Österreich von Vuagos bis zur Gegenwart (das. 1872-73, 3 Bde.); Ujfalvy, La Hongrie, son histoire, sa langue, sa litterature (Par. 1872); Léger, La Hongrie politique et religieuse (Brüssel 1860); Derselbe, La Hongrie et les Slaves (das. 1860); Sayous, His toiregenerale des Hongrois (Par. 1876, 2 Bde.); "Ungarische Reichstagsakten"; "Historisches Archiv", herausgegeben von der Ungarischen Historischen Gesellschaft.

Uugarweine, die in Ungarn und seinen ehemaligen Nebenländern erzeugten Weine, zeigen eine außerordentliche Mannigfaltigkeit, aber sämtlich einen südlichen Charakter. Der edelste Ungarwein, welcher eine ganz exzeptionelle Stellung einnimmt, ist der Tokayer (s. Tokay); ihm am nächsten steht der Menes-Magyarat aus dem Arader Komitat, weiße und rote starke Ausbruch- und Tafelweine, dann der Ruster aus dem Ödenburger Komitat, weiße, starke, süße, aromatische Ausbruch- und Tafelweine, von denen die Ausbrüche besonders im Ausland, vor allem in England, beliebt sind. Alle diese Hauptgewächse stufen sich nach Lage, Mostung und Kellerbehandlung von den edelsten Dessertweinen bis zu gewöhnlichen Tischweinen ab. Ausgezeichnete rote Tafelweine kommen von Erlau, Vifonta, Szegszard, Villany, dem Baranyaer Komitat, Ofen und Umgebung, Vajujhely, Krassoer Komitat. Die Szegszarder Weine, etwas schwer und öfters erdig, zeichnen sich besonders durch ihre reiche Farbe aus und werden vielfach exportiert, um auf Medoc verarbeitet zu werden. Die besten Plätze für weiße Weine sind: Magyarat, Somlo, das Veszprimer Komitat, Badacson, die Plattenseegegend, Naszmely, Ermellak, PestSteinbruch, Szerednye, die Komitate Neograd, Hont, Preßburg, Weißenburg, Somogy und Eisenburg. Die besten Somlauer Weine, entsprechend behandelt, stehen dem besten Sauterne nicht nach. Als ungarische Rheinweine kommen verschiedene aus Riesling und Traminer gewonnene Weine in den Handel. Die Weine des Banats und der Woiwodina sind im Durchschnitt den kleinen Ungarweinen gleich und überschreiten nur in seltenen Ausnahmen die dritte Rangklasse. Man bereitet in ganz Ungarn und seinen Nebenländern auch "gekochte Weine aus eingedampftem Most, welche unter den Namen "Wermut" und "Senf" in den Handel kommen. Derartige Senfweine liefert besonders Werschetz. Schaumwein wird in Preßburg und Pest in großem Maßstab dargestellt.

Ungedeckte Noten, die Banknoten, für welche nicht Barvorräte zur Einlösung vorhanden sind (s. Banken, S. 325).

Ungehorsam (Kontumaz), in der Rechtssprache das Nichtbefolgen einer richterlichen Auflage, sei es einer Ladung oder einer richterlichen Anweisung zur Vornahme oder Unterlassung einer Handlung. Die Folgen, welche der U. im Strafprozeß nach sich zieht, sind von denjenigen verschieden, welchen der Ungehorsame (Kontumax) im bürgerlichen Rechtsstreit ausgesetzt ist. Denn der moderne Strafprozeß wird von dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens beherrscht, und diesem entspricht die Regel, daß die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung notwendig ist. Nur ausnahmsweise kann bei U. des Angeklagten in dessen Abwesenheit verhandelt und entschieden werden. Die deutsche Strafprozeßordnung unterscheidet dabei zwischen dem abwesenden und dem ausgebliebenen (flüchtigen) Angeklagten. Als abwesend gilt der Angeklagte, wenn sein Aufenthalt unbekannt ist, oder wenn er sich im Ausland aufhält und seine Gestellung vor das zuständige Ge-

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Ungelt - Unger.

richt nicht ausführbar oder nicht angemessen erscheint. Gegen den abwesenden Angeklagten ist eine Haupt-Verhandlung nur dann statthaft, wenn die strafbare Handlung mit Geldstrafe oder Einziehung bedroht ist, oder wenn es sich um eine Person handelt, die sich der Wehrpflicht entzogen hat. In solchen Fällen ist eine öffentliche Ladung notwendig. Gegen den abwesenden Angeklagten kann eine Beschlagnahme einzelner Vermögensstücke oder des ganzen Vermögens verfügt werden. Gegen einen ohne Entschuldigung ausgebliebenen Angeklagten wird ein Vorführungs- oder ein Haftbefehl erlassen. In seiner Abwesenheit darf nur dann verhandelt werden, wenn seine That mit Haft, Geldstrafe oder Einziehung bedroht ist, oder wenn sich der Angeklagte nach seiner Vernehmung aus der Hauptverhandlung entfernte, endlich auch in leichtern Fällen, wenn das Gericht ihn wegen allzu großer Entfernung seines Aufenthaltsorts vom Erscheinen entbunden hat. Im bürgerlichen Rechtsstreit besteht dagegen das System, daß von einer Partei, welche innerhalb der dazu gesetzten Frist oder in dem dazu bestimmten Termin eine Rechtshandlung nicht vornimmt, angenommen wird, sie verzichte auf ebendiese Rechtshandlung. Bei den gesetzlich bestimmten Notfristen, z. B. bei der Frist zur Einlegung der Berufung, tritt der Verlust des Rechtsmittels mit dem Ablauf der Frist von selbst ein. Außerdem ist ein besonderes Ungehorsams- (Kontumazial-, Versäumnis-) Verfahren und ein ausdrücklicher Antrag (Ungehorsamsbeschuldigung, Accusatio contumaciae) des Gegners erforderlich, um ein Versäumnisurteil (Verurteilung in contumaciam) gegen den Ungehorsamen herbeizuführen (s. Versäumnis). U. gegenüber einem rechtskräftigen Urteil hat die Einleitung der Zwangsvollstreckung (s. d.) zur Folge. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 318 ff., 470 ff., 229 ff.; Zivilprozeßordnung, § 209 ff., 295 ff.

Ungelt (später Umgelt), auch Unrecht, eine frühere Bezeichnung für Aufwandsteuern (insbesondere Steuer vom Kleinverkehr als Vorläufer der spätern Accise), bedeutet nach Lang ("Teutsche Steuerverfassung", 1795) eine außerordentliche Abgabe; von Hüllmann wird dieser Ausdruck auf die Unzufriedenheit der Steuerpflichtigen zurückgeführt.

Unger, 1)Johann Georg, Formschneider, geb. 1715 zu Goos bei Pirna, erlernte in letzterer Stadt die Buchdruckerkunst und trieb zugleich als Autodidakt die Holzschneidekunst. Seit 1740 in Berlin, befaßte er sich von 1757 an ausschließlich mit dem Formschnitt. Unter seinen Arbeiten ist eine Folge von fünf Landschaften hervorzuheben. U. erfand auch eine Druckpresse sowie eine Rammmaschine. Er starb 1788.

2) Johann Friedrich, Buchdrucker, Form und Stempelschneider, Sohn des vorigen, geb. 1750 zu Berlin, trat in die Fußstapfen seines Vaters und bildete sich zu einem der ausgezeichnetsten Männer seines Faches. Die von ihm erfundene Frakturschrift (Ungersche Schrift) hatte Ähnlichkeit mit der Schwabacher Schrift, war aber geschmackvoller. U. wurde 1800 Professor der Holzschneidekunst an der Berliner. Akademie und wirkte in dieser Stellung für die künstlerische Wiederbelebung derselben. Er starb 1804.

3) Franz, Botaniker und Paläontolog, geb. 30. Nov. 1800 auf dem Gut Amthof bei Leutschach in Steiermark, studierte zu Graz, Wien und Prag zuerst die Rechte, dann Medizin, praktizierte seit 1827 als Arzt in Stockerau bei Wien, seit 1830 als Landesgerichtsarzt zu Kitzbühel in Tirol, ward 1836 Professor der Botanik an der Universität Graz, 1850 Professor der Pflanzenphysiologie in Wien, bereiste 1852 Nordeuropa, später den Orient und lebte seit 1866 im Ruhestand auf seinem Landgut bei Graz, wo er 13. Febr. 1870 starb. Er erwarb sich zuerst wesentliche Verdienste um die Paläontologie, wandte sich aber später mehr der Physiologie und Phytotomie zu und förderte namentlich die Lehre von den Zellen und dem Protoplasma. Er schrieb: "Über den Einfluß des Bodens auf die Verteilung der Gewächse" (Wien 1836); "Über den Bau und das Wachstum des Dikotyledonenstamms" (Petersb. 1840); "Über Kristallbildungen in den Pflanzenzellen" (das. 1840); "Grundzüge der Anatomie und Physiologie der Pflanzen"(das. 1846); "Anatomie und Physiologie der Pflanzen" (Wien 1855); "Grundlinien der Anatomie und Physiologie der Pflanzen" (das. 1866); "Synopsis plan tarum fossilium" (Leipz. 1845); "Chloris protogaea, Beiträge zur Flora der Vorwelt" (das. 1841-1847); "Genera et species plantarum fossilium (Wien 1850); "Iconographia plantarum fossilium" (das. I852); "Sylloge plantarum fossilium" (das. 1860); "Die Urwelt in ihren verschiedenen Bildungsperioden" (das. 1851, 3. Aufl. 1864); "Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt (das. 1852); "Geologie der europäischen Waldbäume" (Graz 1870). Außerdem veröffentlichte er: "Wissenschaftliche Ergebnisse einer Reise in Griechenland und den Ionischen Inseln" (Wien 1862); "Die Insel Cypern" (mit Kotschy, das. 1865); "Botanische Briefe" (das. 1852); "Botanische Streifzüge auf dem Gebiet der Kulturgeschichte" (das. 1857-67, 7 Tle.). Vgl. Reyer, Leben und Wirken des Naturhistorikers Franz U. (Graz 1871); Leitgeb, Franz U., Gedächtnisrede (das. 1870).

4)Friedrich-Wilhelm, Jurist und Kunsthistoriker, geb. 8. April 1810 zu Hannover, studierte in Göttingen die Rechte, trat dann bei dem Amt Hannover in den praktischen Justizdienst und ward 1838 als Amtsassessor nach Göttingen versetzt, worauf er sich 1840 als Privatdozent in der juristischen Fakultät habilitierte. Seine Anstellung als Sekretär der Universitätsbibliothek (1845) war die Veranlassung, daß er seine Lehrthätigkeit aufgeben mußte. Erst 1858 begann er wi der Vorlesungen und zwar über Kunstgeschichte in der philosophischen Fakultät, was 1862 seine Ernennung zum außerordentlichen Professor und Direktor der akademischen Gemäldesammlung zur Folge hatte. Er starb 22. Dez. 1876 in Göttingen. Als juristischer Schriftsteller hat er auf dem Gebiet der deutschen Rechtsgeschichte Hervorragendes geleistet. Sein bedeutendstes Werk ist die "Geschichte der deutschen Landstände" (Hannov. 1844, 2 Tle.). Außerdem sind zu nennen: "Die altdeutsche Gerichtsverfassung" (Götting. 1842); "Des Richtes Stig" (das. 1847); "Römisches und nationales Recht" (das. 1848). Von seinen kunstgeschichtlichen Schriften sind hervorzuheben: "Die Perspektive" (Götting. 1856); "Die bildende Kunst" (das. 1858); "Übersicht der Bildhauerund Malerschulen seit Konstantin d. Gr." (das. 1860); "Die Bauten Konstantins d. Gr. am Heiligen Grab zu Jerusalem" (das. 1863); "Correggio in seinen Beziehungen zum Humanismus" (Leipz. 1863).

5) Joseph, hervorragender österreich. Jurist und Staatsmann, geb. 2. Juli 1828 zu Wien, studierte daselbst und habilitierte sich 1852 als Privatdozent, ging 1853 als außerordentlicher Professor des Zivilrechts nach Prag, von wo er 1857 wieder nach Wien berufen ward. Lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses, gehörte er vom November 1871 bis Februar 1879 zum Kabinett Adolf Auersperg als Minister ohne Portefeuille, in welcher Eigenschaft er durch sein ausgezeichnetes Rednertalent die Regierung so geschickt

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Ungerade Zahl - Unguentum

vertrat, daß er sich den Namen des "Sprechministers" erwarb. Im Januar 1881 wurde er zum Präsidenten des Reichsgerichts ernannt. Seinen juristischen Ruf begründete er durch das "System des österreichischen allgemeinen Privatrechts" (Bd. 1 u. 2,Leipz. 1856-59, 4. Aufl. 1876; Bd. 6, 1864, 3. Aufl. 1879), ein Werk, welches zu den bedeutendsten Erscheinungen der juristischen Litteratur zählt und in der Entwickelung der österreichischen Jurisprudenz Epoche gemacht hat. Außerdem nennen wir von ihm: "Die Ehe in ihrer welthistorischen Entwickelung" (Wien 1850); "Über die wissenschaftliche Behandlung des österreichischen gemeinen Privatrechts" (das. 1853); "Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen" (das. 1853); "Die rechtliche Natur der Inhaberpapiere" (Leipz. 1857); "Die Verlassenschaftsabhandlung in Österreich" (Wien 1862); "Zur Reform der Wiener Universität" (das. 1869); "Die Verträge zu gunsten Dritter" (Jena 1869). Mit seinem Ministerkollegen Glaser begründete er die "Sammlung von zivilrechtlichen Entscheidungen des k. k. obersten Gerichtshofs" (Wien 1859 ff., 2. Aufl. 1873 ff.).

6) William, Kupferstecher, Sohn von U. 4), geb. 11. Sept. 1837 zu Hannover, bildete sich seit 1854 auf der Akademie zu Düsseldorf unter Keller, arbeitete seit 1857 bei Thäter zu München, kehrte 1860 nach Düsseldorf zurück und ging 1865 nach Leipzig, sodann nach Weimar. Auf Anregung des Verlegers der "Zeitschrift für bildende Kunst" begann er 1866, Gemälde alter, besonders niederländischer, Meister im Museum zu Braunschweig zu radieren, denen 1869 eine zweite Reihe von Blättern nach Gemälden der Kasseler Galerie folgte. Durch diese Vorarbeiten eignete er sich eine so große Gewandtheit in der Handhabung der Radiernadel an, daß er die Kunst der Radierung in Deutschland neu belebte und zahlreiche Nachfolger und Schüler fand. Den Winter von 1871 bis 1872 brachte er in Holland zu, wo die Blätter zur "Frans Hals-Galerie" (mit Text von Vosmaer) entstanden. Von da ab entfaltete er eine sehr umfangreiche Thätigkeit, welche sich auch auf Nachbildungen von Gemälden moderner Künstler erstreckte. Sein Hauptwerk ist die "Galerie des Wiener Belvedere" (mit Text von K. v. Lützow). Von einzelnen Blättern ist besonders die Radierung nach dem Ildefonsoaltar von Rubens (im Auftrag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien) hervorzuheben. Seine künstlerische Eigenart befähigte ihn vorzugsweise zur Wiedergabe der Gemälde der Niederländer (Rubens, van Dyck, Fr. Hals, Rembrandt), der Venezianer (Tizian, Veronese) und der Spanier (Murillo, Velazquez) der Blütezeit, deren koloristische Wirkungen er mit feinem Verständnis nachzubilden vermag. Er lebt als Professor in Wien.

Ungerade Zahl, eine solche, welche durch 2 nicht teilbar ist, z. B. 1, 3, 5 etc.

Ungericht (altd.), s. v. w. Missethat oder Verbrechen.

Ungern-Sternberg, Alexander, Freiherr von, Romanschriftsteller, geb. 22. April 1806 auf dem väterlichen Gut Noistfer bei Reval, sollte sich dem Studium der Rechte widmen, folgte aber seiner Neigung zur Poesie und lebte seit 1830 in Deutschland, wo er sich nach wechselndem Aufenthalt später bleibend in Dresden niederließ. Er starb 24. Aug. 1868 zu Dannenwalde in Mecklenburg Strelitz. U. hat in einer langen Reihe von Romanen und Novellen, immer aber mit hervorstechender Frivolität, die verschiedenartigsten Stoffe behandelt. Die Rokokozeit ist die eigentliche Domäne seines Talents. Der romanhafte Inhalt dieser Novellen (z. B. "St. Sylvan", Frankf. 1839; "Die gelbe Gräfin", Berl. 180) ist dürftig, die künstlerische Komposition schwach, die. Charakteristik oft oberflächlich; aber der kulturhistorische Hintergrund ist treu und sicher gezeichnet so namentlich in "Berühmte deutsche Frauen des 18. Jahrhunderts" (das. 1848). Zu dem Besten, was U. schrieb, gehören die Erzählungen: "Galathee (Stuttg. 1836) und "Psyche" (Frankf. 1838, 2 Bde.) Als der soziale Tendenzroman Mode wurde, trat er mit "Diane" (Berl. 1842, 3 Bde.) und "Paul" (Hannover 1845, 3 Bde.) hervor, ohne es freilich zur rechten ethischen und psychologischen Tiefe zu bringen. Letzteres Werk hatte zugleich die Absicht, für eine Reorganisation des Adels Propaganda zu machen, und diese Tendenz bewirkte 1848 des Verfassers Anstellung als Mitarbeiter am Feuilleton der "Kreuzzeitung". Da aber seine "Neupreußischen Zeitbilder" (Brem. 1848-49, 2 Bde.) wenig Beifall fanden, ließ er die Politik fallen und suchte durch die Erfindung von Pikantem auf frivolem Gebiet zu gefallen, so namentlich in den "Braunen Märchen" (das. 1850, 4. Aufl. 1875) und in den "Rittern von Marienburg" (Leipz. 1853, 3 Bde.). Die "Erinnerungsblätter" (Leipz. 185560, 6 Bde.) erzählen des Verfassers Lebensgeschichte. Viel Fesselndes enthält die "Dresdener Galerie" (Leipz. 185758, 2 Bde.), eine Reihe von Kunstnovellen und biographischen Skizzen. Die historischen Romane: " Dorothea von Kurland " (Leipz. 1859, 3 Bde.), " Elisabeth Charlotte" (das. 1861, 3 Bde.), "Peter Paul Rubens" (das. 1862) u. a. verfielen schon völlig dem Ton der Leihbibliothek. Kleinere Erzählungen erschienen gesammelt als "Novellen" (Stuttg. 18323, 5 Bde.), "Erzählungen und Novellen" (Dess. 1844, 4 Bde.) und "Kleine Romane und Erzählungen" (Jena 1862, 3 Bde.).

Unger-Sabatier (spr. -ssabatjeh, in Italien Ungher genannt), Karoline, Opernsängerin, geb. 1800 zu Wien, wurde von Ronconi in Mailand ausgebildet und debütierte 1819 in Wien als Cherubin in Mozarts "Figaro". Dort engagierte sie der Unternehmer Barbaja für Italien, wo sie in allen großen Städten weniger durch die Kunst als durch die dramatische Kraft ihres Gesanges Begeisterung erregte. Im Dezember 1833 errang sie auch am italienischen Theater in Paris einen glänzenden Erfolg. 1840 verließ sie die Bühne, nachdem sie sich mit Sabatier verheiratet hatte, und zog sich auf eine Villa bei Florenz zurück, wo sie 23. März 1877 starb.

Unglückshafte, s. Termiten.

Unglückstage, s. Tagewählerei.

Ungnad, Hans, Freiherr zu Sonegg, Förderer der Reformation unter der südslawischen Bevölkerung Österreichs. Geb. 1493 als Sohn eines Kaiserlichen Kammermeisters, nahm er ruhmvollen Anteil an den Feldzügen gegen die Türken, wandte sich in spätern Lebensjahren der Sache der Reformation zu, ging 1554 nach Wittenberg, legte 1557 seine Stelle als Statthalter von Steiermark nieder, weil den Evangelischen freie Religionsübung verweigert ward, und ging zu Herzog Ulrich von Württemberg, der ihm ein früheres Stift zu Urach als Wohnsitz überwies. Dort bewirkte er die Berufung des um die reformatorische Bewegung in Krain verdienten Truder nach Württemberg. Beide Männer errichteten jetzt eine Druckerei, durch welche lange Zeit die südlichen Länder Österreichs mit reformatorischen Schriften versehen wurden, bis der Kaiser sie im Dreißigjährigen Krieg aufhob und der Propaganda in Rom schenkte. U. starb 27. Dez. 1564 zu Wietritz in Böhmen.

Unguéntum (lat.), Salbe (s. d.).

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Ungulata - Union.

Ungulata, Huftiere.

Ungvar, Stadt, s. Ung.

Uniamiembe, Landschaft im S. von Uniamvesi in Äquatorialafrika, unter 5° südl. Br. Hauptort und Missionsstation ist Tabora (Kase), Knotenpunkt der Karawanenstraßen zum Tanganjika und zum Ukerewe, mit großen Warenlagern der arabischen Händler.

Uniamvesi ("Mondland"), große Landschaft in Äquatorialafrika, südlich vom Ukerewe, östlich vom Tanganjika, vom 4.° südl. Br. durchzogen, nach Speke nicht viel kleiner als England, liegt zum großen Teil auf dem 1000-1200 m hohen Tafelland, welches die Wasserscheide zwischen Ukerewe, Tanganjika und Lufidschi bildet. Nach N. dacht es sich zum Ukerewe ab, dessen Südrand noch in seine Grenzen fällt; hier umschließt es die ungemein fruchtbaren Landschaften von Usabi und Uhindi. Dieser nördliche Teil wird von den Bewohnern Usukuma (Mitternachtsland) nannt, im Gegensatz zu dem südlichen Utakama (Mittagsland). Das Land ist im allgemeinen eins der fruchtbarsten und bevölkertsten im äquatorialen Osten. Zugleich ist es durch die Kreuzung der nach dem Tanganjika und dem Ukerewe führenden und bei der Missionsstation Tabora sich spaltenden Karawanenwege das belebteste und wichtigste Handelsland im Innern Ostafrikas. Das Land stand früher unter einem Herrscher, ist aber im Lauf seiner neuesten Geschichte in eine Anzahl von Kleinstaaten zerfallen. Die Bewohner, die Waniamwesi, sind dunkler von Farbe als ihre Nachbarn, schlagen die untern Schneidezähne aus und splittern eine dreieckige Lücke zwischen die zwei innern Schneidezähne der obern Reihe, tragen schwere Kupferringe um die Arme, rauchen und trinken stark, bauen aber ihr Land gut an, weben auf eignen Webstühlen, schmelzen Eisen und sind als Händler oder Träger überall zwischen Sansibar und Udschidschi anzutreffen. Seitdem sich Araber zahlreich unter ihnen niedergelassen haben, sind sie verarmt, einzelne haben sich aber, wie jene, eifrig dem Sklaven und Elfenbeinhandel gewidmet und es teilweise zu großem Wohlstand gebracht. S. Karte bei Artikel "Congo".

Ünîe (im Altertum Önoe), Stadt im türk. Wilajet Trapezunt in Kleinasien, am Schwarzen Meer, beliebter Aufenthalt reicher Mohammedaner, hat einen Hafen, Baumwollweberei, Schiffbau, Handel mit Holz, Korn, Flachs etc. und 6000 Einw. (Mohammedaner und Griechen). Die Umgegend ist reich an Eisen.

Unieren (lat.), vereinigen; uniert, vereinigt, besonders von früher getrennten Religionsgenossenschaften (s. Union).

Unierte Griechen, diejenigen griech. Christen, welche sich mit Beibehaltung ihrer alten Kirchenverfassung, ihrer Sprache beim Gottesdienst, ihrer Fasten und des Abendmahls unter beiderlei Gestalt, aber mit Annahme der Lehre, daß der Heilige Geist auch vom Sohn ausgehe, der Lehren vom Fegfeuer und vom Primat des Papstes mit der römischen Kirche wieder vereinigt haben. Im ganzen gibt es ihrer jetzt gegen 5 Mill., welche vorzüglich in Italien, Polen, Siebenbürgen, Ungarn, Kroatien, Dalmatien und in der Türkei leben. S. Union.

Unifizieren (lat.), in eine Einheit, Gesamtheit verschmelzen, z. B. Staatsschulden, Anleihen.

Unifórm (lat.), die "gleichförmige" Bekleidung der Militärpersonen sowie gewisser Klassen von Zivilbeamten. Die Einführung derselben fällt in das 17. Jahrh. und kann als gleichzeitig mit der Errichtung der stehenden Heere angenommen werden. Farbe, Schnitt und Stoff der U. unterscheiden hauptsächlich die Soldaten verschiedener Länder und verschiedener Waffengattungen; die daran befindlichen Abzeichen dagegen dienen zur Unterscheidung der einzelnen Truppenkörper sowie der verschiedenen Grade.

Uniformitätsakte, s. Presbyterianer.

Unigenitus Dei fllius (lat.), Anfangsworte der vom Papst Clemens XI. im September I713 erlassenen Bulle, worin 101 Sätze aus Quesnels "Réflexions morales" verdammt wurden (s. Jansen). Vgl. Schill, Die Konstitution U. (Freiburg 1876).

Unikum (lat.), das Einzige in seiner Art, nur einmal Vorhandene, besonders von Münzen, alten Kunstwerken, Holzschnitten etc. gebraucht.

Unimak, s. Aleuten.

Unio, Flußmuschel.

Uniõn (lat.), Vereinigung, Verbindung, namentlich der Bund mehrerer Staaten. Geschichtlich merkwürdig sind namentlich die Kalmarische U. vom. 20. Juli 1397 (s. Kalmar), die Utrechter U. vom 23. Jan. 1579 (s. Niederlande, Geschichte, S. 149) und die U. protestantischer Fürsten und Städte von 1608 zum Schutz ihrer gemeinsamen Religionsinteressen (s. Dreißigjähriger Krieg, S. 132). In Deutschland versuchte ferner Preußen 1850 eine U. der Klein und Mittelstaaten unter preußischer Führung, zu welchem Zweck das Erfurter Unionsparlament berufen ward (s. Preußen, S. 374). Im staatsrechtlichen Sinn versteht man unter U. die Verbindung zweier Staaten, welche unter einem und dem selben Souverän stehen (s. Staat, S. 196).

Auf kirchlichem Gebiet bezeichnet U. die Vereinigung verschiedener Religions- oder Konfessionsparteien zu Einer Gemeinde oder Kirche. Der Trieb nach Beseitigung der kirchlichen Spaltungen zieht sich (unter stetiger Berufung auf Joh. 10, 16; 17, 21-23; Eph. 4, 3-6) durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch. Während aber die katholische Kirche bei ihren Attributen der Einheit, Allgemeinheit und Untrüglichkeit eine U. nur durch das Aufgehen aller andern Kirchenparteien in ihrer Gemeinschaft erstreben kann, erlaubt die evangelische Kirche bei ihrer prinzipiell freiern Stellung zum Dogma, zu der kirchlichen Verfassung und zu den gottesdienstlichen Einrichtungen eine Vereinigung zweier oder mehrerer Kirchenparteien innerhalb eines gewissen gemeinsamen Rahmens von Glaubensanschauungen und Kultuseinrichtungen unter einheitlichem Kirchenregiment. Die ältesten Unionsversuche bezweckten Vereinigung der griechisch- und römisch-katholischen Kirchen und sind meist von den griechischen Kaisern aus politischen Rücksichten ausgegangen. Schon die Verhandlungen auf der Synode zu Lyon 1274 führten dazu, daß die Griechen den Primat des römischen Bischofs anerkannten; die Kirchenversammlung von Konstantinopel 1285 nahm aber alle Konzessionen wieder zurück. Denselben Mißerfolg erntete seit 1439 das Florentiner Konzil (s. d.), so daß die Zahl der "unierten Griechen" (s. d.) eine sehr geringe blieb. Dagegen gelang die U. Der Katholiken mit den Maroniten(s.d.) und einem Teil der armenischen Kirche (s. d.). Neuerdings haben die sogen. Altkatholiken (s. d.) wieder den Gedanken einer U. der christlichen Kirchen, zunächst der beiden großen katholischen, ins Auge gefaßt, und etliche Gelehrte vereinigten sich im August 1875 zu Bonn über das Dogma vom Ausgang des Heiligen Geistes. - Noch entschiedener scheiterten die Unionsversuche mit den Protestanten zunächst auf allen Reichstagen im Reformationszeitalter, dann bei verschiedenen Religionsgesprächen (s. d.) zwischen den Katholiken und Evangelischen. Ebenso erfolglos blieben auch die Unionsvorschläge von Staphylus, Wicel

1017

Union (kirchliche) - Union (Stadt).

und Cassander unter Kaiser Ferdinand I., wiewohl auch protestantische Gelehrte, wie Hugo Grotius (s.d.) und Georg Calixtus (s. d.), den Gedanken aufnahmen. Was 1660 der Kurfürst von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, mehreren evangelischen Fürsten als Unionsgrundlage anbot, lief aus Akkommodation an die katholischen Unterscheidungslehren hinaus. Ernstlicher waren die Vorschläge des von den Höfen begünstigten Rojas de Spinola (s. d.) gemeint, welchem lutherischerseits Molanus (s. d.) und Leibniz (s. d.) entgegenkamen. Diese verhandelten mit Bossuet (s. d.), welcher aber gleichfalls nur auf Nachgiebigkeit der Protestanten rechnete. Das Thorner Blutbad, die Bedrängung der Protestanten in Frankreich und in der Pfalz, welche Friedrich Wilhelm I. von Preußen und andre evangelische Reichsstände zu Repressalien veranlaßten, und die Salzburger Protestantenverfolgung zerstörten vollends jede Hoffnung auf das Gelingen künftiger Versuche. - Im Jahrhundert der Reformation versuchten Wittenberger und Tübinger Theologen vergeblich eine U. mit der griechischkatholischen Kirche; nicht minder erfolglos waren im folgenden Jahrhundert die Bemühungen des Patriarchen Cyrillus Lukaris (s. d.) um eine U. mit der reformierten Kirche.

Aussichten auf Erfolg hatten von Anfang an nur die Versuche einer U. zwischen Lutheranern und Reformierten, da diese zwar über nicht wenige dogmatische Punkte, namentlich über den Sinn der Einsetzungsworte des Abendmahls und über die Gnadenwahl, voneinander abwichen, dafür aber durch die Gemeinsamkeit des über allen Dogmatismus hinausgreifenden protestantischen Prinzips verbunden waren. Schon 1529 veranstaltete der Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen das Religionsgespräch zu Marburg (s. Luther). Aber die von Zwingli dargereichte Bruderhand stieß Luther von sich, und als nachher Melanchthon und seine Schüler an der Vereinigung fortarbeiteten, unterlagen sie dem Vorwurf des Kryptocalvinismus (s. d.). Nur vorübergehend hielt der 1570 geschlossene Vertrag von Sendomir vor (s. Dissidenten). Das zwischen sächsischen, hessischen und brandenburgischen Theologen 1631zuLeipzig gehaltene Religionsgespräch sowie auch das zu Kassel 1661, welches der Landgraf Wilhelm V. zwischen den reformierten Theologen der Universität Marburg und den lutherischen zu Rinteln angeordnet hatte, bewiesen zwar die Möglichkeit einer Ausgleichung, und hervorragende Theologen, wie lutherischerseits Calixtus und reformierterseits Duräus, setzten die ganze Arbeit ihres Lebens für eine solche ein. Aber der dogmatische Zelotismus zerstörte beständig die gemachten Ansätze. Aus Gründen der Politik sahen sich die reformierten, aber über ein lutherisches Volk herrschenden Hohenzollern auf den Gedanken der U. der beiden evangelischen Konfessionen hingewiesen. Friedrich I. von Preußen veranstaltete 1703 eine Unterredung lutherischer und reformierter Theologen in Berlin (Collegium caritativum), allein die Errichtung einiger Unionskirchen und der Waisenhäuser zu Berlin und Königsberg, in welchen sowohl ein lutherischer als auch ein reformierter Geistlicher unterrichten und das Abendmahl zugleich austeilen mußten, hatte ebensowenig den Fortgang der Vereinigung zur Folge als der zur Einführung der englischen Liturgie 1706 promulgierte Entwurf. Als später König Friedrich Wilhelm I. sich bemühte, durch das Corpus Evangelicorum 1719 eine U. zu stande zu bringen, fanden die von den Tübinger Theologen Klemm und Pfaff proponierten 15 Unionsartikel so wenig Beifall, daß die Konsistorien zu Dresden und Gotha bei dem Reichstag zu Regensburg nachdrücklich dagegen protestierten. Zwar wurde hierauf von Friedrich Wilhelm I. die U. wenigstens in seinem Reich realisiert, indem er selbst der calvinistischen Prädestinationslehre entsagte, dagegen die Annahme des reformierten Kultus forderte; aber schon Friedrich IL gab 1740 seinem Lande die alte Freiheit mit dem alten Kultus wieder zurück. Das Reformationsjubiläum von 1817 gab der U. einen neuen Anlaß. In Preußen, wo Konsistorien und Universitäten schon seit Jahren beiden Konfessionen gemein waren, konnte die kirchenregimentliche U. ohne Schwierigkeiten vollzogen werden. Der König erließ 27. Sept. 1817 eine die Übereinstimmung der Lutheraner und Reformierten im wesentlichen der Lehre voraus setzende Ausforderung an die Geistlichkeit, die U. zu fördern. Dieselbe wurde nunmehr auch 30. und 3l. Okt. zu Berlin und Potsdam durch gemeinschaftliche Abendmahlsfeier vollzogen. Ferner wurde die U. zu stande gebracht 1817 in Nassau, 1818 in Rheinbayern, 1819 in Anhalt-Bernburg, 1821 in Waldeck-Pyrmont und Baden, 1822 in Rhein- und Oberhessen, 1823 auch in Darmstadt, 1824 in Hildburghausen, 1825 in Lichtenberg, 1827 in Anhalt-Dessau. Eine mächtige Reaktion erhob sich dagegen besonders in Preußen, als Friedrich Wilhelm III. 1822 eine neue Kirchenagende (s. Agendenstreit) den Widerstrebenden aufdringen wollte. Es entstand unter der Führung des Professors Scheibel (s. d.) zu Breslau eine Partei, welche den Kampf gegen den Rationalismus in der Landeskirche einem Kampf gegen U. und Agende steigerte und die Annahme beider als Verrat betrachtete (s. Lutherische Kirche). Friedrich Wilhelm IV. gestattete nicht bloß diesen Altlutheranern, selbständige Gemeinden zu bilden, sondern machte auch den lutherischen Sonderbestrebungen innerhalb der Landeskirche die weitgehendsten Zugeständnisse. Ein Erlaß von 1852 stellte die Zusammensetzung des Oberkirchenrats zu Berlin aus lutherischen, reformierten und unierten Mitgliedern fest sowie den Modus der Entscheidung durch Separation der Mitglieder (itio in partes) bei rein konfessionellen Fragen. Gleichwohl lehnte ein Erlaß von 1853 ausdrücklich jede Absicht einer Störung der U. ab und ordnete zugleich an, daß der altlutherische Ritus beim Abendmahl nur auf gemeinschaftlichen Antrag des Geistlichen und der Gemeinde gestattet sein sollte; 1857 ward derselbe noch von der Genehmigung der Konsistorien abhängig gemacht. Eine 1856 auf Befehl des Königs zusammen tretende, aus 40 Vertrauensmännern bestehende Konferenz sprach sich gegen eine bekenntnislose U. aus. Der Name der U. selbst aber ward durch einen königlichen Erlaß vom 3. Nov. 1867 für die alten Provinzen Preußens festgehalten. Vgl. Hering, Geschichte der kirchlichen Unionsversuche (Leipz. 1836-1838, 2 Bde.); Nitzsch, Urkundenbuch der evangelischen U. (Bonn 1853); Julius Müller, Die evangelische U. (Halle 1854); Schenkel, Der Unionsberuf des evangelischen Protestantismus (Heidelb. 1855); Wangemann, Sieben Bücher preußischer Kirchengeschichte (Berl.1859-60, 3 Bde.); Nagel, Die Kämpfe der evangelisch - lutherischen Kirche in Preußen seit Einführung der U. (Stuttg. 1869); Brandes, Ge schichte der evangelischen U. in Preußen (Gotha 1872 bis 1873, 2 Bde.); Finscher, U. und Konfession (Kassel 1873, 2 Bde.); Mücke, Preußens landeskirchliche Unionsentwickelung (Brandenb. 1879).

Union (San Carlos de la U.), Hafenstadt des mittelamerikan. Staats Salvador, an der Fonseca-

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Union der Zweiundzwanziger - Universalwissenschaft.

bai und am Fuß des Vulkans von Conchaqua, in bewaldeter Gegend, mit vorzüglichem Hafen, lebhaftem Handel und (1878) 2112 Einw.

Union der Zweinndzwanziger, s. Deutsche Union.

Unioninseln (Tokelau), eine nördlich von den Samoainseln, zu beiden Seiten des 10. Breitengrades liegende Gruppe von vier Inseln: Oatafu, Nukunono, Fakaafo und Olosenga, zusammen 14 qkm (0,25 QM.) mit 514 Einw. Wegen ihrer Guanolager sind sie von den Nordamerikanern besetzt.

Unionisten, die Anhänger der 1817 zu stande gebrachten Union (s. d., S. 1017) zwischen Lutheranern und Reformierten; die, welche eine allgemeine Vereinigung aller christlichen Religionsparteien zu Einer Kirche erstreben; indem 1862 entbrannten nordamerikanischen Bürgerkrieg die Anhänger der Union, im Gegensatz zu den Konföderierten.

Union Jack (spr. júhnien dschäck), in Nordamerika vulgäre Bezeichnung der "kleinen" Unionsflagge (Union tlag); s. die Textbeilage zur Tafel "Flaggen I".

Union Line (spr. júhnien lein), engl. Postdampferlinie nach Afrika; s. Dampfschiffahrt, S. 49I.

Unio prolium (lat.), Einkindschaft (s. d.).

Unisono(ital.), das Zusammenklingen zweier Töne von gleicher Tonhöhe oder das Verhältnis der reinen Prime (Intervall), wenn es von zwei verschiedenen Stimmen ausgeführt wird; all' u., im Einklang.

Unitarier (lat.), neuere Bezeichnung für diejenigen protestantischen Richtungen, welche die Trinität (s. d.) verwerfen. Solche gibt es seit dem 16. Jahrhundert in Ungarn und Polen (s. Socinianer). Insonderheit aber heißen so die 1774 von Lindsay in London, Christin in Montrose und später von Priestley in Birmingham gestifteten Gemeinden. Aber dieser auch als Chemiker berühmte Theolog konnte 1789 kaum sein Leben vor der Volkswut retten, siedelte 1791 nach Amerika über, wo er 1804 starb, aber in Channing (s. d.) und Th. Parker (s. d.) bedeutende Nachfolger fand. In England wurde erst 18l 3 das Gesetz aufgehoben, welches den Unitarismus mit dem Tod bedrohte; seitdem breitete sich dieser als eine das Christentum überhaupt mehr ethisch als dogmatisch fassende Richtung auch in Großbritannien aus, wo ihr teils Theisten, wie Francis Newman, teils aber auch Anhänger von Strauß und Spencer huldigen (Verehrung des Universums, Kosmismus, Evolutionstheorie etc.). In Nordamerika heißen U. besonders die übrigens streng theistischen Anhänger der antitrinitarischen Lehre, die sich 1815 aus den Kongregationalisten und Puritanern herausbildeten und im Besitz der Kirche und Universität zu Cambridge in Massachusetts blieben. In diesem Staat sind sie heute noch am verbreiterten. In Boston erscheint die Zeitschrift "Unitarian Review" und ein Jahrbuch der unitarischen Gemeinden. Vgl. Bonet-Maury, Des origines du christianisme unitaire chez les Anglais (Par. 1881).

Unität (lat.), die Einzigheit, das nur einmalige Vorhandensein einer Sache, z. B. Gott; das Nicht geteiltsein, die Einheit; Brüderunität, s. v. w. Brü dergemeinde (s. d.).

United States (engl., spr. juneited stehts; abgekürzt: U. S.), die Vereinigten Staaten (von Nordamerika).

Univers, l' (spr. lüniwähr), ultramontane Pariser Zeitung, 1833 von den Abbés Migne und Gerbert begründet, 1860-67 unterdrückt, hat seit dem Tod Louis Veuillots (s. d.), der das Blatt seit 1843 leitete, seinen frühern Einfluß fast gänzlich verloren.

Universal (universell, lat.), das Ganze betreffend, allumfassend, allgemein (daher Universalerbe, Universalgeschichte, Universallexikon, Universalmonarchie etc.); Universale, landesherrliches Manifest.

Universalalphabet, s. Weltsprache und Pasigraphie.

Universal-efenfivpstaster, s. Bleipflaster.

Univerfalelixir, s. Lebenselixir.

Universalen (Universalisten, lat.), Sekte in Nordamerika, besonders in New York, welche die Ewigkeit der Höllenstrafen leugnet, eine natürliche Religion bekennt, die Befolgung der Sitten und Staatsgesetze als höchste Pflicht aufstellt und daher durch Unsittlichkeit gebrandmarkte Mitglieder ausschließt. Sie zählt gegen 900 Gemeinden.

Universalerbe (Heres ex asse), derjenige Erbe, welcher in die vermögensrechtliche Persönlichkeit des Erblassers ganz oder zu einem Quoteteil eintritt. Den Gegensatz zur Universalerbfolge bildet der erbrechtliche Übergang einzelner Vermögensstücke (f. Erbfolge). Im gewöhnlichen Leben versteht man unter einem Universalerben den alleinigen und ausschließlichen Erben einer Person.

Universalfideikommiß (lat., Universal-Erbschaftsvermächtnis), Vermächtnis, dessen Gegenstand eine ganze Erbschaft oder doch ein Quoteteil derselben ist. Der Vermächtnisnehmer heißt in diesem Fall Universalfideikommissar (s. Fideikommiß).

Universalgelenk, s. Kuppelungen.

Universalia (lat.), in der Sprache der Scholastik die Gattungsbegriffe, welche entweder nach Art der Platonischen Ideen als vor den Dingen seiend (U. ante res), oder nach Art der Aristotelischen Entelechien als den Dingen innewohnend (U. in rebus), oder nach Art der von der Sprache ausgehenden Benennungen als nach den Dingen kommend (U. post res) aufgefaßt wurden, woraus der Streit der sogen. Realisten und Nominalisten (Konzeptualisten) entsprang. Vgl. Scholastiker und Nominalismus.

Universalinstrument (astronomisches), s. Altazimut. Universalismus (lat.), das Streben oder die Kraft, alles zu umfassen; in der Dogmatik Gegensatz zum Partikularismus (s. d.).

Universalkontrollapparat, s. Lärmapparate.

Universalmonarchie, ein monarchisches (von einem Einzelherrscher regiertes) Staatswesen, welches die ganze zivilisierte Welt unter seinem Oberhaupt vereinigen sollte, wie dies unter den römischen Kaisern der Fall war. Seit Karl d. Gr. tritt der Gedanke der U. auch bei den Germanen hervor, indem der Kaiser als Herr der gesamten Christenheit gedacht wurde. Karl V. nahm zuletzt zur Begründung einer U. einen nicht unerheblichen Anlauf.

Universalsprache, s. Pasilalie u. Weltsprache.

Universalsuccession, s. Rechtsnachfolge und Erbrecht.

Universaltischler, Holzbearbeitungsmaschine, an welcher sich mehrere Werkzeuge (Bandsäge, Hobelmaschine, Bohrmaschine etc.) mit mechanischem Antrieb befinden.

Universalwissenschaft (Scientia generalis s. universalis) nannte Leibniz seinen auf die Kombinations- und Variationsrechnung gegründeten wissenschaftlichen Kalkül, mit dessen Hilfe es nach Art der "Lullischen Kunst" (s. Lullus 2) möglich sein sollte, aus gewissen Stammbegriffen alle denkbaren Begriffe und dem entsprechend aus deren Laut- und Schriftzeichen eine Universalsprache (Pasilalie) und Universalschrift (Pasigraphie) zu konstruieren. Vgl. Exner, über Leibnizens U. (Prag 1843).

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Universalzeit - Universitäten.

Universalzeit (Weltzeit), Gegensatz zur lokalen Zeit oder Ortszeit, eine für die ganze Erde gemeinsame Zeitbestimmung. Nachdem die im Oktober 1883 in Rom abgehaltene siebente Generalversammlung der Internationalen Geodätischen Association die Zweckmäßigkeit einer U. für gewisse wissenschaftliche Bedürfnisse und für den internen Dienst der obern Verwaltungen der Verkehrsmittel, wie Eisenbahnen, Dampferlinien, Telegraphen und Posten, anerkannt und als Anfangsmoment des Welttags den Mittag von Greenwich in Vorschlag gebracht hatte, trat im Oktober 1884 in Washington eine Konferenz von diplomatischen Vertretern und Gelehrten aus 25 verschiedenen Staaten zusammen, um über die Fragen des ersten Meridians und der Weltzeit zu beschließen. Als erster Meridian (Nullmeridian) wurde der von Greenwich festgesetzt; der Welttag soll der mittlere Sonnentag sein, sein Anfang soll aber nicht, der astronomischen Rechnung entsprechend, auf den Mittag des Meridians von Greenwich fallen, sondern, dem Gebrauch des bürgerlichen Lebens entsprechend, auf die Mitternacht. Derselbe soll in 24 gleiche Stunden zerfallen, die von 0 bis 24 zu zählen sind. Diese Universalzeit ist nicht für das bürgerliche Leben bestimmt, für welche vielmehr die Ortszeit im Gebrauch bleibt. Vgl. Zeitdifferenz.

Universitas personarum (lat.), eine juristische Persönlichkeit, welche an eine Mehrheit physischer Individuen geknüpft ist; s. Juristische Person.

Universitäten (lat., "Gesamtheiten", d. h. wissenschaftliche Hochschulen), diejenigen öffentlichen Anstalten, auf denen die Wissenschaften vollständig und in systematischer Ordnung gelehrt, auch die höchsten wissenschaftlichen (akademischen) Würden (Grade) erteilt werden. Der lateinische Name Universitas bezeichnete ursprünglich nur die mit gewissen Rechten ausgestattete Körperschaft der Lehrer und Schüler (u. magistrorum et scholarium); erst allmählich wurden auch die Lehranstalten als solche (sonst: studium, studium generale) U. genannt und nachträglich dieser Name auf den die Gesamtheit der Wissenschaften umfassenden Lehrplan der Hochschulen gedeutet.

Die abendländischen U. sind Erzeugnisse des spätern Mittelalters, doch haben ältere Vorbilder auf ihre Entstehung mehr oder weniger eingewirkt. Als solche sind zunächst die großen Lehranstalten des spätern Altertums zu nennen: das von Ptolemäos Philadelphos um 280 v. Chr. gegründete Museion zu Alexandria, die Philosophenschule zu Athen, anstaltlich verfaßt namentlich durch Kaiser Hadrian und Herodes Attikus (130 n. Chr.), und die nach diesen Mustern gebildeten Athenäen zu Rom (135), Lugdunum (Lyon), Nemausus (Nimes), Konstantinopel (424). Ferner kommen in Betracht die arabischen Medressen (s. d.), unter denen im frühern Mittelalter die zu Cordova, Toledo, Syrakus, Bagdad, Damaskus hohen Ruf genossen. Unmittelbarer schlossen die ersten U. sich an die alten Kloster- und Domschulen an, unter denen schon seit dem 8. und 9. Jahrh. einzelne, wie z. B. Tours, St. Gallen, Fulda, Lüttich, Paris, als scholae publicae von auswärts zahlreiche Schüler an sich gezogen hatten. Demgemäß erscheinen die U. bis ins 15. Jahrh. ausschließlich als kirchliche Anstalten, die sich an ein Domkapitel, Kollegiatstift u. dgl. anzuschließen und auf Ausstattung mit kirchlichen Pfründen zu stützen pflegen. Die ersten U., welche nach heutigem Sprachgebrauch jedoch nur einzelne Fakultäten waren, finden wir im 11. Jahrh. in Italien; es waren die Rechtsschulen zu Ravenna, Bologna (Bononia) und Padua und die medizinische Schule zu Salerno. Festere korporative Verfassung als Hochschule, obwohl immer noch klerikaler Art, errang zuerst die Universität zu Paris, die seit dem 12. Jahrh. die Führung auf dem Gebiet der Theologie und Philosophie übernahm und als die eigentliche Heimat der Scholastik bezeichnet werden muß. Die Universität zu Paris wurde Ausgangspunkt und Muster für fast alle abendländischen U., besonders die englischen, unter denen Oxford durch eine Auswanderung aus Paris unter der Königin Blanka von Kastilien (1226-36) mindestens erst zu höherer Bedeutung gelangte, und die deutschen. Eine mit besondern staatlichen und kirchlichen Privilegien ausgestattete Körperschaft bildeten freilich schon früher die Juristen in Bologna. Als die Bedeutung derartiger gelehrter Körperschaften für das geistige Leben der Völker wuchs, nahmen die Päpste die Schutzherrschaft über die neuen Anstalten in Anspruch und dehnten den besondern Gerichtsstand, welchen die Kirche für ihre Angehörigen besaß, auch auf die weltlichen Universitätsgenossen aus. - Die innere Organisation der U. war auf die Verschiedenheit der Nationalitäten gegründet, wobei sich die kleinern an eine der größern anschlossen. So entstand in Paris die Einteilung in vier Nationen: Gallikaner (zu denen sich auch Italiener, Spanier, Griechen und Morgenländer hielten), Picarden, Normannen und Engländer (welche auch die Deutschen und übrigen Nordländer zu sich zählten). Diese Einteilung wird jedoch erst 1249 erwähnt. Zu den Nationen gehörten sowohl Schüler als Lehrer. Jede hatte ihre besondern Statuten, besondere Beamten und einen Vorsteher (Prokurator). Die Prokuratoren wählten den Rektor der Universität. Papst Honorius verordnete 1219, daß nur diejenigen Gelehrten zu Lehrern wählbar wären, welche vom Bischof oder vom Scholastikus des zuständigen Stifts die Lizenz dazu erhalten hätten. Allmählich entstanden jedoch zunftartige Verbände unter den Lehrern (magistri, Meistern) der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin, die als geschlossene Kollegien zuerst 1231 von Gregor IX. in Paris anerkannt und ordines oder facultates, Fakultäten, genannt wurden. Gegen die Einteilung in Fakultäten trat allmählich die ältere in Nationen zurück. Etwas später nahm auch das Kollegium der Artisten, d. h. der Lehrer der sieben "freien Künste", die Verfassung einer vierten Fakultät an. Die Aufgabe dieser Fakultät, der jetzigen philosophischen, bestund jedoch bis tief in die neuere Zeit hinein nur in der Vorbildung für das Studium in einer der höhern Fachwissenschaften. Ihre Lehrer waren nicht selten Scholaren in einer der obern Fakultäten. - Vorrecht der Fakultäten ward bald die Verleihung akademischer Grade. In Paris waren drei Hauptgrade, die der Bakkalarien (Bakkalaureen), Lizentiaten und Magister (Meister). Die Bakkalarien wurden von den einzelnen Magistern ernannt; der Grad eines Lizentiaten wurde nach einer Prüfung durch die Fakultätsmeister von seiten der Kanzler oder Bischöfe erteilt, die aber zuletzt bloß ihre Bestätigung gaben. Nur die Magister hatten das uneingeschränkte Recht, als Lehrer ihrer Fakultät aufzutreten. Sie hießen auch oft Doktoren. In Deutschland ernannten (promovierten, kreierten) die drei alten oder obern Fakultäten Doktoren, die der freien Künste Magister. Die Promotionen fanden meistens unter festlichem Gepränge statt; als Zeichen der Würde wurde dem Promotus der Doktorhut überreicht. - Ein drittes für die mittelalterliche Verfassung der U. wichtiges Institut waren die Kolle-

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Universitäten (geschichtliche Entwickelung).

gien oder Kollegiaturen, ursprünglich kirchliche Anstalten, in welchen Studierende freien Unterhalt, Lehre und Beaufsichtigung fanden. Eins der ersten Universitätskollegien war die berühmte Pariser Sorbonne (s. d.), gegründet um 1250 von Robert de Sorbon, Kaplan Ludwigs IX. Den öffentlichen Kollegien traten, wo sie dem Bedürfnis nicht genügten, auch private Unternehmen ähnlicher Art zur Seite, die auf Beiträge der Insassen begründet und von einzelnen Universitätslehrern geleitet waren. Solche Bursen (bursae, davon Burschen) waren vorzugsweise in Deutschland verbreitet. Das Kollegienwesen entwickelte sich am reichsten in Frankreich und England, wo auch der Unterricht zumeist in die Kollegien sich zurückzog. Gegenwärtig bezeichnet man an deutschen U. die Vorlesungen der Lehrer als Kollegien, ohne dabei an die geschichtliche Herkunft dieser Bezeichnung zu denken. - Neben dem festern Kern jener Bursen und Kollegien bevölkerten die U. des Mittelalters die sogen. fahrenden Schüler, eine bunt gemischte, wandernde Gesellschaft, in welcher die verschiedensten Alters- und Bildungsstufen zusammentrafen (s. Vaganten). In ihrem Schoß bildeten sich zuerst in rohen Umrissen die Anfänge der studentischen Sitten heraus, die sich teilweise bis heute erhalten haben; so die Gewalt der ältern Studenten (Bacchanten) über die jüngern (Schützen, Füchse).

Nach Deutschland übertrug das Universitätswesen Karl IV. durch die Gründung der Universität Prag 1348 (vier Nationen: Böhmen, Polen, Bayern, Sachsen). Bis zum Anfang der Reformation folgten mit päpstlicher und kaiserlicher Genehmigung: Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388), Erfurt (1392), Leipzig (1409), Rostock (1419, 1432), Löwen (1426), Greifswald (1456), Freiburg i. Br. (1456), Basel (1456), Ingolstadt (1472), Trier (1473), Mainz (1476), Tübingen (1477), Wittenberg (1502) und Frankfurt a. O. (1506). Die kräftigere Entwickelung des Landesfürstentums im 15. Jahrh. und die humanistische Bewegung halfen die Bande lockern, durch welche die Hochschulen an die kirchlichen Autoritäten geknüpft waren. Das Reformationsjahrhundert brachte eine Reihe neuer U., welche bestimmungsgemäß evangelischen (lutherischen oder calvinischen) Charakter hatten, so: Marburg (1527), Königsberg (1544), Jena (1558), Helmstädt (1575), Gießen (1607), Rinteln (1619), Straßburg (1621). Eine eigentümliche Mittelform zwischen U. und sogen. lateinischen Schulen (Gymnasien) bildeten in jener Zeit die akademischen Gymnasien oder gymnasia illustria, die von Freien Städten (Straßburg 1537, Hamburg 1610, Altdorf-Nürnberg 1578) und kleinern Landesfürsten (Herborn 1584 etc.) begründet wurden, um dem Auswandern der Landeskinder vorzubeugen. Mehrere dieser akademischen Gymnasien, wie Straßburg (1621), Altdorf (1623), Herborn (1654), entwickelten sich später zu wirklichen Hochschulen. Während im protestantischen Norden die U. im allmählichen Übergang Staatsanstalten mit einer gewissen korporativen Selbständigkeit wurden, blieben die neuen jesuitischen U., wie Würzburg (1582), Graz (1586), Salzburg (1623), Bamberg (1648), Innsbruck (1672), Breslau (1702), nach deren Muster auch mehrere der schon bestehenden katholischen U. umgestaltet wurden, dem ältern Typus im wesentlichen treu. - Auf den protestantischen U. beginnt in dieser Periode die eigentliche Geschichte des deutschen Burschentums. Thätige Teilnahme der Studierenden an der Verwaltung der U. fand nicht mehr statt; die Wahl junger studierender Fürsten zu Rektoren war bloße Form, da die wirklichen Geschäfte von Prorektoren, die aus der Zahl der Professoren erwählt waren, geführt wurden. Statt dessen bildete die Studentenschaft für sich eine Art von Verfassung heraus, die ihre Grundzüge teils aus dem mittelalterlichen Herkommen, teils aus den öffentlichen Zuständen der Zeit entnahm. Das Landsknechtwesen, die fortwährenden Feldzüge, namentlich der Dreißigjährige Krieg, nährten auf den Hochschulen einen Geist der Ungebundenheit, welcher das in seinen letzten Ausläufern noch an die Gegenwart heranreichende Unwesen des Pennalismus (s. d.) erzeugte. Auch kam damals an den deutschen U. das Duell auf, indem die Studierenden sich mehr und mehr als geschlossener Stand fühlten, in dem der Begriff der Standesehre Geltung gewann. Auf manchen U. gab es daneben noch Nationalkollegia als eine von den akademischen Behörden angeordnete oder geduldete Einteilung der Studentenschaft. Zum Teil in Verbindung hiermit, zum Teil aber auch selbständig entwickelten sich nun die Landsmannschaften, welche zu Ende des 17. und das ganze 18. Jahrh. hindurch das studentische Leben der deutschen U. beherrschten. Als förmliche Verbindungen mit besondern Statuten, Vorstehern (Senioren) und Kassen erlangten sie bald das Übergewicht über die keiner Verbindung angehörigen Studierenden (Finken, Kamele, Wilde, Obskuranten etc.), maßten sich die öffentliche Vertretung der Studierenden und damit zugleich eine gewisse Gerichtsbarkeit über dieselben an. Über die Ehrensachen wie über die studentischen Gelage etc. wurden feste Regeln aufgestellt, welche man unter dem Namen Komment zusammenfaßte. Der Druck, den die Landsmannschaften auf die Nichtverbindungsstudenten ausübten, war oft sehr hart. Viele der Wilden schlossen sich den Verbindungen als sogen. Renoncen (Konkneipanten) an, welche sich bloß unter den Schutz der Verbindung stellten, eine Abgabe zahlten und den Komment anerkannten. Die höchste Instanz für jede Universität bildete der Seniorenkonvent, der namentlich den Verruf gegen Philister, d. h. Bürger, oder auch gegen Studenten auszusprechen und das öffentliche Auftreten der Studentenschaft zu ordnen hatte. - Ebenso fällt in diese Zeit (von 1500 bis 1650) die Entwickelung des akademischen Lehrkörpers zu der im wesentlichen noch heute geltenden Verfassung. Danach bilden die ordentlichen Professoren (professores publici ordinarii) als vollberechtigte Mitglieder der vier Fakultäten den akademischen (großen) Senat. Aus ihrer Mitte wählen im jährlichen Wechsel die ordentlichen Professoren der einzelnen Fakultäten (ordines) die vier Dekane und sämtliche ordentliche Professoren den Rector magnificus, der an einigen U. auch Prorektor heißt, indem der Landesherr oder ein andrer Fürst als Rector magnificentissimus gilt. Außerhalb des Senats stehen die außerordentlichen Professoren (professores publici extraordinarii), welche meist kleinere Gehalte vom Staat beziehen, und die Privatdozenten (privatim docentes), welche nur die Erlaubnis (veniam docendi), nicht aber die amtliche Pflicht, zu lehren, haben. Der Senat, dem der Staat einen ständigen juristischen Beamten als Universitätsrichter (Universitätsrat) oder Syndikus beigibt, ist Verwaltungs- und Disziplinarbehörde der Universität und übt seine Rechte, abgesehen von den Plenarsitzungen, entweder durch den Rektor und die Dekane oder auch durch einzelne Ausschüsse aus. Der Rektor und die Dekane bilden, meist mit einigen gewählten Beisitzern, den engern oder kleinern Senat.

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Universitäten (die deutschen U. seit dem 17. Jahrhundert).

Ehedem hatten die U. auch durchweg eignen Gerichtsstand; die darauf begründeten besondern Universitätsgerichte sind völlig erst durch die neue Gerichtsverfassung von 1879 im Gebiet des Deutschen Reichs verschwunden. - Von der allgemeinen Erschlaffung des geistigen Lebens, welche in Deutschland nach dem frischen Aufschwung des Humanismus und der Reformation eintrat, namentlich aber durch die Leiden des Dreißigjährigen Kriegs befördert wurde, blieben auch die U. nicht verschont. Sie machte sich in ihnen durch die Herrschaft einer geistlosen Pedanterie und starren Gelehrsamkeit neben großer Roheit der Lebensformen und leidenschaftlicher Rechthaberei namentlich in den theologischen Fakultäten geltend (rabies theologorum, Melanchthon). Unter den Männern, die gegen Ende des 17. Jahrh. diesen Übelstand zu bekämpfen suchten, sind namentlich Erhard Weigel in Jena, G. W. Leibniz und vor allen andern Chr. Thomasius (s. d.) hervorzuheben. Durch Thomasius ward Halle (1694) gleich von der Gründung an die Heimat der akademischen Neuerer, wo, wenigstens im Gegensatz gegen die starre Orthodoxie und Gelehrsamkeit der ältern U., die Pietisten der theologischen Fakultät mit ihm zusammentrafen. Hier wurden von Thomasius zuerst Vorlesungen in deutscher Sprache gehalten, auch erschien unter seiner Leitung in Halle die erste kritische akademische Zeitschrift. Unter den ältern U. hatte sich Helmstädt am freiesten von den Gebrechen der Zeit erhalten, dem aber im folgenden Jahrhundert in der Universität Göttingen (1734 gegründet, 1737 eingeweiht) eine siegreiche Nebenbuhlerin erwuchs. Göttingen schwang sich durch reiche Ausstattung und verständige, zeitgemäße Einrichtung bald zur ersten Stelle unter den deutschen U. auf; hier wurde zuerst eine Akademie (Societät) der Wissenschaften, wie sie nach Leibniz Angaben bereits in Berlin (1700) gegründet worden, mit der Universität verbunden (1752 durch den verdienten Stifter der Universität Göttingen, Gerlach Adolf v. Münchhausen, und Albrecht v. Haller). Diesem Zeitraum verdanken ferner noch Herborn (1654), Duisburg (1655), Kiel (1665) und Erlangen (1743) ihre Gründung.

Unter den Studenten entstanden im Lauf des vorigen Jahrhunderts neben den Landsmannschaften andere Verbindungen, sogen. Orden, welche sich im philanthropischen Geschmack der Zeit auf die Freundschaft gründeten und die Beglückung der Menschheit als ihr Ziel aufstellten. Da sie von den Freimaurern und andern damals emporblühenden geheimen Gesellschaftten allerlei heimliche Symbolik entlehnten und im Geist Rousseaus für die Freiheit schwärmten, erschienen sie bald der Staatsgewalt gefährlich. Besonders ist hier der 1746 in Jena begründete Moselbund zu nennen, der sich 1771 mit der Landsmannschaft der Oberrheiner zum Amicistenorden verschmolz. Die strengen Verbote, die zumal infolge des Rechtsgutachtens von 1793, das der Reichstag zu Regensburg erließ, die Orden trafen, bewirkten deren allmähliche Vereinigung mit den Landsmannschaften, bei denen nach und nach der landsmannschaftliche Charakter hinter dem einer auf Freundschaft und Gemeinsamkeit der Grundsätze begründeten Gesellschaft zurücktrat.

Die Stürme der Napoleonischen Kriege und die Zeit der Wiedergeburt brachten mannigfache Veränderungen im Bestand der deutschen U. Die Universität zu Ingolstadt siedelte 1802 nach Landshut über, um 1826 nach München verlegt und mit der dort seit 1759 bestehenden Akademie der Wissenschaften vereinigt zu werden; die U. zu Mainz (1798), Bonn (Köln, verlegt 1777, aufgehoben 1801), Duisburg (1802), Bamberg (1804), Rinteln und Helmstädt (1809), Salzburg (1810), Erfurt (1816), Herborn (1817) gingen ein; Altdorf ward mit Erlangen (1807), Frankfurt a. O. mit Breslau (1809), Wittenberg mit Halle (1815) vereinigt. Dagegen traten neu die bedeutenden U. zu Berlin (1810) und Bonn (1818) ins Leben. - Das Menschenalter von 1815 bis 1848 war für die deutschen U. kein günstiges, indem sie bald nach der Befreiung des Vaterlandes, für welche Lehrer und Schüler namentlich der preußischen U. die hingebendste Begeisterung gezeigt hatten, bei den Regierungen in den Geruch des Liberalismus kamen und unter diesem Mißtrauen sehr zu leiden hatten. Den Anstoß dazu gaben die von F. L. Jahn angeregte Gründung der deutschen Burschenschaft (s. d.) 12. Juni 1815 und besonders die bekannte Wartburgfeier der Burschenschaft 18. Okt. 1817 sowie die der letztern zur Last gelegte Ermordung Kotzebues durch Sand, auf welche die unter Metternichs Leitung stehenden deutschen Regierungen durch die Karlsbader Beschlüsse über die in Ansehung der U. zu ergreifenden Maßregeln (26. Sept. 1819) antworteten. Zwar löste sich die deutsche Burschenschaft 26. Nov. 1819 förmlich auf; sie bestand aber im stillen fort und trat in verschiedenen Gestalten (z. B. als Allgemeinheit in Erlangen etc.) immer wieder hervor, bis sie sich 1830 in die beiden Richtungen der harmlosern, idealistischen Arminen und der revolutionär-patriotischen Germanen spaltete. Dem entsprechend, blieb auch das Mißtrauen der Regierungen gegen den Stand der Universitätslehrer ein dauerndes, und gerade solche Männer, deren Namen eng und ehrenvoll mit der Geschichte der Befreiung des Vaterlandes verknüpft waren, wie namentlich E. M. Arndt in Bonn, hatten kränkende Zurücksetzung und Verfolgung aller Art zu erleiden. Jede Universität wurde von einem besondern Regierungsbevollmächtigten in politischer Hinsicht überwacht. Wenn das unruhige Jahr 1830 vorübergehend die Fesseln lockerte, so hatten die Ausschreitungen, mit denen der verhaltene Groll sich Luft machte (Göttinger Revolution und Stuttgarter Burschentag 1831, Hambacher Fest 1832, Frankfurter Attentat 1833), nur um so strengere Beschlüsse gegen die U. beim Bundestag (5. Juli 1832) und auf den Ministerkonferenzen in Wien 1833 bis 1834 zur Folge. Großes Aufsehen erregte 1837 die Entlassung und Vertreibung von sieben der bedeutendsten Professoren der stets für konservativ und aristokratisch angesehenen Universität Göttingen (s.d.). Unter der Ungunst der Zeit zerfiel nach und nach die Burschenschaft in einzelne Verbindungen, welche sich der ursprünglichen Gestalt derselben mehr oder weniger annäherten. Unter diesen traten in den 40er Jahren vorzüglich die sogen. Progreßverbindungen hervor, welche Modernisierung der akademischen Einrichtungen und Sitten, Abschaffung oder doch Beschränkung der Zweikämpfe, der akademischen Gerichtsbarkeit etc. erstrebten. Als besondere Abart entstanden auch in jener Zeit eigne "christliche" Burschenschaften, wie der Wingolf in Erlangen (1836) und Halle (1844). Den Progressisten standen am schroffsten gegenüber die aus den Landsmannschaften durch genauere Ausbildung des Komments, festern Zusammenschluß nach innen und aristokratische Abschließung nach außen sich entwickelnden Corps, welche durch ihren Seniorenkonvent ("S. C.") an der einzelnen Universität, durch Kartellverhältnisse und später durch den im Bad Kösen und auf der Rudelsburg tagenden Seniorenkongreß in ganz

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Universitäten (die deutschen U. in der Gegenwart).

Deutschland zu einer in ihrem Kreis einflußreichen Einheit sich herausbildeten.

Das Jahr 1848 weckte auch auf den U. das Verlangen nach einer zeitgemäßen Reform zu neuem Leben, und sowohl von seiten der Lehrenden als der Lernenden wurden Schritte gethan, ihnen Geltung zu verschaffen. Zunächst erging von Jena aus die Einladung zu einem Universitätskongreß, welcher in Jena vom 21.-24. Sept. 1848 unter dem Vorsitz des damaligen Kanzlers v. Wächter abgehalten wurde, u. an welchem sich, mit Ausnahme von Berlin, Königsberg und den österreichischen Hochschulen außer Wien, Abgeordnete sämtlicher deutscher U. beteiligten. Die Hauptgegenstände der Beratung waren die Lehr- und Lernfreiheit, das Prüfungswesen und die Verfassung der U. Eine Reihe weiterer Punkte wurde einer Kommission zur Beratung überwiesen, welche diese auch in Heidelberg unter dem Vorsitz Vangerows zu Ostern vornahm, aber die ganze Angelegenheit auf einen nach Heidelberg zu berufenden Kongreß der U. verschob, der nicht zu stande kam. Noch unerheblicher waren die Resultate einer 12. und 13. Juni 1848 auf der Wartburg tagenden Studentenversammlung. Preußen berief eine Konferenz von Abgeordneten der Lehrer seiner U. zur Beratung über die vorher geforderten schriftlichen Gutachten der letztern hinsichtlich der künftigen Verfassung und Verwaltung der U., welche 27. Sept. 1849 in Berlin abgehalten ward. In Österreich traten durch eine Reihe von Verordnungen, zunächst vom 1. Okt. 1850, durchgreifende Veränderungen in der Organisation der U. Wien, Prag, Lemberg, Krakau, Olmütz, Graz und Innsbruck ein, durch welche diese den übrigen deutschen U. näher gebracht wurden. Im ganzen haben die deutschen U. durch allen Wechsel der Zeiten sich unversehrt erhalten und im wiedererstandenen Deutschen Reich seit 1870 einen neuen, kräftigen Aufschwung genommen. - Unter dem Eindruck des Kriegsjahrs 1870/71 erwachte in den letzten Jahren eine neue Reformbewegung unter der studierenden Jugend, welche durch Gründung freier studentischer Vereinigungen auf den meisten deutschen U. zum Ausdruck gelangte. Es ist jedoch diesen Vereinen, unter denen die sogen. Vereine Deutscher Studenten seit 1880 in den Vordergrund traten, nicht gelungen, dem studentischen Leben auf den deutschen U. eine wesentlich veränderte Gestalt zu geben. In der überreichen Entwickelung des Vereinswesens (Turn-, Gesangvereine, wissenschaftliche, landsmannschaftliche Vereine etc.) liegt sogar die vermehrte Gefahr der Zerstreuung und Vielgeschäftigkeit. Aber im ganzen ist doch anzuerkennen, daß der frische Hauch, der die deutsche Geschichte seit 1866 und 1870 durchweht, auch in den Kreisen der studierenden Jugend seine belebende Kraft geltend macht und dem Studentenleben einen reichern idealen, namentlich patriotischen, Gehalt gegeben hat. - Mit begeisterter Teilnahme ward überall in Deutschland die glänzende Wiederherstellung der deutschen Universität zu Straßburg (1. Mai 1872 eröffnet) begrüßt.

In Bezug auf die Verfassung der U. kann man gegenwärtig die Gruppierung und Abgrenzung der Fakultäten als offene Frage bezeichnen. Die philosophische Fakultät ist an den schweizerischen U. und in Würzburg in zwei für die Beratung getrennte Abteilungen, in Dorpat, Tübingen und Straßburg dagegen in zwei Fakultäten, die philosophische (philosophisch - historische) und die naturwissenschaftliche (mathematisch - naturwissenschaftliche), zerlegt. In Tübingen ist überdies die Gruppe der Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Statistik, Finanzwissenschaft etc.) zu einer besondern Fakultät erhoben, so daß dort (bei zwei nach dem Bekenntnis getrennten theologischen) im ganzen sieben Fakultäten bestehen. In München ist die philosophische Fakultät nicht geteilt, aber aus ihr und aus der juristischen eine neue staatswirtschaftliche Fakultät ausgeschieden. In Österreich, teilweise in der Schweiz, in Würzburg und neuerdings in Straßburg ist wenigstens die staatswissenschaftliche Gruppe aus der philosophischen in die juristische Fakultät verlegt und diese dadurch zu einer rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät erweitert. - Die einzige akademische Würde, die gegenwärtig, abgesehen von der des Lizentiaten in der Theologie, an deutschen U. noch verliehen wird, ist das Doktorat (s. Doktor, S. 30). -

Die Zahl der Lehrstühle an den deutschen U. und insbesondere an den philosophischen Fakultäten hat sich infolge der stets wachsenden Ausbreitung und der im gleichen Maß zunehmenden Teilung der Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten außerordentlich vermehrt. Eine in unserm Jahrhundert mit Vorliebe gepflegte Gestalt des Universitätsstudiums sind die sogen. akademischen Seminare, d. h. Gesellschaften, in welchen die Studierenden unter Leitung ihrer Lehrer praktische Übungen anstellen. Es gibt gegenwärtig: homiletische, liturgische, philologische, pädagogische, archäologische, historische, statistische Seminare etc. Dem entsprechend sind die Laboratorien, Observatorien, Kliniken etc. für die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer zu einer großen Mannigfaltigkeit und sich noch immer steigernden Vollkommenheit entwickelt. - Sehr ausgedehnt haben sich bei dem Mangel fester Vorschriften in den letzten Menschenaltern die Ferien an den U., im Frühjahr oft bis zu 1 1/2-2, im Nachsommer bis zu 3 Monaten. Die Sommersemester schrumpfen infolgedessen bisweilen sehr zusammen. Auf Abhilfe wenigstens gegen weitere Willkür ist oft gesonnen, aber etwas allgemein Durchführbares noch nicht gefunden worden.

Die erhebliche Erweiterung der deutschen U. im letzten Menschenalter zeigt folgende Tabelle:[s. Bildansicht]

1853 1888

Lehrer Hörer Lehrer Hörer

Universitäten. ; Ordentl. Professoren ; Lehrer überhaupt ; immatrikuliert ; überhaupt

Berlin 52 160 1491 2166 78 300 4767 6244

Bonn 47 84 862 896 62 134 1313 1343

Breslau 39 78 806 837 61 128 1343 1374

Göttingen 46 95 669 669 67 116 1016 1033

Greifswald 25 50 204 208 43 76 1066 1087

Halle 35 64 616 661 52 110 1489 1532

Kiel 17 37 132 132 43 83 560 579

Königsberg 30 54 347 347 45 89 844 862

Marburg 29 55 227 247 47 79 928 965

Münster 10 17 328 328 22 35 457 463

Preußen 330 694 5682 6491 520 1150 13777 15482

München 50 90 1893 1893 72 163 3809 3833

Erlangen 26 42 431 431 37 53 926 926

Würzburg 30 41 705 705 39 75 1547 1580

Leipzig 44 105 794 794 66 174 3208 3273

Tübingen 37 73 743 743 52 83 1449 1470

Freiburg 26 34 327 356 39 84 1125 1161

Heidelberg 34 80 719 752 41 101 984 1127

Gießen 31 56 402 402 35 55 546 565

Rostock 21 31 108 108 29 41 347 347

Jena 24 60 420 432 39 88 634 663

Straßburg - - - - 63 110 828 862

Deutschland 653 1306 12224 13107 1032 2177 29180 31289

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Universitäten (außerdeutsche).

Von den preußischen U. folge hier noch die Verteilung der Studierenden auf die einzelnen Fakultäten. Sie betrug nach Prozenten etwa:

Fakultäten 1853 1867 1878 1888

Evangelische Theologie 16 18 8 20,5

Katholische Theologie 11 9 3 4,5

Rechtswissenschaft 33 17,5 29 17

Medizin 18 22 16 25,5

Philosophische Fakultät 22 33,5 44 32,5

Die Gesamtzahl der deutschen Studierenden in den vier Fakultäten, wenn man die naturwissenschaftlich-mathematischen und historisch-philosophischen Fakultäten zusammennimmt, belief sich auf:

Winter 1887/88 Sommer 1888 Winter 1888/89

Theologen 5815 6024 5824

Juristen 6166 6472 6577

Mediziner 8269 8750 8668

Philosophen 8221 7944 7860

Diese Zahlen beweisen, daß in Deutschland ein recht hoher Prozentsatz der Bevölkerung gelehrten Studien nachgeht. Folge davon ist die augenblickliche Überfüllung der meisten Berufsfächer, für welche die U. vorbilden (Rechtsstudium, Arzneikunde, höheres Schulfach).

Die Universitäten des Auslandes.

Verwandtschaftlich und im geistigen Austausch zunächst stehen den deutschen U. die deutsch-österreichischen, die der deutschen Schweiz, der drei nordischen Königreiche, die livländische zu Dorpat, die finnische zu Helsingfors und die niederländischen. Österreich (Cisleithanien) zählte an 8 U. im Winter 1888/89:

Universitäten Ordentl. Professoren Lehrer überhaupt Hörer

Wien (mit der evang.-theol. Fakultät und der Hochschule für Bodenkultur) 94 234 5218

Prag, deutsche Universität 56 100 1470

Prag, tschechische Universität (ohne theolog. Fakultät) 49 91 2361

Graz 48 107 1296

Krakau 45 90 1206

Lemberg (ohne mediz. Fak.) 30 64 1129

Innsbruck 45 80 862

Czernowitz 28 40 259

Zusammen: 395 806 13801

Von den 13801 Studierenden kommen auf die theologische Fakultät: 1363, die rechts- und staatswissenschaftliche: 5125, die ärztliche: 5666, die philosophische: 1647. Ungarn unterhält die U. Budapest (1885: 3375 Studierende) und Klausenburg (534), wozu noch die kroatische Universität Agram (gegen 500 Hörer) kommt. Die U. und Akademien der Schweiz wiesen im Sommer 1888 folgenden Bestand auf:

Universitäten Ordentl. Professoren Lehrer Hörer

Basel (1460) 36 82 407

Bern (1834) 44 90 528

Genf 45 85 537

Lausanne 23 45 250

Neuenburg 25 42 86

Zürich (1838) 37 102 579

Zusammen: 210 446 2387

Unter den russischen U. gehören in diese Gruppe die livländische, bisher noch ihrem Grundcharakter nach deutsche zu Dorpat (1632 von Gustav Adolf begründet, 1802 von Alexander I. erneuert; 1884: 1522 Hörer) und die finnländische zu Helsingfors (1640 zu °Abo von der Königin Christine begründet, 1826 nach Helsingfors verlegt; 1886: 700 Studenten); sodann die skandinavischen: in Schweden Upsala (1476; 1885: 1821 Hörer) und Lund (1666; 1885: 1350 Studenten) ; in Norwegen Christiania (1811; 1885: 2400 Hörer); in Dänemark Kopenhagen (1475; um 1300 Hörer); ferner die holländischen: Leiden (1575), Groningen (1614), Utrecht (1636), neben denen bis 1816 noch Franeker (1585) und Harderwijk (1600) bestanden, und die städtische Universität zu Amsterdam (1875). Wesentlich abweichend haben sich die beiden hochkirchlichen U. in England, Oxford und Cambridge, entwickelt, an denen das Kollegienwesen, auf alte Stiftungen von großartigem Reichtum begründet, noch immer vorwaltet. Durch diese Stiftungen werden sie immer eng mit der bischöflichen Landeskirche verbunden bleiben, wenn auch seit 1871 die nichtgeistlichen Stellen unabhängig vom anglikanischen Bekenntnis besetzt werden sollen. Die 1845 gegründete Universität zu Durham ist von nur geringem Umfang. Die 1836 öffentlich anerkannte London University ist eigentlich eine Prüfungsbehörde, nach dem Muster der neufranzösischen U. eingerichtet, mit der später Colleges, so das liberale University College, das kirchliche King's College, inner- und außerhalb Londons verbunden worden sind. Näher den deutschen U. stehen die schottischen zu St. Andrews (1412), Glasgow (1454), Aberdeen (1506) und Edinburg (1582), während in Irland die Universität zu Dublin mit Trinity College (1591) den ältern englischen U., Queen's University (1849) mit verschiedenen auswärtigen Colleges der London University entspricht und die römisch-katholische Universität (1874) den belgischen und französischen Mustern, von denen noch zu reden sein wird, nachgeahmt ist. In Belgien sind neben den Staatsuniversitäten zu Gent und Lüttich zwei sogen. freie U. zu Brüssel (1834, liberal) und zu Löwen (1835, klerikal; ältere Universität: 1426-1793) von Privatvereinen gegründet worden. Ähnlich steht gegenwärtig die Sache in Frankreich. Dort hat die Revolution mit den 23 alten, mehr oder weniger kirchlichen U. völlig aufgeräumt und Napoleon I. an ihre Stelle ein von Paris aus über alle Departements sich erstreckendes Netz von Unterrichtsbehörden und -Anstalten gesetzt, dessen Mittelpunkt Universität genannt wird, während das ganze Land in eine Anzahl von Bezirken (jetzt 16) geteilt ward, in denen je eine Akademie, d. h. ebenfalls eine Aufsichts- und Prüfungsbehörde, mit den ordentlichen Verwaltungsbehörden zusammen das Unterrichtswesen leitet. Daneben blieben nur einzelne Fakultäten und Kollegien (Sorbonne, Collège de France, Collège de Louis le Saint etc.) bestehen. Nach langen Kämpfen hatte die klerikale Partei endlich 1875 durchgesetzt, daß unter gewissen sehr allgemein gehaltenen Bedingungen Körperschaften, Vereine etc. freie U. gründen dürften, deren Prüfungen denen der Staatsbehörden gleich gelten, und dann sofort von diesem Rechte durch Gründung von sechs katholischen U. (Paris, Lille, Angers, Lyon, Poitiers, Toulouse) Gebrauch gemacht. Die Entwickelung dieser Anstalten ist seitdem rüstig vorgeschritten, und namentlich sind neben der Universität zu Paris auch die zu Lille und Angers bereits völlig organisiert, obwohl das Recht der Prüfung diesen Anstalten inzwischen wieder entzogen ist, so daß deren Studenten die wissenschaftlichen Grade erst vor staatlichen Behörden erwerben müssen. Dieser Vorgang hat auf dem Gebiet des staatlichen höhern

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Universum - Unkräuter.

Unterrichts in Frankreich regen Wetteifer geweckt. Doch bestehen rechtlich noch immer nur 58 vereinzelte Fakultäten neben einer größern Zahl von fachlichen Hochschulen. Der Lehrstand an den Staatsfakultäten zählte 1882 gegen 1200, die Hörerschaft etwa 16,000 Köpfe. In Italien, wo neben 17 staatlichen U. 4 freie U. und mehrere einzelne Fakultäten, Akademien verschiedener Art bestehen, hatte 1875 der deutschfreundliche Herbartianer R. Bonghi als Unterrichtsminister neue Anordnungen erlassen und durch dieselben die italienischen U., welche halb Lehrkörper, halb Unterrichts- und Prüfungsbehörden nach französischer Weise geworden waren, den deutschen wesentlich angenähert. Sein Nachfolger Coppino hat dieselben 1876 in wichtigen Punkten verändert und namentlich die Staatsprüfungen den Fakultäten zurückgegeben. Spanien hat 10 U., von denen manche schon im Mittelalter hohen Ruf genossen, wie Valencia (1209), Salamanca (1250), Alcalá de Henares (1499). Gegenwärtig behauptet nur die Universität Madrid (1836 von Alcalá hierher verlegt; 5000 Studenten) einen höhern Rang. Portugal hat seine Universität zu Coimbra (1290 in Lissabon gegründet, 1307 verlegt). Im slawischen Osten Europas hatte Polen schon seit 1400 seine Universität in Krakau, wozu 1578 Wilna trat; sonst aber sind erst in unserm Jahrhundert von Österreich (Lemberg, Agram, Czernowitz 1875) und Rußland dort eigentliche U. (Moskau, Wilna 1803; Kasan, Charkow 1804; Warschau 1816; Petersburg 1819; Kiew 1834; Odessa 1865; Tiflis, Tobolsk) gegründet worden. Auch Rumänien (Bukarest und Jassy), Serbien (Belgrad), Griechenland (Athen und Korfu) besitzen heute ihre U. Außerhalb Europas finden sich die U. am zahlreichsten in Amerika, wo im Süden die spanisch-portugiesische Form aus dem Zeitalter der Jesuiten herrscht und im Norden bei großer Mannigfaltigkeit die englische Anlage vorwaltet. Berühmt sind unter den ältern, noch unter den Engländern begründeten U. des Unionsgebiets Harvard University zu Cambridge in Massachusetts (1638) und Yale College zu Newhaven in Connecticut (1701). In Asien haben die vier britischen U. Ostindiens hohe Bedeutung für die Zivilisation dieses weiten Gebiets und für die vergleichende Sprachforschung. In Japan strebt die Regierung eifrig, das europäische Universitätswesen einzubürgern, wobei als Muster die Universität zu Tokio dient, die vorwiegend mit europäischen Lehrern besetzt wird.

Vgl. Meiners, Geschichte der Entstehung und Entwickelung der hohen Schulen unsers Erdteils (Götting. 1802-1805, 4 Bde.); Tholuck, Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts (Halle 1853-1854, 2 Tle.); Raumer, Geschichte der Pädagogik, Bd. 4 (5. Aufl., Gütersl. 1878); Zarncke, Die deutschen U. im Mittelalter (Leipz. 1857); Dolch, Geschichte des deutschen Studententums (das. 1858); Keil, Geschichte des jenaischen Studentenlebens (das. 1858); Muther, Aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben im Zeitalter der Reformation (Erlang. 1866); Sybel, Die deutschen U. (2. Aufl., Bonn 1874); J. B. Meyer, Deutsche Universitätsentwickelung (Berl. 1875); "Société de l'enseignement supérieur, Études de 1878" (Par. 1879); Paulsen, Gründung der deutschen U. im Mittelalter ("Sybels Historische Zeitschrift" 1881); Derselbe, Geschichte des gelehrten Unterrichts (Leipz. 1885); Denisle, Die U. des Mittelalters (Berl. 1886, Bd. 1); Kaufmann, Geschichte der deutschen U. (Stuttg. 1888, Bd. 1); "Deutsches akademisches Jahrbuch" (Leipz. 1875 u. 1878, mit Angabe der Speziallitteratur). Fortlaufende Statistik der U. Deutschlands, Österreichs, der Schweiz etc. gibt Aschersons "Deutscher Universitätskalender" (Berl., seit 1873).

Universum (lat.), das Ganze, der Inbegriff aller Dinge; s. v. w. Welt.

Unke, s. Frösche, S. 752, und Nattern.

Unkel, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Neuwied, am Rhein und an der Linie Friedrich Wilhelmshütte-Niederlahnstein, hat eine gotische kath. Kirche, ein Bergrevier, Basaltbrüche, Zementwarenfabrikation, Weinbau und (1885) 687 Einwohner.

Unken, Dorf und Luftkurort im österreich. Herzogtum Salzburg, Bezirkshauptmannschaft Zell am See, an der Saalach, 552 m ü. M., nahe der bayrischen Grenze (Reichenhall), mit (1880) 229 (als Gemeinde 1046) Einw. Vgl. Strauß, Der Alpenkurort U. (Salzb. 1879).

Unkräuter, Pflanzen, welche entgegen dem Kulturzweck zwischen angebauten Pflanzen erscheinen, im allgemeinen nur als schädlich in Betracht kommen, zum Teil aber nutzbar sind (als Grünfutter etc.), ja sogar für sich angebaut werden, wie denn auch manche Kulturpflanzen, wenn sie am unrichtigen Ort erscheinen, zu den Unkräutern gezählt werden müssen. Die U. sind schädlich, insofern sie den angebauten Gewächsen Raum fortnehmen, denn zu eng gestellte Pflanzen beeinträchtigen sich gegenseitig in der Entwickelung, und oft zeigen U. stärkeres Entwicklungsvermögen als die Kulturpflanzen, zwischen denen sie wachsen. Enthält 1 kg Rotkleesamen nur 10,000 Körner Wegerich (Plantago media) oder 6000 Körner Disteln, so nimmt das Unkraut nahezu die Hälfte des Areals für sich in Anspruch. Manche Schlingpflanzen (Convolvulus arvensis und sepium, Polygonum convolvulus und dumetorum, Lathyrus tuberosus und Vicia-Arten) verflechten sich mit Halmfrüchten zu einer unentwirrbaren Masse, ziehen sie nieder und bringen sie zur Lagerung. Die U. beeinträchtigen die Kulturpflanzen, indem sie Luft- und Lichtzutritt verringern und dem Boden erhebliche Mengen von Kali, Stickstoff und Phosphorsäure entziehen. Manche U. sind Parasiten und zwar Wurzelparasiten (Orobanche, Lathraea, Monotropa, Thesium, Melampyrum, Euphrasia, Alectorolophus, Odontites) oder auf oberirdischen Organen (Cuscuta, Viscum), andre sind schädlich, indem sie parasitische Pilze übertragen. So lebt das Äcidium des Fleckenrostes auf Berberitze, das des Kronenrostes auf Faulbaum und Kreuzdorn, das des Streifenrostes auf Ranunculus-Arten, Urtica dioica auf verschiedenen Borragineen, auch überwintert die Uredoform des Kronenrostes auf Holcus lanatus. Auch die Brandpilze werden durch U. verbreitet (Convolvulus arvensis, Rumex acetosella, Phleum pratense), und der Mutterkornpilz entwickelt sich vielleicht auf allen Gräsern. Viele U. sind Giftpflanzen, welche, dem Grünfutter beigemengt, oft sehr schädlich werden, oder deren Samen in das Getreidemehl übergehen. Hauptsächlich kommen hierin Betracht: Bromus secalinus, Lolium temulentum, Colchicum autumnale, Polygonum hydropiper und minus, viele Solaneen, Gratiola officinalis, Alectorolophus hirsutus, Cicuta virosa, Aethusa Cynapium, Conium maculatum, mehrere Ranunkulaceen, Papaver Argemone und dubium, Agrostemma Githago, die Euphorbiaceen etc. Manche U. sind insofern nützlich, als sie ohne große Ansprüche an den Boden diesen bedecken und vor zu schnellem Austrocknen schützen.

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Unktion - Unruhstadt.

Das massenhafte Auftreten der U. erklärt sich aus der enormen Samenproduktion vieler Arten. Eine einzige Pflanze von Senecio vernalis besaß 273 Blütenköpfchen, jedes mit 145, zusammen 39,585, Früchten, ein Exemplar von Erigeron canadense mit 2263 Köpfchen lieferte 110,000 Samen, und wenn es sich hier um sehr kräftige Pflanzen handelte, so werden doch auch von andrer Seite angegeben: für Agrostemma Githago 2590, Papaver-Rhoeas 50,000, Sinapis arvensis 4000, Sonchus arvensis 19,000 Samen. Von diesen Samen geht wohl der bei weitem größte Teil zu Grunde, immerhin erhalten sich sehr viele und erwarten im Boden die günstige Gelegenheit zur Entwickelung. Aus einer Bodenprobe vom Rand eines Teiches, die kaum eine gewöhnliche Kaffeetasse füllte, erzielte Darwin 537 Keimlinge, und Putensen ermittelte auf einem Acker pro Q-Meter auf 37,5 cm Tiefe 42,556 Unkrautsamen. Zur Bekämpfung der U. genügen bei ein und zweijährigen Pflanzen (etwa 80 Proz.) Jäten, Abweiden, Untergraben, Unterpflügen vor der Samenreife; von perennierenden Unkräutern müssen die Wurzelstöcke nach tiefem Pflügen ausgeeggt werden. Bei manchen Unkräutern wird aber auf diese Weise nichts zu erreichen sein, und dann sind durch Drainieren, Mergeln etc. die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Bodens so zu ändern, daß die U. weniger gut oder gar nicht mehr gedeihen. Auch durch die Art der Kultur lassen sich manche U. beseitigen. Schlingpflanzen und andre im Getreide wachsende U. verschwinden, wenn einige Jahre hindurch vorwiegend Hackfrüchte gebaut werden. Equisetum arvense verträgt nicht eine geschlossene Grasnarbe. Von größter Bedeutung ist die Reinheit des Saatguts, und in der That ist seit allgemeiner Anwendung der Getreidereinigungsmaschinen das Unkraut auf dem Acker bedeutend zurückgedrängt worden. Diese Reinigung muß möglichst weit getrieben werden, denn 1 Proz. Verunreinigung bedeutet bei Lein 1950, bei Rotklee 5500, bei französischem Raigras 8000 Körner fremder Samen in 1 kg. Überall, wo die Unkrautsamen erreichbar sind, sollte ihre Keimfähigkeit durch geeignete Behandlung zerstört werden, denn wo dies nicht geschieht, gelangen sehr viele keimfähige Samen durch den Mist zurück auf den Acker. Dabei ist die große Widerstandskraft mancher Unkrautsamen zu berücksichtigen, von denen einige die Temperatur des sich erhitzenden Düngers und wochenlanges Liegen in Jauche ertragen. Bei der großen Verbreitungsfähigkeit vieler Unkrautsamen durch Federkronen etc. ist der Einzelne im Kampf gegen die U. oft machtlos, nur gemeinsames Vorgehen kann Erfolge erzielen, und daher haben sich in Bayern, Württemberg und Baden obligatorische Flurgenossenschaften gebildet, welche im Juni die Grundstücke auf das Vorhandensein von Unkraut besichtigen und für Ausrottung desselben Sorge tragen. In ähnlicher Weise sind mehrfach Polizeiverordnungen erschienen, um übermäßige Verbreitung von Chrysanthemum segetum, Senecio vernalis und Galinsoga parviflora zu verhindern. Vgl. Ratzeburg, Die Standortsgewächse und U. Deutschlands und der Schweiz (Berl. 1859); Nobbe, Handbuch der Samenkunde (das. 1876); Thaer, Die landwirtschaftlichen U.(das. 1881); Danger, U. und pflanzliche Schmarotzer (Hannov. 1887).

Unktion (lat.), Salbung (s.d.).

Unmittelbar, s. Immediat.

Unmündige (Impuberes), s. Alter, S. 419.

Unna, Fluß in Bosnien, entspringt nordwestlich von Glamotsch, fließt erst nordwestlich, dann von Bihatsch an nordöstlich, bildet im untern Lauf die Grenze gegen Österreichisch-Kroatien, nimmt bei Nowi die Sanna auf und fällt bei Jasenovatz rechts in die Save; die U. ist 260 km lang und nur für kleine Fahrzeuge schiffbar.

Unna, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Arnsberg, Kreis Hamm, am Fuß der Haar, Knotenpunkt der Linien Schwelm-Soest, U.-Hamm und Welver-Dortmund der Preußischen Staatsbahn, 96 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Eisengießerei und Maschinenfabrikation, eine chemische Fabrik, Bierbrauerei, Ziegelbrennerei und (1885) 8904 meist evang. Einwohner. Dabei die Saline Königsborn (s. d.). U. gehörte zunächst zu Kurköln, dann zur Grafschaft Mark; es war Mitglied der Hansa.

Unorganisch, s. v. w. anorganisch (s. d.)

Uno tenore (lat.), in einem fort; s. Tenor.

Unpaarzeher (Perissodactyla), Säugetiere, deren Füße nur mit der dritten Zehe den Boden berühren; s. Huftiere.

Unruh, Hans Viktor von, namhafter Techniker und Politiker, geb. 28. März 1806 zu Tilsit, bezog die Bauakademie in Berlin, wurde 1828 Straßenbauinspektor in Breslau, 1839 Regierungs- und Baurat in Gumbinnen, 1843 nach Potsdam versetzt und 1844 beurlaubt, um die Leitung des Baues der Eisenbahn von Potsdam nach Magdeburg zu übernehmen; von 1846 bis 1851 baute er dann die Magdeburg-Wittenberger Bahn. Später baute er die Gasanstalt in Magdeburg, gründete die Deutsche Kontinentalgasgesellschaft zu Dessau und stand 1857-74 an der Spitze der Fabrik für Eisenbahnbedarf in Berlin. Infolge seiner Schrift "Skizzen aus Preußens neuerer Geschichte" (1848) für Magdeburg in die preußische Nationalversammlung gewählt, schloß er sich erst dem linken, dann dem rechten Zentrum an. Kurz vor der Auflösung der Versammlung im November ward er zum Präsidenten gewählt, 1849 wurde er Mitglied der Zweiten Kammer, zog sich aber 1850 vom politischen Leben zurück. Seine 1851 erschienene Broschüre "Erfahrungen aus den letzten drei Jahren enthielt eine scharfe Kritik des konstitutionellen Systems. Bei Begründung des Nationalvereins 1859 ward er in dessen Ausschuß und 1863 von Magdeburg in das Abgeordnetenhaus gewählt, welchem er als eins der hervorragendsten Mitglieder der Fortschrittspartei, dann der nationalliberalen Partei angehörte, und dessen Vizepräsident er 1863-67 war. Im Februar 1867 vom Wahlbezirk Magdeburg in den Reichstag gewählt, zählte er hier zu den Führern der nationalliberalen Fraktion; doch legte er 1879 auch sein Reichstagsmandat nieder und starb 4. Febr. 1886 in Dessau. Noch ist sein "Volkswirtschaftlicher Katechismus" (Berl. 1876) zu erwähnen. Unruhe, s. Uhr, S. 974.

Unruhe, Pflanze, s. Eryngium und Lycopodium.

Unruhe-Bomst, Hans Wilhelm Stanislaus, Freiherr von, Politiker, geb. 26. Aug. 1825 zu Berlin, studierte daselbst, in Heidelberg und Halle die Rechte, trat 1851 in den Staatsverwaltungsdienst und wurde 1853 Landrat des Kreises Bomst; er ist Besitzer der Herrschaft Bomst und des Rittergut Langheinersdorf sowie Landtagsmarschall u. Schloßhauptmann von Posen; 185558 und 186667 Mitglied des Abgeordnetenhauses, ward er 1867 in den Reichstag gewählt, in dem er sich der freikonservativen Partei anschloß, und 1887 zweiter Vizepräsident desselben.

Uuruhstadt (poln. Kargowo, fälschlich Karge), Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Unrund - Unsichere Dienstpflichtige.

Bomst, unweit der Faulen Obra, hat eine evang. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht, viele Windmühlen, Weinbau, Schweinehandel u. (1885) 1604 Ew. Unrund, im Maschinenbau Bezeichnung für verschiedene Körper, welche von der kreisrunden Form abweichen, z. B. unrunde Räder, Scheiben etc.

Unschattige (Ascii), s. Amphiscii.

Unschlitt, s. v. w. Talg.

Unschuldig Angeklagte und unschuldig Verurteilte für die Nachteile zu entschädigen, welche ihnen durch die Untersuchungshaft oder durch die Vollstreckung eines irrigen Richterspruchs erwachsen sind, wird als eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit nach der jetzt herrschenden Ansicht bezeichnet. Doch ist die gesetzgeberische Formulierung dieses Entschädigung Anspruchs sehr schwierig. In Frankreich wurde die Frage schon im vorigen Jahrhundert vielfach erörtert, und in Preußen bestimmte schon 1776 eine Kabinettsorder Friedrichs d. Gr., daß der nachgewiesenen Unschuld das erlittene Ungemach vergütet werden solle. Im englischen Parlament trat Bentham für die Entschädigung unschuldig Verurteilter ein, und die Erörterungen der italienischen Jurisprudenz über diese Entschädigungsfrage führten zur Aufnahme diesbezüglicher Bestimmungen in das Strafgesetzbuch von Toscana und in die Strafgesetzgebung des Königreichs beider Sizilien. In 18 Schweizer Kantonen ist unschuldig Verurteilten eine Entschädigung für die erlittene Haft gesetzlich zugebilligt. Auch die frühere württembergische Strafprozeßordnung anerkannte den Entschädigungsanspruch unschuldig verurteilter Personen. In Deutschland wurde die Sache neuerdings zunächst mit Anknüpfung an die Untersuchung hast wieder aufgenommen. Der Kriminalist Heinze trat in einer Abhandlung über die Untersuchung haft (1865) für eine Entschädigung unschuldig Verfolgter bezüglich des durch die Untersuchungshaft erlittenen Nachteils ein, und der deutsche Juristentag nahm 1876 einen Antrag von Jaques und Stenglein dahin gehend an: "Im Fall der Freisprechung oder der Zurückziehung der Anklage ist für die erlittene Untersuchungshaft eine angemessene Entschädigung zu leisten; es sei denn, daß der Angeklagte durch sein Verschulden während des Verfahrens die Untersuchungshast oder die Verlängerung derselben verursacht hat". In Ergänzung dieses Beschlusses wurde ans einem weitern Juristentag (1882) beschlossen, daß auch für die Strafverbüßung Genugthuung und Ersatz der durch dieselbe entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile vom Staat verlangt werden könne, wenn infolge einer Wiederaufnahme des Verfahrens (s. d.) auf Freisprechung oder auf eine geringere als die verbüßte Strafe erkannt worden sei. In Österreich ergriff 1882 der Abgeordnete Roser die Initiative zum Zweck einer gesetzgeberischen Lösung der Frage, und im deutschen Reichstag brachten in demselben Jahr die fortschrittlichen Abgeordneten Phillips und Lenzmann einen Gesetzentwurf ein, über welchen v. Schwarze 25. April 1883 namens der eingesetzten Kommission ausführlichen Bericht erstattete. Man entschied sich damals in der Kommission für eine Entschädigung sowohl für unschuldig verbüßte Strafhaft als für unschuldig erlittene Untersuchungshaft. Später wurde die Sache wiederholt aufgenommen und im Plenum des Reichstags, aber auch kommissarisch beraten. Ein Antrag "Munkel", welcher 7. März 1888 vom Reichstag angenommen wurde, bezieht sich nur auf den Vermögensschaden, welchen unschuldig Verurteilte durch die Strafvollstreckung erlitten haben, wofern sie nachmals im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurden. Hat der Angeklagte seine Verurteilung durch Vorsatz oder grobes Verschulden herbeigeführt, so ist nach dem Munkelschen Antrag ein Anspruch auf Entschädigung ausgeschlossen. Gegen eine Entschädigung wegen unschuldigerweise verbüßter Untersuchungshast wird namentlich geltend gemacht, daß es sich bei der Verhängung derselben um ein allgemeines staatliches Interesse handle, welchem sich der Einzelne unterordnen müsse; daß der Richter, welcher von der ihm zustehenden Befugnis, die Untersuchungshaft zu verhängen, rechtmäßigen Gebrauch mache, niemand verletze; daß die Energie der strafrechtlichen Verfolgung durch die Aussicht, vielleicht für die Nachteile der Untersuchungshaft einstehen zu müssen, beeinträchtigt werde; daß man durch betrügerische Manipulationen sich durch die Untersuchungshaft und durch die Entschädigung für diese Vorteile verschaffen könne; daß auch der Schuldige für die erlittene Untersuchungshaft entschädigt werden müsse, wenn seine Freisprechung wegen mangelnden Beweises erfolgt. Auf der andern Seite macht man geltend, daß die erlittene Untersuchungshaft bei der Verurteilung angerechnet werden darf, und daß daher folgeweise bei der Freisprechung auch eine Entschädigung am Platz sei. Man weist ferner auf die Zwangsenteignung hin, die ebenfalls im allgemeinen Interesse, aber gegen volle Entschädigung erfolge. Endlich wird die menschliche Unvollkommenheit und die damit zusammenhängende Möglichkeit, daß Untersuchungshaft unbegründeterweise verhängt werde, zur Begründung des Entschädigungsanspruchs wegen unschuldig erlittener Untersuchungshaft mit angeführt.

Die deutschen Regierungen haben sich bisher nach beiden Richtungen hin ablehnend verhalten, auch gegenüber dem Entschädigungsanspruch wegen unschuldig erlittener Strafhaft, und. zwar namentlich aus dem Grund, weil auch die nachträgliche Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren keine Garantie dafür biete, daß man es mit einem wirklich Unschuldigen zu thun habe, da dieselbe häufig nur aus dem Grund erfolge, weil das ursprünglich vorhanden gewesene Beweismaterial infolge der natürlichen Wirkung des Zeitablaufs an Kraft verloren habe. Der Bundesrat hat daher bis jetzt seine Zustimmung zu dem vom Reichstag wiederholt beschlossenen Entschädigungsgesetz nicht erteilt, dagegen 17. März 1887 das Vertrauen ausgesprochen, daß in den Bundesstaaten überall in ausreichender Weise für die Beschaffung der Geldmittel Sorge getragen werde, welche erforderlich, um den bei der Handhabung der Strafrechtspflege nachweisbar unschuldig Verurteilten eine billige Entschädigung zu gewähren. Dieser Anregung ist auch von mehreren deutschen Staaten bei der Etatsaufstellung entsprochen worden. Vgl. Jacobi, Wahrheitsermittelung im Strafverfahren und Entschädigung unschuldig Verfolgter (Berl. 1883); Kronecker, Die Entschädigung unschuldig Verhafteter (das. 1883); v. Schwarze, Die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchung und Strafhast (Leipz. 1883).

Unschuldigen Kindlein, Tag der (Festum innocentium), der kirchliche Festtag zur Erinnerung an den bethlehemitischen Kindermord durch Herodes, 28. Dez.

Unsichere Dienstpflichtige (unsichere Kantonisten), junge Leute, welche sich der Gestellung entziehen, ohne sich der Fahnenflucht schuldig zu machen; verlieren das Losungsrecht und können außerterminlich eingestellt werden, wobei ihre Dienstzeit vom nächsten Einstellungstermin an rechnet.

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Unsre liebe Frau - Unterbrechung des Verfahrens.

Unsre liebe Frau (franz. Notre Dame), f. v. w. Maria, die Mutter Jesu.

Unst (spr. onst), die nördlichste der Shetlandinseln (s. d.), mit meteorologischer Station und (1881) 2173 Einwohnern.

Unsterblichkeit (U. der Seele), die Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode des Leibes, auf der Stufe der Naturreligion fast überall in Gestalt des Geister und Gespensterglaubens, in den Religionen des Altertums entweder in der Form der Seelenwanderung (Indien), oder in derjenigen eines Schattenlebens im Hades (Griechen) oder im Scheol (Hebräer) u. dgl. auftretend, dagegen im spätern Judentum, im Christentum und Islam fast unablösbar verbunden mit der Vorstellung der Auferstehung (s. d.). In schulmäßiger Form wurde der Begriff der U. zuerst entwickelt und begründet von Platon, Cicero und andern Philosophen des Altertums. Im Anschluß an ihre Methode hat die spätere Metaphysik die U. auf verschiedene Art zu beweisen gesucht. Der ontologische (metaphysische) Beweis leitet sie ab von dem Begriff der Immaterialität, Einfachheit und Unteilbarkeit der Seele, der teleologische dagegen aus der Bestimmung des Menschen, sich von den äußerlichen, räumlich zeitlichen Bedingungen seines Geisteslebens immer unabhängiger zu machen und sämtliche Anlagen zur Entwickelung zu bringen, eine Aufgabe, zu deren Lösung die Verhältnisse dieser Erde unzulänglich befunden werden. Der theologische Beweis stützt sich auf die Weisheit, Gerechtigkeit und Güte Gottes, die es mit sich bringen, daß den Absichten, mit welchen er persönliche Geschöpfe ins Dasein gerufen, auch ihre Realisierung verbürgt sein müsse, was auf dieser Erde keineswegs der Fall. Der moralische Beweis kommt auf das in diesem Leben niemals befriedigte, aber mit unverjährbaren Rechten ausgestattete Bedürfnis nach einer Ausgleichung von innerm Wert und äußerm Befinden zurück. Der analogische Beweis ist aus den Erscheinungen der irdischen Natur entnommen, indem sich hier aus dem Tod immer wieder neues Leben entwickele. Der kosmische Beweis nimmt seine Gründe aus dem Vorhandensein unendlich vieler Welten, welche miteinander in Verbindung stehen und zahllose Übungsplätze für die fortgehende Entwickelung der Weltwesen darbieten. Der historische Beweis rekurriert auf die Allgemeinheit des Glaubens an U., sucht zugleich nach Thatsachen der Erfahrung für die Gewißheit der U. (Auferstehung Christi) und beruft sich zumeist auf die Aussprüche der Offenbarung. Zuletzt gehen alle diese Beweise auf das echt menschliche Bewußtsein zurück, als sittliche Persönlichkeit der materiellen Natur überlegen zusein, in einer Welt der Freiheit höhern Gesetzen des Daseins zu folgen als die materielle Natur. Der diesen Anspruch als eine Täuschung der Eigenliebe bekämpfende Materialismus ist daher in alter und neuer Zeit der erfolgreichste Gegner auch jeglichen Glaubens an U. gewesen. Aber auch vom idealistischen Standpunkt aus ist derselbe bekämpft worden. Als ein Lieblingskind der Aufklärungszeit und des Rationalismus fand er besonders innerhalb der Schule Hegels Beanstandung, indem die pantheistische Richtung derselben die Fortdauer des Individuums aufheben zu müssen und nur für eine Rückkehr des individuellen Geistes in das Allgemeine Platz zu haben schien. Ausdrücklich wurde diese Meinung ausgesprochen von Richter ("Lehre von den letzten Dingen", Berl. 1833). Dagegen suchte Göschel in den Schriften: "Von den Beweisen für die U. der menschlichen Seele im Lichte der spekulativen Philosophie" (Berl. 1835) und "Die siebenfältige Osterfrage" (das. 1836) die Hegelsche Philosophie gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Eine tiefere Begründung fand die Idee der U. bei den Anhängern des sogen. spekulativen Theismus, insonderheit bei Weiße ("Die philosophische Geheimlehre von der U. des Individuums", Dresd. 1834) und I. H. Fichte ("Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer", Elberf. 1834; 2. Aufl., Leipz. 1855; "Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen", das. 1867). Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus besprach die Sache Fechner in seinem "Büchlein vom Leben nach dem Tod" (Leipz. 1836, 2. Aufl. 1866) und im 3. Teil seines "Zendavesta" (das. 1851). Vgl. ferner Ritter, Unsterblichkeit (2. Aufl., Leipz. 1866);Arnold Die U. der Seele, betrachtet nach den vorzüglichsten Ansichten des Altertums (Landsh. 1870); Teichmüller, Über die U. der Seele (Leipz. 1874); Spieß, Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen vom Zustand nach dem Tod (Jena 1877); Henne-Am Rhyn, Das Jenseits (Leipz. 1880).

Uustrut, Fluß in der preuß. Provinz Sachsen, entspringt auf dem Eichsfeld bei Kefferhausen unweit Dingelstedt, fließt in mehreren Bogen von W. nach O. und mündet nach einem Laufe von 172 km unterhalb Freiburg in die Saale. Sie durchfließt meist schöne Wiesengründe und hat nur steile und felsige Thalseiten von Klofter-Roßleben bis zur Mündung. Von Bretleben ab ist sie auf 72 km durch zwölf Schleusen für kleine Fahrzeuge schiffbar gemacht. Ihre Nebenflüsse sind rechts: die Gera, Gramme, Lossa, links: die Helbe, Wipper, Kleine Wipper, Helme.

Unterbilanz, s. Defizit.

Unterbinduug (Ligatur), chirurg. Operation, bei welcher man zu einem bestimmten Heilzweck ein Blutgefäß durch Umschnüren mit einem Faden verschließ Es geschieht, um eine bestehende Blutung zu stillen, einer zu befürchtenden Hämorrhagie vorzubeugen, oder um die Blutzirkulation bei Beseitigung von Aneurysmen zu hemmen; auch behufs Herabsetzung der Blutzufuhr bei Geschwülsten, um dadurch ihr Wachstum zu hemmen oder ihre Verkleinerung herbeizuführen, bei der sogen. Elefantiasis und andern Leiden. Auch zu unblutigen Trennungen wird die U. benutzt, indem man die in der Trennungslinie liegenden Teile fest umschnürt. Bleibt die U. stets gespannt, so durchschneidet sie das von ihr Umfaßte in einigen Tagen. Als Material zur U. dient Seide oder Catgut, zur Umschnürung von Geschwulststielen und zur Durchtrennung von Teilen auch Drähte und Gummistränge.

Unterblätter, s. Amphigastrien.

Unterbrechuug des Verfahrens, im Zivilprozeß einer der beiden Fälle des notwendigen Stillstandes eines Prozesses im Gegensatz zu dem durch den Willen der Parteien bewirkten "Ruhen" des Verfahrens und zwar der kraft Gesetzes unmittelbar mit dem Moment des bezüglichen Ereignisses eintretende Stillstand im Gegensatz zur "Aussetzung" des Verfahrens (s. d.). Die U. tritt ein durch vom Willen der Parteien unabhängige Umstände, nämlich: 1) Tod einer Partei; 2) Eröffnung des Konkurses über das Vermögen einer Partei, soweit der Prozeß die Konkursmasse betrifft; 3) Verlust der Prozeßfähigkeit einer Partei oder Wegfall des gesetzlichen Vertreters einer nicht prozeßfähigen Partei; 4) Wegfall des Anwalts einer Partei im Anwaltsprozeß; 5) Aufhören der Thätigkeit des Gerichts infolge eines Kriegs oder eines andern Ereignisses. In den Fällen

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Untercharente - Unterfranken.

1 und 3 tritt eine Unterbrechung nicht ein, wenn eine Vertretung durch einen Prozeßbevollmächtigten stattfindet. Bei der U. hört der Lauf einer jeden Frist auf; nach Beendigung der U. (durch "Aufnahme" des Verfahrens, s. d.) beginnt die volle Frist von neuem zu laufen. U. durch Kabinettsjustiz ist unzulässig. Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung, § 217 ff.

Untercharente (Niedercharente), franz. Departement, s. Charente, S. 946.

Unterchlorige Säure HClO entsteht, wenn man Chlorwasser mit Quecksilberoxyd schüttelt und die Flüssigkeit zur Abscheidung des gleichzeitig gebildeten Quecksilberchlorids destilliert. Bei Einwirkung von Chlor auf kalte, verdünnte Kalilauge, Chlorkalium und unterchlorigsaures Kali und bei vorsichtiger Destillation eines Unterchlorigsäuresalzes mit verdünnter Salpetersäure destilliert u. S. Diese ist eine so schwache Säure, daß ihre Salze durch Kohlensäure zersetzt werden; leitet man daher Chlor in eine Lösung von kohlensaurem Natron, so entsteht kein Unterchlorigsäuresalz, sondern Chlornatrium und freie u. S. Mäßig konzentrierte Lösungen der Säure lassen sich destillieren und durch Fraktionierung konzentrieren, während sehr schwache oder sehr starke Säure sich bei der Destillation zersetzt. Konzentrierte u. S. ist orangegelb, verdünnte fast farblos, riecht eigentümlich, schmeckt ätzend, zersetzt sich sehr leicht in Chlor und Chlorsäure und wirkt doppelt so stark oxydierend und bleichend als das in ihr enthaltene Chlor. Ihre Salze (Hypochlorite) sind im reinen Zustand wenig bekannt und im festen gar nicht; sie sind sehr unbeständig, ihre verdünnten Lösungen geben beim Kochen Chlorsäuresalz und Chloride, die konzentrierten Chloride und Sauerstoff; sie entwickeln beim Erhitzen mit verschiedenen Metalloxyden, wie Kobaltoxyd oder Kupferoxyd, Sauerstoff; sie bleichen sehr langsam, nach Zusatz einer Säure aber sehr energisch, auch schon bei Einwirkung der Kohlensäure der Luft. Die unterchlorigsauren Alkalien sind in den Bleichflüssigkeiten (Eau de Javelle und Eau de Labarraque) enthalten, unterchlorigsaure Magnesia in Ramsays oder Grouvelles, das Zinksalz in Varrentrapps Bleichflüssigkeit. Über das Kalksalz s. Chlorkalk. Berthollet beobachtete 1785, daß Chlor sich mit einem Alkali verbinden kann, ohne seine bleichenden Eigenschaften einzubüßen. Er führte die Lösung, welche er durch Einleiten von Chlor in Kalilauge erhielt (Eau de Javelle), in die Färberei ein, und Balard erkannte 1834 die Zusammensetzung des Präparats.

Unterchlorigsaures Natron, s. Eau de Javelle.

Unterdominante, s. Dominante.

Unterelsaß, Bezirk im deutschen Reichsland Elsaß-Lothringen, umfaßt 4778 qkm (86,78 QM.) mit (1885) 6l2,077 Einw. (darunter 211,955 Evangelische, 379,844 Katholische und 18,891 Juden) und besteht aus den acht Kreisen: Kreise QKilometer QMeilen Einw. 1885 Einw. auf 1 QKil.

Erstein 498 9,05 61719 124

Hagenau 659 11,97 73316 111

Molsheim 740 13,44 69328 94

Schlettstadt 635 11,53 71378 112

Straßburg (Stadt) 78 1,42 111987 -

Straßburg (Land) 561 10,19 79521 142

Weißenburg 603 10,95 58270 97

Zabern 1004 18,24 86558 86

Unterfahrung, die Anlage eines neuen Fundaments oder neuer Fundamentteile bei einem Gebände mit ungenügender oder schadhaft gewordener Gründung, größerer Belastung des Baugrundes, tieferer Gründung des Nachbarhauses etc.

Unterfranken, ein Regierungsbezirk des Königreichs Bayern, grenzt im NW. an die preußische Provinz Hessen-Nassau, im N. an Sachsen-Weimar, im NO. an Sachsen-Meiningen, im O. an Ober- und Mittelfranken, im S. an Württemberg und Baden, im W. an das Großherzogtum Hessen, besteht aus dem ehemaligen Bistum Würzburg, dem kurmainzischen Fürstentum Aschaffenburg, der vormals freien Reichsstadt Schweinfurt und aus Teilen des Bistums Fulda, des Fürstentums Ansbach, der Grafschaft Schwarzenberg etc. und umfaßt 8401 qkm (152,58 QM.) mit (1885) 619,436 Einw. (darunter 106,302 Evangelische, 484,406 Katholiken und 14,398 Juden). Gebirge sind: im N. die Rhön mit dem Kreuzberg, im W. der reichbewaldete Spessart, im O. der Steigerwald und die Haßberge. Hauptfluß ist der Main, welcher den Regierungsbezirk, zwei große Bogen nach S. abgerechnet, von O. nach W. in einem meist breiten und fruchtbaren Thal durchzieht. Ihm fließen hier zu die Fränkische Saale und Sinn auf der rechten Seite, während auf der linken Seite nur kleine Bäche einmünden. Der Boden ist meist sehr fruchtbar und liefert Holz in großer Menge, treffliche Weine, Getreide, Flachs, Hanf, Obst etc. Von Mineralien werden Alabaster, Gips, Thon und Eisen gewonnen. Unter den Mineralquellen sind besonders die von Kissingen berühmt. Haupterwerbszweige sind: Land- und Forstwirtschaft, Wein- und Obstbau, Viehzucht etc., aber auch die Industrie ist bedeutend und besteht vorzugsweise in Baumwollspinnerei, Lein-, Baumwoll- und Wollweberei, Fabrikation von Tapeten, Papier, Holz- und Eisenwaren, Maschinen, Glas, Bierbrauer rei etc. Der Handel ist besonders namhaft in Holz, Landesprodukten und Wein. Als Hauptverkehrslinie durchzieht den Regierungsbezirk die Eisenbahnlinie Bamberg-Aschaffenburg, zahlreiche andre Linien münden von N. und S. her in diese ein. Die Schiffahrt auf dem Main ist in stetem Aufschwung begriffen. In administrativer Hinsicht wird U. in vier unmittelbare Städte (Aschaffenburg, Kitzingen, Schweinfurt und Würzburg) und 20 Bezirksämter geteil. Hauptstadt ist Würzburg.

Bezirksämter QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Alzenau 262 4,76 19286 73

Aschaffenburg (Stadt) 15 0,27 12393 -

Aschaffenburg (Land) 400 7,26 31102 78

Brückenau 329 5,97 13385 41

Ebern 367 6,67 19849 54

Gerolzhofen 478 8,68 32212 67

Hammelburg 351 6,37 20529 59

Haßfurt 427 7,76 27544 64

Karlstadt 485 8,81 29879 62

Kissingen 468 8,50 32940 70

Kitzingen (Stadt) 24 0,44 7177 -

Kitzingen (Land) 347 6,30 31803 53

Königshofen 559 10,15 29831 53

Lohr 726 13,19 33999 47

Marktheidenfeld 492 8,94 30496 62

Mellrichstadt 268 4,87 13815 51

Miltenberg 322 5,85 20783 65

Neustadt a. S. 377 6,85 20810 55

Obernburg 312 5,67 25666 82

Ochsenfurt 373 6,77 26190 70

Schweinfurt (Stadt) 25 0,45 12502 -

Schweinfurt (Land) 496 9,01 32902 66

Würzburg (Stadt) 32 0,58 55010 -

Würzburg (Land) 464 8,43 39366 85

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Unterführung - Unternehmergewinn.

Unterführung, die Anlage einer Straße unter einer andern, welche sich mit ersterer kreuzt; besonders bei Eisenbahnen.

Untergang der Gestirne, das infolge der täglichen allgemeinen Himmelsbewegung von Morgen gegen Abend erfolgende Hinabsinken der Gestirne unter den Horizont. Die Stunde des Unterganges eines Gestirns und für einen bestimmten Beobachtungsort findet man, wenn man den halben Tagbogen, in Zeit ausgedrückt, zur Zeit der Kulmination hinzurechnet. Die so gefundene Zeit des wahren Unterganges ist etwas verschieden von der Zeit, zu welcher man den Untergang wirklich beobachtet, der Zeit des scheinbaren Unterganges, weil wir wegen der atmosphärischen Strahlenbrechung ein Gestirn noch sehen, wenn es bereits gegen 35 Bogenminuten unter dem Horizont steht. Bei Sonne, Mond und Planeten muß man bei Berechnung des Auf und Unterganges noch auf die Bewegung dieser Körper am Fixsternhimmel Rücksicht nehmen, bei Sonne und Mond auch noch auf ihren scheinbaren Halbmesser. Wie beim Aufgang, unterschieden die Alten auch beim Untergang 1) den heliakischen Untergang oder den zum letztenmal nach Sonnenuntergang stattfindenden, 2) den kosmischen Untergang oder den mit Sonnenuntergang gleichzeitig stattfindenden, daher unsichtbaren, und 3) den akronyktischen Untergang oder den bei Sonnenaufgang stattfindenden. Vgl. Aufgang d. G.

Untergärung, s. Bier, S. 916 f.

Uutergrund, f. Boden, S. 106.

Untergrundpflug, s. Pflug, S. 975.

Unterhändler, s. Makler.

Unterhaus, das Haus der Gemeinen (House of Commons) im englischen Parlament; s. Großbritannien, S. 776 f.

Unterhautzellgewebe, s. Haut, S. 231.

Unterkiefer, s. Kiefer.

Unterkochen, Dorf im württemberg. Jagstkreis, Oberamt Aalen, in einem Thal zwischen Aalbuch und Härdtfeld, am Schwarzen und Weißen Kocher und an der Linie Aalen-Ulm der Württembergischen Staatsbahn, 450 m ü. M., hat eine kath. Kirche, 5 Papierfabriken, eine Zellstofffabrik, 2 Kettenfabriken, eine Kunstmühle und (1885) 1979 Einw.

Unterkohlrabi, s. Raps.

Unterkühlt, s. Schmelzen, S. 552.

Unterleib, s. Bauch.

Unterleibsbruch, Eingeweidebruch, s. Bruch, S. 484.

Unterleibskrankheiten, im allgemeinen alle Krankheiten, welche die dem Unterleib angehörigen Organe betreffen. Unterleibsentzündung bedeutet im gewöhnlichen Sprachgebrauch s. v. w. Bauchfellentzündung (s.d.), doch gebraucht man den Ausdruck auch zuweilen, um eine Affektion der Beckenorgane oder eine Blinddarmentzündung zu bezeichnen. Als Unterleibstyphus benennt man diejenige Form des Typhus, welche durch Lokalisation im Dünndarm als sogen. Ileotyphus vor den beiden andern typhösen Infektionskrankheiten, dem exanthematischen und dem Rückfalltyphus, ausgezeichnet ist. Unterleibsschwindsucht soll meistens so viel sagen wie Darmschwindsucht (s. d.), doch wird darunter auch zuweilen tuberkulöse Zerstörung der weiblichen Beckenorgane verstanden. Unterleibsbrüche (Hernien) sind Vorfälle von Darm oder Netzstücken durch abnorm erweiterte normale oder widernatürlich entstandene Öffnungen des Bauchfells (s. Bruch, S.484 f.). Wegen der U., welche hypochondrischen oder hysterischen Seelenstörungen zu Grunde liegen sollen, vgl. die Artikel über die betreffenden Krankheiten und Darmentzündung.

Unterleibsskrofeln, chronische Schwellung der Mesenterialdrüsen (s. d. und Darmschwindsucht).

Unterleibstyphus, s. Typhus, S. 956.

Unterleuniugen, Dorf im württemberg. Donaukreis, Oberamt Kirchheim u. T., an der Lauter, hat eine evang. Kirche, Baumwollspinnerei, Holzdreherei, mechanische Werkstätten, Metalldrückerei, eine Ölmühle, Wein und Kirschenbau, eine Schwefelquelle und (1885) 672 Einw.

Unterloire (Niederloire), franz. Departement, s. Loire, S. 878.

Untermalung, die erste Vorbereitung zur Anfertigung eines Gemäldes, welche von besonderer Wichtigkeit ist, weil sie die Grundlage für Zeichnung, Modellierung und Beleuchtung liefert. Der Hauptgrundsatz für die U. ist, daß sie in allen Teilen heller gehalten werden muß als das auszuführende Gemälde oder doch so, daß der spätern Übermalung freie Hand gelassen wird. Während die U. in der neuern Malerei von den persönlichen Erfahrungen der einzelnen Maler abhängt und im wesentlichen Sache des Experiments ist, gab es in frühern Zeiten bestimmte Rezepte für einzelne Schulen. So untermalten die altdeutschen und niederländischen Meister gewöhnlich hellbraun, die Venezianer grau, die Bologneser und Römer braun und die Mailänder, besonders Leonardo da Vinci, fast schwarz. Die U. richtet sich im allgemeinen nach der Weise der Ausführung, d. h. sie ist sorgsam oder flüchtig, je nachdem der Maler sein Bild mehr oder weniger ausführen will.

Untermaßfeld, Dorf im Herzogtum Sachsen-Meiningen, Kreis Meiningen, an der Werra und der Linie Eisenach Lichtenfels der Werra Eisenbahn, hat eine evang. Kirche, ein altes Schloß mit Strafanstalt und (1885) 1058 Einw.

Untermast, s. Brechen.

Untermhaus, Dorf bei Gera (s. d.).

Uutermiete, s. Aftermiete.

Uuteruährer, Anton, s. Antonianer.

Unternehmergewinn ist der Überschuß, welchen der Unternehmer (s. Unternehmung) über sämtliche Kapital und Arbeitsaufwendungen mit Einschluß der in Anrechnung zu bringenden Verzinsung erzielt. Wären Befähigung und Trieb zu allen möglichen Unternehmungen bei allen Menschen gleich groß, wären bei vollständig freier Konkurrenz alle Kapitalien vollkommen frei und leicht übertragbar, könnten Umfang und Zahl der Unternehmungen beliebig ausgedehnt und eingeschränkt werden, so würde es einen U. nicht geben und, unter der Voraussetzung, daß Kapitalisten den Lohnarbeitern gegenüberstehen, den erstern das Kapital einen gleichen Gewinn (im weitern Sinn) oder Zinssatz abwerfen. Nun treffen aber jene Annahmen in Wirklichkeit nicht zu. Zunächst sind die Unternehmungen nicht beliebig ausdehnungsfähig, die Kapitalien nicht gleich beweglich und übertragbar und von verschiedener Qualität. Infolgedessen werden bei Änderung der Konjunkturen, Steigen oder Sinken der Preise und Kosten auch ohne Zuthun des Unternehmers im einen Fall Verluste unvermeidlich sein, im andern Überschüsse erzielt werden. Zu den genannten Ursachen von Gewinn und Einbuße kommen nun noch die Wirkungen der Eigenschaften und Fähigkeiten der verschiedenen Unternehmer sowie Gunst und Ungunst ihrer individuellen Stellung. Werden an den ganzen Stand der Unternehmer höhere Anforderungen gestellt, so wird dies im allgemeinen zur Folge haben, daß dem Unternehmer eine höhere Vergeltung für seine Thätigkeit zufließt als dem Lohnarbeiter (durchschnittlicher "Gewerbsverdienst").

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Unternehmung - Unteroffizierschulen.

Durch besondere Tüchtigkeit kann der einzelne seine Einnahmen unter Umständen weit über diesen Satz hinaus vermehren. Weiter können dieselben gesteigert werden durch die Gunst äußerer Verhältnisse, möge dieselbe auf formeller rechtlicher Ausschließung (Monopol, Patent) beruhen oder dem freien Verkehr entwachsen (großer Besitz, Ansehen bei dem Publikum, Gewohnheiten des letztern, günstige Gestaltung der Marktverhältnisse, Möglichkeit, leicht Kenntnis von bessern Betriebsweisen zu erlangen, etc.).

Die Wirksamkeit des Unternehmers wird oft über-, sehr häufig aber auch unterschätzt. Zu hoch wird dieselbe von denjenigen beurteilt, welche von der Ansicht ausgehen, der U. sei lediglich eine Folge vorzüglicher Thätigkeit, nicht auch von günstigen äußern Verhältnissen, und die daher mit Vorliebe von einem Unternehmerlohn sprechen. Viel zu gering wird die Unternehmerthätigkeit von denjenigen geachtet, welche jeden Gewinn als mühelosen Raub an der Arbeit ansehen und glauben, es könne die Thätigkeit des selbständigen Unternehmers durch diejenige eines besoldeten Beamten ersetzt werden. Jedenfalls ist die Aussicht, durch tüchtige, den Anforderungen der Gesellschaft entsprechende Unternehmungen einen mehr oder minder großen Gewinn zu erzielen, ein durch andere Mittel nicht zu ersetzender Reiz zu besserer, billigerer Versorgung der Gesamtheit und zu wirtschaftlichem Fortschritt. Das Streben nach Überschüssen treibt zu Ersparungen, zur Einführung besserer Produktionsmethoden, Verwendung wirksamerer Kapitalien und vorteilhafterer Verwertung der erzeugten Produkte dadurch, daß jeweilig den relativ dringendern Bedürfnissen entgegengekommen wird. Natürlich sind hierbei Ausbeutung der Unklugheit, des Ungeschicks und der Schwachheit wie Gewinne. welche nicht gerade der bessern Thätigkeit zu verdanken sind, nicht ausgeschlossen. Doch lassen sich die Anteile, welche der Gunst der Konjunkturen, und solche, welche der Thatkraft und tüchtigen Leitung zu verdanken sind, nicht oder nur innerhalb bescheidener Grenzen voneinander trennen, wenn die segensreiche Wirksamkeit der Unternehmertätigkeit nicht untergraben oder Ungerechtigkeiten vermieden werden sollen. Mißstände, wie sie bei freier Konkurrenz und bei von der Volksmeinung als illegitim betrachtetem Erwerb eintreten können, lassen sich teils beseitigen, teils mindern durch Arbeiterschutz, gut organisiertes Kassen- und Versicherungswesen, Konzessionierung, Patent, Musterschutz, durch Überweisung wirtschaftlicher Gebiete, auf welchen die Spekulation leicht schädlich wirkt oder nur durch tatsächliche Monopole großer Kapitalien Gewinne zu erzielen sind, an Staat und Kommunalverbände u. dgl. Vgl. außer den Lehrbüchern der Nationalökonomie: Mangoldt, Der U. (Freiburg 1855); Böhmert, Die Gewinnbeteiligung (Leipz. 1.877); Pierstorff, Die Lehre vom U. (Berl. 1875); Groß, Die Lehre vom U. (Leipz. 1884).

Unternehmung ist im weitern Sinn jede mit einem gewissen Risiko verbundene Handlung. In der Nationalökonomie bezeichnet man als U. spekulative Verkehrsgeschäfte, darauf berechnet, ihrem selbständigen Inhaber durch Herstellung von Produkten und Leistungen und Verkauf derselben an Dritte einen Gewinn abzuwerfen. Als charakteristische Merkmale der Begriffe U. und Unternehmer gelten, daß letzterer allein die Unsicherheit des Erfolgs trägt, nach freier Wahl Art, Umfang und Gang der U. bestimmt, und daß seine Thätigkeit nicht durch einen besoldeten Dritten als Stellvertreter versehen werden kann. et einer U. können Arbeiter, Kapitalist und Unternehmer in einer Person vereinigt sein (viele Kleingewerbe und reine Genossenschaften ohne Leihkapital und Lohnarbeiter), oder sie sind voneinander getrennt sowohl bei Einzel- (Meister mit Gesellen, Fabrikant) als auch bei Kollektivbetrieb. Mischungen zwischen diesen beiden Formen sind die industrielle Partnerschaft und die Genossenschaft, welche sich auch fremder Arbeiter und Kapitalien bedient. Jede der verschiedenen Unternehmungsformen hat ihre besondern Eigentümlichkeiten hinsichtlich der Gründung, der Sicherung fremder Interessenten, der Leichtigkeit und Beweglichkeit des Betriebs, der Fähigkeit weiterer Ausdehnung etc. Je nach der Art der gewerblichen Thätigkeit, der wirtschaftlichen Entwickelung, den Anforderungen, welche an den Betrieb und seine Leistungen gestellt werden, ist bald die eine, bald die andre mehr am Platz. Bei der Einzelunternehmung trägt der Unternehmer das Risiko ausschließlich und ungeteilt und muß darum auch volle Freiheit der Disposition haben. Weil sein Interesse eng mit der U. verwachsen ist, wird er der letztern je nach Bedarf Erübrigungen aus dem Haushalt zuführen, eine gewisse Garantie für Sorgfalt des Betriebs bieten etc. Dagegen ist die Einzelkraft vielen Unternehmungen nicht gewachsen. Vorzüglich ist die Einzelunternehmung am Platz, wo freie Verfügung, Anschmiegung an die jeweilig veränderlichen Verhältnisse notwendig und insbesondere hohe Ansprüche an die persönliche Arbeitsfähigkeit gestellt werden. Durch Kollektivunternehmungen werden Kapital und Arbeitskräfte für einen Zweck vereinigt, und zwar gestattet die Gesetzgebung Verbindungen von verschiedener Innigkeit, Haftpflicht und Beteiligung von Mitgliedern an Gewinn und Leitung des Geschäfts. Zu erwähnen sind: die offene, die stille Gesellschaft, die Kommanditgesellschaft, Kommanditgesellschaft auf Aktien, Aktiengesellschaft und die verschiedenen Genossenschaften (s. d.). Auch Staat und Kommunalverbände können hierher gerechnet werden.

Unteroffiziere, militärische Befehlshaber vom Feldwebel abwärts, welche aus den Reihen der Soldaten hervorgehen. In Deutschland unterscheidet man die U. mit Portepee: Oberfeuerwerker, Feldwebel, Wachtmeister, Vizefeldwebel, Vizewachtmeister, Wallmeister, Zeugfeldwebel, Depotvizefeldwebel, Roßärzte, Unterroßärzte, Fähnriche, in der Marine die Stabswachtmeister und Feldwebel; U. ohne Portepee: Feuerwerker, Sergeanten, Oberlazarettgehilfen, U. Oberjäger, Lazarettgehilfen; in der Marine die Maat (s. d.). Im innern Dienste der Truppe sind sie di. nächsten Aufseher der Soldaten und versehen wirtschaftliche Dienste, wie der Kammerunteroffizier die Aufsicht über die Bekleidungsgegenstände, der Schießunteroffizier die über Waffen und Munition, der Furier die über die Wohnungen, Möbel und Wäsche i den Kasernenstuben führt. Im äußern (taktischen Dienst sind sie Führer der kleinsten Unterabteilungen, in welche die Truppe zerlegt werden kann.

Unteroffizierschulen haben den Zweck, junge Leute zu Unteroffizieren der Infanterie des steh enden Heers heranzubilden. Die Anmeldung geschieht persönlich bei dem Landwehrbezirkskommando der Heimat, wozu Taufschein, Führungsattest der Ortsbehörde und Einwilligungsschein des Vaters mitzubringen sind. Der sich Meldende muß zwischen 17 und 20 Jahre alt, 1,57 m groß und frei von körperlichen Gebrechen sein, sich gut geführt haben, lesen, schreiben und die vier Species rechnen können. Es bestehen gegenwärtig U. zu Potsdam, Jülich, Biebrich, Weißenfels, Marienwerder (Preußen), Ettlingen (Baden), Marienberg mit Unter-

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Unterpacht - Unterschrift.

offiziervorschule (Sachsen), Neubreisach (Elsaß). In Bayern vertreten die Unteroffizieraspirantenschulen bei den Truppen die Stelle der U. Nach dreijähriger Dienstzeit in den U. werden die Zöglinge, die vorzüglichsten als Unteroffiziere, die andern als Gefreite oder Gemeine, in die Armee entlassen und müssen hier für jedes Jahr auf der Unteroffizierschule zwei Jahre dienen. Die Zöglinge der U. sind Soldaten. Die 1. Okt. 1877 zu Weilburg errichtete Anstalt ist eine Unteroffiziervorschule, welche ihre Zöglinge (die nicht Soldaten sind) nach zweijährigem Kursus an eine Unteroffizierschule überweist. Die Aufzunehmenden dürfen nicht unter 15 und nicht über 16 Jahre alt sein.

Unterpacht, s. Afterpacht.

Unterricht, im allgemeinsten Sinn der Inbegriff der Thätigkeiten, welche auf Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten abzielen, in welchem Sinn der Begriff U. auch den Selbstunterricht, d. h. diejenige Geistesbildung umfaßt, welche ohne unmittelbare Mitwirkung eines andern (durch Lesen etc.) sich vollzieht; im gewöhnlichen Sinn die Thätigkeit des Lehrers, welche die Entwickelung der geistigen Anlagen oder Kräfte des Schülers und dessen planmäßige Anleitung zu Kenntnissen und Fertigkeiten bezweckt. Man unterscheidet zwischen formellem und materiellem U., wovon der erstere vorzüglich die Entwickelung, Übung und Vervollkommnung der geistigen Anlagen, der letztere mehr die Aneignung bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten zum Zweck hat; ferner zwischen idealem und realem, wovon jener auf Herausbildung von Ideen oder auf Vernunftbildung im engern und höhern Sinn, dieser aber auf Bildung für die praktischen Zwecke des Lebens sich richtet. Der Inbegriff der theoretischen Regeln und Grundsätze für den U. ist die Unterrichtslehre oder Didaktik (s.d.). Das ganze öffentliche Unterrichtswesen, auch Schulwesen, von dem sich der Privatunterricht abscheidet, bildet im modernen Staat ein besonderes Verwaltungsdepartement, mit einem Ministerium des öffentlichen Unterrichts an der Spitze und mit Provinzialschulkollegien, Schulinspektionen etc. als Mittelbehörden. Vielfach ist jedoch, namentlich in Deutschland, der geschichtlichen Entwickelung gemäß das Schulwesen mit dem Kirchenwesen, soweit dieses der Staatshoheit unterliegt, unter einem Ministerium (Kultusministerium) zusammengefaßt. Vgl. Schulwesen.

Unterrichtsbriefe, s. Sprachunterricht, S. 185.

Untersalpetersäure, s. Stickstoffperoxyd.

Untersberg, Gebirgsstock der Salzburger Alpen, südwestlich von Salzburg, mit drei Gipfeln: Geiereck (1801m), Salzburger Hohethron (1851 m), Berchtesgadner Hohethron (1975 m), und zahlreichen Klüften und Höhlen, worunter eine prächtige Marmorgrotte und die 1845 entdeckte Kolowratshöhle mit grotesken Eisformationen. Der Berg ist durch das 1883 erbaute, bewirtschaftete Untersberghaus leichter zugänglich gemacht worden; er liefert vorzüglichen Marnior, der hier auch geschliffen wird. Er ist nach der Sage Sitz Karls d. Gr. (s. Kaisersagen).

Unterscheidungszoll, s. Zuschlagszölle.

Unterschiebung, s. Kindesunterschiebung.

Unterschlächtig nennt man Wasserräder, bei denen das Wasser aus einem Gerinne in die zuunterst stehenden Schaufeln einfließt (s. Wasserrad); dann auch Feuerungen für Siedepfannen, bei denen die Flamme unterhalb des Pfannenbodens hinzieht.

Unterschlagen, s. Segel.

Unterschlagung (Unterschleif, Interversio), die wissentliche rechtswidrige Zueignung einer fremden, beweglichen Sache, welche sich im Besitz oder im Gewahrsam des Thäters befindet. Der Thatbestand der U. fällt insofern mit dem des Diebstahls zusammen, als hier wie dort eine Sache den Gegenstand des Verbrechens bildet, welche eine bewegliche und eine fremde, d. h. einem andern gehörige, ist. Ebenso ist der subjektive Thatbestand bei beiden Verbrechen derselbe, indem für beide Vorsätzlichkeit der Handlung, ferner das Bewußtsein, daß die Sache eine fremde, und endlich die Absicht, sich die Sache zuzueignen, erforderlich sind. Verschieden sind die beiden Delikte aber insofern, als es sich bei dem Diebstahl um die Wegnahme einer Sache aus dem Gewahrsam eines andern, bei der U. dagegen um die Zueignung einer solchen Sache handelt, welche sich bereits im Gewahrsam des Thäters befindet. So fällt z. B. der sogen. Funddiebstahl, d. h. die widerrechtliche Zueignung einer gefundenen Sache, nicht unter den Begriff des Diebstahls, sondern unter den der U., weshalb auch dafür die Bezeichnung "Fundunterschlagung" richtiger wäre. Als schwerer Fall der U. erscheint es nach dem deutschen Strafgesetzbuch, wenn dem Thäter die unterschlagene Sache anvertraut war (sogen. Veruntreuung). Das Reichsstrafgesetzbuch läßt hier Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren eintreten, während es die einfache U. nur mit Gefängnis bis zu drei Jahren bedroht. Beim Vorhandensein mildernder Umstände kann auf Geldstrafe bis zu 900 Mk. erkannt werden. Wie beim Diebstahl, wird auch beider U. der Versuch bestraft. Ebenso haben beide Verbrechen es miteinander gemein, daß die That nur auf Antrag des Verletzten strafrechtlich verfolgt wird, wenn der Betrag des Verbrechensgegenstandes nur ein geringer ist und der Verletzte mit dem Thäter in Familiengenossenschaft oder häuslicher Gemeinschaft lebte. Diebstahl und U., welche von Verwandten aufsteigender Linie gegen Verwandte absteigender Linie oder von einem Ehegatten gegen den andern begangen worden, bleiben straflos. Wird eine U. von einem Beamten an Geldern oder andern Sachen verübt, welche er in amtlicher Eigenschaft empfangen oder im Gewahrsam hat, so wird die That als besonderes Amtsverbrechen (s. d.) bestraft. Das österreichische Strafgesetzbuch (§ 181 ff., 461 ff.) kennt als selbständiges Delikt nur die rechtswidrige Zueignung anvertrauten Gutes (Veruntreuung). Vgl. Deutsches Reichsstrafgesetzbuch, § 246 ff., 350 f.; v. Stemann, Das Vergehen der U. und der Untreue (Kiel 1870).

Unterschnitten heißt ein horizontales Bauglied, dessen untere Seite ausgehöhlt ist.

Unterschrift, der unter eine Urkunde (s. d.) gesetzte Name des Ausstellers derselben. Bei Personen, welche nicht schreiben können, vertritt ein Handzeichen, gewöhnlich drei Kreuze, die Stelle der U. (s. Analphabeten). Wechselerklärungen, welche mittels Handzeichens vollzogen sind, haben nur dann Wechselkraft, wenn das Handzeichen gerichtlich oder notariell beglaubigt ist. Der Name, unter welchem ein Kaufmann seine U. abgibt, heißt Firma (s. d.); daher "Firma" oder "U. geben" s. v. w. Prokura (s. d.) erteilen. Nach der deutschen Zivilprozeßordnung (§ 381) begründet eine von dem Aussteller unterschriebene oder mittels gerichtlich oder notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnete Urkunde vollen Beweis dafür, daß die in derselben enthaltenen Erklärungen von dem Aussteller abgegeben sind. Was das Beweisverfahren anbetrifft, so ist nach der Zivilprozeßordnung (§ 404 f.) bei unterschriebenen Privaturkunden die Erklärung des Beweisgegners auf die Echtheit der U. zu richten. Ist die U. anerkannt, oder

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Unterschweflige Säure - Unterseeische Fahrzeuge.

ist das ihre Stelle vertretende Handzeichen gerichtlich oder notariell beglaubigt, so hat die über der U. oder dem Handzeichen stehende Schrift die Vermutung der Echtheit für sich. Soll also trotz der echten U. die Unechtheit oder eine Veränderung der Urkunde behauptet werden, so muß der Beweisgegner, welcher diese Behauptung aufstellt, den Beweis derselben übernehmen und erbringen, wenn anders die Urkunde ihre Beweiskraft verlieren soll.

Unterschweflige Säure (hydroschweflige Säure) H2SO2 entsteht, wenn man Eisen oder Zink in einem verschlossenen Gefäß in wässeriger schwefliger Säure löst. Der dabei frei werdende Wasserstoff reduziert im Entstehungsmoment die schweflige Säure. Die tiefgelbe Lösung wirkt sehr kräftig reduzierend und fällt aus Silber- und Quecksilbersalzen die Metalle. Das Natronsalz entsteht, wenn man eine konzentrierte Lösung von saurem schwefligsaurem Natron in einer verschlossenen Flasche mit Zink versetzt und gut abkühlt; es kristallisiert in Nadeln, absorbiert begierig Sauerstoff, wirkt reduzierend, wie die Säure, und dient daher in der Färberei und Zeugdruckerei zur Reduktion des Indigos. Bis zur Entdeckung dieser Säure durch Schützenberger nannte man u. S. (dithionige Säure, Thioschwefelsäure) eine Säure H2S2O3, welche im freien Zustand nicht bekannt ist, aber eine Reihe beständiger Salze (Thiosulfate, Hyposulfite) bildet, deren Lösung auf Zusatz von Säuren Schwefel abscheidet und dann schweflige Säure enthält. Diese Salze entstehen auf verschiedene Weise. So bildet sich unterschwefligsaures Natron, wenn man schweflige Säure in eine Lösung von Schwefelnatrium leitet oder schwefligsaures Natron mit Schwefel kocht; die meisten Thiosulfate kristallisieren gut, enthalten Kristallwasser und werden gewöhnlich erst bei der Zersetzungstemperatur wasserfrei. Sie bilden auch gern Doppelsalze, und daher lösen sich die unlöslichen Thiosulfate in einer Lösung des Natriumsalzes, welches auch Chlor-, Brom-, Jodsilber, Jodblei, schwefelsaures Blei und Gips löst. Man gewinnt das unterschwefligsaure Natron (Natriumthiosulfat) Na2S2O3 in der oben angegebenen Weise, häufiger aus Sodarückständen, indem man dieselben an der Luft sich oxydieren läßt, auslaugt und die Lösung, welche neben unterschwefligsaurem Kalk viel Schwefelcalcium enthält, in einem Koksturm einem erwärmten Luftstrom entgegenlaufen läßt, um das Schwefelcalcium zu unterschwefligsaurem Kalk zu oxydieren. Diese Oxydation kann auch durch Einblasen von Luft oder schwefliger Säure erreicht werden. Man konzentriert dann die Lösung durch Verdampfen und versetzt sie mit schwefelsaurem Natron, wodurch schwefelsaurer Kalk gefällt wird, während unterschwefligsaures Natron in Lösung bleibt, welches durch Kristallisation gewonnen und durch Umkristallisieren gereinigt wird. Es bildet große, farblose, luftbeständige Kristalle mit 5 Molekülen Kristallwasser vom spez. Gew. 1,73, schmeckt kühlend, bitter schweflig, löst sich leicht in Wasser, nicht in Alkohol, verwittert bei 33°, schmilzt bei 45-50°, wird bei 215° wasserfrei und zersetzt sich bei 220°. Die Lösung ist wenig beständig und zersetzt sich namentlich beim Kochen. Man benutzt das Salz als Antichlor in der Papierfabrikation und Zeugbleicherei, zum Bleichen von Wolle, Stroh, Elfenbein, Knochen, Haar etc. (da es beim Versetzen der Lösung mit Salzsäure reichlich schweflige Säure entwickelt), als bequemes Mittel zur Darstellung von schwefliger Säure im allgemeinen, als Beize in der Zeugdruckerei, als gärungswidriges Mittel in der Zuckerfabrikation, zum Fixieren der Photographien, zur Darstellung von Zinnober, Antimonzinnober und verschiedenen kunstlichen Farbstoffen, zur Bereitung von Indigküpen, zum Extrahieren von Silbererzen, zur Bereitung von Vergoldungs- und Versilberungsflüssigkeiten etc. Es wurde 1799 von Chaussier zuerst dargestellt und von Vauquelin genauer untersucht. Unterschwefligsaures Bleioxyd PbS2O3 wird aus der Lösung eines Bleisalzes durch unterschwefligsaures Natron gefällt, ist farblos, wenig löslich, zersetzt sich in höherer Temperatur bei Abschluß der Luft in Schwefelblei und schweflige Säure, verglimmt an der Luft und dient zum Vulkanisieren von Kautschuk und Guttapercha. Unterschwefligsaures Goldoxydnatron wird erhalten, indem man Goldchloridlösung mit Kalkmilch digeriert und den ausgewaschenen Niederschlag in unterschwefligsaurem Natron löst. Es wird unter dem Namen Sel d'or in der Photographie benutzt. Unterschwefligsaurer Kalk CaS2O3 entsteht in großer Menge bei der Verwertung der Sodarückstände, wird aber meist auf unterschwefligsaures Natron verarbeitet. Es bildet farblose, beständige Kristalle, löst sich leicht in Wasser, nicht in Alkohol und wird wie das Natronsalz benutzt.

Untersee, s. Bodensee.

Unterseeische Fahrzeuge (Taucherschiffe), Fahrzeuge, welche sich in vertikaler und in horizontaler Richtung unter Wasser bewegen lassen und ihrer Besatzung das Atmen in dem von jeder Kommunikation mit der Atmosphäre abgeschnittenen Raum gestatten. Als das zur Zeit vollkommenste unterseeische Eahrzeug gilt das nach seinem Erfinder benannte, in England erbaute und von der türkischen Regierung käuflich erworbene Nordenfeltboot, welches als Torpedoboot eingerichtet und auch über Wasser als solches verwendbar ist. Das Boot enthält über 150cbm Luft und ermöglicht dadurch 6-7 Personen während 5-6 Stunden den Aufenthalt unter Wasser. Nach dieser Zeit muß das Boot an die Oberfläche des Wassers kommen, um durch Öffnen seiner wasserdichten Luken frische Luft zu schöpfen. Das Senken und Heben des Fahrzeugs geschieht, nachdem durch gleichzeitiges Einlassen oder Auspumpen von Wasser aus besondern Abteilungen desselben sein Gewicht entsprechend vergrößert, resp. vermindert worden, durch Rotation zweier Schraubenpropeller, welche an den Enden des Boots mit vertikal stehenden Achsen und von innen bewegbar angebracht sind. Eine gleimäßige Rotation dieser Propeller in der einen oder andern Richtung bewirkt ein gleichmäßiges Senken, resp. Heben des Boots, während eine schnellere Rotation des einen von beiden eine schnellere vertikale Bewegung des betreffenden Endes des Boots zur folge hat. Hierdurch hat man es in der Gewalt, den Kiel des Boots stets, besonders auch dann in horizontaler Lage zu erhalten, wenn es seine unterseeische Fahrt in horizontaler Ebene beginnen soll. Zur Ausführung einer Expedition unter Wasser ist zunächst erforderlich, den Dampfdruck im Kessel auf sein Maximum zu steigern. Dadurch wird eine Aufspeicherung von Wärme im Kesselwasser bedingt, welche ausreicht, der Hauptmaschine während 5-6 Stunden den zur Erzielung einer Geschwindigkeit von 6-7 Knoten erforderlichen Dampf zu liefern. Alsdann werden die Kesselfeuerungen ausgelöscht, der Schornstein abgenommen, die Luken wasserdicht geschlossen, ein gewisses Quantum Wasser in die dazu bestimmten Räume eingelassen und die beiden oben erwähnten Schrauben an den Enden des Schiffs, auf Senken wirkend, in Rotation gesetzt, bis das Schiff sich in der gewünschten

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Unterstaatssekretär - Unterstützungswohnsitz.

Tiefe befindet, und nun die Hauptmaschine auf Vorwärtsgang angelassen. Soll das Boot wieder an die Oberfläche kommen, so genügt es, nach Arretierung der Hauptmaschine jene beiden Schrauben auf Heben in Gang zu setzen, während gleichzeitig das vorher eingelassene Wasser wieder ausgepumpt wird, welche Operationen übrigens sämtlich durch kleine Dampfmaschinen bewirkt werden, die ihren Dampf ebenfalls dem Hauptkessel entnehmen, und unter denen sich auch eine solche für den Betrieb der elektrischen Beleuchtung befindet. Zur Kontrolle der Bewegung sind zwei Ruder vorhanden, von denen das eine mit vertikalem Ruderblatt wie ein gewöhnliches Schiffsruder wirkt und Abweichungen nach rechts und links reguliert, während das andre mit horizontalem Ruderblatt die Bewegung in horizontaler Bahn sicherstellt. Der Führer des unterseeischen Fahrzeugs befindet sich auf erhöhtem Stand mit dem Kopf in einer am höchsten Punkte des Boots aus diesem hervorragenden, wasserdicht aufgesetzten Glasglocke, so da ihm, solange die Bewegung noch dicht unter der Oberfläche oder mit jener Glocke noch über Wasser vor sich geht, eine gewisse Orientierung gestattet ist. Im übrigen ist derselbe bezüglich der einzuschlagenden Richtung nur auf seinen Kompaß angewiesen. Er handhabt das vertikale und horizontale Ruder und gegebenen Falls die Abzugsvorrichtung zum Lancieren des Torpedos. Je tiefer ein unterseeisches Fahrzeug unter Wasser gelassen werden soll, um so sicherer muß dasselbe gegen die Möglichkeit geschützt sein, durch den Wasserdruck zusammengepreßt zu werden. Um dies zu erreichen, werden die Nordenfeltboote aus Stahl mit besonders soliden innern Verbandteilen aus demselben Material erbaut. Das bereits 1850 von Bauer erbaute und im Kieler Hafen probierte Boot verdankte seinen Mißerfolg vorzugsweise dem Umstand, daß es, dem Wasserdruck nachgebend, seitlich eingedrückt wurde und nicht mehr vermochte, an die Oberfläche zu kommen, während die drei Insassen mit der durch die Einsteigeluke entweichenden Luft wieder ans Tageslicht gelangten. In neuester Zeit hat man in Frankreich den naheliegenden Ge danken zur Ausführung gebracht, die Elektrizität als Betriebskraft für unterseeische Fahrzeuge zu benutzen. Die mit dem Fahrzeug Gymnote erzielten Resultate sollen sehr günstige gewesen sein, so daß es in Frankreich als Konkurrenztyp gegen die Nordenfeltboote angesehen wird.

Unterstaatssekretär, s. Staatssekretär.

Unterstützuugswohnsitz, derjenige Gemeindeverband, welcher im einzelnen Fall zur öffentlichen Unterstützung einer hilfsbedürftigen Person verpflichtet ist; auch das Recht einer solchen Person, von einem Gemeindeverband (Armenverband) Unterstützung verlangen zu können. Im Gegensatz zu dem in Deutschland früher herrschenden Heimatssystem, wonach ein Unterstützungsanspruch mit der Gemeindeangehörigkeit (s. Heimat) verknüpft war, brachte die preußische Gesetzgebung diesen Anspruch mit der thatsächlichen Wohnsitznahme in Verbindung und schuf so einen mit dem Heimatsrecht oder der Gemeindeangehörigkeit nicht zusammenfallenden U. Während ferner das Heimatssystem zu einer Beschränkung der Aufnahme Neuanziehender führte, nahm Preußen das System der Freizügigkeit (s. d.) an, welch letzteres dann in die Verfassung und Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und sodann des Deutschen Reichs übergegangen ist. Auch das Recht des Unterstützungswohnsitzes wurde durch Gesetz vom 6. Juni 1870 für den Norddeutschen Bund eingeführt Dies Gesetz ist dann auf Baden, Südhessen und Württemberg, aber nicht auf Bayern und Elsaß Lothringen ausgedehnt worden. Nach dem Gesetz vom 6. Juni 187o wird die öffentliche Unterstützung durch die Ortsarmenverbände und die Landarmenverbände gewährt, und zwar können die Ortsarmenverbände aus einer oder mehreren Gemeinden oder Gutsbezirken zusammengesetzt sein, während die Landarmenverbände entweder mit dem Staatsgebiet des betreffenden Bundesstaats (Kleinstaats), welcher die Funktionen des Landarmenverbandes selbst übernimmt, zusammenfallen, oder besonders konstituiert und dann in der Regel aus mehreren Ortsarmenverbänden zusammengesetzt sind. In Preußen bildet der Provinzialverband in der Regel auch den Landarmenverband. Die innere Organisation der Orts und Landarmenverbände, die Art und das Maß der im Fall der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung und die Beschaffung der erforderlichen Mittel werden durch die Landesgesetzgebung geregelt, welche auch darüber Bestimmungen zu treffen hat, in welchen Fällen und in welcher Weise den Ortsarmenverbänden von den Landarmenverbänden oder von andern Stellen eine Beihilfe zu gewähren ist, sowie darüber, ob und inwiefern sich die Landarmen verbände der Ortsarmenverbände als ihrer Organe behufs der öffentlichen Unterstützung Hilfsbedürftiger bedienen dürfen. Die Ausführungsgesetze der Einzelstaaten sind vielfach dem preußischen Ausführunggesetz vom 8. März 1871 nachgebildet (vgl. sächsische Gesetze vom 6. Juni 1871 und 15. Juni 1876, württembergisches Gesetz vom 17. April 1873, badisches vom 14. März 1872, hessisches vom 14. Juli1871 etc.). Was die Unterstützung selbst anbelangt, so wird nach dem preußischen Aussührungsgesetz dem Hilfsbedürftigen Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Fall des Ablebens ein angemessenes Begräbnis gewährt. Das Unterstützungswohnsitzgesetz unterscheidet ferner 1) zwischen der sich vorläufig und momentan nötig machenden und 2) zwischen der dauernden und endgültigen Unterstützung. Zu ersterer ist derjenige Ortsverband verpflichtet, in dessen Bezirk sich der hilfsbedürftige Deutsche bei dem Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befindet, vorbehaltlich des Anspruchs auf Erstattung der Kosten und der Übernahme des Hilfsbedürftigen gegen den hierzu verpflichteten Armenverband. Hierzu ist, wenn der Hilfsbedürftige einen U. hat, der Ortsarmenverband dieses Unterstützungswohnsitzes, außerdem aber, wenn kein U. begründet ist, derjenige Landarmenverband verpflichtet, in dessen Bezirk sich jener bei Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befand, oder, falls er in hilfsbedürftigem Zustand aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr- oder Heilanstalt entlassen wurde, derjenige Landarmenverband, aus welchem seine Einlieferung in die Anstalt erfolgte. Der U. wird begründet 1) durch Aufenthalt, 2) durch Verehelichung, 3) durch Abstammung. Durch Aufenthalt erwirbt derjenige, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem 24. Lebensjahr zwei Jahre lang ununterbrochen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, in demselben den U. Ferner teilt die Ehefrau vom Zeitpunkt der Eheschließung ab den U. des Mannes; endlich teilen die ehelichen Kinder den U. des Vaters, uneheliche den ihrer Mutter. Verloren wird der U. durch den Erwerb eines anderweiten Unterstützungswohnsitzes und durch zweijährige ununterbrochene Abwesenheit nach zurückgelegtem 24. Lebensjahr. Wer sich seitdem in den letzten Jahren an keinem Ort zwei Jahre

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Untersuchungshaft - Unterthan.

lang ununterbrochen aufgehalten hat, fällt im Fall der Unterstützungsbedürftigkeit als landarm dem Landarmenverband seines Aufenthaltsorts zur Last. Die zweijährige Erwerbs und Verlustfrist führt freilich nicht selten Ortsarmenverbände dazu, durch "Abschiebung" von Hilfsbedürftigen vor Ablauf der zwei Jahre den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes zu verhüten. Der Hilfsbedürftige, welcher innerhalb eines Ortsarmenverbandes den U. hat, wird als ortsarm bezeichnet. Entstehen über die Verpflichtung zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personen zwischen verschiedenen Ärmenverbänden Streitigkeiten, so kommt es, was das Verfahren anbetrifft, darauf an, ob die streitenden Teile einem und demselben Bundesstaat oder verschiedenen Staaten angehören. Im erstern Fall sind die Landesgesetze des betreffenden Staats maßgebend, während für Differenzen zwischen den Armenverbänden verschiedener Staaten in dem Gesetz vom 6. Juni 1870 besondere Vorschriften gegeben sind. Auch in diesem Fall wird nämlich zunächst von den nach Maßgabe der Landesgesetzgebung kompetenten Behörden, in Preußen von den Verwaltungsgerichten, in andern Staaten von den hierzu besonders eingesetzten Deputationen oder von den sonst zuständigen Verwaltungsbehörden, verhandelt und entschieden. Diese Behörden können Untersuchungen an Ort und Stelle veranlassen, Zeugen und Sachverständige laden und eidlich vernehmen und überhaupt den angetretenen Beweis in vollem Umfang erheben. Gegen die durch schriftlichen, mit Gründen zu versehenden Beschluß zu gebende Entscheidung findet Berufung an das Bundesamt für das Heimatswesen statt. Letzteres ist eine ständige und kollegiale Behörde mit dem Sitz in Berlin, bestehend aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Mitgliedern, welche auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt werden. Zu der Beschlußfassung sind mindestens drei Mitglieder zuzuziehen. Die Berufung ist binnen einer Präklusivfrist von 14 Tagen, von der Behändigung der angefochtenen Entscheidung an gerechnet, bei derjenigen Behörde, gegen deren Entscheidung sie gerichtet ist, schriftlich anzumelden. Der Gegenpartei steht das Recht zu einer binnen vier Wochen nach der Behändigung einzureichenden schriftlichen Gegenausführung zu. Die Entscheidung des Bundesamtes erfolgt gebührenfrei in öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung der Parteien; gegen die Entscheidung ist ein weiteres Rechtsmittel nicht zulässig. Das Bundesamt ist aber von verschiedenen Staaten und namentlich von Preußen auch für die im eignen Gebiet vorkommenden Streitsachen als letzte Instanz anerkannt. In Bayern gilt noch das partikulare Heimatsrecht (s. Heimat, S. 302). In Süddeutschland ist vielfach der Wunsch nach Rückkehr zu dem frühern Heimatssystem laut geworden. Vgl. Eger, Das Reichsgesetz über den U. vom 6. Juni 1870 (2. Aufl., Bresl. 1884); Arnold, Die Freizügigkeit und der U. (Berl. 1872); Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (das. 1873); Wohlers, Das Reichsgesetz über den U. (4. Aufl., das. 1887). Die Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatswesen werden gesammelt und herausgegeben von Wohlers (Berl. 1873 ff.).

Untersuchuugshaft (Untersuchungsarrest), Verhaftung des einer verbrecherischen That Verdächtigen, um die Erreichung der Zwecke der strafrechtlichen Untersuchung zu sichern. Im Gegensatz zur Strafhaft ist der Zweck der U. ein vorbereitender, die Vollstreckung des künftigen Strafurteils sichernder. Die U. ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen. Die moderne Strafprozeßgesetzgebung ist daher darauf bedacht, die Voraussetzungen der U. genau festzusetzen, um ein willkürliches Verhängen der U. möglichst zu vermeiden (s. Haft). Jedenfalls müssen gegen den Angeschuldigten dringende Verdachtsgründe vorliegen. Die U. darf nicht den Charakter einer Strafe haben. Deshalb ist die Behandlung des Untersuchungsgefangenen von derjenigen des Strafgefangenen wesentlich verschieden. Nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 116) muß der in U. Genommene, soweit möglich, einzeln und namentlich nicht mit Strafgefangenen zusammen verwahr werden. Mit Zustimmung des Verhafteten kann jedoch von dieser Vorschrift abgesehen werden. Demselben sollen ferner nur solche Beschränkungen auferlegt werden, welche zur Sicherung des Zweckes der Hast oder zur Aufrechthaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig sind. Bequemlichkeiten und Beschäftigungen, die dem Stand und den Vermögensverhältnissen des Verhafteten entsprechen, darf sich derselbe auf seine Kosten verschaffen, soweit sie mit dem Zweck der Haft vereinbar sind und weder die Ordnung im Gefängnis stören noch die Sicherheit gefährden. Fesseln dürfen dem Verhafteten im Gefängnis nur dann angelegt werden, wenn es wegen besonderer Gefährlichkeit seiner Person, namentlich zur Sicherung andrer, erforderlich erscheint, oder wenn er einen Selbstentleibungs- oder Entweichungsversuch gemacht oder vorbereitet hat. Bei der Hauptverhandlung soll er ungefesselt sein. Gleichwohl erleidet der nachmals verurteilte Angeschuldigte durch die vorgängige U. tatsächlich ein Mehr an Strafe, und ebendeshalb entspricht es der Billigkeit, die erlittene U. auf die erkannte Strafe in Anrechnung zu bringen. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 60) bestimmt, daß eine erlittene U. bei Fällung des Urteils auf die erkannte Strafe ganz oder teilweise angerechnet werden kann. Sie muß nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 482) auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe insoweit angerechnet werden, als sie für den verurteilten Angeschuldigten noch fortbestand, nachdem er auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen hat, oder seitdem die Einlegungsfrist abgelaufen ist, ohne daß er eine Erklärung abgegeben. Nach der österreichischen Strafprozeßordnung (§ 400) ist die U. anzurechnen, welche der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte seit der Verkündigung des Urteils erster Instanz erlitten hat, insofern der Antritt der Strafe durch von dem Willen des Verurteilten unabhängige Umstände verzögert wurde. Außerdem findet die Einrechnung auch dann statt, wenn ein zugunsten des Verurteilten ergriffenes Rechtsmittel auch nur einen teilweisen Erfolg hatte. Für den durch eine U. betroffenen, nachträglich aberfreigesprochen en Angeschuldigten wird neuerdings vielfach die Gewährung einer Entschädigung als ein Gebot der Billigkeit bezeichnet(s. Unschuldig Angeklagte und unschuldig Verurteilte). Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 112 ff.; Österreichische, § 184 ff.

Untersuchungsprozeß, s. v. w. Strafprozeß; auch s. v. w. Inquisitionsprozeß (s. Strafprozeß).

Uutersuchungsrecht, s. Durchsuchungsrecht.

Untersuchungsrichter, s. Richter.

Untersuchungsverfahren (Inquisitionsverfahren), s. Anklageprozeß.

Unterthan (Subditus), jeder, welcher einer Staatsgewalt unterworfen ist. Die Unterthanenschaft ist entweder ein bleibendes persönliches Rechtsver-

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Unterthaneneid - Unterwalden.

hältnis, gegründet auf die Staatsangehörigkeit des Unterthanen (subditus personalis), oder ein nur vorübergehendes Verhältnis, indem auch Fremde als Unterthanen (subditi temporarii) behandelt werden, solange sie im Staat weilen, diejenigen ausgenommen, welchen nach völkerrechtlichem Gebrauch die Exterritorialität zukommt, z. B. Gesandte. Gründet sich die Unterthanenschaft lediglich auf den Besitz unbeweglicher Güter, so heißen die Unterthanen Landsassen (subditi reales, Forensen), wenn sie nämlich Grundstücke im Land besitzen, aber im Ausland wohnen. Letztere sind in dem Land, worin ihre Grundstücke liegen, nur den Gesetzen unterworfen, welche die Grundstücke betreffen oder ausdrücklich auf die Forensen mit ausgedehnt sind. Im engern und eigentlichen Sinn versteht man aber unter Unterthanen im Gegensatz zu den Fremden nur die Angehörigen des Staats, welche als Inländer (Staatsangehörige, Volksgenossen, Regierte) zu der Staatsgewalt in dem dauernden Verhältnis persönlicher Unterordnung stehen. Die Unterthanenschaft in diesem Sinn ist gleichbedeutend mit Heimatsrecht oder Staatsangehörigkeit (s. d.). Die politisch vollberechtigten Unterthanen werden Staatsbürger (s. d.) genannt.

Unterthaneneid, s. Huldigung.

Untertibet, früherer Name von Ladak (s. d.).

Untertöne, in der Musik diejenige Reihe von Tönen, welche sich im umgekehrten Verhältnis der Obertonreihe nach der Tiefe erstreckt und ebenso für die Erklärung der Konsonanz des Mollakkords herangezogen werden muß, wie die Obertonreihe für die des Durakkords.

Unterwalden, einer der drei Urkantone der Schweiz, grenzt im N. an Schwyz und Luzern (durch den Vierwaldstätter See davon getrennt), im W. an Luzern, im S. an Bern, im O. an Uri und umfaßt 765 qkm (13,9 QM.). Der Kanton wird durch den Kernwald in zwei seit dem 12. Jahrh. getrennte Staatswesen (Halbkantone) geschieden: Nidwalden (290 qkm mit 12,520 Einw.) und Obwalden (475 qkm mit 15,030 Einw.), von denen ersteres den untern Teil des Engelberger Thals und das Seegestade umfaßt, während das höher gelegene Obwalden wesentlich durch das Thal der Sarner Aa und das obere Engelberger Thal gebildet wird. Die die Thäler einrahmenden Gebirge lassen sich teils als Flügel der Berner Alpen (Titlis 3239 m, Uri-Rotstock 2932 m etc.) betrachten, welche nach dem See hin voralpinen Charakter annehmen und mit dem Buochser Horn (1809 m) und Stanser Horn (1900 m) abschließen, teils als ein wesentlicher Teil der Luzerner Alpen, welche in den voralpinen Massen des Brienzer Rothorns (2351 m) und Pilatus (2133 m) ihre Häupter haben. In der fahrbaren Paßlücke des Brünig (1004 m) nähern sich die beiden Systeme, während aus dem Engelberg nur ungebahnte Bergpfade führen: die Surenen (2305 m) nach Uri und das Joch (2208 m) nach dem Haslethal. Das Klima ist am Seegestade mild, im Hochgebirge rauh. Der Kanton zählt (1888) 27,550 Einw. Die Nidwaldner sind ein "rüstiger, intelligenter Volksschlag", dessen Verhältnisse in einfachen, altertümlichen Formen sich fortbewegen, gutmütig und abgeschlossen, gleich den Obwaldnern, welch letztere übrigens an intellektueller Befähigung zurückzustehen scheinen. Die Bevölkerung ist fast ganz katholisch und gehört zur Diözese Chur. Es gibt noch sechs Klöster, unter denen das Benediktinerstift Engelberg (s. d.) das angesehenste ist. U. ist ein Hirtenland. Die Rinder (17,853 Stück) gehören größtenteils zur Schwyzer Rasse und sind meist Kühe; Butter und Käse sind Ausfuhrprodukte. Stark ist auch der Bestand an Ziegen (8308 Stück), geringer der an Schweinen und Schafen. Die Matten und Gärten Unterwaldens sind mit zahllosen Obstbäumen besetzt; Obst, Obstwein und Branntwein bilden Ausfuhrartikel, so auch die Nüsse. An den Waldungen (191 qkm) besäße U. eine unversiegliche Quelle des Wohlstandes, wenn die Holzproduktion durch eine bessere Bewirtschaftung gesteigert würde. Das Melchthal und Alpnach haben schönen Marmor. Schwendi-Kaltbad hat eine geschätzte Eisenquelle von 4,7° C. Die Seidenspinnerei und Kämmlerei von Buochs ist eine Filiale der Gersauer Industrie; in Hergiswyl arbeitet eine Glashütte, im Rotzloch eine Papierfabrik. Für den Transit ist U. nicht günstig gelegen, sein Markt ist Luzern; es berührt bloß die große Verkehrsstraße, welche der See als Zugang des St. Gotthard bildet. Hingegen liegt es im Bereich des allsommerlichen Touristenzugs. Am See liegen die Dampferstationen Beckenried, Stansstad und Alpnach; belebte Kurorte sind: Engelberg, Schöneck, Bürgistock, Melchseealp etc., und von Alpnach führt durch das Sarner Thal hinauf und über den Brünig eine der belebtesten Touristenrouten, der seit 1888 die Brünigbahn dient. Im Juni 1889 wurde die Pilatusbahn eröffnet. In den beiden Hauptorten, Stans und Sarnen, bestehen gymnasiale Anstalten, auch im Stift Engelberg. Die Stiftsbibliothek zählt 20,000 Bände, fast die Hälfte aller in öffentlichen Bibliotheken befindlichen Bücher. Die beiden Staatswesen sind rein demokratischer Einrichtung. Die jetzt gültige Verfassung Obwaldens wurde vom Volk 27. Okt. 1867 angenommen. Die Landsgemeinde hat die gesetzgebende Gewalt; ihr müssen auch alle Staatsanleihen, die Landsteuer sowie alle 10,000 Frank übersteigenden Ausgaben zur Entscheidung vorgelegt werden, und jedem einzelnen Bürger ist die Gesetzesinitiative eingeräumt. Die Landsgemeinde wählt auch die oberste Exekutivbehörde, den Regierungsrat, der aus sieben Mitgliedern besteht, und das Obergericht von neun Mitgliedern, beide auf je vier Jahre. Der Präsident des Regierungsrats führt den Titel Landammann. Daneben besteht, gleichsam als legislatorisches Organ des Volkes, ein Kantonsrat, der in den Gemeinden gewählt wird. Eine Bezirkseinteilung besteht nicht; die Zahl der Gemeinden beträgt sieben: Hauptort ist Sarnen. Eine ähnliche Verfassung, vom 2. April 1877, hat Nidwalden, nur daß der Landrat, entsprechend dem Obwaldner Kantonsrat, auf sechs Jahre gewählt wird und Regierungsrat und Obergericht je aus elf Mitgliedern bestehen und auf je drei Jahre gewählt werden. Die Zahl der Gemeinden beträgt elf; Hauptort ist Stans. Für den 1. Mai 1888 berechnet sich der Vermögensbestand Obwaldens auf 496,961 Frank Aktiva, 99,150 Frank Passiva, also netto 397,811 Fr. Die Rechnung für das Betriebsjahr 1887/88 ergab 151,663 Fr. Einnahmen, 143,683 Fr. Ausgaben, demnach einen Überschuß der erstern von nahezu 8000 Fr. In Nidwalden zeigt die Rechnung für 1887: an Einnahmen 177,944 Fr., an Ausgaben 161,660, also einen Saldo von 16,284 Fr., auf Ende 1887 ein reines Vermögen von 124,934 Fr. Geschichte. Über U. (intra montem), welcher Name übrigens erst um 1300 auftaucht, herrschten die Habsburger teils als Grafen des Aar- und Zürichgaus, teils als Kastvögte mehrerer Klöster, die daselbst Grundbesitz hatten. Im 13. Jahrh. bildeten das Thal Sarnen "ob dem Kernwald" und das Thal Stans "nid dem Kernwald" zwei gesonderte Gemeinwesen.

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Unterweißenburg - Unze.

Nachdem sich beide schon 1245 vorübergehend mit Schwyz zu einer Erhebung gegen die Habsburger verbunden hatten, schlossen sie 1291 mit Uri und Schwyz das ewige Bündnis der drei Waldstätte und vereinigten sich zugleich untereinander zu dem Gemeinwesen U., welches 1309 mit Schwyz u. Uri von Heinrich VIII. reichsfrei erklärt wurde. Zur Zeit der Schlacht von Morgarten hatten sich die Unterwaldner gegen die über den Brünig eingedrungenen Österreicher zu verteidigen. Um 1350 trennten sich Nid- und Obwalden wieder; doch fanden noch spät im 15. Jahrh. gemeinsame Landsgemeinden beider Länder statt, und in der Eidgenossenschaft zählten sie nur als Ein Bundesglied. Daneben bildete das Thal Engelberg unter der Herrschaft des dortigen Klosters einbesonderes Gebiet, welches seit 1465 im Schirm von Luzern, Schwyz und U. stand und erst 1815 mit Obwalden vereinigt wurde. Zur Zeit der Reformation gehörte U. zu den fünf ihr entschieden feindlichen Orten. Der helvetischen Verfassung von 1798 fügte sich Obwalden ohne Kampf, Nidwalden aber erst, nachdem infolge des verzweifeltsten Widerstandes das Land von den Franzosen in eine Wüste verwandelt worden war (7.-9. Sept. 1798). Im J. 1802 stellte U. im Aufstand gegen die helvetische Regierung seine Landsgemeinden wieder her, welche durch die Mediationsakte 1803 garantiert wurden. Beide Landesteile nahmen teil am Sarner Bund (1832) sowie am Sonderbund 1846 und kapitulierten 25. Nov. 1847. Nachdem sie sich 1850 zum erstenmal Verfassungen gegeben, unterwarf Obwalden die seinige 2. Okt. 1867 einer Revision, ohne jedoch ihren Grundlagen nahezutreten, welchem Beispiel Nidwalden 2. April 1877 folgte. 1875 hat Obwalden in anerkennenswerter Weise sein Schulwesen verbessert, dagegen im April 1880 die Wiedereinführung der Todesstrafe beschlossen. Vgl. Businger, Die Geschichten des Volkes von U. (Luzern 182728, 2 Bde.); Derselbe, Der Kanton U. (St. Gallen 1836); Gut, Der Überfall von Nidwalden im J. 1798 (Stans 1862); Christ, Ob dem Kernwald (Basel 1869).

Uuterweißenburg (ungar. Alsó-Fehér), ungar. Komitat in Siebenbürgen, wird von den Komitaten Hunyad, Torda-Aranyos, Groß und Kleinkokelburg und Hermannstadt umschlossen, hat 3576,50 qkm (64,9 QM.), ist im W. gebirgig und wird von der Maros und dem Kokel (Küküllö) bewässert. Es hat (1881) 178,021 Einw. (meist Rumänen, die der griechisch-orientalischen und griechisch-katholischen Kirche angehören). Es ist sehr waldreich und fruchtbar und liefert Weizen, Korn, Mais, sehr gutes Obst, Kartoffeln etc. Im südlichen Teil bei Nagy-Enyed, in der sogen. Siebenbürgischen Hegyalja, gedeiht vorzüglicher Wein (Ezelnaer und Csomborder Riesling). Die Viehzucht ist bedeutend. Im S. finden sich viele mineralische Schätze, insbesondere die reichsten siebenbürgischen Goldgruben. Bergbau ist daher die Haupterwerbsquelle der Einwohner. Sitz des Komitats, das von der Ungarischen Staatsbahn durchschnitten wird, ist Nagy-Enyed.

Unterwelt, nach dem Glauben der Alten der Aufenthaltsort der Gestorbenen, insbesondere der Ort der Strafe für dieselben. Schon nach der indischen Mythe ist die Tiefe der Finsternis der Strafort für die gefallenen Geister. Bei den Ägyptern wird die U. zum Toten oder Schattenreich, in welchem Osiris und Isis, später Serapis herrschen und Gericht halten. Die Juden nannten die U. Scheol (s. d.). Die Griechen sollen nach Diodor von Sizilien die Begriffe von Hades, Elysion und Tartaros von den Ägyptern entlehnt haben. Unter Tartaros oder Orkus verstanden sie ursprünglich die U., d. h. den dunkeln Raum, welchen man sich unter der Erdscheibe dachte. Bald ist ihnen der Tartaros, auf dem die Erde ruht, ein Sohn des Chaos, d. h. der unendlichen Leere überhaupt, bald als Kerker der Titanen und der Verdammten der tiefste Teil der U., aber noch nicht Totenreich.

Ebenso wird das Reich des Hades (eigentlich Aïdes, "Unsichtbaren, Unterirdischen") später zum Aufenthaltsort der Verstorbenen, nur daß der Aufenthalt der Seligen nach andern Vorstellungen auch an das Ende der Welt, auf die Inseln der Seligen, wie bei Hesiod, oder auf eine elysische Flur, wie bei Homer, verlegt wird. Nach noch späterer Vorstellung befand sich das Totenreich in der Mitte der Erde; es war rings vom Styx umflossen und der Eingang zu demselben nur möglich durch den schlammigen Kokytos; Charon fuhr die von Hermes geleiteten Toten hinüber. Am jenseitigen Ufer lag in einer Höhle der schreckliche Kerberos. Dann kam man auf einen geräumigen Platz, wo Minos als Richter saß und entschied, welchen Weg die Seele wandeln solle. Der Weg teilte sich nun zum Elysion, welches zur rechten Seite des Einganges lag, und zum Tartaros zur Linken, als Ort der Strafe für die Verdammten.

Uuterwiesenthal, Stadt, s. Oberwiesenthal.

Untiefe, eine seichte Stelle im Meer oder Binnengewässer, an welcher Sandbänke oder Felsriffe der Wasseroberfläche so nahe kommen, daß die Schiffahrt gefährdet wird; poetisch auch eine ungemessene, ungeheure Tiefe.

Untreue, im allgemeinen s. v. v. Treubruch, Unredlichkeit; im strafrechtlichen Sinn die absichtliche Verletzung einer Rechtsverbindlichkeit, welche sich zugleich als Verletzung besondern Vertrauens darstellt. In diesem Sinn straft das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (§ 266) die von Bevollmächtigten, Vormündern, obrigkeitlich oder letztwillig bestellten Verwaltern fremden Vermögens, Feldmessern, Maklern, Güterbestätigern und andern im Dienste des öffentlichen Vertrauens stehenden Personen verübte U. mit Gefängnis bis zu fünf Jahren und nach Befinden mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Daneben kann, wenn die U. begangen wurde, um sich oder einem an dern einen Vermögensvorteil zu verschaffen, auch noch auf Geldstrafe bis zu 3000 Mk. erkannt werden. Die von einem öffentlichen Beamten verschuldete U. wird als Amtsverbrechen (s.d.) bestraft. Vgl. v. Stemann, Das Vergehen der Unterschlagung u. der U.(Kiel 1870).

Unvermögen (Impotenz), s. Zeugungsvermögen.

Unverritzt, ein Gebirge oder eine Lagerstätte (unverritztes Feld), die durch Bergbau noch nicht angegriffen ist.

Unvordenkliche Verjährung, s. Verjährung.

Unyoro, Landschaft im äquatorialen Ostafrika, westlich und nördlich von Uganda, dem es tributpflichtig ist, reicht an das linke Ufer des Nils und an das rechte des Mwutan Nzige, etwa 82,590 qkm (1500 QM.) groß. Im S. ist das Land hügelig, im N. gegen den Nil zu durchaus eben, von ungeheuern Schilfflüssen durchschnitten und mit lichtem Wald bedeckt. Der Anbau ist minder sorgfältig, die Verwaltung, Ordnung, Anlage der Wege minder geregelt als in Uganda. Die Bewohner, die Wanyoro, gehen, wie die Waganda, ganz bekleidet, treiben Ackerbau und halten Zebus, Ziegen, Hühner, sind dabei aber kriegerisch.

Unze, s. v. w. Jaguar, s. Pantherkatzen.

Unze (lat. uncia), ursprünglich der 12. Teil des römischen As (s. d.), in vielen Ländern sowohl eine Gewichts- als eine Münz-, zum Teil auch eine Maß-

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Unzelmann - Unzuchtsverbrechen.

einheit von sehr verschiedenem Wert. Als Gewicht war die U. in Deutschland = 2 Lot oder 1/16 Pfd. (1/8 köln. Mark), in Italien (oncia) der 12. Teil eines Pfundes; in England hat das Handespfund 16 Ounces, das Troypfund (für edle Metalle etc.) aber 12 schwerere Ounces. Als Apothekergewicht ist die U. überall der 12. Teil des Medizinalpfundes und wird durch das Zeichen ^|Pfund| bezeichnet. Als Münze diente die U. entweder bloß als Rechnungsmünze, oder kam auch wirklich geprägt vor, so die Goldunze (oncetta) in Sizilien, die Onza de oro in Spanien, Mexiko und den südamerikanischen Staaten, wo sie 16 bisherige spanische Piaster im Wert von 65-66 Mk. galt. Als Längenmaß war die U. in Italien s. v. w. 1 Zoll.

Unzelmann, 1) namhafte Schauspielerfamilie. Karl Wilhelm Ferdinand, geb. 1. Juli 1753 zu Braunschweig, wirkte an verschiedenen Theatern Deutschlands als ausgezeichneter Komiker, seit 1788 in Berlin, wo er von 1814 bis 1823 Regisseur des Schau und Lustspiels war, dann pensioniert 21. April 1832 starb. Seine besten Rollen waren: der Wachtmeister in "Minna von Barnhelm", Vansen im "Egmont", der Bürgermeister in den "Deutschen Kleinstädtern", Martin in "Fanchon". Seine Gemahlin war die nachmalige berühmte Bethmann (s. d. 2). Sein Sohn Karl Wolfgang, geb. 6. Dez. 1786 zu Mainz, wurde von Goethe der Bühne zugeführt, die er 1802 in Weimar zuerst betrat, und übertraf bald seinen Vater an Gewandtheit und Vielseitigkeit. Er wirkte mit größter Auszeichnung in der Posse wie im Lustspiel und war seiner Zeit der beste Bonvivant der deutschen Bühne. 1821 verließ U. Weimar und nahm in Dresden, 1823 in Wien, 1824 in Berlin, dann in rascher Folge bei verschiedenen andern Bühnen Engagement. Seine ungeregelte Lebensweise führte ihn endlich zum Selbstmord. Er ertränkte sich 21. März 1843 im Tiergarten bei Berlin. Bertha, Nichte des vorigen, geb. 19. Dez. 1822 zu Berlin, betrat 1842 als Luise ("Kabale und Liebe") die Bühne in Stettin, war von 1842 bis 1843 beim Königsstädter Theater in Berlin, dann in Neustrelitz, Bremen und Leipzig angestellt und folgte 1847 einem Ruf an das Hoftheater nach Berlin, wo sie sich mit dem Heldenspieler Joseph Wagner aus Wien verheiratete. Beide wurden 1850 beim Burgtheater in Wien lebenslänglich angestellt. Sie starb daselbst 7. März 1858, nachdem sie, von unheilvoller Krankheit befallen, schon seit 1854 der Bühne fern gewesen war. Von hoher Bildung, war sie ausgezeichnet in der Auffassung und Darstellung weicher, gefühlvoller Charaktere u. gehörte zu den berühmtesten Darstellerinnen des Gretchen.

2) Friedrich Ludwig, Holzschneider, Bruder von Karl Wolfgang U., geb. 1797 zu Berlin, machte seine Studien an der Akademie und bildete sich unter der Leitung von Gubitz aus. Sein Bestreben, die Holzschneidekunst aus dem Verfall zu neuer Blüte zu erheben, fand Unterstützung durch A. Menzel, mit welchem U. um 1835 in Verbindung trat. Unter Menzels Einfluß bildete er den Faksimileschnitt aus und gelangte darin zu einer vollkommenen Meisterschaft. Nach Menzel schnitt er unter anderm den Tod des Franz von Sickingen, das Blatt zum Jubiläum der Erfindung der Buchdruckerkunst (Gutenberg und Schöffer), einen Teil der Illustrationen zur Geschichte Friedrichs d. Gr. von Kugler und zur Prachtausgabe der Werke Friedrichs d. Gr. (neue Ausg., Berl. 1886) und das Porträt Shakespeares, sein Hauptwerk (1851). Er wurde 1843 Mitglied der Berliner Kunstakademie und 1845 Professor der Holzschneidekunst an derselben. Er starb auf einer Reise 29. Aug. 1854 in Wien.

Unzertrennliche, s. Papageien, S. 669.

Unzuchtsverbrechen (Sittlichkeitsverbrechen Unzuchtsdelikte, Fleischesverbrechen, Delicta carnis), strafbare Handlungen, welche in einer gesetzwidrigen Befriedigung des Geschlechtstriebs bestehen. Das ältere Recht betrachtete den außerehelichen Geschlechtsverkehr überhaupt als strafbar, wenigstens insofern er mit einer sonst ehrbaren Frauensperson gepflogen wurde, daher denn auch die freiwillig, außereheliche Schwächung (stuprum voluntarium) nach dem römischen Recht nicht nur an der Geschwächten, sondern auch an dem Stuprator gestraft und im Mittelalter, nachdem die Geistlichkeit dies Delikt vor ihr Forum gezogen hatte, an der gefallenen Frauensperson durch die Strafe der öffentlichen Kirchenbuße geahndet wurde. Das moderne Strafrecht erachtet den außerehelichen Geschlechtsverkehr an und für sich nicht mehr als strafbar. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch insbesondere bestraft Weibspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, nur dann mit Strafe (Haft bis zu sechs Wochen), wenn sie unter polizeiliche Aufsicht gestellt sind und den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandeln, oder wenn sie gewerbsmäßige Unzucht treiben, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein. Dagegen werden im deutschen Strafgesetzbuch folgende unsittliche Handlungen als U. behandelt und bestraft: Blutschande, d. h. der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie, zwischen Geschwistern und zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie (s. Inzest); Notzucht (stuprum violetum), d. h. die Nötigung einer Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (das frühere Erfordernis eines Strafantrags bei diesem Verbrechen ist durch die Novelle zum Strafgesetzbuch vom 26. Febr. 1876 beseitigt); Schändung (stuprum non voluntarium nec violentum), d. h. der außereheliche Beischlaf mit einer geisteskranken oder einer in willen- oder bewußtlosem Zustand befindlichen Frauensperson, wobei es als Notzucht bestraft wird, wenn der Thäter die Frauensperson absichtlich in diesen Zustand versetzt hat. Ferner gehören hierher; unzüchtige Handlungen, welche Vormünder mit ihren Pflegebefohlenen, Eltern mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen, Beamte mit Personen, gegen die sie eine Untersuchung zu führen haben, oder welche ihrer Obhut anvertraut sind, Beamte, Ärzte und andre Medizinalpersonen, welche in Gefängnissen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder andern Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt sind, mit den hier aufgenommenen Personen vornehmen; unzüchtige Handlungen, welche mit Gewalt an einer Frauensperson vorgenommen werden, oder zu deren Duldung dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben genötigt wird; endlich unzüchtige Handlungen mit Personen unter 14 Jahren. In allen diesen Fällen tritt die strafrechtliche Verfolgung von Amts wegen ein. Dagegen wird die Verleitung einer Frauensperson zur Gestattung des Beischlafs durch Vorspiegelung einer Trauung oder durch Erregung oder Benutzung eines andern Irrtums, in welchem sie den Beischlaf für einen ehelichen hielt, nur auf Antrag bestraft. Außerdem gehören zu den U. des Reichsstrafgesetzbuchs: die widernatürliche Unzucht, welche entweder zwischen Personen männlichen Geschlechts (Pä-

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Unzurechnungsfähigkeit - Ur.

derastie), oder von Menschen mit Tieren (Sodomie) begangen wird; die Mädchenschändung, d. h. die Verführung eines unbescholtenen Mädchens, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf (Antragsdelikt); die Verletzung der Schamhaftigkeit durch unzüchtige Handlungen, durch welche ein öffentliches Ärgernis gegeben wird, oder durch unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche verkauft, verteilt oder sonst verbreitet oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausgestellt oder angeschlagen werden. Auch die Kuppelei (s. d.) wird von dem deutschen Strafgesetzbuch unter den U. mit aufgeführt, ebenso die Doppelehe oder Bigamie (s. d.) und der Ehebruch (s. d.). Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 171-184, 361, Nr. 6; Österreichisches, 125 ff., 500 ff.

Uuzurechnungsfähigkeit, s. Zurechnung.

Upanischad ("Vortrag"), s. Weda.

Upas, s. Pfeilgift.

Upasstrauch, s. Strychnos.

Upernavik, nördlichster Ort im dän. Grönland, unter 72°48' nördl. Br., mit 761 Einw. im Bezirk.

Upholland (spr. öp-), alte Stadt, 5 km westlich von Wigan, in Lancashire (England), mit Kornmühlen, Steinbrüchen, Kohlengruben und (1881) 4435 Einw.

Upiugtouia, Burenrepublik unter deutschem Schutz in Südwestafrika, begrenzt im W. vom 16.° östl. L. v. Gr., im S. vom 20.° südl. Br., Nord und Ostgrenze sind unbestimmt. Es ist ein an starken perennierenden Quellen reiches Land, das sich zu Ackerbau und Viehzucht eignet, von nomadisierenden Bergdamara und Buschmännern bewohnt, deren einzige Beschäftigung im Honigsuchen und Wurzelgraben und Diebstählen an den Herden der Buren besteht. Die 15 Familien starken Buren wanderten infolge von Differenzen mit der portugiesischen Regierung aus Mossamedes Anfang 1884 aus u. erwarben vom Häuptling des Oddongastammes, Kambondo, ein Landstück südlich der Etosapfanne, nur reservierte Kambondo die Bergwerksrechte. Die jetzt einzige Niederlassung der Buren heißt Grootfontein.

Upland, Landschaft im mittlern Schweden, im O. von der Ostsee, im S. vom Mälar begrenzt, ist im Innern fruchtbar und reich an Getreide und Wald, auch an Eisen, während die Küstenstriche die felsige Schärennatur mit zahlreichen vorgelagerten Inseln und Schären darbieten. In administrativer Hinsicht ist U. unter die Läns Stockholm, Upsala und Westmanland verteilt.

Upolu, die zweitgrößte, aber bei weitem die wichtigste der Samoainseln (s. d.), durch eine schmale Meeresstraße von dem westlich gelegenen Savaii, durch eine breitere von dem östlichern Tutuila getrennt, 881 qkm (16 QM.) groß mit 19,000 Einw., worunter 2500 Fremde (300 Europäer und Amerikaner, der Rest als Arbeiter eingeführte Melanesien und Polynesier). Die außerordentlich schöne Insel wird von einer vulkanischen, 900 m kaum übersteigenden Bergkette mit vielen erloschenen Kratern durchzogen, welche nach S. steiler, nach N. sanfter abfällt, die Bewässerung ist reichlich, der Boden sehr fruchtbar, indes mit Lavablöcken übersäet, welche die Anwendung des Pflugs oft unmöglich machen. Korallenriffe besäumen an mehreren Stellen die Küste, welche einige gute Häfen aufweist. Der besuchteste ist der von Apia an der Nordküste. Die östlich davon gelegene Bai von Saluafata mit einem Ankerplatz für kleinere Schiffe, zu dem ein breiter Kanal durch das Küstenriff führt, wurde 1879 an Deutschland als Kohlenstation abgetreten. Die an der Südküste gelegene flache Bucht von Falealili ist von geringer Bedeutung, dagegen liegt Apia gerade gegenüber die gute Bai von Safata. Von der Oberfläche gehören der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee 28,800 Hektar, den Amerikanern 3600, den Engländern 3200 Hektar. Unter Kultur haben die Deutschen 3200, die Engländer 200 Hektar, die Amerikaner gar nichts. Der volkreichste Ort der Insel ist Falealili an der Südküste, der wichtigste aber Apia (s. d.) an der Nordküste, wo ein deutsches, ein englisches und ein amerikanisches Konsulat sich befinden und die europäischen Geschäftshäuser ihren Sitz haben. Hierher kommen die Reichspostdampfer des Nord deutschen Lloyd, auch eine englische Dampferlinie geht von Sydney nach Apia. S. Karte "Samoainseln".

Upsala, schwed. Län, am Bosnischen Meerbusen, von den Läns Gefleborg, Stockholm und Westmanland begrenzt, umfaßt den westlichen Teil von Upland (s. d.) mit einem Areal von 531.3,8 qkm (96,5 QM.) und ist im Innern eine weite und fruchtbare Ebene, während die Uferlandschaften die felsige Schärennatur der schwedischen Küste haben. An Flüssen sind außer dem Dalelf, welcher an der nördlichen Grenze des Läns den großen Elfkarlebyfall bildet, nur kleinere vorhanden. Die Bevölkerung zählte 1888: 120,084 Seelen. Haupterwerbszweige sind: Ackerbau, Viehzucht und Waldwirtschaft. Vom Areal entfallen 27,5 Proz. auf Ackerland und Gärten, 10,4 Proz. auf Wiesen, 55,3 Proz. auf Wald. 1884 zählte man 20,325 Pferde, 87,182 Stück Rindvieh, 32,209 Schafe und 12,021 Schweine. Auch der Bergbau (besonders auf Eisen) und der Hüttenbetrieb sind ansehnlich. - Die gleichnamige Hauptstadt, in einer fruchtbaren Ebene an der Fyriså, die in den Mälarsee mündet, Knotenpunkt der Eisenbahnen Stockholm-Sala, U.-Gefle und U.-Lenna, hat ein Schloß und 2 Kirchen (darunter die 1289-1435 erbaute Domkirche mit den Grabmälern mehrerer Könige, Linnes u.a., die größte und schönste Kirche Schwedens, leider aber nach dem Brand 1702 nur unvollkommen hergestellt), eine 1477 gestiftete Universität mit der größten Bibliothek Schwedens (über 250,000 Bände und 7000 Manuskripte) und andern wissenschaftlichen Sammlungen, botanischem Garten (berühmt durch Linne), Sternwarte etc. (1886 mit 1877 Studierenden); zwischen dem Dom und dem neuen Universitätsgebäude befindet sich ein schöner Park, Odinslund. Die Einwohnerzahl. beträgt (1888) 21,249. Die Industrie ist nicht unbedeutend; außer einigen chemischen Fabriken gibt es mehrere Mühlen, Brauereien, Ziegeleien etc. U. ist Sitz eines Erzbischofs, eines Konsistoriums und des Landeshauptmanns. Die ziemlich einförmige Umgegend, Fyrisvall genannt, ist der klassische Boden der ältesten Geschichte Schwedens. Hier verlor 983 Styrbjörn der Starke Schlacht und Leben; hier liegt 4km entfernt an der Bahn U.-Gefle das alte (Gamla) U., jetzt ein Bauerndorf, in dessen Nähe die drei großen Königshügel und viele kleinere Grabhügel sich befinden; 7. km von U. entfernt die Morawiese (s. d.). Das Gut Hammarby der ehemalige Wohnsitz Linnés.

Upstallsboom, s. Aurich.

Upupa, Wiedehopf; Upupidae (Hopfe), Familie aus der Ordnung der Klettervögel (s. d.).

Ur..., Vorsilbe zur Bezeichnung der Beziehung auf den ersten Anfang von etwas, z. B. Urahn, Ursprung, Urkunde etc. (altdeutsch s. v. w. hervor, aus).

Ur, s. v. w. Auerochs.

Ur, eine der ältesten Städte Chaldäas, südlich vom untern Euphrat, Orchoe (jetzt Warka) gegenüber, bekannt als Wohnort von Abraham und Sara, ehe sie

1039

Uraba - Ural.

nach Haran und Kanaan zogen. Hier gefundene Inschriften zeigen die ältesten hieroglyphenartigen Formen der Keilschrift.

Urabá (Golf von U., früher auch Darien del Norte genannt, im Gegensatz zum Golfo del Darien del Sur, dem jetzigen Golf San Miguel), ein Meerbusen des Karibischen Meers, an der Nordküste von

Kolumbien, dringt 60 km weit ins Land ein, ist 52 km breit und von flachen Ufern begrenzt. In ihn mündet in 15 Armen der Rio Atrato (s. d.), dessen fortschreitende Deltabildung den hintern Teil des Golfs vom Meer abzuschneiden droht. Entdeckt wurde der Golf von U. 1502 von Rodrigo Bastidas.

Urach, Oberamtsstadt und Luftkurort im württemberg. Schwarzwaldkreis, am Einfluß der Elsach in die Erms und an der Ermsthalbahn, 466 m ü. M., hat eine schöne evangelische (1479-99) und eine kath. Kirche, ein Schloß, eine Lateinschule, ein niederes evangelisch-theologisches Seminar, ein Amtsgericht, ein Forstamt, Flachs- und Baumwollspinnerei, Baumwollweberei, Gerberei, Holzdreherei, Wagenfabrikation, eine mechanische Werkstätte und (1885) 3962 Einw. In der Nähe ein Wasserfall im Brühl, die Ruinen der Feste Hohenurach und der königliche Fohlenhof Güterstein. - U. war einst Sitz eines Grafengeschlechts, als dessen Begründer Egino I. im Anfang des 12. Jahrh. erscheint. Egino IV. erwarb 1218 bei dem Aussterben der Zähringer Freiburg i. Br. und viele Besitzungen im Schwarzwald. Einer seiner Enkel, Konrad, erhielt im 13. Jahrh. Freiburg; ein andrer, Heinrich, Graf von Fürstenberg, der Stammvater der gleichnamigen Fürsten, verkaufte 1265 die Burg U. und den größten Teil der Besitzungen an den Grafen Ulrich von Württemberg. Von U. führte eine Linie des Hauses Württemberg, die 1441 gestiftet wurde, aber mit dem Sohn des Stifters, Eberhard V. (I.), mit dem Bart, 1495 wieder ausstarb, den Namen Württemberg-U. Jetzt führt den Titel eines Herzogs von U. der Graf Wilhelm von Württemberg (geb. 3. März 1864) aus einer katholischen Seitenlinie des Königshauses. Vgl. "Führer durch das Uracher Gebiet" (Urach 1876).

Urachus (Harnstrang),beim Embryo derSäugetiere der in der Bauchhöhle verbleibende Abschnitt des

Stiels der Allantois (s. d.), aus dessen hinterm Teil später die Harnblase hervorgeht, während der vordere zum sog. mittlern Aufhängeband der Harnblase wird.

Uraeginthus, s. Astrilds.

Ural (Jaik), Grenzfluß zwischen Europa und Asien, entspringt unter 54° 30' nordl. Br. und nimmt in seinem von N. nach S. gerichteten Lauf zwischen den beiden östlichen Ketten des Uralgebirges von O. her die unbedeutenden Nebenflüsse Gambei, Sarum-Saklü, Swunduk, von W. her den Ak-Dschar, Kutebai, Allas-Nessai und Kutan-Taß auf. Am südlichen Ende der Hauptmasse des Uralgebirges sich nach W. wendend, empfängt er in seiner Kniebeugung den Orr, weiterhin den Ilek und die Utwa von S. her und auf europäischem Boden von N. her die Sakmara. In seinem untern, wieder von N. nach S. gerichteten Lauf hat er keinen bedeutendern Zufluß. Er mündet, ein sumpfiges Delta bildend, in mehreren Armen in das Kaspische Meer und hat im ganzen eine Länge von etwa 1500 km. Sein Stromgebiet wird auf 249,500 qkm (4531 QM.) berechnet. An der Mündung liegt neben unermeßlichen Schilfwaldungen die Stadt Gurjew (s. d.). In der Steppe auf dem rechten Ufer des Urals bis an das Kaspische Meer wohnen die Uralischen Kosaken, deren Gebiet gegenwärtig unter der Oberverwaltung des Landes der Kirgiskosaken steht und unter dem Namen Uralsk eins der fünf Gebiete jenes bis zum Irtisch und zum Aralsee reichenden Landes ist; das linke Ufer bewohnen die Kirgisen. Nach Dämpfung des Pugatschewschen Aufstandes, der auch am Jaik wild tobte, befahl Katharina II., um die beim Namen Jaik auftauchenden Erinnerungen zu bannen, den Fluß künftig "U." zu nennen.

Ural (die Montes Riphaei der Alten), das längste Meridiangebirge der Alten Welt, dessen südlichster niedriger Ausläufer, der Mugodschar, zwischen der Salzsteppe an der Emba und der Kirgisensteppe, fast bis zum Aralsee (48° nördl. Br.) reicht, während der nördlichste jenseit der Waigatschstraße über die Waigatschinsel durch Nowaja Semlja fortsetzt und unter 76 1/2° nördl. Br. endet (s. Karte "Rußland"). So sind die beiden Endpunkte um mehr als 28 Breitengrade, also um 3168 km, voneinander entfernt. Die Breite des Gebirges beträgt meist nicht über 75 km und übersteigt kaum 190 (so im äußersten Süden); auch seine Kammhöhe beträgt kaum 600 m und erreicht nur im SW. und N. 1.200 m, eine Höhe, die nur einzelne Gipfel überragen. Vorzüglich in der Mitte schwillt es so allmählich an, daß man auf der großen Straße von Perm nach Jekaterinenburg kaum den Übergang über ein Gebirge merkt, das Europa und Asien scheidet. Während nördlich von Jekaterinenburg die höchsten Punkte der Ostseite angehören, liegen sie südlich im äußersten Westen. Der östliche Abfall des Gebirges ist etwas schroffer als der westliche, welcher sich terrassenförmig gegen die Kama und Wolga abstuft. Man kann den U. in den arktischen der nördlichen Inseln, den nördlichen samojedischen oder wogulischen, den mittlern oder werchoturischen und den südlichen oder baschkirischen U. einteilen. Im arktischen U. erheben sich auf Nowaja Semlja einzelne Gipfel (mit Gletschern) über 1200 m. Der nördliche U., welcher vom Karischen Meer bis zum 61.° nördl. Br. oder bis zu den Quellen der Petschora reicht, ist wald- und erzloses Gebirge. Vom Karischen Golf südlich bis zum 63.° reicht der sogen. wogulische U., ein Gebirge mit schroffen, felsenreichen Höhenzügen und trümmerbedeckten Gipfeln, von denen der Paijar 1413 m, südlicher der Koibp 1041 m, Pure-Mongit 1100 m, Galsory 990 m, Ischerim 983 m hoch sind, aber ohne die Gletscher des arktischen; drei Pässe über ihn ermöglichen den Verkehr zwischen Archangel und Sibirien. Dagegen zeigt der sogen. samojedische U. (Pae-Choiberge), der nord-westlich zur Waigatschstraße zieht, gerundete Formen, mit Moos- und Flechtenbedeckung seiner Höhen, von denen die bedeutendsten Idshed-Karlem (1390 m, Choste-Nier (1510 m) und Töll-Pos (1687 m) sind. Nordöstlich zweigen sich vom nördlichen U. die zur Obmündung verlaufenden niedrigern Berge von Obdorsk ab. Die höchsten Gipfel dieses kahlen und unwirtlichen Gebirges tragen ewigen Schnee. An der Petschoraquelle zweigt sich vom U. unter dem Namen Timangebirge ein niedriger Höhenzug ab, welcher bis Kanin-Nos zieht. Der mittlere oder werchoturische U., der sich von 61°nördl. Br. bis an die Quellen der Ufa (55°) fortsetzt, bildet ein breites waldigsumpfiges Tafelland von mäßiger Erhebung (im Mittel 650 m), das von einzelnen Felsbergen überragt wird, und ist der einförmigste Teil des Gebirges; nur im NO. zeigt sich eine alpinere Natur. Hier erheben sich als die höchsten Gipfel: der Kontschakow-Kamen (1462 m), Suchegorski-Kamen (1195 m), Pawdinski-Kamen (938 m), Katschkanar (887 m) und Deneschkin-Kamen (1532 m). Über den mittlern U

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Ural (Gebirge).

führen die leichtesten Übergänge, deren niedrigstem (380 m) die oben erwähnte sibirische Straße und neuerdings die Eisenbahn von Perm nach Jekaterinenburg folgt. Südlich von der Ufaquelle folgt der dreigeteilte südliche U., im O. mit dem niedrigen, aus Granit und Gneis zusammengesetzten Ilmengebirge bei Mijask, in der Mitte mit dem Uraltau im engern Sinn (auch Urengai genannt), der mit der Irendikkette im S. endet, in seinen höchsten Höhen (Jurma, Taganai, Urenga) 1200 m wenig überschreitet und nur im Iremel 1536 m Höhe erreicht. Der U. gibt zahlreichen Flüssen ihren Ursprung; dazu finden sich an der Ost- und Westseite zahlreiche kleine und größere Landseen, am dichtesten am Ilmengebirge und zur Seite des mittlern Urals. Dort, wo mittlerer und südlicher U. zusammenstoßen, drängen sich vor allem die Quellen zahlreicher Flüsse zusammen, die dem Tobol, Ural und der Kama zuströmen. Nur im äußersten Süden versiegen im Sommer die Bäche und kleinen Flüsse meist ganz.

Der U. besteht seiner geognostischen Zusammensetzung nach aus einer Achse kristallinischer Schiefergesteine, aus Gneis, Glimmerschiefer, im mittlern Teil vornehmlich aus Chlorit- und Talkschiefern, auch kristallinischen Kalken, im N. mit Kalk und Kalkschiefer. Zu ihnen gesellen sich an den Seiten silurisches und devonisches Übergangsgebirge, am westlichen Fuß Kohlenkalkstein, auf beiden Seiten Kohlengebirge. Um die ganze Südwestseite schlingt sich die permische Formation mit ihrem Rotliegenden, mit Süßwasserkalk, mächtigem Gips, Kupfersandstein und echtem Zechstein. Dem Jura gehört nur der nördliche Fuß an. Von massigen Gesteinen treten auf Granit, Syenit, Diorit, Serpentin, Augit-, zum Teil Uralitporphyre und Mandelsteine, die bis Nowaja Semlja reichen. Jüngere Eruptivgesteine fehlen gänzlich. Wohl kommen Erze auf Gängen vor, so die Golderze von Beresow, ebenda Bleiglanzgänge mit dem Rotbleierz; wichtiger sind aber die sekundären Lagerstätten im Übergangsgebirge, im Kupfersandstein und besonders im Schuttland. Dem silurischen Gebirge gehören die reichen Magneteisensteinberge an, ebenso die wichtigen Kupferlagerstätten. So liegen bei Nishne-Tagilsk die Kupfergruben, welche die mächtigen Malachitstöcke liefern, ebenso der mächtige Magneteisensteinberg Wisokaya Gora; andre sind der Blagodat bei Kuschwinsk und der Katschkanor, westlich von Werchoturie. Aus der Zerstörung goldführender Quarzgänge, insbesondere im Talkschiefer, und von platinführenden Serpentinen stammen die gold- und platinführenden Seifengebirge, aus denen diese Metalle ausgewaschen werden. Das Gold ist stets von Magnet-, das Platin von Chromeisenstein aus dem zerstörten Muttergestein begleitet. Die Fläche, auf welcher Goldseifen vorkommen, berechnet man auf 40,500 qkm (735 QM.). Während die goldreichen Seifenwerke auf der asiatischen Seite liegen, finden sich die Platinseifen mehr auf der europäischen. 1884 wurden auf einer Fläche von 4591 qkm mit 42,690 Arbeitern aus goldhaltigem Sand 7960 kg Rohgold und im Laboratorium zu Jekaterinenburg 7093 kg Gold, 900 kg Platina und 560 kg Silber gewonnen; außerdem wurden 1167 kg Quarzgold und in zwölf Bergwerken 1339 kg Platina ausgegraben. An Kupfer, welches vorzugsweise gediegen, als Rotkupfererz und Malachit (z.B. bei Nishne-Tagilsk), und in kalkigen Kiesen (bei Bogoslowsk) etc. vorkommt, liefert der U. in acht Bergwerken mit 5309 Arbeitern 3600 Ton. Silber und Blei sind von geringerer Wichtigkeit, von um so größerer die Eisenerze, vorzüglich der bis in den südlichen U. verbreitete Magneteisenstein. Von dem Gesamtertrag aller Eisenhütten in ganz Rußland kommen auf das Gouvernement Perm allein 8/13 und auf die Demidowschen und Jakowlewschen Hütten 1/4. 1884 wurden in 59 Hüttenwerken 343,000 T. Roheisen, und in 7 Bessemerwerken 31,000 T. Stahl produziert; in der Eisenindustrie waren 133,493 Arbeiter thätig. Der größte Teil des Eisens kommt auf der Messe zu Nishnij Nowgorod in den Handel. An Manganerzen wurden 14,463 Doppelzentner gewonnen. Seit einigen Iahren wird am Westabhang auch Bergbau auf Steinkohlen betrieben (ca. 21,000 T.). Außerdem liefert der U. mannigfache schöne Gesteine und interessante Mineralien, welche zum Teil auch am U. für architektonische Zwecke und als Schmucksteine geschliffen werden, z. B. Porphyr, Jaspis, Kieselmangan, Achat, Bergkristall, Malachit u. a. Vor allem reich ist das kleine Ilmengebirge bei Mijask an Mineralien (Eläolith, Amazonenstein, großblätteriger sibirischer Glimmer, Pyrochlor, Äschynit, Titanit, Zirkon, prachtvolle Topase, Korund u. a.), ferner die Gegend von Slatoust im südlichen und die von Mursinsk im mittlern U. (mit mächtigen Topas-, Beryll- und Rauchtopaskristallen). In den Seifen von Bissersk hat man vor Jahrzehnten auch kleine Diamanten gefunden.

Während im arktischen U. die Kälte, im äußersten Süden die Trockenheit den Baumwuchs verhindern und im nördlichen U. nur in den Thälern die sibirische Lärche vorkommt, sind doch zwei Drittel des Urals mit dichtem Urwald, wo die Hüttenwerke ihn nicht aufgezehrt haben, bedeckt. Im N. unterbricht nur die Birke den Ernst der vorherrschenden Nadelwälder, während im südlichen U., dem lieblichsten Teil des Gebirges, alle Berghöhen mit gemischtem Laubwald (Kiefern, Linden, Birken, auch Eichen) bedeckt sind. Hier weidet der Baschkire seine Herden in den wasserreichen Thalgründen, während im höchsten Norden der Samojede mit seinen Renntierherden umherzieht. Der Wald ist reich an jagdbaren Tieren, darunter auch Pelztieren (Eichhörnchen, Füchse, Wölfe), an Wald- und Schneehühnern, Schnepfen und Wachteln, aber auch an Bären, die den vielen Beeren (Himbeeren, Vaccinien) nachgehen. Pflanzen- und Tierwelt schließen sich, den tiefen Süden ausgenommen, zu beiden Seiten des Gebirges ganz an die europäischen an. In der Mitte und im SO. liegen zahlreiche wohlhabende Städte mit vorherrschend russischer Bevölkerung, die sich hier in der Nähe der aufblühenden zahlreichen Berg- und Hüttenwerke (Sawody) angesiedelt hat. Jekaterinenburg im mittlern, Mijask und Slatoust, das uralische Birmingham, im südlichen U. sind die Mittelpunkte großartiger Thätigkeit. Die erste Eisenbahn über den U. ist 3. März 1878 von Perm nach Iekaterinenburg eröffnet worden. Vgl. Hofmann und Helmersen, Geognostische Untersuchung des Süduralgebirges (Berl. 1831); Humboldt, Fragments de géologie et de climatologie asiatique (deutsch, das. 1832); Rose, Mineralogisch-geognostische Reise nach dem U. (das. 1837-42, 2 Bde.); Murchison, Geology of Russia in Europe and the U. mountains (Lond. 1846; deutsch von Leonhard, Stuttg. 1847-48); Schrenk, Orographisch-geognostische Übersicht des Uralgebirges im hohen Norden (Dorp. 1849); Kowalki u. E. Hofmann, Der nördliche U. (Petersb. 1853, 2 Bde.); Ludwig, Überblick der geologischen Beobachtungen im U. (Leipz. 1862); Derselbe, Geognostische Studien (Darmst. 1862); Hochstetter, über den U. (Berl. 1873); Hiekisch, Das System des Urals (Dorp. 1882).

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Uralaltaische Sprachen - Uralit.

Uralaltaische Sprachen, weitverzweigte Sprachenfamilie, die auch als turanische oder finnisch-tatarische oder skythische oder altaische bezeichnet wird und sich von Ungarn und Finnland bis Nordostasien erstreckt. Sie wird gewöhnlich in fünf Hauptgruppen zerlegt:

1) Die finnisch-ugrische Gruppe, in Rußland und Ungarn, umfaßt das Finnische oder Suomi, das in Finnland von etwa 2 Mill. Menschen gesprochen wird, die altertümlichste Sprache dieser Gruppe, nebst dem Esthnischen in Esthland, dem im Aussterben begriffenen Livischen in Livland und einigen minder wichtigen Dialekten; das Lappische, in Lappland; dann östlich und südöstlich von den vorigen die immer mehr verschwindenden Nationalsprachen verschiedener kleinerer Stämme, der Tscheremissen zwischen Kasan und Nishnij Nowgorod, der Mordwinen an der mittlern Wolga, bis zum südlichen Ural hin, der Syrjänen, Wotjaken und Permier, nordöstlich von den vorigen, endlich die Sprachen der Ostjaken und Wogulen, am Ob über weite, aber sehr dünn bevölkerte Strecken sich ausdehnend, nahe verwandt mit der wichtigsten Sprache dieser Gruppe, dem Magyarischen der Ungarn. Das Magyarische, durch eine verhältnismäßig alte und bedeutende Litteratur ausgezeichnet, umfaßt ein größeres Gebiet im W. von Ungarn, von Preßburg an, wo das deutsche Sprachgebiet beginnt, und ein kleineres, von dem vorigen getrenntes im SO., wo es ringsum von Rumänen umgeben ist.

2) Die samojedische Gruppe, nördlich von der vorigen, am Eismeer hin weit nach Sibirien hinein reichend, zerfällt in vier Dialekte, die aber zusammen nur von ungefähr 20,000 Individuen gesprochen werden.

3) Die türkisch-tatarische Gruppe, die verbreitetste von allen, reicht von der europäischen Türkei mit geringen Unterbrechungen bis zur Lena und begreift folgende Sprachen in sich: Jakutisch, die Sprache der Jakuten, an der Lena im nordöstlichen Sibirien, welche ringsum von Tungusen (s. unten) umgeben sind; Kirgisisch, in dem an China angrenzenden Teil von Turkistan; Uigurisch, mit einem besondern, aus den syrischen Buchstaben zurechtgemachten Alphabet, nebst Turkmenisch, Tschagataisch und Uzbekisch, im übrigen Turkistan; Kumükisch, im nordöstlichen Kaukasus, und Nogaisch, nördlich vom Schwarzen Meer und in der Krim; Osmanli oder Türkisch, die wichtigste Sprache dieser Gruppe, in Konstantinopel, Philippopel und einigen andern Enklaven in der europäischen Türkei sowie im Innern von Kleinasien herrschend; verwandt damit ist das isolierte Tschuwaschisch, das von dem Tscheremissischen und Mordwinischen umschlossen wird.

4) Die mongolische Gruppe zerfällt in das eigentliche Mongolisch im nördlichen China, das Burätische am Baikalsee und das Kalmückische westlich davon, mit Ausläufern, die bis nach Südrußland reichen.

5) Die tungusische Gruppe, in Nordostasien, reicht vom Jenissei bis an das Ochotskische Meer, im NO. bis an das Eismeer, im S. bis weit nach China hinein. Die wichtigste der dazu gehörigen Sprachen ist das Mandschu, in der chinesischen Mandschurei, mit einer mehrere Jahrhunderte alten Litteratur und einem besondern Alphabet. Von einigen wird auch die Sprache der ältesten Gattung der Keilschrift, das Akkadische oder Sumerische, zu dem uralaltaischen Sprachstamm gezählt; doch ist die Verwandtschaft, wenn sie besteht, jedenfalls nur eine sehr entfernte. Ebenso zweifelhaft ist die von Ewald, Schott, Hofmann u. a. angenommene Verwandtschaft des Japanischen mit den uralaltaischen Sprachen. Auch die fünf oben genannten Gruppen stehen keineswegs in nahen Beziehungen zu einander und haben keine oder wenige Wörter und Wurzeln, vielmehr nur den grammatischen Bau miteinander gemein. Sie gehören nämlich alle der sogen. agglutinierenden Stufe des Sprachbaues (s. Sprachwissenschaft, S. 181) an, und zwar ist die Art der Agglutination bei ihnen eine ganz besondere, indem sie Wurzel und Flexionsendungen dadurch in eine feste Wechselbeziehung zu einander setzen, daß in den Endungen immer dieselbe Art von Vokalen erscheinen muß wie in der Wurzel. So heißt im Türkischen "von unsern Vätern" babalarumdan; aber der entsprechende Kasus von dedeh, "Großvater", lautet dede-lerinden, weil auf die "leichten" Vokale e der Wurzel auch in der Endung nur leichte Vokale folgen dürfen. In sämtlichen uralaltaischen Sprachen sind so die Vokale in leichte und schwere eingeteilt; doch gibt es daneben in vielen Sprachen auch neutrale Vokale. Andre allen fünf Gruppen gemeinsame Eigentümlichkeiten sind: die Aufeinanderhäufung einer fast unbegrenzten Anzahl von Endungen an die Wurzel, welche stets unverändert bleibt, die Anhängung des besitzanzeigenden Fürwortes an das Hauptwort und die Scheidung der Konjugation in eine bestimmte und unbestimmte. Die Sprachen jeder Gruppe sind meistens unter sich sehr nahe verwandt; namentlich ist es wichtig, zu bemerken, daß z. B. das Türkische sich vom Nogaischen in Südrußland nicht stärker unterscheidet als das Hochdeutsche vom Niederdeutschen und selbst von dem weit entfernten und isolierten Jakutischen an der Lena nicht mehr absteht als das Deutsche vom Skandinavischen. Stärker gehen die Sprachen der finnisch-ugrischen Gruppe auseinander und lassen sich insofern etwa den einzelnen Sprachenfamilien des indogermanischen Sprachstammes vergleichen. Über ihre Gruppierung gehen die Ansichten auseinander; die obige Aufzählung gründet sich auf die neuesten Untersuchungen von Budenz (s. d.), der sieben Unterabteilungen der finnisch-ugrischen Gruppe annimmt, während andre sie in vier Hauptzweige einteilen, den finnischen, permischen, ugrischen und wolga-bulgarischen Zweig. Die erste vollständige Nachweisung des Zusammenhanges der uralaltaischen Sprachen, welche eine der wichtigsten Entdeckungen der modernen Sprachwissenschaft ist, findet sich in den zahlreichen grammatischen Arbeiten des finnischen Sprachforschers Castren (s. d.). Vgl. auch Böhtlingk, Über die Sprache der Jakuten (Petersburg 1851); Boller, Die finnischen Sprachen (Berichte der Wiener Akademie 1853 -57); Ahlquist, Forschungen auf dem Gebiet der uralaltaischen Sprachen (Petersb. 1861); Vambéry, Tschagataische Sprachstudien (Leipz. 1867); Schott, Altaische Studien (Berl. 1860-72, 5 Hefte); Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes (Leipz. 1873); Budenz, Über ugrische Sprachvergleichung (Verhandlungen der Innsbrucker Philologenversammlung 1874); Derselbe, Über die Verzweigung der ugrischen Sprachen (in den "Beiträgen zur Kunde der indogermanischen Sprachen", 4. Bd., Götting.1878); Donner, Vergleichendes Wörterbuch der finnisch-ugrischen Sprachen (Helsingfors 1874-76, 2 Tle.); Prinz L. Bonaparte, Remarques sur la classification des langues ouraliques (in der "Revue de Philologie", Par. 1876); Winkler, Uralaltaische Völker und Sprachen (Berl. 1884); Derselbe, Das Uralaltaische und seine Gruppen (das. 1885).

Uralit, s. Hornblende.

Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl , XV. Bd. 66

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Verzeichnis der Illustrationen im XV. Band.

Seite

Sonne, Tafel 28

Spanien und Portugal, Karte 63

Spektralanalyse, Tafel 117

Sperlingsvögel, Tafel I u. II 126

Spinnmaschinen, Tafel 148

Spinnentiere, Tafel 153

Spinnfaserpflanzen, Tafel 155

Spiritusfabrikation, Tafel 163

Sprachenkarte, mit Textblatt 181

Steiermark, Karte 256

Steinkohlenformation, Tafel I u. II 272

Steinkohlenformation, Tafel III: Profil des Zwickauer Kohlenfeldes 272

Steinzeit, Kultur der, Tafel 280

Stenographie, Schrifttafel 290

Sternwarte, Tafel, mit Textblatt 306

Stettin, Stadtplan 307

Stockholm, Stadtplan, mit Karte der Umgebung 339

Straßburg, Stadtplan 371

Straußvögel, Tafel 383

Stubenvögel, ausländische, Tafel 401

Stuttgart, Stadtplan 408

Takelung, Tafel 495

Tanne, Tafel 510

Tauben, Tafel 536

Telegraph, Tafel I u. II 564

Terrakotten, antike, Tafel 598

Tertiärformation, Doppeltafel 601

Theaterbau, Tafel, mit illustriertem Textblatt 624

Thonwarenfabrikation, Tafel 663

Thüringer Wald, geologische Karte 683

Tintenschnecken, Tafel 716

Tirol, Karte 721

Tongting, Karte 751

Torfgewinnung, Tafel 760

Torpedos, Tafel 764

Triasformation, Doppeltafel 827

Türkisches Reich, Übersichtskarte 917

Türkisches Reich, Karte der Balkanhalbinsel 917

Türkisches Reich, Geschichtskarte 925

Uhren, elektrische, Tafel 976

Ungarn: Länder der ungarischen Krone, Karte 999

Abbildungen im Text.

Seite

Soest, Stadtwappen 2

Solferino, Kärtchen zur Schlacht bei 10

Sondershausen, Stadtwappen 26

Sonnenfinsternis, 4 Figuren 32

Sonnenmikroskop 35

Sonnenscheibe, geflügelte (ägyptisches Qrnament) 35

Sonnenuhr 36

Spandau, Stadtwappen 62

Spandrille 62

Spechter (Trinkglas) 112

Speier, Stadtwappen 115

Spektralanalyse, Fig. 1-6 118-119

Spektrometer 121

Sperrgetriebe, Fig. 1 u. 128

Spezia, Situationskärtchen 129

Spezifisches Gewicht (Apparate), Fig. 1-5 130-132

Spezifische Wärme: Kalorimeter, Fig. 1-3 132-133

Sphinx (im Berliner Museum) 135

Spiegel, antike, Fig. 1-4 136-137

Spiegelung, Fig. 1-9 139-141

Spinnen (Werkzeuge), 6 Figuren 147-149

Spinnerin, griechische (Vasenbild) 152

Spinnentiere (Pentastomum taenioides und denticulatum), 2 Figuren 154

Spiralpumpe 159

Spiritus: Apparate, Fig. 1-4 164-167

Spitzzahnornament 172

Sponton (Waffe) 175

Sprache: Mundstellung bei Vokalen, Fig. 1-3 177

Spremberg, Stadtwappen 186

Sprengen: Zündelektrisiermaschine, Fig. 1 u. 2 187

Sprengwerk (Bauwesen), Fig. 1-6 189

Stab (Baukunst) 207

Stade, Stadtwappen 210

Standfähigkeit 225

Stargard i. P., Stadtwappen 234

Stärke: Formen von Stärkemehlkörnern, Fig. 1 u. 2 236

Staubgefäße der Pflanzen, Fig. 1-8 246-247

Stechheber 252

Steinbrechmaschine 263

Steinverband (Bauwesen), Fig. 1-10 279

Stele (Grabstein) 283

Stelzenschuhe, 2 Figuren 284

Stendal, Stadtwappen 286

Stengel verschiedener Pflanzen etc., Fig 1-6 287-288

Stereometer 298

Stereoskop, Fig. 1 u. 2 299

Stettin, Stadtwappen 307

Stickmaschine, Fig. 1-3 317-318

Stockholm, Stadtwappen 339

Stolp, Stadtwappen 347

Stopfbüchse 349

Storchschnabel (Zeicheninstrument) 351

Strahlapparate, Fig. 1-5 366-367

Stralsund, Stadtwappen 368

Straßburg, Stadtwappen 372

Straßeneisenbahnen: Schienen, Fig. 1 u. 2 376

Streitäxte, Fig. 1 u. 2 385

Streithammer, Luzerner 386

Streitwagen, griechischer 386

Strickmaschine: Nadelbewegung, Fig. 1-6

Stromwender von Pohl u. Rühmkorff, Fig. 1 u. 2 393

Stuttgart, Stadtwappen 408

Stuttgart, Karte der Umgebung von 409

Südliches Kreuz (Sternbild) 422

Sydney, Situationskärtchen 454

Tahiti und Eimeo, Spezialkarte 493

Taktierbewegungen, 7 Figuren 497

Tangentenbussole 508

Tantalos (Vasenbild in München) 513

Telegraph: Stromleitungen, Fig. 1 u. 2 567

Tellereisen (Fangeisen), Fig. 1-3 577

Tempel, 6 Grundrisse 581

Tertiärformation: Nummulitenkalk 602

Testudo (Schilddach, Relief in Rom) 609

Theater, Grundriß eines griechischen 623

Thermoelektrizität: Elemente, Fig. 1-4 643

Thermometer, Fig. 1-8 644-646

Thonwaren: Töpferscheibe 663

Thorn, Stadtwappen 669

Thoth (ägyptischer Gott) 672

Thron (Zeus auf dem Thronos, Münze) 676

Thürklopfer 684

Thyrsos (Stab) 686

Tiara (Papstkrone) 687

Tiefenmessung: Bathometer, Fig. 1-3 695-696

Tilsit, Stadtwappen 711

Toga (Nationalkleid der Römer) 738

Tokio, Situationskärtchen 740

Torf, Fig. 1 u. 2 760 u.762

Torgau, Stadtwappen 763

Toulon, Situationskärtchen 781

Tourniquet (chirurgisches Instrument) 785

Tracheen der Eintagsfliege und der Wasserjungfer (Agrion), Fig. 1 u. 2 789

Träger (Bauwesen), Fig. 1-15 792

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Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

Trapez und Trapezoid 802

Trapezkapitäl 802

Treppe: Grundrisse, Fig. 1-8 820

Triangulation, Fig. l-6 824-827

Triasformation: Krinoidenkalk 828

Trier, Stadtwappen 837

Triest, Stadtwappen 839

Triest, Kärtchen der Umgebung von 839

Triforium (Baukunst) 842

Triglyph (Baukunst) 842

Trigonometrie, Fig. 1-3 842-843

Triklinium 843

Trinkhörner, griechische, Fig. 1 u. 2 848

Triquetrum (parallaktisches Lineal) 852

Triremen, Fig. 1 u. 2 852

Trisetum pratense (kleiner Wiesenhafer) 852

Triton (Statuen in Rom und Neapel), Fig. 1 u. 2 853

Troja, Kärtchen der Ebene von T. 859

Troja, Plan von Schliemanns Ausgrabungen 859

Trokar (chirurgisches Instrument), 5 Figuren 861

Trompe (Baukunst) 863

Trophäe (Tropäon, Münze) 865

Troppau, Stadtwappen 866

Tuba, antike (Kriegstrompete) 894

Tübingen, Stadtwappen 895

Tudorblatt (Baukunst) 898

Tum (ägyptischer Gott) 901

Tummler (Trinkgefäß) 901

Tunis, Kärtchen der Umgebung von 904

Tunnel, 3 Pläne (Unterwassertunnels) 907

Turbane, 3 Figuren 909

Turin, Stadtwappen 912

Tuttlingen, Stadtwappen 950

Tyche von Antiochia (Statue im Vatikan) 953

Tympanon (Pauke) 954

Typhon-Seth (ägyptische Mythologie) 955

Überschnittene Bauglieder 965

Uhr, Fig. 1-3 974

Ulm, Stadtwappen 983

Umbelliseren 988

Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

Ausgegeben am 24. Oktober 1889.

H. Hengsten in Wien. Sie finden die vermißte Biographie im Supplementband des Konversations-Lexikons, der auch das Register enthalten und die wichtigsten Artikel des Hauptwerks bis zur Gegenwart fortführen wird.

H. Hoffmann in W. Die Frage, ob der inländische Besitzer ausländischer Staatspapiere sich der Kouponsteuer des fremden Staats zu unterwerfen habe, wird von mehreren Nationalökonomen, so von A. Wagner, Roscher, Vocke u. a., bejaht. Die genannten Schriftsteller begründen ihre Ansicht damit, daß der Inländer, welcher sein Vermögen in russischen, englischen oder italienischen Staatspapieren fruchtbringend anlegt, auch seinerseits zur Befriedigung der Bedürfnisse des Staats, dessen Existenz und Einrichtung er seinen Zinsertrag verdankt, beitragen müsse. Auch die Handelswelt rechnete bisher mit der Kouponsteuer als einem gegebenen Faktor. Der Bankier, welchem Koupons ausländischer Papiere an Zahlungs Statt gegeben oder verkauft werden, zieht seinen Kunden die betreffende Steuer ab, da ihm selbst wiederum bei der Einlösungsstelle diese Summe gekürzt wird.

Gleichwohl hat das deutsche Reichsgericht neuerdings im entgegengesetzten Sinn erkannt. Nach der Ansicht unsers obersten Gerichtshofs ist der inländische Besitzer eines ausländischen Staatspapiers nicht verpflichtet, die von dem auswärtigen Staat auferlegte Kouponsteuer zu tragen, es sei denn, daß dieselbe gleichzeitig mit der Emission verfügt wurde. In dem letztern Fall hat nämlich der Gläubiger

durch den Kauf des Papiers in den Zinsabzug gewilligt. Er hat in dem Kaufvertrag die Kouponsteuer (als eine Vertragsbedingung) genehmigt. Anders dagegen liege die Sache, wenn der auswärtige Staat erst geraume Zeit nach erfolgter Emission die Kouponsteuer anordne. Hier könne er die Besitzer seiner Papiere in fremden Staaten nicht zwingen, die Kouponsteuer nachträglich anzuerkennen. Eine dahin gehende Verordnung habe allerdings für die eignen Unterthanen, nicht aber für Ausläuder bindende Kraft. Hielte man an der bisherigen Auffassung der Nationalökonomen und der Handelswelt fest, so müßte man dem ausländischen

Schuldner ein Recht zugestehen, das dem Inländer zugehörige Eigentum einzuziehen. Dies wäre aber um so bedenklicher, als in geldarmen Ländern die Anleihen gerade auf das Kapital des Auslandes gerichtet sind.

A. Z. in B. Mambour (richtiger Mambours) ist der Titel des Stadtvogts oder Schutzherrn, den sich die Stadt Lüttich zum Schutz ihrer Freiheiten gegen den Bischof zuerst 1465 aus den benachbarten weltlichen Fürsten wählte.

J. Moser in Mannheim. Der Orden pour le mérite ist so, wie er auf unsrer Tafel abgebildet wurde, durchaus richtig. Das Bildnis Friedrichs II. in der Mitte ist eine ganz außerordentliche Verleihung, und soweit unsre Erkundigungen reichen, kam eine solche Ausschmückung nur dreimal vor: Kaiser Wilhelm I. (das Exemplar Friedrich Wilhelms III.), Kronprinz Friedrich Wilhelm, später Kaiser Friedrich III., und Graf Moltke. Jedenfalls ist diese Verleihung höchst selten und gehört nicht zur Regel, und nur letztere war für unsre Tafel maßgebend.

S. M. in München. Der Name Georg Dannenberg als Inhaber des durch zahlreiche Romane bekannten Pseudonyms "Golo Raimund" war nicht der richtige Name des Verfassers, sondern eine Erfindung des Verlegers Karl Rümpler in Hannover, der auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Publikums von der wirklichen Verfasserin ablenkte. Als solche hat sich die vor einiger Zeit verstorbene Frau Bertha Frederich, geborne Heyn, in Hannover, Witwe des ehemaligen hannöverschen Hofmalers Dr. med. Frederich, herausgestellt. Einen kurzen Artikel über Golo Raimund wird der schon erwähnte Register- und Supplementband bringen.

K. M. in Mannheim, und viele andre. Auf eine Anfrage, ob die Besitzer des Eisernen Kreuzes als "Inhaber" oder als "Ritter" zu bezeichnen seien, hat die Generalordenskommission erwidert, daß bezüglich der Frage, inwieweit den Besitzern des Eisernen Kreuzes das Prädikat "Ritter" gebührt, eine Allerhöchste Entscheidung nicht ergangen ist. Es stehe hiernach in dem Belieben der beteiligten Personen, sich "Ritter" oder "Inhaber" dieser Auszeichnung zu nennen.

1044

Korrespondenzblatt zum fünfzehnten Band.

L.R. in Prag. Allerdings wird das Wort "Investition" auch im Sinn von "Kapitalanlage" gebraucht. Vielleicht dient es Ihnen, wenn wir eine Definition anführen, die in der "Zeitschrift für Eisenbahnen und Dampfschiffahrt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie", 1. Jahrg., 47. Heft, enthalten und vermutlich auf Professor Dr. L. v. Stein zurückzuführen ist. "Ihrem Begriff nach ist eine Investition nicht eine Kapitalanlage im allgemeinen, sondern die Vermehrung der produktiven Kraft irgend eines Unternehmens durch eine neue, dem alten Kapital hinzugefügte und mit ihm zur geschäftlichen Einheit erwachsende neue Kapitalanlage."

v. W. in Berlin. Die Stadt Rom hat erst seit kurzem (1888) die Wölfin mit den beiden Säuglingen aus ihrem Wappen entfernt, statt dessen den Wappenschild bekrönt und den Stern Italiens links neben die Inschrift S. P. Q. R. gesetzt, wie es unsre Abbildung auch bereits darstellt.

Otto Born, Neumühle-Düben. Das Sultanat Obbi oder Obbia an der ostafrikanischen Küste liegt im Somalland nördlich von der Mündung des Flusses Dschuba (Juba) oder Webi. Nach den italienischen Berichten hat der Landesherr die Schutzherrschaft Italiens nachgesucht, und dieselbe ist ihm denn auch nach Prüfung der Verhältnisse zugestanden, die Thatsache aber in Gemäßheit der Berliner Kolonialakte den Vertragsmächten mitgeteilt worden. Die Küste wurde bekanntlich schon früher von der Deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft beansprucht, doch hat das Deutsche Reich den Schutz über dieselbe nicht übernommen. Die Italiener beabsichtigen in Obbi eine Kohlenstation anzulegen und von hier Handelsverbindungen mit dem Innern anzuknüpfen. Eine Spezialkarte von "Sansibar und dem benachbarten Teil von Deutsch-Ostafrika" finden Sie im 14. Band.

S. K. in Gotha. Neuere, bei Gelegenheit des hundertsten Geburtstags angestellte Untersuchungen haben ergeben, daß August Neander nicht am 16., sondern am 17. Jan. 1789 geboren ist.

Julius Koch in Breslau; E. Waldeyer in P. Der Kardinal Charles Martial Allemand Lavigerie wurde 31. Okt. 1825 als Sohn eines Zolleinnehmers zu Bayonne geboren, wurde im Seminar St.-Sulpice in Paris zum Geistlichen gebildet und bekleidete später die Lehrkanzel für Kirchengeschichte an der Sorbonne. Infolge der Blutthaten in Syrien (1860) ward Lavigerie mit einer Mission in dieses Land betraut und dadurch allgemein bekannt, namentlich kam er in nahe Verbindungen mit dem französischen Kaiserhof. Dann ging Lavigerie nach Rom, wo ihn Papst Pius IX. zum Hausprälaten ernannte, 1863 wurde er auf den Bischofsstuhl von Nancy erhoben und 1867 auf den Vorschlag Napoleons III. zum Erzbischof von Algier ernannt. Hier war er unermüdlich thätig, er gründete neue Kirchen, Waisenhäuser für verlassene arabische Kinder und entwickelte einen außerordentlichen propagandistischen Missionseifer, so daß er sehr bald in Konflikt mit dem damaligen Militärgouverneur von Algerien, Mac Mahon, geriet. Doch wuchs sein Einfluß derart, daß Lavigerie vom Papst zum Primas des afrikanischen Erdteils ernannt wurde und in der Folge die Würden eines apostolischen Delegaten für den Sudân, die Sahara und Äquatorialafrika bekleidete. Auf dem römischen Konzil (1869) war Lavigerie einer der eifrigsten Anhänger des Unfehlbarkeitsdogmas, ohne jedoch eine besondere Rolle zu spielen. LeoXIII. ernannte ihn zum Kardinal und erhob ihn auf den wiederhergestellten erzbischöflichen Stuhl von Karthago, doch behielt Lavigerie seine frühere Residenz Algier bei. Seine Versuche, in die französische Nationalversammlung gewählt zu werden, schlugen zweimal (1870 und 1871) fehl. Lavigerie arbeitete seitdem unablässig an seinem großen religiös-humanitären Werk, der Abschaffung der Sklaverei in Afrika in Verbindung mit der katholischen Mission. Mit seinen Predigten und Vorträgen in der St.-Sulpicekirche zu Paris, in St.-Gudule zu Brüssel und in London hatte er beispiellosen Erfolg; auch Italien, wo er in Rom, Neapel, Mailand Vorträge hielt, sucht er für sein Werk zu gewinnen. Schriftstellerisch bethätigte sich der Kardinal durch Herausgabe von Lehrbüchern; auch seine akadem. Vorträge über die "Irrlehren des Jansenismus" erschienen im Druck (1858).

Karl Buchwald in Wien. Ihre Militärangelegenheiten hier im Korrespondenzblatt zu besprechen, müssen wir aus Rücksicht für unsre übrigen Leser ablehnen. Wenden Sie sich an eine deutsche Behörde.

v. W. in Königsberg. Sie finden "Hydrokarbongas" unter dem Stichwort Wassergas.

v. M. in R. Ruy Blas, der Held des Schauspiels von Victor Hugo, ist lediglich eine Erfindung des Dichters, der sich selbst darüber in dem Vorwort ausgesprochen hat. Die Königin ist zwar dem Namen, aber nicht dem Wesen nach historisch. Die Sache finden Sie besprochen bei Morel-Fatio, "Études sur l'Espagne", 5. Serie (Par. 1888), und in einem kürzlich erschienenen Aufsatz von K. Heigel: "Maria Anna von Neuburg, Königin von Spanien" (im 7. Hefte der Zeitschrift "Vom Fels zum Meer" 1888/89).

Karl Zehnder in M. Die Schachspieler zweiten und dritten Ranges, über welche von verschiedenen Zeitschriften teils aus Pietät, teils aus besonderer Gunst biographische Notizen gebracht werden, und die sich auf Hunderte belaufen, können im Konversations-Lexikon nicht berücksichtigt werden. Einen Artikel über die "Problemkunst" finden Sie im Register- und Supplementband, der sich unmittelbar an das Hauptwerk anschließen und neben dem "Register" der nicht als selbständige Artikel vorkommenden Schlagworte auch die notwendig gewordenen Nachträge und Ergänzungen bringen wird.

H. G. in Charkow. Die Stadt Magdeburg, d.h. der alte Kern derselben, hat jetzt nur noch eine katholische Kirche; eine zweite befindet sich in Sudenburg, eine dritte in Neustadt. Die Liebfrauenkirche steht jetzt als Kirche unbenutzt.

Krauß in Budapest. König Alfons XII. von Spanien ist erst nach dem Druck des Artikels gestorben, weshalb sein Todestag nicht erwähnt sein kann. Übrigens ist letzterer am Schluß des 7. Bandes, der doch wohl längst in Ihrem Besitz ist, im "Nekrolog" verzeichnet.

Abonnent. Sie müssen unter Skrofeln suchen!

Dr. Rose in M. Das sogen. Baptisterium zu Winland, eins der im Art. "Baukunst" (S. 496) erwähnten Rundgebäude in Grönland, soll nach Palfreys "History of New England" eine von dem Gouverneur Arnold um 1670 erbaute Windmühle sein. Vgl. Gust. Storm in den "Jahrbüchern der königlichen Gesellschaft für nordische Altertumskunde in Kopenhagen" 1887, S. 296.