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Tüll - Tümpling.

geientulpen) haben sehr große, unförmliche Blumen von schöner Farbe (gelb und rot), mit weit abstehenden, zerrissen gefransten Kronblättern. Die Kultur stimmt im wesentlichen mit der der Hyazinthen überein. Die zur Erlangung neuer Spielarten aus Samen gezogenen Tulpen blühen meist erst im siebenten Jahr.

Tüll, Gewebe, bei welchen feine, untereinander gut gebundene Fäden regelmäßige Zellen bilden, indem je zwei beisammenliegende Kettenfäden nach jedem Einschuß sich kreuzend verschlingen. T. wird aus Gespinsten von verschiedener Feinheit (bis zu Nr. 120) gewebt und kommt glatt und einfach oder gestreift, gemustert, in Seide broschiert oder auch auf weißem oder schwarzem Grund mit bunten Blumen gestickt vor. Englischer T., s. v. w. Bobbinet.

Tullamóre, Hauptstadt der irischen King's County, hat lebhaften Handel, Brennerei, Tabaksfabrikation und (1881) 5098 Einw. Dabei Tullabeg mit Jesuitenschule.

Tulle (spr. tüll), Hauptstadt des franz. Departements Corrèze, früher Hauptstadt von Niederlimousin, am Einfluß der Solane in die Corrèze und an der Eisenbahn Clermont-Brive, hat meist alte Häuser und abschüssige Straßen, aber schöne Promenaden, eine Kathedrale aus dem 12. Jahrh., ein Kommunalcollège, ein Priester- und ein Lehrerseminar, eine Gewerbeschule, eine öffentliche Bibliothek und ein Theater. T. hat eine große Waffenfabrik, dann Fabriken für Papier, Leder, Woll- und Baumwollenzeuge, Eisenwaren, Schokolade etc., Färbereien, starken Handel und (1886) 8974 (als Gemeinde 16,277) Einw. Die Fabrikation der nach der Stadt benannten Spitzen (Plisse de T.) hat aufgehört. Die Stadt ist der Sitz eines Bischofs, eines Präfekten, eines Gerichts- und Assisenhofs und eines Handelsgerichts. In der fränkischen Zeit kommt T. als Tutela vor.

Tullins (spr. tüllang), Stadt im franz. Departement Isère, Arrondissement St.-Marcellin, an der Eisenbahn Valence-Chambéry, hat Fabrikation von Maschinen, Bändern, Packpapier, wollenen Decken etc. und (1881) 3342 Einw.

Tullius, röm. Geschlecht, dem unter andern die plebejische Familie der Ciceronen angehörte. S. Cicero.

Tulln, Stadt in der niederösterreich. Bezirkshauptmannschaft Hernals, an der Mündung der beiden Tullnbäche in die Donau und an der Staatsbahn Wien-Gmünd-Prag, welche hier die Donau auf einer großen Gitterbrücke überschreitet, und an welche hier die Linie T.-St. Pölten anschließt, hat ein Bezirksgericht, 2 Kirchen, eine alte Dreikönigskapelle, Kasernen, Schiffahrt und (1880) 3234 Einw. T. ist eine der ältesten Städte an der Donau, das Comagenä der Römer, Standort ihrer Donauflotte. Nach dem Nibelungenlied empfing hier Etzel Kriemhild. Die fruchtbare Umgebung der Stadt heißt das Tullner Feld. Vgl. Kerschbaumer, Geschichte der Stadt T. (Wien 1874).

Tüllpapier, s. v. w. Spitzenpapier.

Tullus Hostilius, der dritte röm. König, 672-640 v. Chr., Nachfolger des Numa Pompilius, Enkel des Hostius Hostilius, der unter Romulus gegen die Sabiner gekämpft hatte, zerstörte Albalonga und siedelte die Einwohner auf dem Mons Cälius in Rom an. Auch mit den Sabinern führte T. glückliche Kriege. Da er aber den Dienst der Götter vernachlässigte, so schickten diese erst einen Steinregen, dann eine Pest und schlugen ihn endlich selbst mit einer schweren Krankheit, und als er deshalb den Jupiter Elicius durch gewisse geheime Gebräuche nötigen wollte, ihm die Mittel der Sühne zu offenbaren, traf ihn Jupiters Blitz, der ihn und sein Haus verbrannte.

Tuloma, Fluß im russ. Lappland, kommt aus dem Nuotsee, fließt nordöstlich und mündet unterhalb Kola in eine tiefe Bucht des Eismeers.

Tulpe, s. Tulipa.

Tulpenbaum, Pflanzengattung, s. Liriodendron.

Tultscha (Tulcea), Hauptstadt eines Distrikts in der rumän. Dobrudscha, rechts an der Donau, welche sich in der Nähe der Stadt in ihre drei Hauptmündungsarme teilt, hat 7 Kirchen, darunter eine armenische und eine katholische, 2 Moscheen, ein Gymnasium, einen stark besuchten Hafen und 21,826 Einw. (darunter 3000 Russen, 1600 Griechen, 800 Türken, 700 Tataren, 200 Deutsche). T. ist Sitz eines Divisionskommandos. Zwischen Matschin und T. 9. Juni 1791 Sieg der Russen unter Repnin über 20,000 Türken.

Tulu, drawidische Volkssprache in Südindien (s. Drawida), in und um Mangalur, mit eignem, aber mit der Sanskritschrift verwandtem Alphabet, nur von etwa 30,000 Menschen gesprochen. Vgl. Brigel, Grammar of the T. language (Mangalur 1872).

Tulucunaöl, s. Carapa.

Tulumbadschi (türk.), Name der Feuerwehr in Konstantinopel, die seit alten Zeiten ein strenges Zunftwesen bildete und ihre Hilfe für Geld verdingte. In neuerer Zeit hat die Pforte eine Umgestaltung der T. nach europäischem Muster veranlaßt, welche von dem Grafen Edmund Széchényi ins Werk gesetzt wurde.

Tuluniden, die älteste selbständige arab. Dynastie in Ägypten, nach ihrem Gründer Achmed ibn Tulun (gest. 888) genannt, herrschte 872-904.

Tum, ägypt. Gott in menschlicher Gestalt mit der Pschentkrone abgebildet (s. Figur) ist eine Form des Sonnengottes, die besonders in Heliopolis verehrt wurde. Wie Ra die Sonne des Tags ist, so T. die der Nacht, welche die untere Hemisphäre erleuchtet.

[Tum.]

Tumaco, Bai und kleine Hafenstadt auf gleichnamiger Insel im Staat Cáuca der Republik Kolumbien, am Stillen Ozean, mit Zollhaus und (1870) 2642 Einw. Es ist der Hafen von Barbacóas.

Tumba (lat.), ein kistenartiges oder auf Füßen ruhendes Grabdenkmal.

Túmbes, Hafenort im Departement Piura (Peru), am Fluß gleiches Namens, mit (1876) 1851 Einw. Hier landete 1527 Pizarro.

Tumerikwurzel, s. Curcuma.

Tumlung, siames. Münze, = 4 Bat od. Tikal (s. d.).

Tummler (niederd., hochd. Taumler), ein halbkugelförmiges, henkel- u. fußloßes Glasgefäß zum Trinken, welches sich, zur Seite gelegt, wieder aufrichtet, im Volksmund auch Stehauf genannt (s. Abbildung).

[Tummler.]

Tümmler, s. Delphine (S. 652) und Tauben (S. 536).

Tumor (lat.), Geschwulst; T. albus, Gliedschwamm.

Tümpling, Wilhelm von, preuß. General, geb. 30. Dez. 1809 zu Pasewalk, studierte anfangs die

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Tumult - Tungusische Sprache

Rechte, trat 1830 in das Regiment Garde du Korps ein und machte später seine Karriere hauptsächlich im Generalstab. Von 1853 an kommandierte er die Gardekürassiere, von 1854 an das 1. Gardeulanenregiment, als Oberst dann die 11. Kavalleriebrigade. 1863 führte er als Generalleutnant die 5. Division nach Schleswig-Holstein, kommandierte dieselbe Division mit Auszeichnung im österreichischen Feldzug 1866, in dem er bei Gitschin 29. Juni schwer verwundet wurde, und erhielt zu Beginn des Kriegs von 1870/71 als General der Kavallerie das Kommando des 6. Armeekorps, fand aber wenig Gelegenheit, sich auszuzeichnen. 1883 zur Disposition gestellt, starb er 13. Febr. 1884 in Thalstein bei Jena.

Tumúlt (lat.), s. v. w. Aufruhr; tumultuarisches Verfahren, diejenige Behandlung eines Prozesses, in welcher die prozessualischen Handlungen nicht in der ordnungsmäßigen Reihenfolge geschehen.

Tumulus (lat.), Erd-, Grabhügel; s. Gräber, prähistorische.

Tun (spr. tönn), engl. Flüssigkeitsmaß für Wein, = 252 Gallons, für Bier = 216 Gallons (s. d.).

Tûn, ansehnliche Stadt in der pers. Provinz Chorasan, unter 34° nördl. Br. gelegen und mit einem für jene wüsten Gegenden bedeutenden Kulturgürtel umgeben. Obwohl eine der festesten Städte Persiens, vermag sie doch einem regelrechten Angriff nicht standzuhalten, weil die Werke total vernachlässigt sind. Sie mißt ca. 6 km im Umfang (wovon jedoch nur etwa ein Achtel mit Häusern bedeckt ist) und zählt etwa 8000 Einw. Produziert wird viel Tabak, Opium und auch Seide.

Tunbridge (Tonbridge, spr. tönnbriddsch), Stadt in der engl. Grafschaft Kent, am schiffbaren Medway, hat eine 1554 gegründete Lateinschule, ein Schloß mit normännischem Thorweg, Fabrikation von lackierten Holz- und Drechslerwaren und (1881) 9317 Einw.

Tunbridge Wells (spr. tönnbriddsch), Stadt in der engl. Grafschaft Kent, 8 km südlich von Tunbridge, nächst Bath der älteste Badeort Englands, aber mehr wegen seiner guten Luft als seiner Stahlquellen besucht, hat einen Kursaal, Badeanstalten, zahlreiche Villen, liegt malerisch auf drei Hügeln, hat Fabrikation von lackierten Holz- und Drechslerwaren und (1881) 24,309 Einw.

Tundra ("Moossteppe"), die im nördlichsten Asien und Europa jenseit der Baumgrenze gelegenen weiten Landstrecken mit kümmerlichem Pflanzenwuchs, der hauptsächlich aus Moosen und Flechten besteht. Bedingt wird diese mangelhafte, mit einem Vorwiegen der Kryptogamenflora und einem Zurücktreten der Phanerogamen verbundene Entwickelung der Vegetation einerseits durch die Bodenform und Höhenlage der betreffenden Gebiete, anderseits durch das Klima und die mangelhafte Wirkung der Sonnenstrahlen. Letztere vermögen den Boden nur bis zu sehr geringer Tiefe aufzutauen, die Luft nur dicht am Boden zu erwärmen, so daß die Existenz tiefwurzelnder und hochstämmiger Pflanzen unmöglich wird. In neuester Zeit wird der Name T. auch auf die gleichartigen Barren Grounds von Nordamerika angewandt.

Tundscha, Fluß in Ostrumelien, entspringt auf dem Balkan bei Kalifer, fließt erst östlich zwischen Balkan und Tscherna Gora, dann südlich und fällt bei Adrianopel links in die Maritza.

Tunesien, s. Tunis.

Tungbaum, s. Aleurites.

Tungrer (Tungri), german. Völkerschaft in Gallia Belgica, welche die Sitze der 53 vernichteten Eburonen an der mittlern Maas einnahm, mit dem Ort Aduatuca Tongrorum (jetzt Tongern).

Tungstein, s. Scheelit.

Tungsteinsäure, s. Wolfram.

Tungting, See, s. Hunan.

Tunguragua, Provinz des südamerikan. Staats Ecuador, umfaßt die Hochebene von Ambato (2573 m) und den Ostabhang der Kordillere und hat ein Areal von 5050 qkm (91,7 QM.) mit (1885) 79,526 Einw. Genannt ist die Provinz nach dem noch thätigen Vulkan von T. (5087 m) in der östlichen Kordillere. Hauptstadt ist Ambato.

Tunguragua, 1) Vulkan der Kordilleren im sudamerikan. Staat Ecuador, nordöstlich von Riobamba, 5087 m hoch; 1873 von A. Stübel zum erstenmal bestiegen. Ein furchtbarer Ausbruch, bei welchem mehrere Berggipfel zusammenstürzten, erfolgte 1797. -

2) Fluß, s. Amazonenstrom, S. 444.

Tungusen (s. Tafel "Asiatische Völker", Fig. 11), zur mongol. Rasse gehöriges Jägernomadenvolk in Sibirien, das in ganz Ostsibirien verbreitet ist und in zahlreiche, nach Sprache und Sitte mehr oder weniger weit auseinander gegangene Stämme zerfällt. Ihre eigentliche Heimat scheint das Amurland zu sein, in welchem sie das höchste Maß der ihnen bisher zugänglichen Kultur erreicht, und von wo aus sie sich bis zum Jenissei, den Eismeerküsten und Kamtschatka verbreitet haben. Sie sind von mittlerm Wuchs mit verhältnismäßig ziemlich großem Kopf, breiten Schultern, etwas kurzen Extremitäten und kleinen Händen und Füßen; ihre Konstitution ist eine trockne, hagere, sehnig-muskulöse; fettleibige Gestalten findet man unter ihnen nicht. Die Hautfarbe ist mehr oder weniger gelbbräunlich, das Auge braun, das Haar schwarz, schlicht, struppig und stark, das Barthaar auf Lippen, Backen und Kinn sehr spärlich; die Kopfbildung ist entschieden, wenn auch abgeschwächt, mongolisch. Das Gesicht trägt den Ausdruck der Gutmütigkeit und Indolenz. Ihre Zahl wird auf 70,000 geschätzt. Unter den verschiedenen Stämmen lassen sich in sprachlicher Beziehung vier Gruppen bilden: 1) Dauren und Solonen, Stämme mit starker mongolischer Beimischung; 2) Mandschu, Golde, Orotschen; 3) Orotschonen, Manägirn, Biraren, Kile; 4) Oltscha, Oloken, Negda, Samagirn (s. Tungusische Sprache). Die beiden ersten Gruppen bilden den südlichen oder mandschurischen Ast des tungusischen Volksstammes, die beiden andern umfassen Zweige seines nördlichen, bis zum Jenissei, dem Eismeer und Kamtschatka verbreiteten sibirischen Astes. Der Hauptreichtum der T. ist das Renntier, die Jagd auf Pelztiere ihre Hauptbeschäftigung; ihre Hauptnahrung besteht in Fleisch und Milch des Renntiers, getrockneten Fischen, einer Art Käse und Butter u dgl. Ihre Kleidung setzt sich zusammen aus Beinkleidern, der Parka, einer Art Bluse, die vorn geschlossen ist und über den Kopf weg angelegt wird, der Dacha, einem Mantel ohne Ärmel, alles aus Renntierfell, wobei die beiden letztern Stücke mit den Haaren nach außen getragen werden. Dazu eine Pelzmütze und Stiefel und Strümpfe von demselben Material wie Parka und Dacha. Wenige T. sind Christen, die Mehrzahl bekennt sich zum Schamanismus. Vgl. Hiekisch, Die T. (2. Aufl., Dorpat 1882); F. Müller, Unter T. und Jakuten (russische Olenek-Expedition, Leipz. 1882); Schrenck, Die Völker des Amurlandes (St. Petersb. 1881).

Tungusische Sprache. Tungusisch im weitern Sinn heißen alle zur tungusischen Gruppe des uralaltaischen Sprachstammes (s. d.) gehörigen Sprachen, von denen die Mandschusprache (s. d.) die hervorra-

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Tunguska - Tunikaten.

gendste ist. Im engern Sinn versteht man darunter die Sprache der Orotschonen und andrer in Sibirien lebender Stämme, die von Castren ("Grundzüge einer tungusischen Sprachlehre", Petersb. 1856) und Schiefner (im "Bulletin der Petersburger Akademie" 1859) grammatisch bearbeitet worden ist.

Tunguska (Obere T.), Fluß, s. Angara.

Tunika (lat.), röm. Kleidungsstück für Männer und Frauen, das unter der Toga unmittelbar auf dem Körper getragen wurde. Sie wurde über den Hüften durch einen Gürtel zusammengehalten und reichte bis unter die Kniee herab. Sie war von weißer Wolle gefertigt und anfangs ohne Ärmel; später wurden kurze, nicht bis an die Ellbogen reichende Ärmel üblich. Die Frauen trugen über der innern, ärmellosen T. noch eine zweite mit Ärmeln (stola), die den halben Oberarm bedeckte und nach der Außenseite einen durch Agraffen (tibulae) zusammengehaltenen Schlitz hatte. Die T. der Knaben und Soldaten war hochrot (tunica russa). An der T. der Senatoren war in der Mitte von der Brust herab bis zum untern Saum ein Purpurstreif angewebt (t. laticlavia); die der Ritter war durch zwei dergleichen schmale Streifen ausgezeichnet (t. angusticlavia), doch trugen letztere zur Kaiserzeit auch die t. laticlavia. Die Triumphatoren trugen Purpurtuniken, auf deren Saum Palmen in Gold gestickt waren (t. palmata). Die einfarbige, unverzierte T. (t. recta) erhielten die Jünglinge zugleich mit der toga virilis und Jungfrauen, wenn sie heirateten, als Brautkleid von ihren Eltern. - Die T. der römischen Bischöfe ist ein leinenes Gewand von weißer Farbe, das bis auf die Füße reicht und durch das Cingulum (s. d.) um die Hüften festgehalten wird.

Tunikaten (Tunicata Lam., Manteltiere), hoch entwickelte Seetiere, deren meist sack- oder tonnenförmiger Körper von einem Mantel, d. h. einer eigentümlichen, oft außerordentlich dicken, bald gallertigen, bald lederartigen oder knorpeligen Hülle, umgeben ist (s. Tafel "Mollusken und Tunikaten"). Diese wird von der eigentlichen Haut des Tiers abgeschieden und enthält einen der pflanzlichen Cellulose ungemein nahe verwandten Stoff. Sie besitzt zwei Öffnungen, die eine zur Einfuhr von frischem Wasser mit den in ihm befindlichen Nahrungssubstanzen, die andre zur Entfernung des zum Atmen unbrauchbar gewordenen Wassers sowie der Exkremente, Eier etc. Beide Öffnungen liegen entweder einander sehr nahe oder an den entgegengesetzten Körperenden und sind durch Muskeln mehr oder weniger verschließbar. Der Innenfläche des Mantels, welcher zu seiner Ernährung von Blutgefäßen durchzogen wird, liegt die Hautschicht des Tiers dicht an. Von ihr umschlossen ist im Vorderende die sehr geräumige Atemhöhle, in welcher das aufgenommene Wasser mit der in ihr befindlichen Kieme in Berührung kommt und so die Atmung vermittelt. Die Kieme selbst besteht bei vielen T. aus einem grobmaschigen Sack, bei andern aus einem hohlen Cylinder mit durchbrochener Wandung oder einfach aus einer dünnen, in der Atemhöhle ausgespannten Scheidewand mit vielen Lücken. In allen Fällen bewegt sich das Wasser, durch zahllose Flimmerhaare in fortwährender Strömung längs den Wandungen der Kieme erhalten, vom Vorderende weiter nach hinten, wo im Grunde der Atemhöhle der eigentliche Mund des Tiers liegt. Die Nahrungsteilchen, welche es mitbringt, werden aber schon von der Eingangsöffnung ab durch eine besondere Flimmerrinne, welche einen zähen Schleim zu ihrer Festhaltung absondert, dem Mund zugeführt und gelangen darauf in den Magen. Der Darm endet durch den After entweder direkt in den hintern Teil der Atemhöhle oder in einen besondern Abschnitt derselben, die sogen. Kloake. Neben dem Darm liegt das dünnwandige, beutelförmige Herz. Das Blut wird von demselben einige Minuten in den Gefäßen in einer bestimmten Richtung vorwärts getrieben, hört dann kurze Zeit ganz zu fließen auf und zirkuliert darauf in der entgegengesetzten Richtung, so daß die kurz vorher als Arterien fungierenden Gefäße nun zu Venen werden und umgekehrt. Das Nervensystem besteht in der Hauptsache aus einem zwischen Einfuhr- und Ausfuhröffnung gelegenen Ganglion, in dessen Nähe sich meist ein Auge sowie ein Gehörbläschen befindet. Über die Niere ist nichts Genaueres bekannt. Die Geschlechtsorgane sind im allgemeinen einfach gebaut. Alle T. sind im anatomischen Sinn Zwitter, befruchten sich jedoch nicht selbst und haben gewöhnlich auch nicht einmal zu gleicher Zeit reife Eier und reifen Samen, sondern vielfach erstere früher als letztern. Außer der geschlechtlichen Fortpflanzung ist aber noch die ungeschlechtliche durch Knospung sehr verbreitet. Sie liefert Kolonien, bei welchen die Individuen häufig ganz bestimmt und charakteristisch gruppiert sind. Die Eier entwickeln sich in der Atemhöhle oder der Kloake, so daß meist die Jungen lebendig geboren werden. Bei den im Alter festsitzenden T. (s. Ascidien) schwärmen sie, mit einem später abfallenden Ruderschwanz versehen, noch eine Zeitlang umher, heften sich dann an und bilden unter Umständen sofort durch Knospung eine kleine Kolonie. Bei der andern, frei schwimmenden Gruppe (s. Salpen) wechselt geschlechtliche u. ungeschlechtliche Fortpflanzung regelmäßig miteinander ab, so daß ein Generationswechsel vorliegt. Über die Stellung der T. im Tierreich sind die Forscher nicht einig. Früher ordnete man sie aus Grund ihres weichen Körpers allgemein den Mollusken unter, hat sie aber gegenwärtig von diesen abgetrennt und vereinigt sie entweder mit den Bryozoen (s. d.) zu der Gruppe der Molluskoideen oder läßt sie besser ganz selbständig sein. Da sie aber aus andern Tieren hervorgegangen sein müssen, so gibt man ihnen als Vorfahren entweder die Würmer, und zwar eine ausgestorbene Gruppe derselben, oder die Wirbeltiere. Mit den letztern haben sie nämlich in der Entwickelung so viel Gemeinsames (vgl. Ascidien und Amphioxus), daß nahe Verwandtschaft zwischen beiden mit Recht angenommen werden darf. Indessen ist bisher noch nicht festgestellt worden, ob die Wirbeltiere von den T. oder diese von jenen abstammen. Im erstern Fall gäbe es eine stetig aufsteigende Linie: Würmer; T. (Ascidien); Amphioxus als ältestes Wirbeltier; fischähnliche Wesen; echte Fische etc.; im zweiten dagegen sowohl eine absteigende: fischähnliche Wesen; Amphioxus als erst wenig rückgebildet; T. (Ascidien) als völlig rückgebildet, als auch eine aufsteigende: fischähnliche Wesen; Fische etc., so daß dann die T. sozusagen einen herabgekommenen Seitenzweig des Hauptstammes der Wirbeltiere darstellen würden. Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner des Meers. Teils sind sie auf allen möglichen Unterlagen festgewachsen und finden sich dann sowohl an der Flutgrenze als in bedeutenden Tiefen; teils schwimmen sie auf der Oberfläche oft weit von den Küsten und in großen Scharen umher. Sie nähren sich von kleinsten tierischen und pflanzlichen Wesen, die mit dem Wasser in ihre Atemhöhle geraten und dort zum Mund gelangen. Viele unter ihnen leuchten mit prachtvollem Licht. Fossile Formen sind bisher nicht aufge-

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Tunis (Beschreibung des Landes).

funden worden. - Man teilt die T. in zwei große Gruppen: die meist festsitzenden Ascidien (s. d.) oder Seescheiden und die frei schwimmenden Salpen (s. d.).

Tunis (Tunesien), ehemaliger Vasallenstaat des türk. Reichs in Nordafrika (s. Karte "Algerien etc."), seit 12. Mai 1882 Schutzstaat Frankreichs, wird im N. und O. vom Mittelländischen Meer, im SO. von Tripolis, im SW. und W. von Algerien begrenzt und hat ein Areal von 116,000 qkm (2107 QM.). Der östliche Küstensaum ist flach, sandig und unfruchtbar, der nördliche dagegen hoch, steil und felsig. Der nördliche und westliche Teil des Innern ist im allgemeinen sehr gebirgig. Waldreiche Gebirgsmassen bilden eine maritime Gebirgszone, welche im S. durch eine breite ebene Zone begrenzt wird, und an welche sich weiter im S. eine zweite hohe Gebirgsregion als dritte Zone anschließt, sich im Dschebel Mechila bis 1477 m erhebt und in einem langen Ast in den Ras Addar (Kap Bon) ausläuft. Im SW. des Landes, nach Gafsa zu, steigen nochmals Bergmassen auf, und südlich von diesen bilden die wüsten, felsigen Ebenen des Biled ul Dscherid eine vierte Zone. Am Küstenrand treten zahlreiche Vorgebirge hervor, so an der Nordküste Ras Addar (Kap Bon), Kap Blanc u. a. Von den Meerbusen sind im NO. der Golf von T., an der Ostseite die Meerbusen von Hammamet und Gabes (Kleine Syrte) die ansehnlichsten; vor dem letztern liegen die Inseln Kerkena und Dscherba. Die gebirgigen Teile im N., NW. und W. des Landes sind sehr quellenreich; desto wasserärmer sind die großen Ebenen im südlichen Teil des Landes, in denen jedoch ausgedehnte unterirdische Wasserbecken nachgewiesen worden sind. Die meisten von den Gebirgen herabkommenden Bäche und Flüßchen (Wadi) verlieren sich im Sand oder erreichen als Küstenflüsse nach kurzem Lauf das Meer. Kein einziger Fluß ist schiffbar. Der bedeutendste ist der Medscherda, der bei Porto Farina in das Mittelmeer mündet, nächst ihm der Wadi el Kebir und der Wadi el Miliana. Man meinte früher, daß die Schotts im S. des Landes eine Depression bildeten, indes ist dies nur mit dem Schott Gharsa (-21 m), welcher mit dem schon auf algerischem Gebiet liegenden Schott Melrir (-29 m) in Verbindung steht, der Fall. Die von diesen durch eine Bodenschwelle getrennten, weit größern Schotts Dscherid und Fedschedsch liegen bereits 16-25 m ü. M.; die (von Roudaire befürwortete) Durchstechung der Landenge von Gabes würde daher nur ein beschränktes Binnenmeer schaffen. Mineralquellen gibt es bei Tunis (Hammam el Enf), zu Gurbos, Tozer und Gafsa. An der Küste ist das Klima gemäßigt, gleichförmig und gesund, der Winter gleicht unserm Frühjahr. Im Juli und August steigt unter dem Einfluß der Glutwinde aus der Sahara das Thermometer bis auf 40, ja 50° C. Vom Oktober bis zum April regnet es häufig. Die Vegetation hat mediterranen Charakter; auch an kahlen Hochebenen wächst massenhaft das Halfagras und harzgebende Akazien, die Schotts sind von großen Dattelpalmenhainen umsäumt; Wälder befinden sich zwar nur an der Nordküste, enthalten dort aber prachtvolle Bäume. Aus dem Tierreich ist Rindvieh in großer Zahl vorhanden, auch hat man eine zur Fettschwanzgattung gehörige Art von Schafen; ausgezeichnet sind die Pferde und Dromedare. Bei Tabarka fischt man Korallen. Mineralprodukte sind außer dem an der Küste gewonnenen Salz nur die Salpeterablagerungen bei Kairuan, Bleierze an mehreren Stellen, bei Bescha und am Dschebel Resas (Bleiberg) bei Tunis, endlich Quecksilber, das nicht gefördert wird, bei Porto Farina. Die Bevölkerung beträgt ca. 1½ Mill. Seelen, darunter 45,000 Israeliten, 35,000 Katholiken, 400 Griechisch-katholische und 100 Protestanten; den Rest bilden Mohammedaner. Die Juden, meist aus Spanien und Portugal stammend, wohnen in den Städten, wurden vor der französischen Okkupation sehr unterdrückt, haben jetzt aber gleiche Rechte mit andern. Die Zahl der Fremden (schnell zunehmend) war 1881: 55,987, davon 10,249 Italiener, 8979 englische Malteser, 3395 Franzosen. Der Ackerbau wird bei der hohen Produktionsfähigkeit des Bodens sehr lässig betrieben. Fabriziert werden besonders rote tunesische Mützen (Fesse), Saffian, Seiden- und Wollwaren und irdene Geschirre. Der ansehnliche Handel konzentriert sich besonders in Tunis (Goletta), Sfaks, Susa und Dscherba. Ausfuhrartikel sind: Olivenöl, Esparto, Olivenabfälle, Schwämme, Datteln, Leder, Wolle, Wollenstoffe, Fesse, Wachs, Felle etc.; Einfuhrartikel: baumwollene Zeuge, Eisen, Blei und Manufakturwaren aus England, Wein und Branntwein aus Spanien, Eisen aus Schweden, Uhren, feine Leinwand, wollene und baumwollene Stoffe, Gewürze, Zucker und Kaffee aus Frankreich, Glaswaren aus Triest, Gewehre und Säbel aus Smyrna etc. Die Karawanen aus dem Innern Afrikas bringen Senna, Straußfedern, Goldsand, Gummi, Elfenbein und nehmen dafür Tuch, Musselin, Seidenzeuge, rotes Leder, Gewürze, Waffen und Kochenille zurück. Der Wert der Gesamteinfuhr der Regentschaft betrug 1887: 27,7, der Ausfuhr 21,4 Mill. Frank, davon Weizen 6,1, Gerste 2,5, Olivenöl 4,5, Esparto 1,7, Schwämme 8, Wollenstoffe 0,6 Mill. Fr. In die verschiedenen Häfen liefen ein: 6725 Schiffe (1056 französische) von 1,672,266 Ton., aus: 6596 Schiffe (1056 französische) von 1,674,323 T. Die Handelsmarine zählte 300 Fahrzeuge von 10-150 T. Die Länge der Eisenbahnen von Tunis nach Goletta, Bardo, Bone, Hammamet el Lis beträgt 410,5, die der Telegraphenlinien (mit 31 Büreaus) 2004 km, untermeerische Kabel verbinden T. mit Algerien und Europa, Postverbindung hat T. mit Europa dreimal wöchentlich. An der Spitze der Regentschaft steht der Bei (seit 1882 Sidi Ali), welcher den Titel "Besitzer des Königreichs T." führt und durch den Vertrag von Kasr el Said (12. Mai 1881) zum Vasallen Frankreichs geworden

[Kärtchen der Umgebung von Tunis.]

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Tunis (Stadt; Geschichte).

ist, indem die verschiedenen in T. funktionierenden Dienstzweige in Abhängigkeit von den entsprechenden französischen Ministerial-Departements gebracht wurden. Von der 1882 aufgelösten tunesischen Armee ist nur noch die dem Bei bewilligte Ehrengarde (ein Bataillon, eine Schwadron, eine Batterie) geblieben; die übrigen Mannschaften sind in die neugebildeten 4 Tirallleurregimenter übergegangen. Von französischen Truppen stehen in der Regentschaft 3 Regimenter Infanterie, 2 Regimenter Kavallerie, 2 Batterien Artillerie. Eine eigne Kriegsmarine besteht nicht mehr; ein französisches Kriegsschiff ist beständig hier stationiert. Die Einnahmen der Regentschaft betrugen 1886-87: 25,853,848, die Ausgaben 5,852,381, die Staatsschuld 142,550,000 Fr. Die Flagge s. Tafel "Flaggen I".

Die gleichnamige Hauptstadt liegt 45 km von der Küste zwischen dem seichten Salzsee El Bahira im O. und dem im Hochsommer fast ganz trocknen Sebcha el Seldschumi und wird von einer Mauer umgeben, durch welche zehn Thore führen, und deren südlicher Teil durch das europäische Viertel durchbrochen ist, in welchem das Zollhaus und das Seearsenal liegen. Die meisten Straßen sind eng, krumm, ungepflastert und namentlich im Judenviertel im höchsten Grad unsauber. Im W. liegt die halb in Ruinen befindliche Citadelle (Kasba). T. hat zahlreiche Moscheen, eine katholische Kirche, ein Kapuzinerkloster, ein griechisches Kloster mit Kirche, einen im maurischen Stil erbauten Palast des Beis, der aber 3 km westlich außerhalb der Stadt im Bardo, einem einer kleinen Stadt gleichenden Gebäudekomplex, oder in Marsa wohnt, ferner zahlreiche öffentliche Bäder, Bazare und Karawanseraien, bedeutende Industrie, namentlich in Seidenweberei, roten Mützen, Saffianleder und Waffen, ansehnlichen Handel, besonders nach Marseille, Ägypten, Genua, der Levante und nach dem innern Afrika, und etwa 150,000 Einw., darunter 25,000 Juden, 7000 Malteser, 6000 Italiener, 2500 Franzosen und 500 andre Christen. Der Hafen von T. ist Goletta (s. d.). Die Stadt hat mehrere Medressen, viele Koranschulen, ein katholisches Collège, 23 jüdische und 33 französische Elementarschulen und ist Sitz eines deutschen Berufskonsuls. Eisenbahnen gehen von T. nach allen Richtungen aus. Vgl. Kleist, T. und seine Umgebung (Leipz. 1888).

[Geschichte.] T. (Tunes) bestand schon im Altertum, war aber neben Karthago ohne Bedeutung. 255 v. Chr. wurde bei T. der römische Feldherr Regulus von den Karthagern unter Xanthippos besiegt und gefangen. Erst nach Karthagos Zerstörung durch die Araber 699 kam T. empor. Es gehörte zum Reich Kairwan, seit 1100 zu Marokko. Seit 1140 herrschten die Almohaden, seit 1260 die Meriniden in T., das ein blühendes Land war. 1270 unternahm Ludwig IX. von Frankreich den letzten Kreuzzug gegen T., starb aber bei der Belagerung. 1534 bemächtigte sich der Korsar Chaireddin Barbarossa der Herrschaft in T. und begründete einen gefürchteten Seeräuberstaat, der 1535, als Karl V. T. eroberte und 20,000 Christensklaven befreite, zerstört wurde. Seitdem war T. spanisch. 1574 ward es aber wieder der Oberherrschaft des Sultans unterworfen. Der türkische Admiral Sinan Pascha, der es eroberte, behielt es als Lehnsmann der Pforte. Nach seinem Tod (1576) entriß der Boluk-Baschi seinem Nachfolger Kilik Ali die höchste Gewalt. Die türkische Miliz wählte nun einen Dei als Inhaber der höchsten Gewalt, entthronte und ermordete aber die meisten nach einer kurzen Regierung. Unter dem dritten, Kara Osman, bemächtigte sich der Bei (anfangs nur ein mit der Eintreibung der Steuern und des Tributs beauftragter Beamter) Murad der öffentlichen Gewalt und machte dann dieselbe in seiner Familie erblich, den wählbaren Dei in gänzlicher Abhängigkeit erhaltend. Murad Beis Nachkommen regierten über 100 Jahre und vergrößerten ihre Macht durch Eroberungen auf dem Festland und durch Seeraub. Doch mußten sie die Oberhoheit des Deis von Algier durch Tributzahlung anerkennen. Die jetzige Dynastie von T. begann 1705 mit Hussein Ben Ali. Indessen bietet die Geschichte von T. wenig mehr als eine Reihe von Palastrevolutionen, Janitscharenaufständen und Hofintrigen. Nach der Eroberung von Algier durch die Franzosen unterstützte T. anfangs Abd el Kader, ward aber schon 8. Aug. 1830 zu einem Vertrag gezwungen, in welchem es die Abschaffung der Seeräuberei und Sklaverei sowie die Abtretung der Insel Tabarka versprach. Der Bei Sidi Mustafa, der 1835 seinem Bruder Sidi Hussein folgte, schloß sich gegen die Franzosen mehr an die türkische Regierung an. Sidi Mustafas Sohn und Nachfolger seit 1837, Sidi Achmed, unternahm große Bauten und verwendete beträchtliche Summen auf die Erweiterung seiner Militärmacht, geriet aber dadurch mit der Psorte in ernstliche Konflikte und ward von derselben durch Intervention der Großmächte zur Reduktion seiner Armee und jährlichen Ablegung eines Rechenschaftsberichts über den Stand der Finanzen gezwungen. Ihm folgte 1855 sein ältester Sohn, Sidi Mohammed, in der Regierung, der das Heer reduzierte, dagegen namentlich den Handel förderte. Eine im Juni 1857 ausbrechende Judenverfolgung veranlaßt die europäischen Konsuln zur Intervention, und es kam hierauf unter dem Beistand des französischen und englischen Generalkonsuls eine liberale Gesetzgebung und Verwaltungsorganisation zu stande. Am 23. Sept. 1859 starb der Bei Sidi Mohammed. Sein Bruder und Nachfolger Mohammed es Sadok gab im April 1861 in Gegenwart der Vertreter der christlichen Mächte dem Land sogar eine konstitutionelle Verfassung. Doch entfaltete der neue Bei einen übermäßigen Glanz und ahmte ohne Anlaß die Einrichtungen der Großstaaten nach. Die großen Kosten seiner Regierung, welche er überdies unwürdigen, habgierigen Günstlingen überließ, beschaffte er durch Anleihen, deren Erträge zum geringsten Teil in die Staatskasse flossen, deren Zinsen aber einen verderblichen Steuerdruck notwendig machten. Der Bei mußte endlich die Zinszahlung der Staatsschulden (275 Mill.) einstellen. Dies gab 1869 den Anlaß zu einer Einmischung, welche die ganze Verwaltung in T. und namentlich ihre finanzielle Seite in vollkommene Abhängigkeit von Frankreich zu bringen strebte. Unter Mitwirkung der ebenfalls dort interessierten Mächte England, Italien und Preußen kam dann eine Art von europäischer Kontrolle über die tunesischen Finanzen zu stande, und es wurde durch Abtretung der Zolleinnahmen für die Verzinsung der auf 125 Mill. Fr. reduzierten Staatsschuld Sorge getragen. Das Verhältnis von T. zur Pforte ward auf Betreiben des Ministers Chaireddin während Frankreichs Ohnmacht nach dem deutsch-französischen Krieg durch Ferman vom 25. Okt. 1871 so geregelt, daß der Sultan auf den Tribut verzichtete, der Bei dafür seine Oderhoheit anerkannte, ohne seine Erlaubnis keinen Krieg zu führen, in keine diplomatischen Verhandlungen mit dem Ausland einzutreten etc. versprach. 1877 schickte der Bei dem Sultan ansehnliche Hilfsmittel an Geld und Truppen für den Krieg gegen Rußland. Die Mißwirtschaft wurde

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Tunja - Tunnel.

unter dem Minister Mustafa ben Ismain immer ärger. Unter den Ausländern erlangten inzwischen die Italiener immer größere Bedeutung, und selbst deren Regierung suchte sich in T. festzusetzen. Dies veranlaßte Frankreich 1881, einen Einfall der räuberischen Krumirs zum Vorwand zu nehmen, um in T. einzurücken und den Bei 12. Mai zum Bardovertrag zu zwingen, der T. unter französisches Protektorat stellte. Eine Erhebung der Eingebornen gegen die Fremdherrschaft wurde durch die Eroberung von Sfaks und Kairuan niedergeschlagen und die Verwaltung 1882 nach französischem Muster organisiert. Die Ämter wurden mit Franzosen besetzt, und der französische Ministerresident ist der Herr des Landes; eine französische Besatzung sichert den Besitz. Ein neuer Vertrag mit dem Bei vom 8. Juni 1883 gab der französischen Regierung Vollmacht zu allen Reformen und zur Regelung der Finanzen. Der Bei (seit 28. Okt. 1882 Sidi Ali) erhielt eine Zivilliste von 1,200,000 Fr. Die Kapitulationen und die Konsulargerichtsbarkeit wurden 1884 abgeschafft. Vgl. Rousseau, Annales tunisiennes (Algier 1863); Hesse-Wartegg, T., Land und Leute (Wien 1882); die Monographien von Duveyrier (Par. 1881), Brunialti (Mail. 1881), Dona (Padua 1882), La Berge (Par. 1881), Rivière (das. 1886), Lanessan (das. 1887), Antichan (2. Aufl., das. 1887); Tissot, Exploration scientitique de la Tunisie (das. 1884 ff.); Kobelt, Reiseerinnerungen aus Algerien u. T. (Frankf. 1885); Baraban, A travers la Tunisie (Par. 1887); Graham und Ashbee, Travels in Tunisia (Lond. 1887); Leroy-Beaulieu, Algérie et Tunisie (Par. 1887); Vignon, La France dans l'Afrique du Nord (das. 1887); Bois, La France a Tunisie 1881-82 (das. 1886); Piesse, Algérie et Tunisie, Reisehandbuch (das. 1885); Karte von Kiepert (l : 800,000).

Tunja, Hauptstadt des Staats Boyacá der südamerikan. Republik Kolumbien, 2760 m ü. M., auf steilem Terrain, hat eine Universität, 2 Lehrerseminare, ein Hospital, Fabrikation von Woll- und Baumwollzeugen und (1870) 5479 Einw. Dabei eine Kupfergrube und heiße Quellen. T. ist die alte Hauptstadt der Cipas von Bogota und wurde 1538 von den Spaniern besetzt.

Tunkers (spr. tönkers, Sekte, s. Baptisten.

Tunnel (engl., "Röhre"), unterirdischer Stollen, welcher zur Herstellung entweder eines Land- oder eines Wasserverkehrs durch hügeliges oder gebirgiges Terrain (Landtunnel), oder zur Herstellung eines Landverkehrs, einer Wasserzuleitung oder einer Ableitung von Abfallstoffen unter dem Bett eines Flusses, Sees oder Meeresarms (Unterwassertunnel) erbaut wird. Bauten dieser Art führten bereits die Römer aus, unter welchen der wahrscheinlich von Furius Camillus 396 v. Chr. herrührende, etwa 1900 m lange Ablaßstollen des Albanersees, der durch Kaiser Claudius ausgeführte, etwa 3700 m lange Ablaßstollen des Lacus Fucinus sowie der um 37 durch Coccejus hergestellte, etwa 1000 Schritt lange Stollen durch den Posilipo und der um 79 n. Chr. unter Vespasian in der Straße von Rom nach Ariminum ausgeführte, etwa 200 Schritt lange Stollen (petra pertusa) hervorzuheben sind. Das einzige größere Werk des Mittelalters ist der 1450 zur Verbindung von Nizza und Genua begonnene, jedoch bis jetzt unvollendete T. durch den Col di Tenda. Die bedeutendsten, gegen Ende des 17. und im Lauf des 18. Jahrh. in Frankreich ausgeführten Tunnels sind der von Riquet 1679-81 zur Durchleitung des Kanals von Languedoc hergestellte Malpastunnel sowie der 1770 im Givorskanal erbaute T. von Rive de Gier und der 1787 im Centrekanal erbaute T. von Torcy. Erst im Anfang des 19. Jahrh. führte man den für den Kanal von St.-Quentin bestimmten 8 m breiten T. bei Tronquoi durch sandiges, druckreiches Gebirge, während in den Jahren 1803-30 Tunnels teils in festem Gebirge, wie die zum Schutz vor Lawinen dienenden Galerien der Alpenstraßen über den Simplon, Mont Cenis, Splügen, Bernhardin und St. Gotthard, teils in weicherm Gebirge in Frankreich und England, meist behufs Durchführung von Kanälen zur Ausführung kamen. Die bei weitem schwierigste und kühnste Leistung dieser Zeit war jedoch der von Isambert Brunel 1825 begonnene und trotz elfmaligen Einbruchs des Wassers nach 16jähriger harter Arbeit vollendete T. unter der Themse. Den größten Aufschwung erfuhr der Tunnelbau erst durch den Eisenbahnbau. Die ersten Eisenbahntunnels baute Stephenson in der Linie Liverpool-Manchester 1826-30. In Deutschland begann man die ersten Eisenbahntunnels 1837 in der Linie Köln-Aachen bei Königsdorf und in der Linie Leipzig-Dresden bei Oberau, während 1839 der erste österreichische Bahntunnel in der Linie Wien-Triest bei Gumpoldskirchen zur Ausführung kam. Von da ab nahm der Tunnelbau in Eisenbahnlinien so zu, daß 1874 die Gesamtlänge der Tunnels auf preußischen Bahnen 46 km, auf allen österreichischen Bahnen 43 km betrug, während sie in Frankreich 1868 bereits eine Ausdehnung von 193 m erreicht hatte. Zum Vergleich einer Anzahl der bedeutendsten Eisenbahntunnels diene folgende Tabelle. Es beträgt die Länge:

Meter

St. Gotthard-Tunnel 14920

Mont Cenis-Tunnel 13233

Arlbergtunnel 10270

Giovigalerie (Novi-Genua) 8260

Hoosac-Tunnel (Massachusetts) 7640

Tunnel von Marianopoli (Catania-Palermo) 6480

Sudrotunnel in Nevada 6000

Tunnel bei Slandridge (London-Birmingham) 4970

Nerthetunnel (Marseille-Avignon) 4620

Belbo-Galerie (Turin-Savona) 4240

Kaiser Wilhelm-Tunnel bei Kochem (der längste in Deutschland) 4216

Blaisytunnel (Paris-Lyon) 4100

Krähbergtunnel (Odenwaldbalm) 3100

Brandleitetunnel (Thüringerwald) 3030

Hauensteintunnel (Schweiz) 2490

Sommerautunnel (Schwarzwaldbahn) 1696

Semmeringtunnel 1431

Mühlbachtunnel (Brennerbahn) 855.

Zu den bedeutendsten Wasertunnels der Gegenwart zählen der zur Versorgung von Chicago mit reinem Wasser aus dem Michigansee dienende Wasserleitungstunnel sowie die für Eisenbahnverkehr bestimmten unter dem Meer und unter dem Mersey in England und der Hudsonflußtunnel in Nordamerika. Zu den bedeutendsten Projekten von Tunnelbauten zu Verkehrszwecken gehören der für Eisenbahnverkehr bestimmte T. unter dem Kanal zur Verbindung von Frankreich und England, dessen Ausführung übrigens aus militärischen Rücksichten von dem englischen Oberhaus zunächst nicht genehmigt worden ist (vgl. über ihn in geologisch-technischer Beziehung die Schrift von Hesse, Leipz. 1875), ferner die Tunnels unter der Meerenge von Messina zur Verbindung von Italien und Sizilien und unter der Meerenge von Gibraltar.

Landtunnels sind entweder ein- oder zweigeleisige Eisenbahntunnels, Straßentunnels oder zur Durchführung eines Kanalbettes bestimmte Kanaltunnels. Bei geringer Tiefe unter der Oberfläche und bei unfester Beschaffenheit des Bodens werden dieselben mit Vorteil in zuvor hergestellte offene Einschnitte eingebaut, und, nachdem das Mauerwerk der Sohle, der Wandungen und der Gewölbe vollendet, also das Querprofil geschlossen ist, der T. mit einem hinreichen-

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Tunnel (Unterwassertunnels).

den Teil des Einschnittmaterials bedeckt. Bei größerer Tiefe unter der Oberfläche und bei fester Beschaffenheit des Bodens müssen die Tunnels bergmännisch hergestellt werden. Je nach der Art des Arbeitsvorganges beim Abbau ihres Profils und der Herstellung ihrer Mauerung unterscheidet man die "deutsche", "belgische", "englische", und "österreichische" Tunnelbaumethode, wobei je nach der Anordnung des Zimmerwerks und der Lage des sogen. Richtstollens weitere Unterscheidungen gemacht werden. Die beim Tunnelbau vorkommenden bergmännischen Arbeiten bestehen in dem Lösen des Bodenmaterials, des sogen. "Gesteins", dem Entfernen der gelösten Massen, dem sogen. "Schleppen" und "Fördern" der "Berge", und dem "Verbauen", d. h. der Sicherung des hergestellten Hohlraums gegen Einsturz, provisorisch durch "Verzimmerung" in Holz oder Eisen, definitiv durch "Ausbau" meist in Stein, unter besondern Verhältnissen jedoch auch in Holz (Amerika) oder Eisen. Die Landtunnels werden bei günstigen Steigungsverhältnissen gerade, andernfalls in Kurven und, wo es sich um Ersteigung bedeutender Höhen mit mäßigem Gefälle auf beschränktem Terrain handelt, in Schleifen (Kehrtunnels) oder selbst in Spiralen (Spiraltunnels) angelegt.

Unterwassertunnels sind für einen Eisenbahn- und Straßenverkehr oder für die Zuleitung von reinem Wasser oder Ableitung von Abfallstoffen bestimmt und erfordern hiernach die verschiedensten Querschnitte und Gefälle. Von besonderer Wichtigkeit sind die erstern, Verkehrszwecken dienenden Unterwassertunnels, welche an die Stelle unsicherer, durch Stürme, Nebel u. Eisgänge bedrohter Schiffsverbindungen, zumal da, wo der Bau fester Brücken wegen der notwendigen Erhaltung des Verkehrs großer Schiffe zu hohe Pfeiler, tiefe, kostspielige Fundamente und lange, gegen Sturmdruck schwer zu sichernde Träger erfordern würde, eine feste, stets benutzbare, den Schiffsverkehr nicht hindernde, rasch fördernde Verbindung setzen. Die Schwierigkeiten, welche sich der Ausführung dieser Tunnels entgegenstellen und hauptsächlich in der mangelhaften Kenntnis des zu durchfahrenden Bodens und der etwa eintretenden Wasserzuflüsse sowie in der Notwendigkeit, mehr oder minder lange, größtenteils unterirdische Zufahrtswege anlegen zu müssen, bestehen, haben dazu geführt, die Unterwassertunnels entweder nur so viel wie nötig in den Grund zu versenken, um sie gegen die Berührung durch den Kiel der Schiffe und gegen Wellenschlag zu schützen (Senktunnels), oder sie nur so tief unter die Sohle des Wassers zu legen, als es die Sicherheit des Baues und des Betriebs durchaus erfordern (Bohrtunnels). Dagegen ist die Versenkung eiserner Tunnelröhren nur bis zu einer durch Schiffsverkehr und Wellenschlag bedingten Tiefe unter Wasser, wo sie schwimmend erhalten und durch Verankerungen gegen nachteilige Bewegungen gesichert werden sollten, oder bis auf die Sohle des Wassers, wo sie durch Verankerungen gegen den Auftrieb und gegen Wellenbewegung geschützt werden sollten, wegen der damit verbundenen Unsicherheit bis jetzt nicht zur Ausführung gelangt. Als Vorläufer der unter Wasser bergmännisch hergestellten Tunnels sind die bereits im vorigen Jahrhundert allmählich vorgetriebenen Stollen des Bergwerks von Huel-Cock in England anzusehen, welche sich weit unter den Meeresboden erstreckten, und wobei die zwischen Stollenscheitel und Meeressohle verbliebene Bodenschicht stellenweise nicht über 1,5 m betrug, so daß die hier beschäftigten Bergleute bei bewegter See das Rollen der Gesteine auf dem Meeresboden deutlich hören konnten. Der erstere in größern Dimensionen für Fußverkehr ausgeführte Wassertunnel ist der eingangs erwähnte, von Brunel zur Verbindung der Stadtteile Rotherhithe u. Wapping erbaute Themsetunnel (s. d.). Der zweite, 1869 von Barlow im festen blaugrauen Thon mit einer Öffnung von 2,2 m Durchmesser erbaute, 375 m lange Themsetunnel verbindet die Stadtteile Tower Mill und Tooley Street und ist an beiden Ufern durch 18 m tiefe, 3 m weite Schächte, in welchen Treppen mit je 96 Stufen angeordnet sind, zugänglich. Die neuesten englischen Bauwerke dieser Art sind die beiden zweigeleisigen Wassertunnels unter dem Severn und unter dem Mersey. Der 9 m breite Severntunnel erreicht eine Länge von 7250 m, wovon sich 3620 unter dem Fluß befinden, fällt mit 1:100 von den beiden Ufern nach dem Fluß und durchfährt meist harten Sandstein, der jedoch unter der Mitte des Flusses zerklüftet ist und die Anwendung mächtiger Dampfpumpen zur Bewältigung des Wassers erforderte. Die von beiden Ufern aus begonnenen Stollen wurden teilweise mit Mac Keanschen Bohrmaschinen aufgefahren und trafen mit nur 7 cm Abweichung von der Hauptrichtung zusammen. Der 7,5 m breite und 6,5 m hohe Merseytunnel (Fig. 1) nebst den beiden erforderlichen Entwässerungsstollen wurde von den an beiden Ufern abgeteuften Schächten aus begonnen und durchsetzt roten Sandstein so tief unter der Flußsohle, daß zwischen ihr und der Tunnelfirst eine Felsschicht von mindestens 8 m Stärke verbleibt. Unter den amerikanischen Wassertunnels ist die Eisenbahnunterführung unter dem Hudson

Fig. 1. Längenprofil des Merseytunnels.

Fig. 2. Hudsonflußtunnel.

Fig. 2. Grundriß am New Jersey-Ufer.

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Tunnelkrankheit - Turban.

(Fig. 2) hervorzuheben, welche New York mit Jersey City verbindet. Der 1670 m lange, unter dem Fluß befindliche Teil desselben besteht aus zwei 4,9 m breiten, 5,5 m hohen, dicht nebeneinander liegenden elliptischen Röhren mit je einem Geleise, während die beiden Zufahrtstunnel eine Weite von 7,5 m erhalten haben und die beiden Geleise aufnehmen. Unter den zur Zuleitung reinen Wassers dienenden Wassertunnels sind die zur Wasserversorgung der Stadt Chicago aus dem Michigansee und der Stadt Cleveland aus dem Eriesee bestimmten Tunnels hervorzuheben, wovon der erstere aus zwei 15 m voneinander entfernten, je 3200 m weit und 10 m tief unter dem Seegrund liegenden Tunnels von 1,52 und 2,1 m Weite bei 1,75 m Höhe, der letztere aus einem über 2 km langen, 1,5 m weiten, 1,6 m hohen und 12,5-21 m unter dem Seegrund liegenden elliptischen T. besteht. Der zur Entwässerung und Abführung der Fäkalien der Stadt Boston bestimmte, 45 m unter dem Wasserspiegel der Dorchesterbai, dem Hafen dieser Stadt, durchgeführte Wasserstollen besitzt eine Länge von 1860 m und eine Weite von 2,3 m.

Senktunnel. Bei geringen Wassertiefen läßt sich der T. zwischen wasserdichten Einschließungen, den sogen. Saugdämmen, aus welchen das Wasser durch Pumpen entfernt wird, fast ganz im Trocknen herstellen und erst dann unter Wasser setzen. Bei größern Wassertiefen und ungünstigem Meeresgrund hat man vorgeschlagen, die Tunnels mit Hilfe von unten offenen hölzernen oder eisernen Kasten, aus welchen das Wasser während des Baues durch verdichtete Luft von einem der Wassertiefe entsprechenden Druck hinausgepreßt wird, d. h. pneumatisch, zu versenken. In Bezug auf die Beschreibung einzelner besonders hervorragender Tunnelbauten der neuern Zeit verweisen wir auf die Spezialartikel (Themse, Mont Cents, St. Gotthard, Arlberg etc.). Vgl. Lorenz, Praktischer Tunnelbau (Wien 1860); Schön, Der Tunnelbau (das. 1874); Rziha, Lehrbuch der gesamten Tunnelbaukunst (Berl. 1872); Zwick, Neuere Tunnelbauten (2. Aufl., Leipz. 1876); Mackensen u. Richard, Der Tunnelbau (das. 1880); Dolezalek, Der Tunnelbau (Hannov. 1888 ff.); Birnbaum, Das Tunnellängsträger-System, System Menne (Berl. 1878).

Tunnelkrankheit, s. v. w. Minenkrankheit.

Tunstall, Stadt in Staffordshire (England), in den sogen. Potteries, hat Töpfereien, Ziegelbrennerei, chemische Fabriken und (1881) 14,244 Einw.

Tupan (Tupana), Gewittergott und Stammvater brasilischer Indianerstämme, von dem die Tupistämme, -Sprachen und -Religionen ihren Namen herleiten.

Tupelostifte, aus einer in Maryland, Virginia, Carolina wachsenden Sumpfpflanze, Nyssa aquatica Mich., aus der Familie der Korneen geschnittene Stifte, welche bei ihrer großen Quellbarkeit ähnlich wie Laminaria in der Chirurgie zur Erweiterung von Kanälen und Öffnungen benutzt werden.

Tüpfelfarn, s. Polypodium.

Tupi (Tupinamba, Tupiniquim), eine mit den Guarani und Omagua (vgl. Brasilien, S. 336) nahe verwandte, jetzt sehr zusammengeschmolzene indianische Völkerfamilie in Südamerika, welche ursprünglich vom Amazonenstrom bis über den Uruguay hinaus wohnte, durch die Weißen aber vielfach zurückgedrängt worden ist. Wahrscheinlich gehören ihnen die Völkerstämme der brasilischen Ostküsten an, mit Ausnahme der Botokuden; die Bestimmung der Zugehörigkeit ist dadurch sehr erschwert, daß die Jesuiten überall in ihren Missionen die Tupisprache als Lingoa geral eingeführt und frühere Sprachen verdrängt haben. Wirklich herrschend ist die Tupisprache aber nur zwischen dem Tapajos und Xingu (Nebenflüssen des Amazonenstroms) und in der bolivianischen Provinz Chiquitos. Mit den ihnen nahestehenden Guarani bilden sie eine Gruppe, welche die Caracara, Albegua, Carios, Choras, Munnos, Bates, Gualaches, Apiacas, Bororos u. a. m. umfaßt. Vgl. Martius, Die Pflanzennamen und die Tiernamen in der Tupisprache (in den Berichten der bayrischen Akademie 1858 u. 1860); Porto Seguro, L'origine touranienne des Américains Tupis-Caribes (Wien 1876).

Tupinamba, Volksstamm, s. Tupi.

Tupiza, Stadt in der südamerikan. Republik Bolivia, Departement Potosi, unweit des San Juan, 3050 m ü. M., Grenzort gegen Jujuy, hat Landbau, ergiebige Silbergruben, lebhaften Verkehr u. 3000 Einw.

Tupy, Eugen, unter dem Pseudonym Boleslaw Jablonski bekannter tschech. Dichter, geb. 14. Jan. 1813 zu Kardasch Rjetschitz, studierte Theologie, wurde 1847 Propst des Prämonstratenserklosters in Krakau, wo er im März 1881 starb. T. ist einer der beliebtesten Lyriker Böhmens, dessen Liebeslieder ("Pisne milosti") namentlich weite Verbreitung fanden, auch vielfach komponiert wurden. Auch ein Lehrgedicht: "Die Weisheit des Vaters" ("Moudrost otcova"), schrieb T. Eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ("Básne") erschien in 5. Auflage (Prag 1872).

Túquerres, Stadt im Staat Cáuca der südamerikan. Republik Kolumbien, am obern Patía, 3057 m ü. M., mit höherer Schule und (1870) 7I95 Einw.

Tura, Fluß in Rußland, entspringt am östlichen Abhang des Urals im Gouvernement Perm, fließt südöstlich in das Gouvernement Tobolsk an den Städten Werchoturje, Turinsk und Tjumen vorbei und mündet links in den Tobol. Nebenflüsse sind: der Tagil (mit Solda), die Niza und die Pyschma (mit Gold- und Steinkohlenlagern an ihren Ufern).

Turacin, roter Farbstoff der Schwungfedern des Bananenfressers, enthält gegen 6 Proz. Kupfer, welches beim Verbrennen der roten Federn die Flamme grün färbt.

Turalinzen, Hauptstamm der eigentlichen Tataren (s. d.) am Irtisch und der Demjanka, meist Christen.

Turan, im Gegensatz zu dem persischen Tafelland Iran (s. d.) das im N. desselben gelegene, zur aralokaspischen Niederung sich abdachende Land, gleichbedeutend räumlich mit dem russischen Anteil an Turkistan (s. d.).

Turanische Sprache, s. Uralaltaische Sprachen.

Turanius, Kirchenschriftsteller, s. Rufinus 2).

Turbae (lat., "Haufen"), in den Passionen, geistlichen Schauspielen, Oratorien etc. die in die Handlung eingreifenden Chöre des Volkes (der Juden oder der Heiden) zum Unterschied von den betrachtenden Chören (Chorälen etc.).

Turbaco, Indianerdorf in der Republik Kolumbien (Südamerika), 15 km südöstlich von Cartagena, bekannt durch seine Luft- und Schlammvulkane sowie Fundort goldener und kupferner Gefäße. Ruinen einer alten Indianerstadt und indianischer Gräber.

Turban (pers. dulband, dulbend, "doppelt gebunden"), die bei den Mohammedanern, insbesondere den Türken, übliche Kopfbedeckung, eine bald höhere, bald niedrigere Kappe, künstlich umwunden mit einem Stück Musselin oder Seide; die Kappe gewöhnlich rot, die Umwindung weiß, ausgenommen bei den Emiren, denen ausschließlich eine grüne Umwindung zustand. Den sonstigen Schmuck des Turbans bilden Edelsteine, Perlschnüre, Reiherfedern etc.

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Turban - Turenne.

Der T. des Sultans war sehr dick, mit drei Reiherbüschen nebst vielen Diamanten und Edelsteinen geziert. Der Großwesir hatte auf seinem T. zwei Reiherbüsche; andre Beamte und Befehlshaber die Paschas u. dgl. erhielten Einen als Auszeichnung. Heute ist der T. in der Türkei bei der Beamtenwelt und der Intelligenz durch das Fes, in Persien durch das Kulah verdrängt, und vorschriftsmäßig ist er nur noch bei den Mollas (Geistlichen). (S. die Abbildung.)

[Turbane.]

Turban, Ludwig Karl Friedrich, bad. Staatsminister, geb. 5. Okt. 1821 zu Bretten, studierte Philologie, dann Jurisprudenz in Heidelberg und Berlin, machte darauf größere Reisen nach Frankreich und Italien und bestand 1845 das juristische Staatsexamen. Nachdem er bei verschiedenen Behörden als Rechtspraktikant beschäftigt gewesen, ward er 1851 zum Sekretär im Ministerium des Innern, 1852 zum Regierungsassessor in Mannheim und 1855 in Karlsruhe ernannt und 1856 zum Regierungsrat befördert; 1860 trat er als Ministerialrat in das neuerrichtete Handelsministerium ein. Auch war er litterarisch als Mitarbeiter an mehreren Zeitschriften thätig und gab einen Kommentar zum badischen Gewerbegesetz von 1861 und der norddeutschen Gewerbeordnung mit dem badischen Einführungsgesetz von 1871 heraus. Im Landtag vertrat er die Regierung öfters und gehörte der Zweiten Kammer 1860-70 und seit 1873 auch als Abgeordneter an; er schloß sich der nationalliberalen Partei an. 1872 wurde er zum Präsidenten des Handelsministeriums und 1876 nach Jollys Rücktritt gleichzeitig zum Staatsminister und Präsidenten des Staats- und Auswärtigen Ministeriums ernannt; auch war er seit 1872 Mitglied des Bundesrats. Als 1881 das Handelsministerium aufgehoben wurde, übernahm T. das Ministerium des Innern.

Turbanigel, s. Echinoideen.

Turbation (lat.), Verwirrung, Störung; turbieren, beunruhigen, stören.

Turbe (Türbe, arab.), Mausoleum, Grabstätte. Besonders glänzend sind die der verstorbenen türkischen Herrscher in Konstantinopel und Brussa: meist architektonisch prachtvoll geschmückte Kapellen, in deren Innerm der Sarg des Toten steht.

Turbellarien (Strudelwürmer), s. Platoden.

Turbiglio (spr. -billjo), Sebastiano, ital. Philosoph, geb. 7. Juli 1842 zu Chiusa in Piemont, widmete sich dem Studium der Philosophie an der Universität zu Turin, wurde 1873 Professor der Philosophie am Lyceum Quirino Visconti und später an der Universität zu Rom. Er schrieb: "Storia della dottrina di Cartesio" (1866); "La filosofia sperimentale di Giovanni Locke ricostrutta a priori" (1867); "La mente dei filosofi eleatici ridotta alla sua logica espressione" (1869); "Trattato di filosofia elementare, parte logica" (1869); "L'impero della logica" (1870); "B. Spinoza e le trasformazioni del suo pensiero" (1875); "Le antitesi tra il medio evo e l'età moderna, nella storia della filosofia" (l878); "Analisi storico-critica della Critica della ragion pura" (8 Vorlesungen, 1881). Seine von ernster Arbeit zeugenden Werke haben auch im Ausland Beachtung gefunden.

Turbine, s. Wasserrad.

Turbinolia, s. Korallen.

Turbot, s. Schollen.

Turbulént (lat.), stürmisch, ungestüm.

Türckheim, Johann, Freiherr von, bad. Staatsmann, geb. 17. Okt. 1778 zu Straßburg, Sohn des Freiherrn Johann von T., frühern Ammeisters von Straßburg, dann großherzoglich hessischen Gesandten (gest. 28. Jan. 1824), studierte erst in Tübingen und Erlangen die Rechte, war 1799-1803 österreichischer Offizier, dann sächsischer Gesandter bei der Kreisversammlung in Nürnberg, trat 1808 in den badischen Staatsdienst, ward 1813 Direktor des Dreisamkreises, 1819 Staatsrat und Mitglied der Ersten Kammer, wo er die historischen Rechte des Adels gegen die Büreaukratie verteidigte, aber eine echt deutsche nationale Gesinnung bekundete, 1831 Minister des großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten, in welcher Stellung er genötigt war, die reaktionären Bundesbeschlüsse zur Ausführung zu bringen, trat 1835 zurück, lebte seitdem meist auf seinem Landsitz in Altdorf und starb 30. Juli 1847 zu Ragaz in der Schweiz. Er schrieb: "Betrachtungen auf dem Gebiet der Verfassungs- und Staatenpolitik" (Freiburg 1845, 2 Bde.). - Sein Sohn Hans, Freiherr von T., geb. 15. Dez. 1814 zu Freiburg i. Br., war 1849-64 vortragender Rat im Auswärtigen Ministerium zu Karlsruhe und 1864-83 badischer Gesandter in Berlin.

Turco (ital.), türkisch; alla turca, auf türkische Art (von Tonstücken mit vollgriffiger, zwischen wenigen Akkorden wechselnder Begleitung).

Turdetaner, eine der Hauptvölkerschaften der Hispanier, in der Provinz Bätica, westlich vom Flusse Singulis (Jenil), an beiden Ufern des Bätis (Guadalquivir) und bis ins südliche Lusitanien hinein seßhaft. Sie waren als Küstenanwohner (ihr Land ist das Tarschisch der Bibel) zuerst mit zivilisierten Phönikern in engere Berührung gekommen und hatten von ihnen neben andrer Kultur den Gebrauch der Schrift, das Wohnen in wohlgebauten Städten den Betrieb vieler Handwerke gelernt, aber zugleich als friedliches Kulturvolk den kriegerischen Charakter der übrigen Stammesgenossen allmählich ganz eingebüßt, daher ihre Romanisierung leicht fiel. Hauptstädte ihres Gebiets waren: Gadeira oder Gades (Cadiz) und Hispalis (Sevilla).

Turduler, ein mit den Turdetanern (s. d.) nahe verwandtes Volk in Hispania Baetica, das höher hinauf am Bätis wohnte, aber bald ganz mit den Turdetanern verschmolz. Ihre Hauptstadt war Corduba (Cordova).

Turdus, Drossel; Turdidae (Drosseln), Familie der Sperlingsvögel (s. d.).

Turek, Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Kalisch, mit (1885) 7320 Einw.

Turenne (spr. türenn), Henri de Latour d'Auvergne, Vicomte de, Marschall von Frankreich, geb. 11. Sept. 1611 zu Sedan, zweiter Sohn des Herzogs Heinrich von Bouillon und der Prinzessin Elisabeth von Nassau-Oranien, wurde, nachdem er 1623 seinen Vater verloren, von seinem Oheim, dem

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Turf - Turgenjew.

Prinzen Moritz von Oranien, in Holland erzogen, trat 1625 in holländische Kriegsdienste und lernte unter Prinz Friedrich Heinrich die Kriegskunst. 1630 trat T. als Oberst in die französische Armee, machte unter Laforce einen Feldzug nach Lothringen und 1634 als Marechal de Camp unter Lavalette einen Zug an den Rhein mit, wo er Mainz entsetzte. Zum Generalleutnant ernannt, stieß er 1638 mit einem Hilfskorps zum Herzog Bernhard von Weimar, diente 1639-43 in Piemont unter dem Grafen d'Harcourt, dann unter Prinz Thomas von Savoyen, siegte namentlich 1640 bei Casale und Turin, eroberte Montecalvo und Ivrea und säuberte Piemont vom Feind. Zum Marschall ernannt und mit dem Oberbefehl über die französischen Truppen in Deutschland betraut, reorganisierte er rasch die Truppen im Elsaß, überschritt im Mai 1644 den Rhein, entsetzte mit dem Herzog von Enghien (Condé) Freiburg i. Br., das General Mercy belagerte, und befreite das ganze Rheingebiet von den Kaiserlichen. 1645 wagte er einen Einfall in Württemberg, wurde aber von Mercy 5. Mai bei Mergentheim geschlagen und zum Rückzug hinter den Rhein genötigt. Hier vereinigte er sich wieder mit dem Herzog, und beide erfochten 3. Aug. bei Nördlingen einen Sieg, worauf T. 18. Nov. noch Trier eroberte. Durch seine Leidenschaft für die Herzogin von Longueville bestimmt, mit an die Spitze der Fronde zu treten, vereinigte er nach der Verhaftung der Prinzen (18. Jan. 1650) die Truppen der Fronde mit den spanischen und fiel von Belgien aus in Frankreich ein. Er eroberte Le Catelet, La Capelle und Rethel, ward aber 15. Dez. 1650 vom Marschall Duplessis bei Chamblanc geschlagen und söhnte sich 1651 mit der Königin Anna aus, worauf er seinen ehemaligen Waffengefährten, den großen Condé, 1652 bis an die Grenze von Flandern zurückdrängte. In den folgenden Feldzügen eroberte T. eine Stadt nach der andern und bis zum Pyrenäischen Frieden (1659) auch fast ganz Flandern. Zum Generalmarschall ernannt, erhielt er im Devolutionskrieg 1667 unter des Königs Oberbefehl das Kommando über die Armee, welche in die spanischen Niederlande einrückte. Auf Ludwigs XIV. Wunsch trat er 1668 zum Katholizismus über. In dem Kriege gegen Holland 1672 befehligte er die Armee am Niederrhein gegen die Kaiserlichen und Brandenburger, zwang den Großen Kurfürsten 16. Juni 1673 zum Frieden von Vossem, ward aber dann von Montecuccoli zurückgedrängt. 1674 überschritt er bei Philippsburg den Rhein, schlug 16. Juni den Herzog von Lothringen bei Sinzheim und eroberte die ganze Pfalz, die er auf das entsetzlichste verwüstete. Er besiegte darauf Bournonville bei Enzheim (4. Okt.), räumte im Oktober das Elsaß, trieb aber Anfang 1675 die Verbündeten wieder aus diesem Land, ging über den Rhein und traf im Juli bei Sasbach auf die Kaiserlichen unter Montecuccoli. Ehe es aber zur Schlacht kam, wurde T. beim Rekognoszieren des Terrains 27. Juli 1675 von einer Kanonenkugel getötet. Sein Leichnam ward auf Ludwigs Befehl in der königlichen Gruft zu St.-Denis beigesetzt, bei der Zerstörung der Gräber in der Revolution gerettet und auf Napoleons I. Befehl im Dom der Invaliden, Vaubans Grabmal gegenüber, bestattet. Bei Sasbach ward T. durch den Kardinal Rohan 1781 ein Denkstein errichtet, den 1829 die französische Regierung durch einen Granitobelisken ersetzen ließ. In Sedan wurde ihm eine Statue errichtet. T. war ein methodisch gebildeter und vorsichtiger Feldherr, ein ausgezeichneter Taktiker, daneben überaus sorgsam in der Verpflegung und Verwendung der Truppen. Er hat noch mehr Unglücksfälle verhütet oder wieder gutgemacht, als Schlachten gewonnen. Eine gewinnende Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit zeichneten ihn aus. T. hat selbst Memoiren hinterlassen, die von 1643 bis 1658 reichen und unter dem Titel: "Collection des mémoires du maréchal de T." (Par. 1782, 2 Bde.) veröffentlicht wurden. Eine Ergänzung dazu sind die "Mémoires" von Deschamps (Par. 1687, neue Aufl. 1756). Seine Briefe gaben Grimoard (1782, 2 Bde.) und Barthélemy (Par. 1874) heraus. Das Leben Turennes beschrieben unter andern Ramsay (Par. 1733, 4 Bde.), Raguenet (1738, neue Ausg. 1877), Duruy (5. Aufl. 1889) und Hozier (Lond. 1885). Vgl. außerdem Neuber, T. als Kriegstheoretiker und Feldherr (Wien 1869); Roy, T., sa vie et les institutions militaires de son temps (Par. 1884); Choppin, La campagne de T. en Alsace (das. 1875); "Précis des campagnes de T." (Brüssel 1888).

Turf (engl., spr. törf, "Rasen"), die Rennbahn und das darauf Bezügliche (s. Wettrennen).

Turfan, Grenzprovinz Ostturkistans gegen China, grenzt an die Gobiwüste, ist wasserlos und, bei einer Längenausdehnung von 320 km, von nur l26,000 Einw. (Dunganen, dann Chinesen) bevölkert. Die Stadt T. war sonst ein blühender Karawanenplatz (für Thee und Seide) auf dem Weg von China nach dem westlichen Asien, verlor aber zwischen 1860 und 1870 ihren Reichtum wie ihre Kaufleute infolge des Dunganenaufstandes und der Kämpfe des ehemaligen Beherrschers von Kaschgar um ihren Besitz.

Turfol, aus Kohlenwasserstoffen bestehendes Leuchtöl aus Torfteer.

Turgenjew, 1) Alexander Iwanowitsch, russ. Geschichts- und Altertumsforscher, geb. 1784, gest. 17. Dez. 1845 zu Moskau als Geheimer Staatsrat, erwarb sich durch Forschungen für Rußlands Geschichte, Diplomatie, alte Statistik und altes Recht Verdienste. Die Resultate seiner Forschungen wurden von der archäographischen Kommission veröffentlicht unter dem Titel: "Historiae Russiae monumenta" (Petersb. 1841-42, 2 Bde.; Nachtrag 1848).

2) Nikolai Iwanowitsch, russ. Historiker, Bruder des vorigen, geb. 1790, studierte in Göttingen, trat dann in den Staatsdienst seines Vaterlandes und ward 1813 dem Freiherrn vom Stein in der Verwaltung der Frankreich abgenommenen deutschen Provinzen als russischer Kommissar beigegeben. Nach Rußland zurückgekehrt, ward er Wirklicher Staatsrat, trat 1819 in den "Bund des öffentlichen Wohls" und ward dadurch in die Verschwörung von 1825 verwickelt. Eben auf Reisen begriffen, ward er in contumaciam zum Tod verurteilt und lebte seitdem in Paris, wo er im November 1871 starb. Er schrieb: "La Russie et les Russes" (Par. 1847, 3 Bde.; deutsch, Grimma 1847).

3) Iwan Sergejewitsch, berühmter russ. Dichter und Schriftsteller, geb. 28. Okt. (a. St.) 1818 in der Gouvernementsstadt Orel als der Nachkomme einer alten russischen Adelsfamilie, die zur Zeit der Mongolenherrschaft in russische Dienste trat. Seine Eltern waren sehr wohlhabend und ließen dem künftigen Dichter und seinen beiden (vor ihm gestorbenen) Brüdern eine gute häusliche Erziehung angedeihen, wobei ein großer Nachdruck auf die Sprachen, namentlich Französisch und Deutsch, gelegt wurde. 1828 siedelte die Familie nach Moskau über, und der junge Iwan kam in eine Privatlehranstalt. Seine weitere Ausbildung erfolgte unter besonderer Anleitung und

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Turgeszieren - Turgot.

Fürsorge des Professors Krause, des Direktors des Lazarewschen Instituts. Mit 16 Jahren bezog der frühreife Knabe die Moskauer Universität, wo er sich historisch-philologischen Studien widmete, vertauschte dieselbe aber schon nach einem Jahr, als 1835 sein Vater starb, mit der Petersburger Universität, auf welcher er den vollen Lehrkursus absolvierte. Nachdem er 1838 mit dem Grad eines Kandidaten die Universität verlassen, begab er sich zur Vervollständigung seiner Kenntnisse ins Ausland, wobei er auf der Überfahrt nach Deutschland bei dem Brande des Dampfers Nikolai I. in Travemünde fast ums Leben gekommen wäre. Er hielt sich namentlich in Berlin auf, wo er an der Universität Geschichte und Philosophie hörte. 1840 kehrte er zurück und erhielt eine Anstellung in der Kanzlei des Ministers des Innern, welche Stellung er schon im folgenden Jahr aufgab, um sich ganz ins Privatleben zurückzuziehen. Er lebte nun bald auf seinem Gut Sposikoje (Kreis Mzensk, Gouvernement Orel), bald in St. Petersburg, bald im Ausland. Sein erstes Werk war das Poem "Parascha" (1842), worauf in den folgenden Jahren einige kleine Skizzen erschienen, welche später in das "Tagebuch eines Jägers" aufgenommen wurden. 1852 wurde er plötzlich wegen eines von ihm verfaßten, im übrigen durchaus nicht politisch verfänglichen Artikels: "Ein Brief über Gogol" ("Moskauer Zeitung" 1852, Nr. 32), arretiert, bei der Polizei eingesperrt und dann auf sein Gut verwiesen, welches er zwei Jahre lang (bis 1855) nicht verlassen durfte. Seit 1863 lebte T. fast ganz im Ausland, meist in Baden-Baden oder Paris, in der Regel nur die Sommermonate auf seinem Gut zubringend. Er starb 3. Sept. 1883 in Bougival bei Paris. In Rußland werden nicht nur die epischen, sondern auch die im Ausland weniger gekannten lyrischen und dramatischen Dichtungen sehr hoch geschätzt. Seine lyrischen Versuche erschienen 1841-47 in verschiedenen russischen Monatsschriften; sie bilden zusammen einen kleinen Band. Auf epischem und dramatischem Gebiet besitzt die russische Litteratur folgende Dichtungen von T., die wir in chronologischer Reihenfolge anführen: "Parascha" (Poem, 1842); "Unvorsichtigkeit", dramatische Skizze; "Andrei" (Poem, 1843); "Eine Unterredung", Poem; "Andrei Kolossow", "Drei Porträte" (Erzählungen, 1844); "Kein Geld!" (Szenen aus dem Petersburger Leben eines russischen Edelmanns, 1846); "Der Jude", "Der Raufbold", "Pater Petrowitsch Karatajew" (Erzählungen, 1847); "Petuschkow", Erzählung; "Allzudünn reißt bald "(Lustspiel, 1848); "Der Junggeselle" (Lustspiel, 1849); "Das Tagebuch eines überflüssigen Menschen", Erzählung; "Ein Monat im Dorfe" (Lustspiel, 1850; letzteres hatte T. auf Verlangen der Zensur umarbeiten müssen, und es erschien erst 1869 in seiner ursprünglichen Form); "Eine Unterredung auf der Landstraße", Erzählung; "Eine Dame aus der Provinz "(Lustspiel, 1851); "Tagebuch eines Jägers", "Drei Begegnungen" (Erzählungen, 185.2); "Zwei Freunde", "Rudin" (Erzählungen, 1854); "Fern von der Welt", "Jakow Passynkow", Erzählungen; "Ein Imbiß beim Adelsmarschall" (Lustspiel, 1855); "Fremdes Brot" (Lustspiel, 1857); "Asja" (Erzählung, 1858); "Das adlige Nest", Roman; "Ein Fragment aus einem Roman" (1859); "Am Vorabend, oder Helene", "Erste Liebe" (Erzählungen, 1860); "Väter und Söhne" (Roman, 1862); "Visionen", Phantasiebild; "Der Hund" (Skizze, 1865); "Rauch", Roman; "Geschichte des Leutnants Jergunow", "Die Unglückliche", "Der Brigadier" (Erzählungen 1867); "Eine wunderliche Geschichte", "Ein König Lear der Steppe" (Erzählungen, 1870); "Es klopft" (Erzählung, 1871); "Frühlingswogen", "Tscherptochanows Ende" (Erzählungen, 1872); "Eine lebende Mumie" (Erzählung, 1874); "Punin und Baburin" (Erzählung, 1875); "Die Uhr" (Erzählung, 1876); "Neuland", Roman; "Die Erzählung des Vaters Alexei" und "Der Traum" (Erzählungen, 1877). Außerdem sind noch, von einigen kritischen Artikeln abgesehen, zu nennen: "Hamlet und Don Quichotte", eine Parallele, und "Erinnerungen an W. Belinskij". Turgenjews Romane und Erzählungen sind weniger durch sensationelle Verwickelungen als durch eine wunderbare Meisterschaft in der Gestalten- und Charakterzeichnung wie in der Darlegung psychologischer Vorgänge ausgezeichnet. Ganz dem nationalen Boden und der unmittelbaren Gegenwart angehörend, spiegeln sie die jeweiligen Zustände und Bewegungen in Rußland so treu wider, daß man an ihnen die Geschichte der innern Entwickelung der Gesellschaft von Werk zu Werk wie an Marksteinen verfolgen kann. Sie wurden vielfach ins Deutsche übertragen; eine Sammlung "Ausgewählter Werke" in der einzig vom Dichter autorisierten Ausgabe erschien deutsch seit 1871 in Mitau (12 Bde.); seine "Briefe" gab Ruhe in Übersetzung heraus (erste Sammlung, Leipz. 1886). Vgl. Zabel, Iwan T. (Leipz. 1883); Thorsch, I. T. (das. 1886).

Turgeszieren (lat.), an-, aufschwellen.

Túrgor (lat., Turgeszenz), der natürliche straffe Zustand der Gewebe des lebenden Körpers; in der Botanik der hydrostatische Druck im Innern der lebenden Zelle.

Turgot (spr. türgo), Anne Robert Jacques, Baron de l'Aulne, franz. Staatsmann, geb. 10. Mai 1727 zu Paris, studierte Theologie und ward 1749 Prior der Sorbonne, trat jedoch 1751 aus derselben aus und wandte sich den Rechts- und Staatswissenschaften zu. Schon 1752 ward er Substitut des Generalprokurators, sodann Parlamentsrat, 1753 Requetenmeister, endlich Mitglied der königlichen Kammer (chambre royale). In dieser Stellung widmete er sich besonders nationalökonomischen Studien und neigte sich zu den Prinzipien von Quesnays physiokratischer Schule hin. Von 1761 bis 1773 Intendant von Limoges, richtete er sein Hauptaugenmerk aus Entlastung, Hebung und Bildung des gemeinen Mannes, Gründung öffentlicher Wohlthätlgkeitsanstalten, Anlage von Kanal- und Wegebauten, Beförderung des Ackerbaues etc. Ludwig XVI. ernannte ihn kurz nach seiner Thronbesteigung 24. Aug. 1774 zum Generalkontrolleur der Finanzen (Finanzminister). Die in seinem berühmten Brief an den König entwickelten Reformpläne Turgots umfaßten eigentlich alles, was später die Revolution durchsetzte: Dezentralisation und Selbstverwaltung, Reform des Steuerwesens, Beseitigung des Zunftzwanges u. a., verletzten aber alle, die dabei ein Opfer bringen sollten. Als T. 1775 die Erlaubnis gab, an Fasttagen Fleisch zu verkaufen, bezichtigte ihn der Klerus des Versuchs, die Religion zu vernichten, und als infolge des vorjährigen Mißwachses eine Teurung entstand, welcher T. durch Freigebung des Getreidehandels im Innern von Frankreich 13. Sept. 1774 hatte abhelfen wollen, schob man die Schuld jener Not auf diese Maßregel des Ministers. Es kam zu mehreren Aufständen (dem sogen. Mehlkrieg, guerre des farines), denen die privilegierten Stände noch Vorschub leisteten. Von allen Plänen Turgots kamen so nur wenige, wenngleich wichtige Verbesserungen und Ersparungen in den Finanzen zur Ausführung, und der König

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Turin (Provinz) - Turin (Stadt).

sah sich durch den allgemeinen Widerstand der privilegierten Stände gegen Turgots neue Edikte, betreffend die Aufhebung der Wegfronen und Zünfte, genötigt, seinen Minister im Mai 1776 plötzlich zu entlassen. T. widmete sich fortan nur wissenschaftlichen Arbeiten und starb 8. März 1781 in Paris. Seine "OEuvres" veröffentlichten Dupont de Nemours (Par. 1808-11, 9 Bde.) und Daire (das. 1844, 2 Bde.). Vgl. Batbie, T., philosophe, économiste et administrateur (Par. 1861); Tissot, T., sa vie, son administrativ, ses ouvrages (das. 1862); Mastier, T., sa vie et sa doctrine (das. 1862); Foncin, Essai sur le ministère de T. (das. 1877); Jobez, La France sous Louis XVI, Bd. 1: T. (das. 1877); Neymarck, T. et ses doctrines (das. 1885, 2 Bde.); kleine Biographien von L. Say (das. 1888) und Robineau (das. 1889).

Turin (ital. Torino), ital. Provinz, umfaßt den nordwestlichen Teil von Piemont, grenzt östlich an die Provinzen Novara und Alessandria, südlich an Cuneo, westlich an Frankreich, nördlich an die Schweiz (Kanton Wallis) und hat ein Areal von 10,535, nach Strelbitsky 10,452 qkm (189,8 QM.). Das Land ist zum größten Teil gebirgig und wird von den Kottischen, Grajischen und Penninischen Alpen nebst ihren Ausläufern durchzogen. An der Grenze gegen die Schweiz erheben sich die Hochgipfel des Montblanc, Matterhorn und Monte Rosa. Die zahlreichen Thäler münden alle in die bei Turin auf 12 km verengerte Ebene des Po, der von hier an schiffbar wird und den Pellice mit Clusone, die Chisola, Dora Riparia, Stura und Dora Baltea aufnimmt. Die Bevölkerung belief sich 1881 auf 1,029,214 Einw. Der Boden ist namentlich in der Poebene höchst fruchtbar und liefert Weizen (1887: 761,000 hl), Mais (692,000 hl), Flachs, Hanf, Kastanien, Wein (333,691 hl) etc. Von Bedeutung ist auch die Viehzucht (1881 zählte man 288,042 Stück Rindvieh, 154,792 Schafe, 54,825 Ziegen); die Seidenzucht lieferte 1887: 1,3 Mill. kg Kokons. Das Mineralreich bietet Eisen, Blei, Kupfer, Silber, Kobalt, Marmor, Salz etc. Die Industrie ist namentlich durch Seidenspinnereien u. -Zwirnereien, Seidenwebereien, Schaf- u. Baumwollmanufakturen, Papierfabriken, Gerbereien und sonstige Lederverarbeitung, Fabriken für Kerzen, Seife, Chemikalien, metallurgische Produkte, Ziegel, Glas- u. Thonwaren u. a. vertreten. Die Provinz zerfällt in fünf Kreise: Aosta, Ivrea, Pinerolo, Susa und T.

Turin (Augusta Taurinorum), Hauptstadt der gleichnamigen ital. Provinz, bis 1861 Hauptstadt des Königreichs Sardinien und bis 1865 des Königreichs Italien, liegt 239 m ü. M., in einer herrlichen, ostwärts von den Höhen der montferratischen Berge begrenzten Ebene. Die Lage ist für kriegerischen wie friedlichen Verkehr hervorragend günstig, denn es geht hier die obere piemontesische Ebene mit den dort vereinigten Straßen durch die Verengerung von T. in die mittlere und untere Poebene über, so daß hier der Verkehr zwischen beiden Ebenen, den das Bergland von Montferrat sonst hindern würde, vermittelt wird. Der Po wird hier durch Aufnahme der Dora Riparia schiffbar, in deren Thal die beiden wichtigen Alpenstraßen von Savoyen über den Mont Cenis (jetzt Eisenbahn) und aus der Dauphiné über den Mont Genèvre vereinigt auf T. gehen, das damit zu einem wichtigen Straßenknoten und Schlüssel der gangbarsten Pässe über die Westalpen wird. Selbst die Straßen über den Großen und Kleinen Bernhard im Dora Baltea-Thal aufwärts lassen sich noch von T. aus beherrschen. So hat T. als natürlicher Mittelpunkt des ganzen obern Pogebiets in der Kriegsgeschichte, bis 1801 auch als starke Festung, eine große Rolle gespielt (s. unten, Geschichte). Dank seiner Lage und dem durch die Mont Cenis-Bahn mächtig gewachsenden Verkehr, hat es die Verlegung der Hauptstadt leicht verwunden und ist in hoffnungsvollem Aufschwung begriffen. Außer dieser Bahn vereinigen sich hier die Linien über Novara nach Mailand, über Alessandria nach Genua und Piacenza, über Brà nach Savona, nach Cuneo, Pinerolo, Rivoli, Lanzo, Rivarolo, über Ivrea nach Aosta, Biella, Arona. Die reizende Lage und die regelmäßige Bauart machen T. zu einer der schönsten Städte Italiens. Es zerfällt in sieben Stadtteile (Dora, Moncenisio, Monviso, Po, Borgo San Salvatore, Borgo Po und Borgo Dora) und hat langgedehnte, breite und gerade Straßen und weite, stattliche Plätze. Die ehemaligen Festungswerke sind zu schönen Spaziergängen umgewandelt. Die schönsten Straßen sind die Via di Po, die Via di Roma, die Via Garibaldi und der Corso Vittorio Emmanuele. Unter den 40 Plätzen zeichnen sich aus: die Piazza Castello, rings von Hallen umgeben; die Piazza Carlo Alberto; die Piazza Carlo Felice (mit hübschen Anlagen versehen); die große, 1825 angelegte Piazza Vittorio Emmanuele, welche sich bis zu der 1801 unter Napoleon I. erbauten großen steinernen Pobrücke hinzieht; die Piazza del Palazzo di Città, die Piazza dello Statuto mit dem Denkmal für den Bau des Mont Cenis-Tunnels und die Piazza Cavour (mit Anlagen). Die hervorragenden Monumentalbauten sind nicht die Kirchen, sondern die Paläste, welche mit Ausnahme des Palazzo Madama auf der Piazza Castello (von 1416) meist einer spätern Zeit angehören (17. und 18. Jahrh.). Dazu gehören das königliche Schloß auf der Nordseite der Piazza Castello (1660 erbaut), mit den Reiterstatuen von Kastor und Pollux und dem Reiterbild des Herzogs Viktor Amadeus I. (im Vestibül), der königlichen Bibliothek (50,000 Bände, 2000 Manuskripte), einer reichen Sammlung von Handzeichnungen (über 20,000 Stück) und Münzen, der berühmten königlichen Rüstkammer (armeria reale), einem schönen Schloßgarten und, hieran anstoßend, einem zoologischen Garten; der Palazzo Carignano (von 1680), ehemals Sitz des Parlaments, jetzt der Gemeinde gehörig; der Palast der Akademie der Wissenschaften (früher Jesuitenkollegium, 1678 von P. Guarini erbaut); das Universitätsgebäude (von 1713), das Stadthaus (von 1665), der Palazzo delle due Torri, das Teatro regio (von 1738) und das Teatro Carignano (von 1787), wozu neuerdings der Zentralbahnhof (1865-68 von Mazzucchetti erbaut), die Galleria Industriale und mehrere kleinere Theater hinzugekommen sind. Unter den 40 Kirchen von T. zeichnen sich aus: die Kathedrale San Giovanni, ein Renaissancebau mit der schwarzmarmornen Grabkapelle del Sudario (1657-1694 von Guarini erbaut); die Kirchen Beata Vergine della Consolazione (1679 ausgeführt), San Filippo (1714 vollendet), Corpus Domini (von 1753), die Kuppelkirche San Massimo, die Rotunde Gran Madre di Dio (1818-49 erbaut) und die protestantische Kirche (tempio Valdese, 1851 erbaut). T. ist außerordentlich reich an Denkmälern, welche das savoyische Haus, die Staatsmänner und großen Geister

[Wappen von Turin.]

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Turinsk - Türk.

des Landes verherrlichen. Dazu gehören: das Reiterbild Emanuel Philiberts auf der Piazza San Carlo (von Marochetti, 1838); das Denkmal Amadeus' VI. auf der Piazza Palazzo di Città; die Marmorstatuen des Prinzen Eugen von Savoyen und des Prinzen Ferdinand (1858) vor dem Rathaus; die der Könige Karl Albert und Viktor Emanuel in der Vorhalle des Rathauses; ferner auf der Piazza Carlo Alberto die Reiterstatue Karl Alberts (von Marochetti, 1861); auf der Piazza Carignano das Denkmal Giobertis (von Albertoni, 1860); auf der Piazza Carlo Felice die Statue d'Azeglios (von Balzico, 1873); auf der Piazza Carlo Emmanuele II. das große Denkmal Cavours (von Dupré, 1873); ferner Statuen von Lagrange, Brofferio, Cassini, Micca (des Retters der Stadt 1706), Pepe, Bava, Balbo, Manin, des Herzogs Ferdinand von Genua u. a.

Die Zahl der Bewohner beträgt (1881) 230,183, mit dem Gemeindebezirk 252,832. Die Industrie hat in der neuern Zeit erhebliche Fortschritte gemacht, besonders in der Fabrikation von Seidenstoffen und Tapeten; außerdem bestehen Fabriken für Bijouteriewaren, Möbel, Pianofortes, Maschinen, Liköre, Leder, Handschuhe und andre Lederarbeiten, Tuch, Zündhölzchen, Papier, Tabak u. a. Zur Förderung der Industrie und des Handels besitzt die Stadt eine Sparkasse, 10 Bankinstitute, 25 Aktiengesellschaften u. a. Für den Verkehr sorgen die oben erwähnten Eisenbahnen, mehrere Pferdebahnen und Dampftramways und die Poschiffahrt. Unter den Bildungsanstalten der Stadt behauptet den ersten Rang die 1412 gegründete Universität (250 Lehrer, über 2100 Studierende, nächst der Universität in Neapel die größte Frequenz in Italien) mit vier Fakultäten und einer Bibliothek von 225,000 Bänden nebst zahlreichen Manuskripten. Sie ist auch mit allen notwendigen Museen und Instituten ziemlich gut versehen. Andre Bildungsinstitute sind: eine Ingenieurschule, ein Seminar, ein Lyceum, ein Lycealgymnasium, 2 Gymnasien, ein Gewerbeinstitut, die Kriegsschule, eine Artillerie- und Genieschule, eine Militärakademie, 4 technische Schulen, eine Tierarzneischule etc.; ferner die Akademie der Wissenschaften (1759 gegründet) mit wertvoller Bibliothek (40,000 Bände) u. Altertumsmuseum, eine medizinisch-chirurgische Akademie mit Bibliothek (20,000 Bände), eine Akademie der schönen Künste (Albertina), ein Kunstverein, ein Industriemuseum (welches auch Gewerbeschullehrer heranbildet), eins der reichsten Staatsarchive in Europa (mit Urkunden der Karolinger), eine Gemäldesammlung (über 500 Nummern, darunter Gemälde von P. Veronese, Raffael, van Dyck, Memling u. a.), ein städtisches Museum, ein Museum der Renaissance (1863 als Synagoge erbaut), zahlreiche Gesellschaften und Vereine. T. besitzt ferner eine bedeutende Anzahl gut dotierter Wohlthätigkeitsanstalten verschiedenster Art und ist der Sitz des Präfekten, eines Erzbischofs, eines Kassationshofs, eines Appell- und Assisenhofs, eines Zivil- und Korrektionstribunals, einer Finanzintendanz, eines Generalkommandos, einer Handelskammer und eines Handelstribunals sowie eines deutschen Konsuls. Unter den öffentlichen Spaziergängen sind namentlich der Nuovo Giardino pubblico, woran sich der botanische Garten und das malerische Castel del Valentino anschließen, und von wo eine Kettenbrücke aufs rechte Ufer des Po führt, der Schloßgarten mit dem zoologischen Garten und der Giardino di Città anzuführen. Der schönste Punkt der weitern Umgegend ist die 678 m hoch gelegene, seit 1884 durch eine Drahtseilbahn zugängliche prachtvolle Klosterkirche La Superga mit der königlichen Familiengruft und herrlicher Aussicht auf die Alpen.

Geschichte. T. war im Altertum unter dem Namen Taurasia Hauptort der gallischen Taurini, wurde 218 v. Chr. von Hannibal erobert und erhielt unter Augustus eine römische Kolonie und den Namen Augusta Taurinorum. Die Langobarden, in deren Besitz die Stadt um 570 n. Chr. kam, ließen sie durch Herzöge verwalten. In der Folge bemächtigten sich die Markgrafen von Susa der Herrschaft, und nach deren Aussterben (um 1060) folgte das Haus Savoyen. Venedig u. Genua schlossen 1381 unter Vermittelung des Herzogs Amadeus von Savoyen in T. Frieden. 1506 von den Franzosen erobert, blieb T. in deren Besitz bis 1562. Damals erhielt es Herzog Philibert zurück, machte es zu seiner Residenz und erbaute 1567 die Citadelle. 1640 nahmen die Franzosen unter Harcourt T. nach 17tägiger Belagerung ein. Am 29. Aug. 1696 wurde hier der Separatfriede zwischen Savoyen und Frankreich geschlossen. Von den Franzosen unter dem Herzog von Orléans belagert, ward T. durch den Sieg der Kaiserlichen unter Prinz Eugen 7. Sept. 1706 befreit. 1798 von den Franzosen eingenommen, ward es 25. Mai 1799 von den Österreichern und Russen unter Suworow wieder befreit. Nach der Schlacht bei Marengo (1800) kam T. aufs neue in die Gewalt der Franzosen und blieb in derselben als Hauptstadt des Podepartements, bis es, seiner Befestigungswerke bis auf die Citadelle beraubt, 1814 durch den Pariser Frieden dem König von Sardinien zurückgegeben ward und nun wieder Residenz und Hauptstadt wurde. Es blieb dies, bis infolge der sogen. Septemberkonvention (15. Sept. 1864) die Residenz und der Sitz der Zentralbehörden des Reichs im Mai 1865 nach der neuen Hauptstadt Italiens, Florenz, verlegt wurde. Nach dem Bekanntwerden der Septemberkonvention kam es 20.-22. Sept. 1864 zu einem blutigen Aufruhr, der nur durch Waffengewalt unterdrückt werden konnte. Vgl. Promis, Storia dell' antica Torino (Tur. 1869); Cibrario, Storia di Torino (das. 1847, 2 Bde., für das Mittelalter); Borbonese, Torino illustrata e descritta (das. 1884).

Turinsk, Stadt im russisch-sibir. Gouvernement Tobolsk, an der Mündung der Jalimka in die Tura, hat eine Kirche, ein Nonnenkloster und (1885) 4658 Einw., welche ansehnliche Gerberei betreiben.

Turiones (lat.), Sprosse; T. (Gemmae) Pini, Kiefernsprosse.

Türk, 1) Daniel Gottlob, ausgezeichneter Organist und Musiktheoretiker, geb. 10. Aug. 1756 zu Klaußnitz bei Chemnitz, besuchte die Kreuzschule in Dresden, 1772 die Universität Leipzig, wo er unter Hiller die schon früher begonnenen Musikstudien fleißig fortsetzte, wurde 1776 Kantor an der Ulrichskirche in Halle, 1779 Universitätsmusikdirektor und 1787 Organist an der Frauenkirche; starb 26. Aug. 1813 da selbst. Seine theoretischen und didaktischen Werke sind: "Von den wichtigsten Pflichten eines Organisten" (Leipz. u. Halle 1787, neue Ausg. 1838); "Klavierschule", mit kritischen Anmerkungen (das. 1789); "Kurze Anweisung zum Generalbaßspielen" (das. 1791; 5. Aufl. von Naue, 1841); "Anleitung zu Temperaturberechnungen" (das. 1806) etc. Von seinen Kompositionen erschienen ein Oratorium: "Die Hirten bei der Krippe in Bethlehem", 18 Klaviersonaten, Lieder u. a. im Druck.

2) Karl Christian Wilhelm von, namhafter Schulmann, geb. 8. Jan. 1774 zu Meiningen, studierte in Jena die Rechte und ward 1794 mecklenburgischer

Meyers Konv.-Lexikon, 4 Aufl., XV. Bd.

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Turka - Türkische Sprache und Litteratur.

Kammerjunker und Justizrat in Neustrelitz. Seit 1800 mit Schulsachen betraut, faßte er für diese entschiedene Vorliebe, besonders seit einer Reise durch Deutschland und die Schweiz mit längerm Aufenthalt bei Pestalozzi (1804). Er folgte 1805 einem Ruf als Justiz- und Konsistorialrat nach Oldenburg, legte aber wegen der Schwierigkeiten, denen seine pädagogischen Bestrebungen begegneten, sein Amt 1808 nieder und widmete sich anfangs als Gehilfe Pestalozzis zu Yverdon, dann als Leiter einer selbständigen Anstalt in Vevay der Erziehung. 1815 als Regierungs- und Schulrat nach Frankfurt a. O. berufen, 1816 nach Potsdam versetzt, reorganisierte er das Schul- und Seminarwesen der Mark in Pestalozzis Sinn. 1833 legte er seine Stelle nieder, um sich der Leitung einer von ihm gegründeten Zivilwaisenanstatt zu widmen, und starb 31. Juli 1846 in Kleinglienecke bei Potsdam. Auch um Einführung des Seidenbaues in Deutschland hat er sich verdient gemacht. Türks zahlreiche Schriften haben seiner Zeit Aufsehen erregt, sind aber jetzt überholt worden. Vgl. "Leben und Wirken des Regierungsrats W. v. T., von ihm selbst niedergeschrieben" (Potsd. 1859).

Turka, Stadt in Galizien, an der Nordseite der Karpathen, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit (1880) 4685 Einw.

Türken, einer der drei Zweige der altaischen Völkerfamilie, der sich gegenwärtig in seinen einzelnen Ausläufern von den grünen Gestaden des Mittelmeers bis an die eisigen Ufer der Lena in Sibirien erstreckt. Ihre Urheimat ist Turkistan, von wo wahrscheinlich schon vor Beginn unsrer Zeitrechnung mehrere Stämme nach verschiedenen Richtungen ausgezogen sind und sich den einzelnen Eroberungen der hochasiatischen Völker angeschlossen haben. Schon von den Römern gekannt, haben sie gleich den Mongolen große, mächtige Reiche gegründet, das Römerreich gezüchtigt und ganz Europa in Schrecken versetzt. Die Throne Chinas, Persiens, Indiens, Syriens, Ägyptens und des Kalifenreichs wurden von den T. in Besitz genommen. Man hat zu den T. die jetzt nicht mehr existierenden Petschenegen, Kumanen, vielleicht auch die Chasaren und weißen Hunnen zu rechnen, gegenwärtig gehören zu ihnen die Jakuten, die sibirischen Tataren, Kirgisen, Uzbeken (Özbegen), Turkomanen, Karakalpaken, Nogaier, Kumüken, basianischen T., Karatschai, die sogen. kasanschen Tataren, Osmanen (die von den frühern Seldschukken abstammen), Dunganen und Tarantschi; sprachlich sind hierher auch zu rechnen die Baschkiren, Tschuwaschen, Meschtscherjäken u. Teptjaren im südlichen Ural und an der Wolga. Mit Ausnahme der Jakuten sind die T. durchweg Anhänger des Islam, alle sind trotz der vielfachen Eroberungen nomadisierende Hirten geblieben, die sich aber bei gebotener Gelegenheit in räuberische Kriegshorden verwandelten. Gegenwärtig versteht man unter T. gewöhnlich die Osmanen (Osmanly) und bezeichnet die von ihnen eroberten und beherrschten Länder als Türkei oder türkisches Reich. Vgl. Vambéry, Skizzen aus Mittelasien (Leipz. 1868); Derselbe, Das Türkenvolk in seinen ethnologischen und ethnographischen Beziehungen (das. 1885); Radloff, Ethnographische Übersicht der Türkstämme Sibiriens und der Mongolei (das. 1883).

Türkenbund, s. v. w. Turban; dann eine Pflanze, s. v. w. Lilium Martagon L. (s. Lilium).

Türkenpaß, s. Algierscher Paß.

Türkensattel, eine Vertiefung im Keilbein, s. Schädel, S. 373.

Türkensteuern, Steuern, welche seit dem 16. Jahrh. aus Veranlassung der Türkenkriege (besonders in Österreich) erhoben wurden.

Turkestan, s. Turkistan.

Turkestan, Stadt im asiatisch-russ. Generalgouvernement Turkistan, Provinz Sir Darja, an der Poststraße nach Orenburg, mit (1881) 6700 Einw. Die alte Moschee Asret war bis zur Eroberung der Stadt durch die Russen (1864) ein in hohem Ruf stehender Wallfahrtsort der Mohammedaner.

Turkeve, Stadt im ungar. Komitat Jász-Kis-Kun-Szolnok mit (1881) 12,042 ungar. Einwohnern (Katholiken und Reformierte).

Türkheim, Stadt im deutschen Bezirk Oberelsaß, Kreis Kolmar, an der Fecht, aus der hier der Logelbach nach Kolmar führt, und an der Eisenbahn Kolmar-Münster, hat eine kath. Kirche, Baumwollspinnerei, Papierfabrikation, vortrefflichen Weinbau und (1885) 2544 Einw. Nordwestlich davon, auf der Höhe der Vogesen, liegt Drei-Ähren (s. Ammerschweier). -T., ehemals Thorencoheim oder Türnicheim, erhielt 1312 Stadtrecht und gehörte dann zu den zehn elsässischen freien Reichsstädten. Hier 5. Jan. 1675 Sieg der Franzosen unter Turenne über den kaiserlichen Feldherrn v. Bournonville, den Herzog Karl von Lothringen und den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vgl. Gérard, La bataille de T. (Kolmar 1870).

Türkis (Kalait, Agraphit, Johnit), Mineral aus der Ordnung der Phosphate, findet sich amorph in Trümern oder Adern, nierensörmig und stalaktitisch, auch derb, eingesprengt und als Gerölle, ist blau oder grün, undurchsichtig, wenig glänzend, Härte 6, spez. Gew. 2,62-2,80, besteht aus wasserhaltiger phosphorsaurer Thonerde Al2P2O8 + H2A2O6 + 2H2O mit etwas Eisen und Kupfer, letzteres als färbendes Prinzip. Der orientalische T., der in Adern, Thonschiefer durchsetzend, zu Nischapur und Mesched in Persien (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 8) und im Porphyr des Megarathals in Arabien vorkommt, war ein im Mittelalter als glückbringendes Amulett hochgeschätzter und ist auch jetzt ein vielbenutzter Edelstein, aber von geringem Wert. Weniger schöne Varietäten stammen von der Jordansmühle in Schlesien, von Ölsnitz in Sachsen, von Mexiko und Nevada. Der sogen. Zahntürkis (Beintürkis, occidentalischer T., T. vom jüngern Stein) ist natürlich oder künstlich gefärbter Zahnschmelz oder Elfenbein, in ersterm Fall von Mastodon und Dinotherium. Er erreicht beinahe die Härte des mineralischen Türkises, ist meist intensiver gefärbt, erscheint aber bei Kerzenbeleuchtung bläulichgrau. Natürliche Zahntürkise kommen in Sibirien und im Languedoc vor.

Türkische Becken, s. Becken, S. 588.

Türkische Kresse, s. v. w. Tropaeolum majus.

Türkische Melisse, s. Dracocephalum.

Türkischer Klee, s. v. w. Esparsette, s. Onobrychis.

Türkischer Weizen, s. Mais.

Türkische Sprache und Litteratur. Die türkische oder osmanische (türk. Osmanli) Sprache gehört zur türkisch-tatarischen Abteilung der großen uralaltaischen Sprachenfamilie (s. d.). Im weitern Sinn bezeichnet man alle Sprachen dieser Abteilung, die bis zur Lena in Sibirien reichen und sehr nahe miteinander verwandt sind, als türkische; gewöhnlich versteht man aber im engern Sinn die Sprache der Osmanen, d. h. der europäischen und klein-asiatischen (anatolischen) Türken, darunter. Die beiden charakteristischen Eigentümlichkeiten des uralaltaischen Sprachstammes, die Agglutination und die Vokalharmonie (s. d.), treten im Türkischen in

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Türkische Sprache und Litteratur

kräftigster Weise hervor. Erstere ermöglicht namentlich die Bildung einer bedeutenden Menge von Konjugationen, wobei der Stamm des Verbums stets unverändert an der Spitze des Wortes stehen bleibt. So heißt sev-mek "lieben", sev-isch-mek "einander lieben", sev-isch-dir-mek "einander lieben machen", sev-isch-dir-il-mek "einander lieben gemacht werden", sev-isch-dir-il-me-mek "nicht einander lieben gemacht werden" etc. Während so der grammatische Bau rein uralaltaisch ist, hat der Wortschatz eine mannigfache Versetzung mit europäischen, namentlich aber mit arabischen und persischen Sprachelementen erfahren. Die natürliche Folge dieser Vermischung mit fremden Sprachelementen ist eine beträchtliche Verminderung des ursprünglichen türkischen Wortschatzes gewesen. Ihr Alphabet haben die Türken von den Arabern entlehnt, den 28 arabischen Konsonantenzeichen aber fünf neue Konsonanten hinzugefügt, von denen drei ihnen mit den Persern gemein sind, einer rein persisch und einer rein türkisch ist. Wie die Araber und Perser, schreiben und lesen die Türken von rechts nach links. In der Schrift und im Druck werden die Zeichen des Alphabets in verschiedener Weise kalligraphisch gemodelt. Es gibt daher besondere Schriftgattungen für den Bücherdruck, die Fermane (amtlichen Erlasse), die Poesie, den Briefverkehr (Kursivschrift) etc. Vgl. Grimm, Über die Stellung, Bedeutung und einige Eigentümlichkeiten der osmanischen Sprache (Ratib. 1877, Schulprogramm); ferner die Grammatiken von Redhouse ("Grammaire raisonnée de la langue ottomane", Par. 1846; "Simplified grammar", Lond. 1884) und Kazem Beg (deutsch von Zenker, Leipz. 1848), die zur praktischen Erlernung der Sprache dienenden Handbücher von Bianchi ("Guide de la conversation en français et en turc", Par. 1839), Wahrmund ("Praktisches Handbuch der osmanisch-türkischen Sprache, mit Wörtersammlung etc.", 2. Aufl., Gieß. 1884), Wells ("A practical grammar of the Turkish language", Lond. 1880), A. Müller ("Türkische Grammatik", Berl. 1889) u. a. und die Wörterbücher von Meninski ("Thesaurus linguarum orientalium", Wien 1660; 2. Ausg., das. 1780, 4 Bde.), Kieffer und Bianchi ("Dictionnaire-turc-français", 2 Tle., 2. Aufl., Par. 1850), von Bianchi ("Dictionnaire francais-turc à l'usage des agents diplomatiques", 2. Aufl., das. 1843-46, 2 Tle.), Redhouse ("Turkish dictionary", 2. Aufl., 1880), Barbier de Meynard ("Dictionnaire turc-français", Par. 1881 ff., bisher 2 Bde.), Zenker ("Türkisch-arabisch-persisches Handwörterbuch", Leipz. 1866-76, 2 Bde.), Mallouf ("Dictionnaire français-turc", 3. Aufl., Par. 1881); für seinen besondern Zweck sehr wertvoll ist v. Schlechte-Wssehrds "Manuel terminologique français-ottoman" (Wien 1870), ein bequemes Handbuch Vambérys "Deutsch-türkisches Handwörterbuch" (Konstantinop. 1858). Für Reisezwecke dienen Finks "Türkischer Dragoman" (2. Aufl., Leipz. 1879) und Heintzes "Türkischer Sprachführer" (das. 1882). Die beste Chrestomathie ist diejenige von Wickerhausen (Wien 1853), für Anfänger recht praktisch die von Dieterici (Berl. 1854, mit grammatischen Paradigmen und Glossar).

Wie den Islam, haben die Türken auch ihre geistige Bildung durch die Araber und Perser erhalten. Die türkische Litteratur bietet uns daher wenig Originelles dar, sie ist vielmehr größtenteils eine Nachahmung persischer und arabischer Muster. Eins der ältesten poetischen Denkmäler der osmanischen Sprache ist das "Bâz nâmeh", ein Gedicht über die Falknerei, welches Hammer-Purgstall mit einem neugriechischen und mitteldeutschen von ähnlichem Inhalt zusammen unter dem Titel: "Falknerklee" herausgegeben und übersetzt hat (Pest 1840). Die osmanischen Dichter sind sehr zahlreich; Hammer-Purgstall hat in seiner "Geschichte der osmanischen Dichtkunst" (Pest 1836-38, 4 Bde.) uns allein 2200 Dichter mit Proben aus ihren Werken und kurzen biographischen Notizen vorgeführt. Hier heben wir nur die hauptsächlichsten hervor. Vor allen ist Lami (s. d.) zu nennen, wohl der fruchtbarste unter den osmanischen Dichtern (gest. 1531) und besonders durch seine vier großen epischen Gedichte berühmt. Ein sehr selbständiger Dichter ist Fasli, der unter Soliman d. Gr. lebte und 1563 starb. Sein allegorisches Gedicht "Gül u Bülbül" ("Rose und Nachtigall", deutsch von Hammer-Purgstall, Pest 1834) ist unter allen türkischen Gedichten europäischem Geschmack am meisten entsprechend. Der größte Lyriker der Osmanen ist Baki (gest. 1600), dessen "Diwan" Hammer-Purgstall (Wien 1825, wozu noch zu vergleichen "Geschichte der osmanischen Dichtkunst", Bd. 2, S. 360 ff.) deutsch herausgegeben hat. Die Osmanen selbst haben eine erhebliche Anzahl von Blumenlesen aus ihren Dichtern zusammengestellt. Die größte unter denselben ist "Subdet-ul-esch'âr" ("Creme der Gedichte") von Mollah Abd ul hajj ben Feisullah, genannt Kassade (gest. 1622), welche Auszüge aus 514 Dichtern nebst biographischen Notizen enthält. Auf dem Gebiet der Märchen und Erzählungen sind zu erwähnen: das "Humajunnâme" ("Kaiserbuch", vgl. v. Diez, Über Vortrag, Entstehung und Schicksale des Königlichen Buches, Berl. 1811; gedruckt Bulak 1836), eine Übersetzung der persischen Bearbeitung der Fabeln des Bidpai von Ali Tschelebi; ferner das "Tutinâme" ("Papageienbuch") des Sari Abdallah, ebenfalls aus dem Persischen (gedruckt Bulak 1838, Konstantinop. 1840; übers. von G. Rosen, 2 Bde., Leipz. 1858, und Wickerhauser, Hamb. 1863); die aus dem Arabischen übersetzten Geschichten der vierzig Wesire von Scheich Sade (türkisch hrsg. von Belletête, Par. 1812; deutsch von Behrnauer, Leipz. 1851). Zur Volkslitteratur gehören vor allem der unter dem Namen "Sîret-i Sejjid Batthâl" bekannte Ritterroman (vgl. Fleischer, Kleinere Schriften, Bd. 3, S. 226 ff.; gedruckt Kasan 1888, übers. von Ethé, Leipz. 1871, 2 Bde.) und die "Latha'if-i Chodscha Nassreddin Efendi" ("Schwänke des Herrn Meisters Nassr ed din", des türkischen Eulenspiegel, Konstantinop. 1837 u. ö., Bulak 1838; franz. von Decourdemanche, Par. 1876, Brüss. 1878; deutsch von Murad Efendi, Oldenb. 1877). Türkische Volkslieder veröffentlichte I. Kunos in der Wiener "Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes", 2. u. 3. Bd. (1888-89); Volksmärchen derselbe (ungarisch, Budapest 1887; deutsch in der "Ungarischen Revue" 1888-89), ebenso ein Volksschauspiel ("Ortaojunu", Budapest 1888, türk. u. ungar.). Zahlreich und charakteristisch sind die türkischen Sprichwörter, von denen eine beliebte Sammlung Schinasi veranstaltet hat (gedruckt Konstantinop. 1863 u. öfter); eine andre ist von der Wiener orientalischen Akademie herausgegeben worden ("Osmanische Sprichwörter", Wien 1865, mit deutscher und franz. Übersetzung); "1001 proverbes turcs" übersetzte Decourdemanche (Par. 1878). Für die Geschichte ihres Reichs haben die Osmanen viel Material zusammengetragen. Ihre Reichsannalen beginnen mit dem Ursprung des osmanischen Herrscherhauses und reichen bis in die Gegenwart. Die Verfasser derselben sind: Saad ed

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Türkische Sprache und Litteratur.

din, dessen Annalen bis 1522 reichen (bis Murad I., türkisch und lateinisch hrsg. von Kollar, Wien 1750); Naima Efendi, von 1591 bis 1659 (Konstantinop. 1734, 2 Bde.; 1863, 6 Bde.; engl. von Fraser, Lond. 1832, 2 Bde.); Raschid, von 1660 bis 1721 (Konstantinop. 1741, 3 Bde.; 1865); Tschelebisade, von 1721 bis 1728 (das. 1741); Sami, Schakir und Sübhi, von 1730 bis 1743 (das. 1784); Izzi, von 1744 bis 1752 (das. 1784)); Waßif, von 1752 bis 1773 (das. 1805, 2 Bde., und Kairo 1827 u. 1831); Enweri, von 1759 bis 1769 (Bulak 1827); Dschewdet, von 1774 bis 1825 (Konstantinop. 1855-84, 12 Bde.; Bd. 1-8, neue Ausg., das. 1886); Aßim, von 1787 bis 1808 (das. 1867); Lutfi, von 1832 bis 1838 (das. 1873-85). Eine Art Zusammenfassung und Ergänzung zu den Reichsannalen bildet die große "Geschichte der osmanischen Dynastie" von Cheirullah Efendi (15 Bde., Konstantinop. 1853-69; Bd. 1-10 in neuer Ausg., das. 1872). Ein großer Teil des in diesen Reichsannalen niedergelegten historischen Materials ist von Hammer-Purgstall in seiner "Geschichte des osmanischen Reichs" verarbeitet worden; daneben fehlt es nicht anzahlreichen Einzelschriften, wie des Kemâlpaschasâde "Geschichte des Feldzugs von Mohácz" (türk. u. franz. von Pavet de Courteille, Par. 1859). Die neuern türkischen Geschichtschreiber hat v. Schlechta-Wssehrd ("Die osmanischen Geschichtschreiber der neuern Zeit", Wien 1856) behandelt. Als einer der gelehrtesten Historiker der Türken ist noch Hadschi Khalfa zu erwähnen. Er schrieb das "Takwim-ut-tewarich" ("Tafel der Geschichte", Konstantinop. 1733) und das "Tochfet-ul-kibâr" ("Geschenk der Großen"), welches die Seekriege der Osmanen behandelt (das. 1729 u. 1873-76; ein Teil engl. von I. Mitchell, Lond. 1831). Um die Geographie machte er sich verdient durch sein geographisches Wörterbuch "Dschihân-numâ" ("Buch der Weltschau", Konstantinop. 1732; lat. von Norberg, Lund 1818, 2 Bde.). Von sonstigen geographischen Werken erwähnen wir die Reisen in Europa, Asien und Afrika des Evlia Efendi (von Hammer-Purgstall ins Englische übersetzt, Lond. 1834-46), des Mohammed Efendi (hrsg. von Jaubert, Par. 1841) und eine geographische Beschreibung Rumeliens und Bosniens, die Hammer-Purgstall (Wien 1812) übersetzt hat. Auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft dienen den Türken die Araber zum Vorbild. Eine brauchbare Grammatik ihrer eignen Sprache haben Mohammed Fuad Efendi und Ahmed Dschewdet Efendi geliefert. Das Buch führt den Titel: "Kawâid-i Osmânijje" ("Grundregeln der osmanischen Sprache", Konstantinop. 1851 u. 1859) und ist von H. Kellgren (Helsingf. 1855) ins Deutsche übersetzt worden. Auf dem Gebiet der Lexikographie haben die Türken ihre eigne Sprache vernachlässigt, desto eifriger aber das Arabische, das bei ihnen die Gelehrtensprache ist, und das Persische bearbeitet. Zu nennen sind hier: Wânkûlis Übersetzung des arabischen Wörterbuchs von Dschauhari (Konstantinop. 1803, 2 Bde.); Aßim Efendis Übersetzung des arabischen Wörterbuchs "Kamus" (das. 1814-17, 3 Bde.; 1856, 3 Bde.; Kairo 1835, 3 Bde.), mit vielen gehaltvollen Zusätzen; Achmet Emin Efendis Übersetzung des persischen Wörterbuchs "Burhân-i kati" (Konstantinop. 1799, Kairo 1836). Das zu Konstantinopel 1742 in 2 Bänden erschienene persisch-türkische Wörterbuch "Ferheng-i Schu'uri" ist durch seine zahlreichen Citate aus persischen Dichtern besonders wichtig. Es existieren ferner eine Reihe sachlicher und grammatischer Kommentare zu den beliebtesten persischen Dichterwerken, wie die Kommentare des Sudi zu Saadis "Gulistan" (Konstantinop. 1833) und zu den Gedichten des Hafis (Kairo 1834, 3 Bde.; zum Teil von H. Brockhaus seiner Ausgabe der Gedichte des Hafis, Leipz. 1855-63, beigefügt), des Ismael Hakki zu dem "Pendnâme" des Ferid ed din Attar (Kairo 1834) und zu dem "Mesnewi" des Dschelâl ed din Rumi (das. 1836, 6 Bde.). Die Medizin ist in neuerer Zeit durch außerordentlich zahlreiche Schriften vertreten, welche zeigen, daß die türkischen Ärzte mehr und mehr den Forschungen ihrer westlichen Kollegen Rechnung zu tragen bemüht sind. Die eigentliche türkische Jurisprudenz ruht auf der festen Grundlage des Korans und der Sunna. An den türkischen Akademien wird sie neben der Theologie des Islam am meisten kultiviert. Viele juristische Werke sind auch bereits durch den Druck veröffentlicht, so: große Sammlungen der sogen. Fetwas, gerichtlicher Entscheidungen in schwierigen Fällen, der sogen. Sakks, Urkunden oder Formulare für alle möglichen Fälle der Gerichtsordnung, das Strafgesetzbuch etc. In neuerer Zeit haben die Berührungen mit dem Abendland eine von der islamitischen Tradition unabhängige Nebengesetzgebung erzwungen, die mehr und mehr auf das Gebiet des echten islamitischen Rechts übergreift, wenn sie auch zunächst auf die Erfordernisse des internationalen Verkehrs (Handelsgesetzbuch, Zollreglements u. dgl.; Verträge aller Art; Verfassungsurkunden und sonstige diplomatische Aktenstücke) zugeschnitten ist. Mit der juristischen Litteratur steht auch bei den Türken die religiös-dogmatische in enger Verbindung; doch wird für dieses Gebiet die arabische Sprache vorgezogen, so daß sich in türkischer hauptsächlich populäre, zum Teil katechismusartige Schriften geringern Wertes finden. Sehr beliebt ist von diesen der Abriß der Glaubenslehre von Mohammed Pir Ali el Birgewi (Konstantinop. 1802 u. öfter; franz. von Garcin de Tassy, Par. 1822); erwähnenswert auch der mystische Traktat "Die Erfreuung der Geister" von Omar ben Suleiman (hrsg. u. übers. von L. Krehl, Leipz. 1848). Die Bibel ist mehrere Male ins Türkische übersetzt worden, so das Neue Testament von Redhouse (Lond. 1857, Bibelgesellschaft) und Schauffler (Konstantinop. 1866), Teile des Alten Testaments von Schauffler (5 Bücher Mosis, Wien 1877; Jesaia, das. 1876; Psalmen, Konstantinop. 1868). Eine vollständige türkische Bibel erschien Paris 1827 (für die englische Bibelgesellschaft).

Eine mangelhafte Übersicht über das ganze geistige Leben der Türken gab Toderini in seiner "Letteratura turchesca" (Vened. 1787, 3 Bde.; deutsch von Hausleutner, Königsb. 1790, 2 Bde.). Vgl. Hammer-Purgstalls Darstellung der türkischen Litteratur im 3. Band von Eichhorns "Geschichte der Litteratur" (Götting. 1810-12); Dora d'Istria, La poésie des Ottomans (Par. 1877); Redhouse, On the history, system and varieties of Turkish poetry (Lond. 1879). Eine den jetzigen Ansprüchen genügende Darstellung der ganzen türkischen Litteratur fehlt (vgl. indes den Artikel von Gibb u. Fyffe in der "Encyclopaedia britannica", 9. Ausg., Bd. 23); zum Ersatz muß man sich an Zenkers "Bibliotheca orientalis" (Leipz. 1846-61, 2 Bde.) und an die Kataloge der größern Handschriftensammlungen halten (besonders Pertsch, Die türkischen Handschriften der Bibliothek zu Gotha, Wien 1864; Flügel, Die arabischen, persischen und türkischen Handschriften der Hofbibliothek zu Wien, das. 1865-67, 3 Bde.; Rieu, The Turkish manuscripts in the British Museum,

TÜRKISCHES REICH.

Maßstab 1:10.000.000.

Die Hauptstädte der Wilajets sind unterstrichen.

D=Dagh (türk.) od. Dschebel (arab.)=Berg.

BALKAN-HALBINSEL.

Maßstab 1:6.000.000

Die Hauptstädte der Staaten sind doppelt, die der Wilajets in der Türkei einfach unterstrichen.

Eisenbahnen.

Dampferrouten.

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Türkisches Reich (europäische Türkei: Grenzen, Gebirge, Flüsse).

Lond. 1888). Über die in den letzten Jahrzehnten in Konstantinopel selbst gedruckten Bücher haben berichtet Hammer-Purgstall und Schlechta-Wssehrd in den "Sitzungsberichten der Wiener Akademie" seit 1849, Bianchi, Belin und Huart im "Journal asiatique" seit 1843; s. das Einzelverzeichnis bei A. Müller, Türkische Grammatik (Berl. 1889, S. 43* f.).

Türkisches Reich (vgl. beifolgende Übersichtskarte "Türkisches Reich"). Das türkische oder osmanische Reich (türk. Memâlik-i Osmanije, "die osmanischen Länder", oder Devlet-i Alije, "das hohe Reich") umfaßt die gesamte Ländermasse, welche unter der Herrschaft des Sultans (Padischah) in Konstantinopel steht, d. h. also Teile der sogen. Balkanhalbinsel, Kleinasien, Syrien, Teile von Armenien, Kurdistan und Arabien sowie den Nordosten von Afrika. Es sind dies teils unmittelbare Besitzungen, teils tributäre Staaten (wie Bulgarien, Samos, Ägypten). Doch ist dabei zu bemerken, daß große, namentlich gebirgige Strecken Landes in Albanien, Kleinasien und Kurdistan faktisch der Türkenherrschaft gänzlich entzogen sind, daß Bosnien (s. d.), die Herzegowina und Teile des Sandschaks Novipasar sowie Cypern nur in der Theorie zum türkischen Reich, tatsächlich aber zu Österreich, resp. (Cypern) England gehören, und daß die Grenzen des Reichs besonders gegen das unabhängige Arabien und Afrika hin nicht feststehen. Deswegen und wegen des Fehlens jeder brauchbaren offiziellen Statistik können die Angaben über Grenzen, Areal und Bevölkerung stets nur beschränktes Vertrauen beanspruchen; auch ist die Bemerkung, daß das Areal des Reichs selbst nicht auf Zehntausende von Quadratkilometern genau anzugeben ist, für die Erkenntnis türkischer Zustände wertvoller als genaue Ziffern, welche ganz imaginäre und wertlose Zahlenreihen darstellen.

Die europäische Türkei.

(Hierzu die Karte "Balkanhalbinsel".)

Die europäische Türkei, zu welcher nach den letzten Veränderungen (Vertrag von Berlin, 13. Juli 1878, und Konferenzen von Berlin und Konstantinopel, 24. Juni 1880, resp. 24. Mai 1881) als unmittelbare Besitzungen nur noch die Wilajets Kossowo (nebst einem Teil des Sandschaks Novipasar), Monastir, Skutari, Janina, Saloniki, Adrianopel, Kreta und ein Teil des Wilajets Konstantinopel gehören, liegt (ohne Berücksichtigung der Inseln, privilegierten Provinzen etc.) zwischen 39° und 43½° nördl. Br., inkl. Bulgariens und Ostrumeliens zwischen 39° und 44° 12' nördl. Br. und grenzt im N. an Rumänien und Serbien, im NW. an den österreichischen Kaiserstaat (d. h. an das von Österreich-Ungarn besetzte Bosnien), im W. an das Adriatische und Ionische Meer, im S. an Griechenland, das Ägeische und das Marmarameer, im O. an das Schwarze Meer.

Physische Beschaffenheit.

Die Balkanhalbinsel wird zum größten Teil von Bergketten erfüllt, in denen sich drei Hauptrichtungen unterscheiden lassen. Das Gebirgssystem des Hämos erstreckt sich vom Thal des Timok an als Hämos im engern Sinn oder Balkan (s. d.) in westöstlicher Richtung bis zum Kap Emineh am Schwarzen Meer. Es bildet, von dem dasselbe durchbrechenden Isker abgesehen, die Wasserscheide zwischen der Donau und dem Ägeischen Meer. Vom Schardagh (s. d.) zieht sich eine zweite Hauptkette als Wasserscheide zwischen dem Ionischen und Ägeischen Meer nach S., bildet die Grenze zwischen Albanien und Makedonien, zwischen Thessalien und Epirus und findet ihre Fortsetzung in den Gebirgen Moreas. Auf sie wird der Name des Pindos (zwischen 39° und 40° nördl. Br.) verallgemeinert angewendet. Die dritte Hauptrichtung vertritt ein System von Bergzügen, die unter verschiedenen Namen in der Richtung von NW. nach SO., also dem Apennin parallel, die Herzegowina und Bosnien erfüllen. Neben diesen Hauptketten erheben sich teils selbständige, denselben parallele Gebirge von geringerer Ausdehnung (z. B. im W. die Akrokeraunien oder das Tschikagebirge, im O. die Gruppe des Olympos), teils zweigen sich von den Hauptketten Nebenketten ab, welche die Provinzen der europäischen Türkei meist als terrassenförmig gegen die Hauptketten ansteigende Bergländer erscheinen lassen. Albanien (s. d.) wird in seinem östlichen Teil von zusammenhängenden, von NW. nach SO. streichenden Hochgebirgsketten durchzogen: dem Pindos (Tsurnata 2168 m, Budzikaki 2160 m), dessen nördlichen Fortsetzungen (Smolika 2570 m) und dem jenen parallelen Peristeri östlich vom Presbasee (2350 m) bis hinauf zum 2280 m hohen Prokletjagebirge, unweit der Südgrenze Montenegros. Eine abweichende Richtung, von NO. nach SW., hat der etwa in gleicher Breite gelegene Schardagh (bis 3050 m hoch). Das Land zwischen dem Adriatischen und Ionischen Meer einerseits und jenen Gebirgen anderseits enthält an den Mündungen der Flüsse ziemlich ausgedehnte Alluvialebenen, welche durch Gebirgszüge getrennt werden. Die bedeutendste Erhebung liegt nördlich von 40° nördl. Br., wo die Viosa (Aoos) durchbricht und das bis 2040 m hohe Tschikagebirge nebst seiner halbinselförmigen Verlängerung, den Akrokeraunien des Altertums, senkrecht zum Meer abfällt. Das Zentrum der europäischen Türkei bildet die zu 2300 m ansteigende, auf allen Seiten von niedrigern und höhern Gebirgszügen umgebene gewaltige Syenitmasse des Witosch, südlich von Sofia, auf bulgarischem Gebiet gelegen. Zwischen Mesta (dem alten Nestos) und Maritza erhebt sich zu 2300 m das Rhodopegebirge (s. d.). Es umfaßt eine Reihe von NW. nach SO. verlaufender Bergzüge, zwischen denen sich Längenthäler hinziehen. Das größte derselben ist das der Arda, deren Quellgebiet die Zentralmasse des Rhodope bildet. Zwischen Balkan und Rhodope liegen Mittelgebirgszüge, dem erstern parallel streichend, wie die Sredna Gora und Tscherna Gora, und ausgedehnte Ebenen am Oberlauf der Maritza und ihren Nebenflüssen. Makedonien (s. d.) wird durch den dem Rhodopegebirge parallelen Perimdagh (Orbelos 2700 m) von Thrakien, durch die Pindoskette von Epirus geschieden; nach N. und S. hat es keine so bedeutenden Grenzgebirge. Einen Anhang dazu bildet die Chalkidike mit ihren drei langgestreckten Halbinseln und dem heiligen Berg Athos. Von Thessalien (s. d.) ist nur der nördlichste gebirgige Teil mit dem Olympos beim türkischen Reich verblieben, der fruchtbare Süden aber 1881 an Hellas abgetreten worden. Von Ebenen, die einen geringen Raum des Gesamtareals einnehmen, sind der Türkei namentlich geblieben die Tiefebenen an der Maritza, am Strymon oder Karasu, an den Mündungen des Wardar, der Vistritza und der albanischen Flüsse.

An schiffbaren Flüssen ist die europäische Türkei sehr arm; ein Teil der Maritza ist dank der Nachlässigkeit der türkischen Behörden jetzt das einzige schiffbare Binnenwasser. Die übrigen bedeutenden Flüsse sind im Gebiet des Schwarzen Meers: der Kamtschyk, welcher zwischen Warna und Misivri mündet; im Gebiet des Ägeischen Meers: die Maritza mit der Arda, in den Meerbusen von Enos mündend, der

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Türkisches Reich (Klima, Areal und Bevölkerung).

Karasu (Mesta), der Strymon (türk. Karasu), den Tachynosee durchfließend und in den Busen von Orfano mündend, der Wardar und die Vistritza, alle in den Meerbusen von Saloniki mündend; im Gebiet des Ionischen Meers: die Arta, in den Meerbusen von Arta mündend, der Kalamas und Pawla, durch den Liwarisee fließend; im Gebiet des Adriatischen Meers: Viosa, Semeni mit Dewol, Schkumbi, Mati, Drin und die auf österreichischem Gebiet mündende Narenta. Unter den Landseen sind die bedeutendsten: die Seen von Skutari, Ochrida, Janina, der Presba- und Ventroksee in Albanien, der See von Kastoria, von Ostrowo, Doiran, der Beschik- und Tachynosee in Makedonien. Von Mineralquellen finden sich in der Türkei vornehmlich warme in Bosnien und namentlich am Südfuß des Balkans sowie Schwefelquellen.

Das Klima ist im ganzen mild und angenehm, wenn auch die Temperatur infolge der vorherrschend gebirgigen Beschaffenheit des Landes sehr wechselnd und wegen der rauhen Nordostwinde kälter ist als in Italien und Spanien, welche Länder mit der Türkei unter gleicher Breite liegen. Im ganzen werden dadurch Klima und Vegetation denen Mitteleuropas sehr ähnlich. Der Balkan macht eine sehr merkliche Wetterscheide, denn während in den Donauländern der Winter ziemlich streng, oft schneereich ist und das Thermometer nicht selten auf -10° C. und darunter sinkt, steigt im S. dieses Gebirges die Kälte selten über -3° und ist der Sommer bei fast beständig heiterm Himmel oft drückend heiß. Während die kalten Nordwinde für die Gegenden am Bosporus Schneestürme bringen, kennt man in den Küstenländern des Ägeischen Meers und auf den Inseln winterliche Witterung nur auf den Gebirgshöhen. Die Luft ist, wenige Sumpfstriche ausgenommen, überall rein und gesund; wohl aber werden manche Gegenden durch Erdbeben heimgesucht. Konstantinopel hat mit Venedig gleiche mittlere Jahrestemperatur. Die Türkei gehört zum größten Teil zu der subtropischen Regenzone mit dürren Sommern. Der Balkan und der Westen des Landes (Bosnien und Albanien) empfangen durchschnittlich noch über 100 cm jährlichen Niederschlags, der Rest noch über 70 cm und nur das Thal der Maritza weniger.

Areal und Bevölkernng.

Das Areal der europäischen Türkei beträgt insgeamt 326,375 qkm (5927,3 QM.), nämlich:

Unmittelbare Besitzungen . . 165438 qkm (3004,5 QM.)

Ostrumelien ....... 35900 ( 652 - )

Bulgarien. ....... 63972 - (1161,8 - )

Bosnien, Herzegowina u. Novipasar ...... 61065 - (1109 - )

Was die Zahl der Bevölkerung anlangt, so fand die erste partielle Volkszählung im osmanischen Reich 1830-31 statt, der seitdem mehrere gefolgt sind. Auf dieselben ist aber deshalb wenig Gewicht zu legen, weil es zunächst erwiesen ist, daß die Beamten möglichst niedrige Summen angeben, um die von dem verheimlichten Überschuß an Unterthanen eingehenden Steuern zu unterschlagen. Sodann wird nur die erwachsene männliche Bevölkerung gezählt, und es fehlt an Angaben, in welchem ungefähren numerischen Verhältnis dieselbe zu den Frauen und den Kindern beiderlei Geschlechts steht. Als dritter Faktor kommen die (unbekannten) Verluste durch den Krieg von 1877 bis 1878 hinzu, um sämtliche Schätzungen als durchaus unzuverlässig erscheinen zu lassen. Das Staatshandbuch (Salname) für 1879 gab folgende Übersicht der Bevölkerung der europaischen Türkei:

Wilajets Einw.

Edirne (Adrianopel) ......... 597794

Selanik (Saloniki) ......... 1000558

Kossowo. ............. 1079654

Jania (Janina) ........... 736904

Schkodra (Skutari) nach Abzug des 1880 an Montenegro abgetretenen Gebiets . ca. 203000

Girid (Kreta) . ........... 449246

Unmittelbare Besitzungen: 4167156

Dazu kommen noch nach Behm und Wagner (VI):

Wilajet Konstantinopel (europ. Anteil) . . 540000 Einw.

Inseln Thasos, Imbros, Lemnos, Samothrake 42374 -

Die in Europa stehende Armee .... 130 000 Mann (?)

Fremde und Polizei . . ...... 170000 -

Im ganzen ca.: 5050000 Seelen,

wovon etwa 2 Mill. Mohammedaner. (Die Bevölkerungsziffern von Bosnien, Bulgarien, Ostrumelien s. unter diesen Ländernamen.) Die neueste Schätzung (für 1887) nahm für die unmittelbaren Besitzungen nur etwa 4½ Mill. und fast ebensoviel für Bosnien, Bulgarien und Ostrumelien an; es entfielen danach auf das Quadratkilometer in den unmittelbaren Besitzungen 27, in der gesamten europäischen Türkei einschließlich der tributären und von Österreich besetzten Länder 28 Bewohner. Ein sicherer Maßstab, um die entschieden in letzter Zeit eingetretene Abnahme der Bevölkerung zu schätzen, fehlt uns vollständig, und es läßt sich lediglich die Thatsache, daß eine solche infolge des Kriegs mit Rußland stattgefunden hat, konstatieren. Auch auf alle sonstigen Fragen der Bevölkerungsstatistik fehlt absolut jede Antwort, und nur über die räumliche Verteilung der Nationalitäten sind wir durch Arbeiten westeuropäischer Forscher einigermaßen unterrichtet. Der herrschende Stamm der osmanischen Türken sitzt auf der Balkanhalbinsel, von Konstantinopel abgesehen, nirgends in größerer Masse, sondern nur inselartig zerstreut, meist in der Nähe größerer Städte, wie Adrianopel, Seres, Istib, Saloniki, Monastir, Skutari u. a. Im westlichen und mittlern Bulgarien, wo sie früher zwischen den Bulgaren wohnten, sollen sie ziemlich verschwunden sein, im östlichen Bulgarien, in einem großen Teil von Ostrumelien und im N. des Wilajets Adrianopel wohnen sie mit Bulgaren gemischt. Den Westen des noch unmittelbar türkischen Gebiets nehmen Albanesen ein, von den Grenzen Montenegros und Serbiens an bis zum 40.° nördl. Br. und vom Adriatischen Meer östlich bis etwa zum 21.° östl. L. v. Gr., den sie bei Prischtina in einzelnen Sprachinseln sogar überschreiten. Im nördlichen Epirus wohnen sie mit Griechen gemischt. Den Süden von Epirus und Makedonien, die Chalkidike und viele Küstenpunkte des Ägeischen und des Schwarzen Meers haben Griechen besetzt, die in der südlichen Hälfte des Wilajets Adrianopel mit Türken gemischt sind. Den Westen Bulgariens, Ostrumeliens sowie des alten Thrakien haben in kompakter Masse Bulgaren inne. Im Pindos (Grenze zwischen Epirus und Thessalien) sitzen Zinzaren (Kutzowlachen), in Altserbien und dem nördlichen Makedonien Serben. Die Tscherkessen sind meist nach Kleinasien ausgewandert.

Die Osmanen (Osmanli), das herrschende Volk, obwohl sie keineswegs die Mehrzahl bilden, sind ein Turkmenenstamm, ein schöner Menschenschlag mit edlen Gesichtszügen. Ihre hervorstechenden Nationalzüge sind: Ernst und Würde im Benehmen, Mäßigkeit, Gastfreiheit, Redlichkeit im Handel und Wandel, Tapferkeit, anderseits Herrschsucht, übertriebener Nationalstolz, religiöser Fanatismus, Fatalismus und Hang zum Aberglauben. Trotz ihrer hohen körper-

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Türkisches Reich (Religionsverhältnisse, geistige Kultur).

lichen und geistigen Befähigung sind sie in wahrer Kultur hinter den meisten europäischen Völkern zurückgeblieben und haben nur langsam und mit Widerstreben der abendländischen Zivilisation Eingang bei sich gestattet. Die Ehe ist durch zahlreiche ins einzelne gehende Bestimmungen geregelte Polygamie, die aber nur vier rechtmäßige Frauen gestattet, während das Halten von Konkubinen und Sklavinnen unbeschränkt ist. Die Frauen der Reichen, auf welche sich die Polygamie beschränkt, leben in Harems eingeschlossen. Die gemeinen Osmanen haben selten mehr als eine Frau. Die Ehe ist nur ein bürgerlicher Kontrakt, welcher von dem Mann mit der Familie der Frau vor dem Kadi geschlossen wird. Die mit Konkubinen und Sklavinnen erzeugten Kinder sind ebenso legitim wie die mit rechtmäßigen Frauen erzeugten. Scheidung der Ehe ist nicht erschwert, kommt aber selten vor. Die Wohnungen sind unansehnlich und schmucklos, meist von Holz und einstöckig; sie haben im Innern einen viereckigen Hof, nach welchem die Fenster gehen, während nach der Straße zu nur einige Gitterfenster vorhanden sind. Die Kleidung der Männer besteht in einem faltenreichen Rock (Kaftan) oder einer kurzen Jacke, weiten, faltigen Beinkleidern, einer Weste ohne Kragen, einer um den Leib gewundenen Binde von farbigem Zeug und meist gelben Pantoffeln oder Stiefeln. Kopfbedeckung ist der Turban. Bei den Beamten und Vornehmern ist diese Nationaltracht durch den fränkischen schwarzen Rock, die engern Pantalons und den roten Fes mit schwarzer Quaste verdrängt worden. Der Kopf wird bis auf einen Büschel am Scheitel glatt geschoren, der Bart lang getragen und wohl gepflegt. Die Frauen, wenigstens in den Städten, haben eine Kleidung, welche sackförmig den ganzen Leib einhüllt, und gehen nie aus, ohne das Gesicht durch Musselinbinden und Schleier zu verhüllen. Die Osmanen sind die Inhaber der Zivil- und Militärstellen oder treiben Gewerbe, Ackerbau aber besonders in Kleinasien.

[Religionsverhältnisse.] Die Hauptreligionen in der Türkei sind die mohammedanische und die griechisch-katholische. Zu jener, zum Islam, bekennen sich die Bewohner osmanischen Stammes sowie diejenigen ältern Bewohner, welche bald nach ihrer Unterwerfung diesen Glauben angenommen haben, und die vereinzelten Gruppen neuerer Renegaten. Die Bekenner des Islam heißen Moslems (danach verderbt Muselmanen). Ihre Heilige Schrift und ihr Gesetzbuch ist der Koran (s. d.). Die Adepten des Koranstudiums, das sowohl zu juristischen als kirchlichen Ämtern befähigt (denn einen Unterschied zwischen Staat und Kirche kennt der Islam nicht), sind die Ulemas ("Gelehrte"), deren Rat in allen zweifelhaften Fällen des religiösen und bürgerlichen Lebens in Anspruch genommen wird. Der Ulema tritt, wenn er, 10-12 Jahre alt, die Elementarschule verlassen hat, als Novize in eine der mit den großen Moscheen verbundenen Medressen (Seminare des Islam), in welcher er als Softa Unterricht in der Grammatik, Logik, Moral, Rhetorik, Philosophie, Theologie, Rechtsgelehrsamkeit, im Koran und in der Sunna erhält. Er empfängt dann vom Scheich ul Islam das Diplom als Kandidat (Mulazim), und dadurch zur untersten Stufe der Ulemas erhoben, kann er Richter (Kadi) werden. Will er aber zu den höchsten Würden gelangen, so muß er noch sieben Jahre auf das Studium der Rechtsgelehrsamkeit, Dogmatik etc. verwenden, worauf er zum Grad eines Muderris befördert wird. Die Gotteshäuser der Moslems, die sogen. Moscheen, worin am Freitag Gottesdienst abgehalten wird, sind entweder größere (Dschami) oder kleinere (Medschid, Bethäuser). Die Geistlichkeit teilt sich in fünf Klassen: Scheichs ("Älteste"), die ordentlichen Prediger der Moscheen, die alle Freitage nach dem Mittagsgottesdienst über moralische und dogmatische Gegenstände Vorträge halten; Chatibs oder Vorbeter des Chutbeh (Kutbé), des öffentlichen Gebets, welches alle Freitage in den großen Moscheen für den Sultan verrichtet wird; Imame, denen der gewöhnliche Dienst in den Moscheen und die Besorgung der Trauungs- und Begräbniszeremonien obliegen; Muezzins, welche von den Minarets die Stunden des Gebets verkündigen; Kaims, Wächter und Diener der Moscheen, die nicht zu den Ulemas gehören. Wenn die Ulemas gewissermaßen die Weltgeistlichkeit repräsentieren, können die Orden der Derwische als Ordensgeistlichkeit bezeichnet werden. Die griechisch-orthodoxe Kirche der Türkei hat ihre älteste Verfassung, insoweit dies unter der Herrschaft der Moslems überhaupt möglich war, treu bewahrt. Die Würden der Patriarchen zu Konstantinopel, Antiochia und Alexandria bestehen noch. Das höchste Ansehen besitzt der Patriarch von Konstantinopel, in welchem die zahlreichen Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe, welche unter ihm stehen, sowie die übrigen Patriarchen das Oberhaupt der morgenländischen Kirche verehren. Er präsidiert auf der beständigen Synode zu Konstantinopel, welche aus den Patriarchen, 12 Metropoliten und Bischöfen und 12 angesehenen weltlichen Griechen besteht, im ganzen türkischen Reich die oberste geistliche Gerichtsbarkeit über die Bekenner des griechisch-katholischen Glaubens ausübt und die Patriarchen, Metropoliten, Erzbischöfe und Bischöfe, die aber von der Pforte bestätigt werden, wählt. Der Patriarch von Konstantinopel wird zwar scheinbar frei gewählt, in Wahrheit werden aber die Stimmen der Wähler gekauft. Um nun die bei seiner Wahl verausgabten Summen wiederzubekommen, verkauft der Patriarch die ihm untergeordneten Bischofsitze gleichfalls an den Meistbietenden; die Bischöfe machen es ebenso mit den ihnen untergebenen Pfarreien, und die Pfarrer endlich pressen die Gemeinden aus. Diesem Mißbrauch sind vornehmlich die geringe Bildung und die Entwürdigung der griechischen Geistlichkeit zuzuschreiben. Erst 1857 fand sich der Patriarch veranlaßt, die Wahl eines Ausschusses anzuordnen, der sich mit den nötigen Reformen befassen sollte. Die Mönche und Nonnen folgen der Regel des heiligen Basilius; die berühmtesten griechischen Klöster sind die auf dem Berg Athos (s. d.) in Makedonien. Die armenisch-christliche Kirche steht unter den vier Patriarchen zu Konstantinopel, Sis, Achtamar und Jerusalem. Die römisch-katholische Kirche zählt in der Türkei, mit Einschluß der ihr unierten orientalischen Christen, 27 Patriarchen und Erzbischöfe, von denen 3 auf die europäische Türkei kommen. Die Juden haben in Konstantinopel einen Großrabbiner (Chacham Baschi), unter welchem 7 Oberrabbiner und 10 Rabbiner stehen. Alle nicht zum Islam sich bekennenden Bewohner der Türkei werden unter dem Namen Rajah (Volk, Herde) zusammen begriffen. Der Islam duldet die christliche und die jüdische Religion neben sich und gebietet nur, die Götzendiener zu vernichten.

[Bildung und Unterricht.] Die geistige Kultur steht im türkischen Reich im allgemeinen noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe. Die Lehranstalten zerfallen in drei Kategorien: 1) Elementarschulen, deren Lehrgegenstände Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Erdbeschreibung und Türkisch sind, und die von allen

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Türkisches Reich (Landwirtschaft, Industrie).

mohammedanischen Kindern, welche das Alter von sechs Jahren erreicht haben, besucht werden müssen, und die etwas höher stehenden Vorbereitungsschulen; 2) die Ruschdijeschulen, 470 an Zahl, eine Art Mittel- oder Realschulen mit den Lehrgegenständen Türkisch, Arabisch, Persisch, Geschichte, Geographie, Arithmetik und Geometrie; 3) die höhern Schulen, wie das kaiserliche Lyceum von Galata-Serai, die Verwaltungs-, Rechts-, Forst- und Bergwerksschule, die Kriegs- u. Marine-, zwei medizinische Schulen, Kadettenanstalten etc. Bedeutend ist die Anzahl und Leistungsfähigkeit der im türkischen Reich verbreiteten armenischen und namentlich griechischen Schulen, darunter die griechische Nationalschule in Konstantinopel zur Heranbildung von Lehrern, die Handels- und die theologische Schule auf Chalki bei Konstantinopel. In den größern Küstenplätzen finden sich auch europäische, meist von katholischen Geistlichen geleitete Schulen.

Landwirtschaft. Industrie.

Den Vorschriften des Korans gemäß beansprucht in der Türkei der Staatsschatz das Obereigentumsrecht alles Grundes und Bodens, dessen Verwalter demgemäß der Sultan ist. Bei der Eroberung eines Territoriums teilte derselbe letzteres in drei Teile, von denen einer dem Staat, einer den Moscheen und religiösen Stiftungen (Wakuf) und ein dritter der Benutzung der Privaten überlassen ward. Zu den Staatsdomänen gehören: 1) Miri, d. h. Güter, deren Einkünfte in den Staatsschatz fließen; 2) unbewohnte oder unbebaute Landstriche; 3) die Privatdomänen des Sultans und seiner Familie; 4) verwirkte oder verfallene Ländereien; 5) Länder, die den Wesirämtern, Paschas zweiten Ranges, Ministern und Palastbeamten zugewiesen sind, und 6) militärische Lehnsgüter (je nach der Größe Beiliks, Ziamets und Timars genannt), die unter Sultan Mahmud eingezogen wurden. Die Wakufgüter gehören Moscheen, religiösen Instituten und wohlthätigen Stiftungen, welche von einer besondern Behörde (Evkaf) verwaltet werden; es sind teils Grund und Boden oder dessen Ertrag, teils Privatpersonen gehöriges, aber mit einer Abgabe belastetes Land, welches beim Tode des Besitzers, sofern er keine direkten Erben hat, zum Wakuf wird. Der Privatgrundbesitz (Mulk) ist auf den Namen des Besitzers eingeschrieben, kann vererbt, verkauft und dabei mit gewissen Servituten belastet werden. Erst seit 18. Juni 1867 können Fremde Grund und Boden in der Türkei erwerben. Die Gutsbesitzer in der Türkei wohnen fast ausnahmslos nicht auf ihren Besitzungen, welche vielmehr von einem Verwalter und einer Anzahl Pachter bewirtschaftet werden. Meist müssen letztere dem Besitzer die Hälfte der Ernte nach Abzug der Saat und des Zehnten abgeben, so daß dieser in schlechten Jahren sehr wenig, in guten aber viel erhält. Die Landwirtschaft, insbesondere der Ackerbau, steht noch auf tiefer Stufe. Die Ländereien bleiben in der Regel ein Jahr in der Brache und werden höchstens durch darauf getriebenes Vieh gedüngt. Die Hauptgetreidearten sind: Weizen, Roggen, Gerste und Mais, und zwar produzieren die unmittelbaren Besitzungen: Weizen 8 Mill. hl, Roggen 4,700,000, Gerste 4,400,000, Hafer 700,000, Mais 3 Mill. hl. Als Durchschnittszahl gilt eine achtfache Ernte, eine zehnfache als gut; Mais gibt den 200-300fachen Betrag. Der Cerealienexport betrug 1863-72 jährlich durchschnittlich 13½ Mill. Frank aus Konstantinopel und nahe 16 Mill. Fr. aus Saloniki, ist aber neuerdings hinter der Einfuhr sehr zurückgeblieben (1887 bis 1888 bei Weizen um 7,3 Mill., Gerste um 3,1 Mill., Mehl um 9,6 Mill. Mk.). Von Hülsenfrüchten werden vornehmlich Bohnen, Erbsen, ägyptische Faseln und Linsen gebaut; die verbreiterten Gemüse sind: Zwiebeln, Knoblauch, Kohl, Gurken. Als sonstige Gartengewächse sind zu nennen: spanischer Pfeffer, die Eierpflanze, Melonen, Kürbisse etc. Von Öbstbäumen werden besonders Pflaumenbäume gezogen, deren Früchte gedörrt ein bedeutender Ausfuhrartikel sind oder zur Branntweinfabrikation dienen. Außerdem finden sich Kirsch-, Apfel-, Birn-, Aprikosen-, Quitten-, Nuß- und Mandelbäume an den Küsten des Adriatischen Meers und des Archipels. Von Ölpflanzen wird außerdem namentlich Sesam und zwar in den Ebenen Thrakiens, im südlichen Makedonien sowie in einzelnen Gegenden von Epirus gebaut und besonders aus Saloniki ausgeführt. Die Kultur des Weinstocks ist überall verbreitet und hat ebenso wie die Weinausfuhr seit der Verwüstung der französischen Weinberge durch die Reblaus namentlich in Rumelien (sowie im westlichen Kleinasien) bedeutende Fortschritte gemacht. Von Gespinstpflanzen sind besonders Hanf, Lein und Baumwolle hervorzuheben. Tabak wird in Menge gebaut (jährlich 15-18 Mill. kg), der beste in Makedonien; doch ist diese Kultur in den letzten Jahren durch unvernünftige Finanzmaßregeln schwer geschädigt worden. 1883 wurde die Tabaksregie eingeführt und einem Bankkonsortium auf 30 Jahre übertragen. Ein Teil wird im Inland konsumiert, der bei weitem größere Teil nach Rußland, England, Österreich ausgeführt. Von Farbepflanzen ist Krapp die verbreiterte. Große Aufmerksamkeit wird in manchen Gegenden, namentlich in Ostrumelien, der Rosenzucht zugewendet. Die Forstwissenschaft steht noch auf sehr niedriger Stufe, und die Waldverwüstung ist ungeheuer. Einzelne Provinzen sind stellenweise noch mit dichten Waldungen bedeckt, während in andern es an Holz fast gänzlich mangelt. Eine Haupterwerbsquelle der Landbewohner der europäischen Türkei ist außerdem die Viehzucht. Die türkischen Pferde, klein, aber sehnig und ausdauernd, dienen hauptsächlich zum Lasttragen; die Esel und Maulesel der Türkei wetteifern an Schönheit mit denen Italiens. Die Stelle des Kamels, das nur in Konstantinopel vorkommt, vertritt der Büffel, der die schwersten Fuhren bewältigt. Das Rindvieh ist klein, gut gebaut und meist gelblichgrau mit braunen Flecken. Kühe werden fast nur für die Zucht gehalten. Sehr erheblich ist die Schafzucht, insbesondere in Albanien, von wo jährlich im Frühjahr große Schafherden nach Makedonien und Thessalien zum Weiden getrieben werden. Die Wollausfuhr aus der europäischen Türkei, besonders nach Frankreich, wertete früher im Durchschnitt an 24 Mill. Frank, ist aber auf 7¾ Mill. Fr. (1887/88) gesunken; feinere Wolle produziert die Gegend von Adrianopel. In den Gebirgsgegenden werden viele Ziegen gehalten. Von Wichtigkeit ist auch die Bienen- und Seidenraupenzucht, obwohl letztere infolge der großen Preisschwankungen jetzt sehr abgenommen hat. Der Fischfang wird vornehmlich an den Küsten betrieben. Hierher gehört auch das Einsammeln von Badeschwämmen an den Küsten des Ägeischen Meers, während der Blutegelfang in Makedonien von der Regierung als Monopol betrieben wird. Der Bergbau liegt noch ganz danieder, wiewohl reiche Erzlager vorhanden sind, welche später in der wirtschaftlichen Wiederbelebung dieser Länder eine Rolle zu spielen berufen sind.

Was die technische Kultur anlangt, so findet der Gewerbebetrieb in der Türkei noch ganz nach al-

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Türkisches Reich (Handel).

ter Art statt. Mit Ausnahme der für den täglichen Verkehr unentbehrlichen Gewerbe sind letztere, soweit sie überhaupt in der Türkei betrieben werden, auf gewisse Orte und gewisse Personen beschränkt; fabrikmäßiger Betrieb findet fast nirgends statt. Früher bezog das Abendland eine Menge kostbarer Stoffe (Seidenstoffe, Teppiche, Fayencearbeiten etc.) aus der Türkei; jetzt hat dies nicht nur aufgehört, sondern es werden auch dieselben Stoffe und zwar von besserer Qualität und um wohlfeilern Preis aus dem Ausland eingeführt. Die industrielle Thätigkeit beschränkt sich jetzt auf Herstellung der notwendigen Verbrauchsartikel durch die bäuerliche Bevölkerung selbst und in einigen Gegenden auf die nach ererbten Mustern betriebene Hausindustrie. Inländische und ausländische Spekulanten haben wiederholt versucht, irgend eine Industrie ins Leben zu rufen; aber jedesmal scheiterten alle diese Projekte an dem bösen Willen der Provinzialstatthalter, welche in ihrem Fremdenhaß die Auswärtigen fern hielten, während das inländische Kapital mit Steuerpachten, Lieferungen und Börsenspiel leichter und besser sich verzinste. Grundsätzlich wurden z. B. Ausländer vom Betrieb der Bergwerke fern gehalten. Erst neuerdings ist eine kleine Wendung zum Bessern eingetreten.

Handel und Verkehr.

Haupthindernis des für die Türkei sehr wichtigen Land- und Seehandels sind die immer noch mangelhaften Verkehrsmittel. Kunststraßen besitzt die Türkei, von den neuerdings erbauten Eisenbahnen abgesehen, nur wenige, und die Landwege sind selbst in der Gegend von Konstantinopel so schlecht, daß sie fast nur Saumwege und für das landesübliche Fuhrwerk benutzbar sind. Für den Binnenhandel sehr förderlich sind die Messen und Märkte, die in verschiedenen Orten abgehalten werden, und deren wichtigste vom 23. Sept. bis 2. Okt. zu Usundscha Owa, nordwestlich von Adrianopel, stattfindet. Der Handel mit Mittel- und Westeuropa befindet sich vorwiegend in den Händen Fremder, besonders der Griechen; im Levantiner und Küstenhandel sind dagegen auch viele türkische Unterthanen beschäftigt. Bankier- und Wechselgeschäfte werden fast nur von Armeniern und Griechen betrieben, in deren Händen sich auch fast ausschließlich der Binnenhandel befindet. Im Frühjahr 1882 hatte das türkische Reich sämtliche Handelsverträge gekündigt und 1884 und 1885 vorläufig einen einheitlichen 8proz. Wertzoll eingeführt, welcher seit 24. April 1888 auch im Verkehr mit Ostrumelien in Kraft getreten ist. Von Waren, welche vom Ausland kommen, werden 7/8 des 8proz. Wertzolls (bei den über Trapezunt gehenden der gesamte Zoll) zurückerstattet, wenn die Wiederausfuhr nach dem Ausland innerhalb sechs Monaten nach der Einfuhr erfolgt. Erst neuerdings ist es wieder zum Abschluß von neuen Handelsverträggen gekommen, nach welchen jeder Staat auf die Einfuhr des andern die mit einem dritten vereinbarten niedrigsten Zölle anwendet, nämlich mit Rumänien (ratifiziert 12. Jan. 1888) und Serbien (ratifiziert 28. Aug. 1888). Die Statistik über Aus- und Einfuhr ist noch keineswegs eine befriedigende zu nennen; doch veröffentlicht das "Journal de la chambre de commerce de Constantinople" seit 1881 offizielle Tabellen, die einen gewissen Anhalt geben. Danach nehmen in der Ausfuhr bei weitem die erste Stelle ein die Rosinen, dann folgen Seide, Wolle, Mohair, Valonen, Opium, Häute, Feigen, Kokons, Wein, Olivenöl, Erze, Datteln, Teppiche, Seife, Haselnüsse etc. Es betrug der Wert der Ausfuhr in Millionen Piaster (zu 16-17 Pfennig):

1885/86 1886/87 1887/88

Rosinen 146 183 172

Mohair 59 86 50

Opium 90 80 42

Seide 77 79 84

Baumwolle 55 53 31

Valonen 43 51 46

Wolle 34 50 57

Häute 30 37 38

Feigen 34 35 30 Kokons 27 34 39 Wein 23 31 29 Olivenöl 38 27 36 Erze 14 16 18 Datteln 17 15 21 Teppiche 13 14 16 Seife 16 14 10 Haselnüsse 15 13 7

Im ganzen aber übersteigt die Einfuhr den Export: das Verhältnis beider ist wie 10:6. Eingeführt werden besonders Tuche, Baumwollwaren, Garne, Eisen- und Stahlwaren, Droguen, Farben, Öle, Zucker, Getränke, Lebensmittel, Spiritus, Petroleum, Stearinlichte, Zündwaren, Glaswaren, Papier, Bijouterien, Arzneien, Parfümerien, Möbel, Waffen, Kurzwaren, Modeartikel etc., vorzüglich englischen, französischen, österreichischen, deutschen und schweizerischen Ursprungs. Nach offiziellen Angaben, welche indessen wegen der vielen Betrügereien der Beamten und der Defraudationen um ein Viertel zu niedrig ausfallen sollen, betrug, unter Ausschluß Ägyptens, der Waffen etc. für die Regierung, der Gegenstände für Gesandte, Konsuln, Schulen, Stiftungen, der Maschinen und Geräte für Gewerbe und Ackerbau etc., der Wert der

1884/85 1885/86 1886/87 1887/88

Einfuhr 2063,8 2000,4 2070,3 2010,6 Mill. Piaster

Ausfuhr 1279,8 1207,6 1270,7 1128,9 -

Davon entfällt mehr als ein Drittel allein auf Konstantinopel. Hauptausfuhrplätze sind ferner: Saloniki und Dedeaghatsch und in der asiatischen Türkei Smyrna, Trapezunt, Mersina, Alexandrette und Beirut. Von diesem Handelsverkehr besorgt den Hauptanteil Großbritannien (1887/88: 42,38 Proz. der Einfuhr, 31,66 Proz. der Ausfuhr); dann folgen Frankreich mit 12,06, bez. 37,26 Proz. und Österreich-Ungarn mit 19,14, bez. 8,79, dann Rußland (11,25, bez. 2,56 Proz.), endlich Italien, Ägypten, Griechenland etc. Die Sendungen aus und nach dem Deutschen Reich, ebenso wie der Schweiz und Belgiens gehen gewöhnlich über Marseille und Triest und werden darum als französische und österreichische Provenienzen, resp. Ausfuhr bezeichnet, was bei nachstehender Tabelle zu berücksichtigen ist. Der Anteil der wichtigsten Länder an der Handelsbewegung der Türkei beträgt in Tausenden Piaster:

Einfuhr Ausfuhr

1886/87 1887/88 1886/87 1887/88

Großbritannien. . . . 894028 851812 434923 357444

Deutsches Reich. ... 2513 3802 729 216

Österreich-Ungarn. . . 417600 384771 111718 99314

Italien . . . . . . 635l4 48976 37351 33461

Persien ...... 48867 53402 1070 1206

Amerika ...... 12352 15596 15333 12751

Belgien ...... 38395 42913 28 203

Bulgarien ..... 49370 50974 2325 2292

Tunesien ...... 7742 10353 12 382

Rußland ...... 178614 226155 30715 28910

Rumänien ..... 32238 25903 10770 13094

Serbien ...... 7266 7006 1019 623

Niederlande ..... 3389 2878 12771 10245

Frankreich ..... 250079 242483 473802 420701

Ägypten ...... 1957 1770 90527 87765

Griechenland. .... 41138 37739 46519 59108

Die türkische Handelsmarine selbst ist unbedeutend, und es existieren darüber keine sichern Angaben. 1879 wurde ihr Gesamtinhalt auf 181,500 Ton. geschätzt; 1886 umfaßte sie nur 17 Dampfer (7297 T.), 416 große Segelschiffe (69,627 T.) und eine große Anzahl kleiner Küstenfahrzeuge.

922

Türkisches Reich (Verkehrswesen, Münzen, Maße etc.; staatliche Verhältnisse).

Für die Schiffahrtsbewegung liegen, abgesehen von Daten für einzelne große Hafenstädte (Konstantinopel, Saloniki, Smyrna, Dedeaghatsch, Trapezunt, Beirut, Samsun, Jafa etc., s. d.), nur Angaben für das Jahr vom 1. März 1881 bis 28. Febr. 1882 vor. Danach umfaßte dieselbe 195,703 Schiffe, darunter 37,924 ausländische mit 15,864,032 Ton. und 157,779 türkische mit 3,703,261 T. Während des Kriegsjahrs war die Tonnenzahl auf 12,810,003 gesunken, bis 1887/88 jedoch wieder auf 21,984,576 T. in der fremden Schiffahrt und 5,597,351 T. in der Küstenschiffahrt gestiegen. Die am meisten dabei beteiligten Nationen sind England mit 9,274,752 T., Österreich-Ungarn mit 3,722,122, Frankreich mit 2,979,457, Griechenland mit 2,425,124, Rußland mit 2,030,714, Italien mit 956,537, Schweden und Norwegen mit 208,587, das Deutsche Reich mit 163,833 T. Am auswärtigen Schiffsverkehr ist der Hafen von Konstantinopel mit 36,36 Proz. der Tonnenzahl beteiligt. Regelmäßige Dampfschiffsverbindungen werden zwischen den Hauptseeplätzen der Türkei und den Häfen des Schwarzen, Ägeischen und Adriatischen Meers wie des westlichen Mittelmeerbeckens (Odessa, Triest, Brindisi, Messina, Marseille etc.) durch die österreichischen Lloyddampfer, die Messageries maritimes, Fraissinet & Comp., Navigazione Generale Italiana, die Compagnie Russe de navigation à vapeur et de commerce, griechische und türkische Schiffe unterhalten. Das türkische Postwesen wurde 1840 neu eingerichtet (1886: 408 Postämter, im ganzen Reich 1187); doch haben bei der Unsicherheit desselben das Deutsche Reich, Österreich, Frankreich, Großbritannien etc. ihre Postämter in Konstantinopel und einigen andern Hafenstädten beibehalten. Eisenbahnbauten sind in der europäischen Türkei erst in neuerer Zeit in Angriff genommen worden; bis jetzt sind einschließlich Ostrumeliens 1170 km im Betrieb (in der asiatischen Türkei 660 km); die sehr wichtigen Verbindungen der Bahnen Saloniki-Mitrowitza und Konstantinopel-Sarambei sind 1888 eröffnet worden. Das Telegraphennetz ist (wohl im Interesse der Regierung) ziemlich ausgedehnt, selbst über abgelegene und menschenarme Provinzen. Es existieren 233 (im ganzen Reich 683) Telegraphenbüreaus. Die bedeutendsten Orte der europäischen Türkei sind: Konstantinopel, Adrianopel, Gallipoli, Saloniki, Janina, Skodra, Prisrend, Prischtina und Monastir. Münzeinheit ist der Piaster (zu 40 Para), deren 100 auf die türkische Lira (= 18½ Mk.) gehen sollen. Da aber Gold Agio genießt, so ist der Piaster weniger wert (16-17 Pf.). Es kursieren Goldstücke zu 500, 250, 100, 50 und 25 Piaster, Silbermünzen zu 20, 10, 5, 2, 1 und ½ Piaster und Münzen aus einer Legierung von Silber mit Kupfer, nämlich ganze, halbe und viertel Altilik (ein Altilik, nominell = 6 Piaster, enthält 52 Proz. Silber und verliert ca. 17 Proz.) und ganze, halbe, 2/5, 1/5 und 1/10 Beschlik (enthält 25 Proz. Silber, nominell = 5 Piaster, und verliert im Verkehr 50 Proz.). Der Kurs der Gold- und Silbermünzen ist übrigens in den verschiedenen Städten ein verschiedener. In Bezug auf Maß und Gewicht gilt offiziell seit 1871 das französische (metrische) System. Frühere Gewichtseinheit war die Okka = 1284 g, Getreidemaß das Kilé = 25-37 Lit., Längenmaß der Pik Hâlebi ("Elle von Aleppo") = 0,686 m. Diese Maße sind noch überall im Gebrauch.

Staatliche Verhältnisse.

Das osmanische Reich ist eine absolute Monarchie, deren Herrscher, Sultan oder Padischah ("Großherr"), die höchste weltliche Gewalt mit dem Kalifat, der höchsten geistlichen Würde, verbindet. Der Sultan gilt bei seinen Unterthanen als Nachfolger des Propheten und hat seine Autorität von Gott. Der Thron ist erblich im Mannesstamm des Hauses Osman und geht in der Regel auf das älteste Mitglied desselben über. Der Padischah wird in der Moschee Ejub zu Konstantinopel von dem Mufti, unter Assistenz des Vorstehers der Emire, mit dem Säbel Osmans, des ersten Sultans der Osmanen (1299), umgürtet, wobei er die Aufrechterhaltung des Islam verspricht und einen Schwur auf den Koran ablegt. Der jetzig Sultan ist Abd ul Hamid Chan, geb. 21. Sept. 1842, Sohn des Sultans Abd ul Medschid Chan (seit 3l. Aug. 1876), der 34. Souverän aus dem Haus Osmans und der 28. seit der Eroberung von Konstantinopel. Der Hof des Sultans heißt die Hohe Pforte. Die Würdenträger desselben zerfallen in zwei Klassen: die einen, die Agas des Äußern, wohnen außerhalb des Palastes oder Serails; die andern, die Agas des Innern, bewohnen den Mabeïn, einen Teil des Serails neben dem Harem. In die erste Kategorie gehören: der erste Imam oder Großalmosenier des kaiserlichen Palastes, der erste Arzt, der erste Sekretär, der erste Adjutant, der Oberstallmeister etc. Zur zweiten Kategorie (Mabeïndschi) gehören fast lauter Eunuchen, welche zu ihrem Namen den Titel "Aga" setzen. Der erste an Rang und darin einem Feldmarschall gleich ist der Kislar-Aga ("Hauptmann der Mädchen"), der Chef der schwarzen Eunuchen. Dann folgen: der Chef der Privatkasse des Sultans, der Schatzmeister der Krone, der Kapu-Aga oder der Chef der weißen Eunuchen, der Oberhofmeister, der Oberkämmerer, der erste Kammereunuch, der Pagendirektor etc. Die Frauen des Harems, der als Staatseinrichtung gilt, zerfallen je nach ihrem Rang in mehrere Klassen. Die ersten im Rang sind die Kadinen, deren gesetzmäßige Zahl 7 ist, die Beischläferinnen des Sultans; diesen folgen 50-60 Odalik, d. h. kaiserliche Stubenmädchen, die zu besondern Diensten des Sultans bestimmt sind, auch wohl mit den Kadinen die Gunst desselben teilen. Im ganzen enthält der Harem 300-400 Frauen, meist Tscherkessinnen. Den Titel Sultanin führen nur die Töchter oder Schwestern des Großherrn. Seine Mutter heißt Sultan-Walidé oder Sultanin-Mutter und hat nach dem Sultan den ersten Rang im Reich. Die osmanische Gesetzgebung besteht aus zwei Hauptteilen, dem theokratischen (religiös-bürgerlichen) Gesetz oder Scheriat und dem politischen Gesetz oder Kanun. Das Scheriat ist basiert auf den Koran, die Sunna oder Überlieferung, das Idschma i ümmet (die Auslegungen und Entscheidungen der vier ersten Kalifen enthaltend) und das Kyas oder die Sammlung gerichtlicher, durch die vier großen Imame (Ebn Hanifé, Maliki, Schafi'i und Hambali) gegebenen Entscheidungen in den ersten drei Jahrhunderten der Hedschra bis zu den Sammlungen der Fetwas (s. d.). Das System der türkischen Gesetzgebung ist das Werk von ca. 200 Rechtsgelehrten, aus deren Arbeiten man zuletzt umfassende Sammlungen bildete, welche die Stelle der Gesetzgebung vertreten. Die erste, "Dürrer" ("Perlen") genannt, reicht bis 1470 (875 der Hedschra); die zweite, "Mülteka ül Buhur" ("Verbindung der Meere"), das Werk des gelehrten Scheichs Ibrahim Halebi (gest. 1549), ward 1824 gänzlich umgearbeitet und ist religiöses, politisches, militärisches, bürgerliches, Zivil- und Kriminalgesetzbuch; das Handelsgesetzbuch ist eine ungeschickte Kopie des französischen Code de commerce von 1807.

923

Türkisches Reich (Staatsverwaltung, Rechtspflege).

In der Türkei besteht jetzt der Theorie nach die 23. Dez. 1876 erlassene Verfassung zu Recht, obwohl die Regierung sich um dieselbe sehr wenig kümmert. Im wesentlichen setzt dieselbe fest: die Unteilbarkeit des Reichs; die Unverantwortlichkeit und Unverletzlichkeit des Sultans, dessen Vorrechte die der übrigen europäischen Herrscher sind; die Freiheit der Unterthanen, die ohne Unterschied Osmanen heißen, ist unverletzlich. Staatsreligion ist der Islam, doch dürfen die anerkannten Konfessionen frei ausgeübt werden und behalten ihre Privilegien. Sodann wird Preßfreiheit, Petitions- und Versammlungsrecht, Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetz (die Sklaverei existiert aber faktisch noch!), Unterrichtsfreiheit, Befähigung aller Osmanen ohne Unterschied der Religion zu allen Beamtenstellungen, gerechte Verteilung der Steuern etc. garantiert. Der Konseil der Minister soll unter dem Präsidium des Großwesirs beraten. Die Minister sind für ihr Ressort verantwortlich und können von dem Abgeordnetenhaus angeklagt werden; Auflösung des letztern oder Entlassung der Minister bei einem Konflikt zwischen beiden, Interpellationsrecht der Abgeordneten, Unabsetzbarkeit der Beamten, sofern kein rechtlicher Grund gegen sie vorliegt, alles wie in zivilisierten Staaten; ebenso die Zusammensetzung des Parlaments (seit 1878 nicht mehr einberufen) aus zwei Kammern, das Institut der Thronrede, die Freiheit der Abstimmung, die Öffentlichkeit der Sitzungen, die Votierung des Budgets etc. Doch ist diese Verfassung bald nach ihrer Entstehung nicht weiter berücksichtigt worden.

[Staatsverwaltung.] Was die Staatsverwaltung betrifft, so übt der Sultan seine gesetzgebende und vollziehende Gewalt durch den (1878 vorübergehend abgeschafften) Großwesir und den Mufti (Scheich ul Islam) aus. Der Großwesir (Sadrasam) ist der Repräsentant des Sultans, führt im Geheimen Rat den Vorsitz und ist tatsächlich der Inhaber der Exekutivgewalt. Er erhält seine Gewalt durch einen Hattischerif des Sultans und hat seinen amtlichen Aufenthalt bei der Hohen Pforte. Dem Mufti oder Scheich ul Islam (eingesetzt 1543 durch Mohammed II.) liegt die Auslegung des Gesetzes ob. Er ist Chef der Ulemas (s. unten), selbst aber weder Priester noch Gerichtsperson. Er nimmt an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt teil in dem Sinn, daß seine Zustimmung notwendig ist zur Gültigkeit jeder Verordnung, jedes von der höchsten Behörde ausgehenden Aktes. Außerdem stehen an der Spitze der Staatsverwaltung die für die einzelnen Zweige derselben bestimmten Staatsminister, nämlich: der Präsident des Staatsrats, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Kriegsminister und Großmeister der Artillerie (Seraskier), der Finanzminister, der Marineminister (Kapudan-Pascha), der Minister des Innern, der Minister des Handels, der öffentlichen Arbeiten und des Ackerbaues, der Minister des öffentlichen Unterrichts, der Justizminister und der Intendant des Evkaf (d. h. der den Moscheen und frommen Stiftungen gehörigen Güter). Der Geheime Rat oder Diwan, dessen Mitglieder den Titel Muschir (Räte des Staatsoberhauptes) führen, besteht ans dem Scheich ul Islam, den oben genannten Ministern und dem Präsidium des Staatsrats und versammelt sich in der Regel wöchentlich. Dann folgen die beiden Reichsräte, der für Ausführung der Reformen und der 1868 gegründete Staatsrat (nachdem Muster des französischen Conseil d'État). Mit jedem der verschiedenen ministeriellen Departements, mit Ausnahme des der auswärtigen Angelegenheiten, sind permanente Räte (z. B. für das Gesundheitswesen, für Post und Telegraphie etc.) verbunden, welche die Gegenstände bearbeiten und die Verbesserungsprojekte vorbereiten. Alle Ämter des osmanischen Reichs zerfallen in wissenschaftliche oder Ämter des Lehrerstandes (Ulema), Ämter der Feder (Administrativämter), Ämter des Säbels (Armee und Flotte) und Hofämter. Die Minister führen den Titel "Muschir" (und "Wesir"), die andern hohen Staatsbeamten der Pforte und die Generale den Titel "Pascha", die höhern Beamten den Titel "Efendi", die Söhne der Paschas und die obern Offiziere den Titel "Bei", alle niedern Offiziere und Beamten den Titel "Aga". Behufs der Verwaltung ist das türkische Reich in Wilajets oder Generalgouvernements eingeteilt. Die Wilajets zerfallen in Liwas oder Provinzen, diese wiederum in Kazas oder Distrikte. An der Spitze eines jeden Wilajets steht ein Wali oder Generalgouverneur als Chef der Verwaltung. Unter ihm fungieren, ohne von ihm ernannt zu werden: der Defterdar für das Finanzwesen, der Mektubdschi oder Generalsekretär, der Sekretär der fremden Geschäfte, die Beamten für den öffentlichen Unterricht, für Handel, Ackerbau, Straßenbau, Landesvermessung, Polizei etc. Jedes Liwa wird von einem Mutessarrif verwaltet, jedes Kaza von einem Kaimakam; an der Spitze der Nahijes oder Kommunen steht ein von den Eingebornen gewählter Mudir sowie dessen Beigeordneter, der Muavin. In jedem Wilajet, Liwa, Kaza und Nahije steht dem betreffenden Verwaltungsbeamten ein Medschlis i idareh (Verwaltungsrat) zur Seite, worin die richterlichen, finanziellen, religiösen Spitzen und 3-4 von der Einwohnerschaft gewählte Personen sitzen. Am Schluß des Jahrs 1878 wurde der Entwurf eines neuen organischen Reglements für die europäischen Provinzen der Türkei veröffentlicht, wonach der Sultan die Walis aller Wilajets auf fünf Jahre ernennt. Die Pforte soll unter je drei von dem Wali vorgeschlagenen Kandidaten die Mutessarrifs wählen und die Provinzialbeamten möglichst aus den Einwohnern der betreffenden Provinz entnehmen. Ein Generalrat, zusammengesetzt aus je zwei Delegierten jedes Kazas, soll in jedem Wilajet eingesetzt werden. Außer den Zolleinnahmen soll der Ertrag einer Grund- und Bodensteuer sowie andre Einkünfte zur Bestreitung der Ausgaben der Provinzen für die öffentlichen Arbeiten und die Gendarmerie verwendet werden. Die Urteilssprüche der Gerichte sollen in öffentlichen Sitzungen gefällt werden.

[Rechtspflege.] Die türkischen Justizbehörden zerfallen in die ganz mohammedanischen Tscheris, an deren Spitze der Scheich ul Islam steht, und in die weltlichen Nisâmijes, die aus Christen und Mohammedanern zusammengesetzt sind. Das Tribunal der Tscheris besteht aus dem hohen Appellhof (Arsadassi) mit je einer Kammer für Europa und Asien, die einen Kâsi-asker (Kazilesker, s. d.) und 14 Richter zählt. In jedem Wilajet befindet sich ein Tscherigericht unter dem Vorsitz eines Mollas mit dem Titel Nâib, der zugleich dem Diwan-Temyisi (Appellationsgericht des Wilajets) präsidiert. Ebenso hat jedes Liwa und Kaza sein Tscheri-Gericht, das häufig der Bestechung sehr zugänglich ist. Für Streitigkeiten zwischen Bekennern verschiedener Religionen, zugleich auch für Kriminalfälle dienen die Nisâmijes, deren jedes Wilajet, Liwa und Kaza eins hat, und deren Mitglieder von der Bevölkerung gewählt werden. Jedes höhere Gericht bildet die Appellinstanz für die

924

Türkisches Reich (Heer u. Flotte, Wappen u. Orden; außereuropäische Besitzungen).

untern. Die höchste ist das Obertribunal in Konstantinopel (gegründet 1868), welches unter anderm alle Todesurteile zu bestätigen hat. Außerdem bestehen in Seestädten 49 Handelsgerichte, die 1847 errichtet wurden. In Prozessen, bei denen beide Parteien Fremde sind, entscheiden die Konsulargerichte.

[Finanzen.] Was die Finanzen anlangt, so haben sich dieselben nach dem Staatsbankrott vom 13. April 1876 (Einstellung der Zinszahlungen) ein wenig gehoben infolge der am 20. Dez. 1881 dekretierten Konsolidation und Reduktion der äußern und der Regulierung der schwebenden Schuld. Die Anleihen von 1858 bis 1874 im Betrag von 190,997,980 Pfd. Sterl. wurden auf 106,437,234 Pfd. Sterl. reduziert, und letztere werden seitdem aus den Erträgnissen gewisser Steuern (Tabaks- und Salzmonopol, Getränke- und Fischereisteuer, Stempel, Seidenzehnt, Tribut von Bulgarien und Ostrumelien, Überschuß der Einkünfte von Cypern) unter Aufsicht von Vertretern der Gläubiger mit 1 Proz. verzinst und mit ¼ Proz. amortisiert. Am 13. März 1887 betrug diese Schuld noch 104,458,706 Pfd. Sterl., die zu ihrer Verzinsung bestimmten innern Steuern ergaben 1887/88: 114 Mill. Piaster (noch nicht 1 Mill. Pfd. Sterl.). Außerdem gibt es aber noch eine innere Schuld von ca. 22 Mill. türk. Pfd. (à 100 Piaster), eine schwebende Schuld von ca. 9 Mill. türk. Pfd., die unverzinsliche russische Kriegsschuld von 32 Mill. Pfd. Sterl., die an russische Private zu leistende Entschädigung von 38 Mill. Frank und Schulden für neuerdings geliefertes Kriegsmaterial (ca. 3 Mill. Pfd. Sterl.). Das Budget ist ein ganz ungeregeltes; die Zahlen desselben, soweit solche überhaupt noch veröffentlicht werden, stehen lediglich auf dem Papier und verdienen kein Vertrauen, das ständige Defizit wird durch Verringerung und Nichtauszahlung der Beamtengehalte, kleine Anleihen, selbst Zwangsanleihen nicht ausgeschlossen, und ähnliche Mittelchen gedeckt. 1881/82 belief sich dasselbe auf ca. 5¼ Mill. türk. Pfd., es schwankt meist zwischen 4 und 8 Mill. Im Finanzjahr 1884/85 waren die sonst ca. 12 Mill. türk. Pfd. betragenden Einnahmen angeblich auf 7 Mill. gesunken! Für 1887/88 schätzt man sie wieder auf 17½ Mill. türk. Pfd., ob mit Recht, ist sehr fraglich. Die Hauptposten der Einnahmen, soweit dieselben nicht an die Staatsgläubiger verpfändet sind, sind: Grundsteuer, Einkommensteuer von einzelnen Gewerben, der Zehnte von den Bodenerzeugnissen, der aber in der Höhe von 12½ Proz. erhoben wird, die Hammelsteuer, die auf den Nichtmohammedanern lastende Steuer für Befreiung vom Militärdienst, der 8proz. Einfuhr- und der 1proz. Ausfuhrzoll.

[Heer, Flotte, Wappen.] Im Mai 1879 erließ die Armee-Reorganisationskommission eine neue Ordre de bataille für den Friedensstand des türkischen Heers. Danach umfaßt letzteres sieben Armeekorps (Ordu) mit den Hauptquartieren in Konstantinopel (Garde), Adrianopel, Monastir, Ersindschan, Damaskus, Bagdad und Sana'a in Arabien. Jedes Armeekorps soll im Frieden durchschnittlich umfassen: 6 Infanterieregimenter zu 3 Bataillonen à 800 Mann, 6 Jägerbataillone zu 800 Mann, 4 Kavallerieregimenter zu 800 Pferoen, 1 Artillerieregiment zu 12 Batterien à 6 Geschütze und 100 Mann, 1 Pionierbataillon zu 400 Mann und mehrere Gendarmeriebataillone. Das gäbe einen Etat von 210,000 Mann (134,400 Infanteristen, 22,400 Reiter, 9600 Mann Artillerie, 3600 Pioniere und 40,000 Gendarmen) mit 576 Geschützen, wozu im Krieg noch je 100,000 Mann Reserven und Landwehr kämen mit resp. 192 und 120 Geschützen. Die Feldarmee betrüge also 410,000 Mann mit 888 Geschützen, eine Zahl, die durch Irreguläre und das ägyptische Kontingent auf eine halbe Million gebracht würde. Faktisch zählte die türkische Armee 1885: 63 Regimenter Infanterie zu 4 Bataillonen, 2 Zuavenregimenter zu 2 Bataillonen, 15 Bataillone Jäger und 1 Bataillon berittene Infanterie; 39 Regimenter Kavallerie zu 5 Schwadronen; 13 Regimenter Artillerie mit 144 fahrenden Batterien, 18 reitende und 36 Gebirgsbatterien, 8 Bataillone Festungsartillerie und 10 Bataillone Artilleriehandwerker, 6 Bataillone Genietruppen, eine Telegraphenkompanie, 5 Train-, 3 Feuerwehr- und 3 Handwerkerbataillone, zusammen 12,000 Offiziere, 170,000 Mann, 30,000 Pferde, 1188 Feld- und 2374 Festungsgeschütze; außerdem Kadres für 96 Redifregimenter zu 4 Bataillonen. Die Flotte, durch Verluste im letzten russischen Krieg und nachherige Verkäufe an England wesentlich verringert, zählte zu Ende 1886 wieder 12 Panzer-, 50 hölzerne und 12 Torpedofahrzeuge; im Bau befanden sich eine Panzerfregatte und 2 Panzerkorvetten. Die Flagge besteht aus einem roten Flaggtuch mit weißem Halbmond und weißem achtstrahligen Stern (s. Tafel "Flaggen I"); die Handelsflagge aus drei Horizontalstreifen Rot-Grün-Rot.

Das Wappen des türkischen Reichs ist ein grüner Schild mit wachsendem silbernen Monde. Den Schild umgibt eine Löwenhaut, auf der ein Turban mit einer Reiherfeder liegt; hinter demselben stehen schräg zwei Standarten mit Roßschweifen. Es bestehen vier Ritterorden: der Orden des Ruhms (Nischani iftichar, 1831 gestiftet), mit 4 Klassen; der Medschidieh-Orden (1852 gestiftet, s. Tafel "Orden", Fig. 33), mit 5 Klassen, der Osmanje-Orden (1861 gestiftet), mit 3 Klassen, der Verdienstorden (Nischani-Imtiaz, 1879 gestiftet), außerdem ein Damenorden (1880 gestiftet). Sonstige Auszeichnungen sind Kriegsmedaillen, Ehrenkaftane und Ehrensäbel.

Außereuropäische Besitzungen.

Die asiatische Türkei umfaßt eine Anzahl verschiedenartiger Gebiete, welche den westlichsten Teil von Asien bllden. Diese Gebiete sind: Armenien, Kurdistan, Irak Arabi oder Babylonien, El Dschesireh oder Mesopotamien, Kleinasien, Syrien und Palästina, die Halbinsel Sinai und das westliche Küstenland von Arabien. Hinsichtlich der Verwaltung zerfallen diese Länder in Wilajets, von denen jedes unter einem Pascha als Statthalter steht, deren Grenzen und Namen aber häufig wechseln. Dieselben sind im Sommer 1888, abgesehen von den zum Polizeibezirk von Konstantinopel gehörigen Liwas Bigha und Kodscha-Ili, das Inselwilajet (Dschezâiri-bahri-sefîd), Chodawendikjâr, Aïdin, Kastamuni, Angora, Konia, Siwas, Adana, Trapezunt, Erzerum, Wan, Bitlis, Diarbekr, Charput (Ma'amuret el Aziz), Mosul, Bagdad, Basra, Aleppo, Surija oder Damaskus und Beirut und in Arabien die Wilajets Hidschas und Jemen (s. die einzelnen Artikel). Die Bevölkerung der asiatischen Besitzungen der Pforte wird auf 16,133,000 Seelen veranschlagt, das Areal derselben auf ca. 1,890,000 qkm (ca. 34,300 QM.). Die direkten afrikanischen Besitzungen zählen auf 1,033,000 qkm nur etwa 1 Mill. Einw. Die gesamten unmittelbaren Besitzungen des türkischen Reichs umfassen also ca. 3,088,400 qkm mit 21½ Mill. Einw., unter Hinzurechnung aller Tributärstaaten etc. aber 4¼ Mill. qkm mit 33 Mill. Einw.

[Litteratur.] Vgl. v. Hammer-Purgstall, Die Staatsverfassung und Staatsverwaltung des osma-

KARTE ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN TÜRKEI.

Türkei und Nachbarländer.

XIV. Jahrhundert bis vor 1453.

Türkei und Schutzstaaten.

Größte Ausdehnung bis zum Karlowitzer Frieden 1699.

Türkei und Schutz Staaten

1699 - 1877.

Türkei und Nachbarländer

nach dem Berliner Vertrag.

1878, 1881 u. 1885.

925

Türkisches Reich (Geschichte bis zum 15. Jahrhundert).

nischen Reichs (Wien 1814, 2 Bde.); v. Moltke, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei 1835 bis 1839 (Berl. 1841, 4. Aufl. 1882); Rigler, Die Türkei und deren Bewohner (Wien 1852, 2 Bde.); Ubicini, Lettres sur la Turquie. Tableau statistique, religieux, politique, administratif etc. (Par. 1854); Derselbe, État présent de l'empire ottoman (mit Pavet de Courteille, das. 1877); Michelsen, The Ottoman empire and its resources (Lond. 1853); Heuschling, L'empire de Turquie (Brüssel 1860); "Stambul und das moderne Türkentum. Von einem Osmanen" (Leipz. 1878); J. Baker, Die Türken in Europa (deutsch, Stuttg. 1878); Aristarchi Bei, La legislation ottomane (Konstant. u. Par. 1873-88, 7 Bde.); Baillie, Digest of moohummudan law (2. Aufl., Lond. 1875 u. 1887, 2 Bde.); Zur Helle, Die Völker des osmanischen Reichs (Wien 1877); Menzies, Turkey, historical, geographical, statistical (Lond. 1880, 2 Bde.); L. Diefenbach, Die Volksstämme der europäischen Türkei (Frankf. 1877); Meyers Reisebücher: "Türkei und Griechenland" (2. Aufl., Leipz. 1888); "Karte der Balkanhalbinsel" (1:300,000, vom österreichischen militärtopographischen Institut, seit 1876); H. Kiepert, Generalkarte der südosteuropäischen Halbinsel (Berl. 1885).

Geschichte des türkischen Reichs.

(Hierzu "Geschichtskarte des türkischen Reichs".)

Übersicht der osmanischen Herrscher.

Osman (1288-1326)

Urchan (1326-59)

Murad I. (1359-89)

Bajesid I. (1389-1403)

(Suleiman, Musa) Mohammed I. (1413-21)

Murad II. (1421-51)

Mohammed II. (1451-81)

Bajesid II. (1481-1512)

Selim I. (1512-20)

Suleiman II. (1520-66)

Selim II. (1566-74)

Murad III. (1574-95)

Mohammed III. (1595-1603)

Achmed I. (1603-17)

Mustafa I. (1617-18)

Osman II. (1618-22)

Murad IV. (1623-40)

Ibrahim (1640-48)

Mohammed IV. (1648-87)

Suleiman III. (1687-91)

Achmed II. (1691-95)

Mustasa II. (1695-1703)

Ach.ned III. (1703-30)

Mahmud I. (1730-54)

Osman III. (1754-57)

Mustafa III. (1757-74)

Abd ul Hamid I. (1774-89)

Selim III. (1789-1807)

Mustafa IV. (1807)

Mahmud II. (1808-39)

Abd ul Medschid (1839-61)

Abd ul Asis (1861-76)

Murad V. (1876)

Abd ul Hamid II. (seit 1876)

[Gründung des türkischen Reichs.] Die Türken, ein Stamm der schon im Altertum Turan bewohnenden, im 8. Jahrh. zum Islam bekehrten Bevölkerung, von der bereits früher zahlreiche Scharen unter Führung der Seldschukken (s. d.) Vorderasien überschwemmt hatten, wanderten, 50,000 Seelen stark, um 1225 unter ihrem Stammeshäuptling Suleiman I., um dem Schwerte der Mongolen zu entrinnen, von Chorasan nach Armenien aus. Suleimans Sohn Ertogrul (1231-88) trat als Lehnsträger in die Dienste Ala ed dins, des seldschukkischen Sultans von Konia, und erhielt einen Landstrich im nordwestlichen Phrygien zum Wohnsitz, wo die Türken Gelegenheit fanden, im Kampf gegen das absterbende griechische Kaiserreich Eroberungen zu machen. Osman, Ertogruls Sohn und Nachfolger (1288-1326), erweiterte sein Gebiet durch glückliche Kämpfe gegen die Griechen beträchtlich und nahm 1299 nach Ala ed dins Tode den Titel "Sultan" an; nach ihm führten die Türken fortan den Namen osmanische Türken oder Osmanen. Türkische Freibeuter wagten sich auf die See, eroberten 1308 Chios und plünderten und verwüsteten zahlreiche Städte der kleinasiatischen Westküste. Osmans Sohn Urchan (1326-59), einer der bedeutendsten Herrscher seines Geschlechts, eroberte 1326 das feste und volkreiche Brussa, wo er sich einen Palast erbaute, dessen Thor die "hohe Pforte" genannt wurde, und unterwarf sich bis 1340 das ganze Land bis an die Propontis mit Nikäa und Nikomedeia sowie weite Länderstrecken im Innern Kleinasiens. Sein Sohn Suleiman setzte sich 1356 schon auf der europäischen Seite des Hellesponts, in Gallipoli, fest. Unter dem Beirat seines einsichtsvollen Bruders Ala ed din, des ersten Wesirs der Osmanen, organisierte Urchan das Reich nach den Satzungen des Korans und des osmanischen Staatsrechts (Kanun) und teilte es in drei Militärdistrikte, Sandschaks (Fahnen). Auch schuf er ein stehendes Heer und errichtete die Janitscharen (d. h. neue Truppe), ein aus christlichen Knaben rekrutiertes vortrefflich geschultes Fußvolk, sowie die Spahis, eine reguläre Reitertruppe, deren Mannschaften gegen erbliche Dienstpflicht mit den Einkünften von Dörfern der unterworfenen Gebiete belehnt wurden. Die Türken bildeten also ein politisch organisiertes Heerlager, dessen Unterhaltung den unterworfenen christlichen Volkerschaften oblag, und das sich trotz der fortwährenden Kriege durch den massenhaften Übertritt von Christen zum Islam, welchen sofort alle Vorrechte des herrschenden Kriegerstammes gewährt wurden, rasch und unaufhörlich vermehrte. Diese wohl organisierte Kriegsmacht gab zu einer Zeit, der stehende Heere fremd waren, den Osmanen ihre Übermacht über ihre Nachbarn.

Urchans zweiter Sohn, Murad I. (1359-89), eroberte Thrakien, verlegte 1365 seine Residenz nach Adrianopel und beschränkte das griechische Kaiserreich auf Konstantinopel und Umgebung. Serben und Bulgaren mußten nach der Niederlage auf dem Serbierfeld bei Adrianopel (1363) Tribut zahlen und sich zu Heeresfolge verpflichten; die Fürsten Kleinasiens mußten die Oberhoheit des Sultans anerkennen. Die Erhebung des Serbenkönigs Lazarus, dem sich die Fürsten von Bosnien, Albanien, der Herzegowina und der Walachei anschlössen, endete mit der blutigen Niederlage auf dem Amselfeld bei Kossowa (15. Juni 1389); der siegreiche Murad wurde auf dem Schlachtfeld selbst von einem verwundeten Serben ermordet. Sein Sohn Bajesid I. (1389-1403) machte die Walachei zinspflichtig, unterjochte Bulgarien völlig, eroberte ganz Makedonien und Thessalien und drang siegreich in Hellas ein. Auch in Asien vermehrte er die türkische Macht, indem er die Länder zwischen dem Halys und dem Euphrat eroberte. Das christliche Kreuzheer, welches König Siegmund von Ungarn aus dem Abendland herbeiführte, schlug er 28. Sept. 1396 bei Nikopoli und schickte sich zur Belagerung Konstantinopels an, als das Vordringen der Mongolen unter Timur in Vorderasien ihn zwang, sich gegen diese zu wenden. Doch unterlag er 20. Juli 1402 in der Schlacht bei Angora und geriet selbst in Gefangenschaft, in welcher er 1403 starb. Durch den Zwist seiner Söhne Suleiman, Musa und Mohammed geriet das Reich in Gefahr, zu zerfallen. Doch glückte es dem letztern 1413, nach der Besiegung und dem Tode seiner Brüder das osmanische Reich wieder in seiner Hand zu vereinigen und seine Herrschaft gegen auswärtige Feinde und Aufstände im Innern siegreich zu behaupten. Sein Sohn Murad II. (1421-51) konnte 1422 wieder die Eroberung Konstantinopels versuchen; doch Aufstände in Asien sowie heftige Kriege an der Donau gegen die Ungarn und Serben unter Johannes Hunyadi und in Albanien gegen Georg Kastriota, in denen die Osmanen wiederholt Unfälle erlitten, zwangen Murad, Illyrien den Serben, die Walachei den Ungarn ab-

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Türkisches Reich (Geschichte: 15.-17. Jahrhundert).

zutreten und von der völligen Vernichtung des byzantinischen Reichs abzustehen. Erst als seine glänzenden Siege über die Christen bei Warna (10. Nov. 1444) und auf dem Amselfeld bei Kossowa (17.-20. Okt. 1448) die Herrschaft der Osmanen an der Donau dauernd begründet hatten, zugleich auch der südliche Teil der griechischen Halbinsel erobert worden war, konnte die wieder erstarkte Osmanenmacht unter Murads Nachfolger Mohammed II. (1451-81) sich gegen Konstantinopel wenden, das nach tapferer Verteidigung 29. Mai 1453 in die Hände der Türken fiel und zur Hauptstadt ihres Reichs erhoben wurde.

Höchste Macht und Blüte des Reichs.

Mohammed ordnete darauf die Angelegenheiten der zahlreichen unterworfenen Christen (Rajah) und ihres Klerus; dieselben wurden zwar nicht gewaltsam zum Islam bekehrt, vielmehr in der freien Ausübung ihrer Religion belassen, blieben aber doch der willkürlichen Gewalt der Türken preisgegeben, welche als herrschendes Kriegervolk die Hilfsmittel der eroberten Länder rücksichtslos zu ihrer Bereicherung und zur Verstärkung ihrer militärischen Kraft verwendeten und durch unaufhörliche Erweiterung ihres Machtgebiets sich selbst und dem Islam die Welt zu unterwerfen strebten. 1456 wurde der Peloponnes, 1460 das Kaiserreich Trapezunt, 1470 Albanien erobert, 1475 der Tatarenchan der Krim zur Unterwerfung gezwungen, 1478 die Moldau Polen entrissen und unter die Oberhoheit der Türkei gestellt. Mohammeds Nachfolger Bajesid II. (1481-1512), unter dem in der gewaltigen Machtentfaltung des Osmanenstaats ein Stillstand eintrat, da seine Kriegsunternehmungen gegen das Abendland wenig glücklich waren, hatte trotz der in der osmanischen Dynastie bereits üblichen Sitte, die Alleinherrschaft durch grausamen Verwandtenmord zu sichern, mit fortwährenden Aufständen zu kämpfen und ward, nachdem er einen Bruder (Dschem) und zwei Söhne hatte hinrichten lassen, von seinem jüngsten Sohn, Selim I. (1512-20), gestürzt und vergiftet. Selim besiegte 1514 den Schah von Persien, den er durch die Ermordung von 40,000 auf türkischem Boden lebenden Schiiten zum Kriege gereizt hatte, bei Tschaldyran, eroberte Armenien und den Westen von Aserbeidschân, dann nach Besiegung der Mamelucken 1517 Syrien, Palästina und Ägypten und wurde von den heiligen Städten Mekka und Medina als Schirmherr anerkannt, worauf er den Titel eines Kalifen annahm. Unter seinem Nachfolger Suleiman (Soliman) II. (1520-66) erreichte die türkische Machtentwickelung ihren Höhepunkt: er eroberte 1521 Belgrad, vertrieb 1522 die Johanniter von der Insel Rhodos, vernichtete 29. Aug. 1526 das ungarische Heer unter König Ludwig II. bei Mohács, drang 1529 bis Wien vor und vereinigte Ungarn, nachdem es seit 1533 unter dem siebenbürgischen Fürsten Johann Zápolya ein türkisches Vasallenreich gewesen, 1547 zur Hälfte mit seinem Reich. Die Venezianer mußten 1540 ihre Inseln im Ägeischen Meer und ihre letzten Besitzungen auf dem Peloponnes abtreten. Im Osten eroberte er durch einen siegreichen Krieg mit Persien (1533-1536) Georgien und Mesopotamien. Seine Flotten beherrschten das Mittelmeer bis Gibraltar und beunruhigten durch Raubzüge im Indischen Ozean die portugiesischen Kolonien. Die Barbareskenstaaten Nordafrikas erkannten seine Oberhoheit an. Er starb 1566 im Lager vor Szigeth in Ungarn. Mit ihm schloß die glänzende Reihe hervorragender Kriegsfürsten, welche die osmanische Dynastie auszeichnete und den großartigen Aufschwung der türkischen Macht ermöglichte. Dem türkischen Staatswesen galt nicht der Friede, sondern der Krieg als der normale Zustand; um in diesem die nötige Kraft zu entfalten, war in jenem ein rücksichtslos egoistischer, von allen Banden des Rechts und der Sitte befreiter Despotismus nötig, der aber allmählich ertötend wirkte. Die grausame Vertilgung aller hervorragenden, aber deshalb gefährlichen Mitglieder der Dynastie, die Serailerziehung und strenge Abschließung der jungen Prinzen vom öffentlichen Leben vernichteten die Kraft des Herrschergeschlechts. Das tapfere Kriegervolk verweichlichte in den Genüssen des Friedens, die Soldateska der Janitscharen wurde immer zügelloser.

Verfall des Reichs.

Selim II. (1566-74) war ein schwacher Fürst und ließ seinen Großwesir Sokolli regieren. Dieser entriß zwar den Venezianern Cypern, Zante und Kephalonia; dagegen wurde die türkische Flotte 7. Okt. 1571 bei Lepanto von den Christen besiegt. Murad III. (1574-95), welcher sich den Thron durch Ermordung von fünf Brüdern sicherte, und Mohammed III. (1595-1603), der 19 Brüder erdrosseln ließ, führten erfolglose Kriege gegen Österreich und Persien; letzterer verlor Tebriz und Bagdad und mußte Frankreich um Vermittelung des Friedens mit Österreich angehen. Achmed I. (1603-17) schloß 1612 mit den Persern einen ungünstigen Frieden. Sein Bruder Mustafa I. (1617-18) ward nach dreimonatlicher Herrschaft durch ein Fetwa des Muftis als blödsinnig abgesetzt, Achmeds Sohn Osman II. (1618-22), als er nach einem unglücklichen Feldzug gegen die polnischen Kosaken die Janitscharen, denen er die Schuld beimaß, vernichten wollte, von diesen ermordet und, nachdem Mustafa wieder als Sultan anerkannt, aber 1623 zum zweitenmal abgesetzt worden war, Osmans jüngerer Bruder, Murad IV. (1623-40), auf den Thron erhoben. Dieser eroberte im Kriege gegen Persien (1635-38) Eriwan, Tebriz und Bagdad wieder, züchtigte die Kosaken und legte den Venezianern einen nachteiligen Frieden auf; auch stellte er die Manneszucht wieder her und füllte durch strenge Sparsamkeit den Staatsschatz. Sein Bruder und Nachfolger Ibrahim (1640-48), ein feiger Wollüstling, unter dessen toller und blutiger Serailwirtschaft die von Murad gewonnenen Vorteile wieder verloren gingen, ward 1648 von den Janitscharen abgesetzt und erdrosselt und sein siebenjähriger Sohn Mohammed IV. (1648-87) auf den Thron erhoben.

Durch den Streit um die Vormundschaft ward das Reich der Auflösung nahegebracht: Zerrüttung der Finanzen, Meutereien der Janitscharen, Empörungen der Provinzialstatthalter, Niederlagen gegen die Venezianer (1656 in den Dardanellen) und Polen brachen über das Reich herein, bis Mohammed Köprili, 1656 zum Großwesir ernannt, durch blutige Strenge die Manneszucht in der Armee, den Gehorsam der Provinzen und die Ordnung der Finanzen herstellte und die Venezianer zurückschlug. Achmed Köprili eroberte im Kriege gegen Österreich Gran und Neuhäusel und behauptete, obwohl 1 Aug. 1664 bei St. Gotthardt geschlagen, diese Eroberungen im Frieden von Vasvár, unterwarf 1669 Kreta und zwang Polen im Frieden von Budziak 1672 zur Abtretung Podoliens und der Ukraine, welche türkischer Schutzstaat wurde, freilich nach Achmeds Tod (1676) durch einen neuen Krieg mit Polen und einen Krieg mit Rußland nebst Asow 1681 wieder verloren ging. Der neue Eroberungskrieg, den Achmeds Nachfolger Kara Mustafa 1683 gegen Österreich unternahm, verlief nach der vergeblichen

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Türkisches Reich (Geschichte: 17.-19. Jahrhundert).

Belagerung Wiens (24. Juli bis 12. Sept. 1683) so unglücklich, daß ganz Mittelungarn mit Ofen verloren ging und die Kaiserlichen nach dem Sieg bei Mohács (12. Aug. 1687) in Serbien eindrangen, während gleichzeitig die Venezianer den Peloponnes und Kephalonia wieder eroberten. Mohammed ward daher 1687 entthront; aber weder Suleiman III. (1687-91) noch Achmed II. (1691-95) vermochten den türkischen Waffen wieder den Sieg zu verleihen. Nach den großen Niederlagen bei Slankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697) mußte Mohammeds Sohn Mustafa II. (1695-1703) im Frieden von Karlowitz (Januar 1699) Ungarn und Siebenbürgen an Österreich, Asow an Rußland, Podolien und die Ukraine an Polen, den Peloponnes an Venedig abtreten. Mustafa ward 1703 von den Janitscharen abgesetzt und sein Bruder Achmed III. (1703-30) zum Sultan erhoben. Derselbe nahm nach der Schlacht bei Poltawa (1709) den flüchtigen Schwedenkönig Karl XII. gastlich auf, erklärte auch seinetwegen Rußland den Krieg; doch ließ sein Großwesir 1711 den am Pruth eingeschlossenen Zaren Peter d. Gr. gegen Rückgabe Asows frei. 1715 ward der Peloponnes den Venezianern wieder entrissen; doch verloren die Türken nach einem neuen unglücklichen Kriege gegen Österreich im Frieden von Passarowitz (21. Juli 1718) einen Teil von Serbien mit Belgrad. 1730 ward Achmed wegen eines unglücklichen Kriegs mit Persien gestürzt.

Unter Mahmud I. (1730-54) ward die Türkei 1737 von Österreichern und Russen von neuem angegriffen. Diese fielen in die Krim ein und eroberten Asow wieder; die Österreicher kämpften aber so unglücklich, daß die Türken im Frieden von Belgrad (1. Sept. 1739) das Gebiet südlich der Save und Donau sowie ihre an Rußland verlornen Grenzfestungen mit Asow wieder zurückerhielten. Auf Mahmud folgte Osman III. (1754-57), auf diesen sein Vetter Mustafa III. (1757-74), der 1768 mit Rußland wegen dessen drohender Haltung gegen Polen einen Krieg begann, der aber höchst unglücklich für ihn verlief. Die Russen besetzten die Moldau und Walachei, eine russische Flotte erschien im Ägeischen Meer und vernichtete die türkische 5. Juli 1770 bei Tscheschme; 1771 ward die Krim den Türken entrissen, und 1773 drangen die Russen sogar in Bulgarien ein, so daß Mustafas Nachfolger Abd ul Hamid I. (1774-89) im Frieden von Kütschük Kainardschi (21. Juli 1774) die Krim aufgeben, alle Plätze an der Nordküste des Schwarzen Meers abtreten, den Russen freie Schifffahrt im Schwarzen und Ägeischen Meer zugestehen und für die Moldau und Walachei Verpflichtungen übernehmen mußte, die ein Schutzrecht Rußlands begründeten. Infolge der unersättlichen Eroberungssucht Katharinas II. von Rußland, die 1783 die Krim und die Kubanländer mit ihrem Reich vereinigte und 1786 mit Kaiser Joseph II. ein Bündnis schloß, brach 1788 ein neuer Krieg gegen Rußland und Österreich aus, in dem die Türken sich mutig und tapfer behaupteten, zwar Suworows siegreiches Vordringen nicht hemmen konnten, aber den Österreichern wiederholt Verluste beibrachten. Unter preußischer Vermittelung schloß Selim III. (1789-1807) mit Österreich den Frieden von Sistova (4. April 1791), mit Rußland den von Jassy (9. Jan. 1792) und erhielt von beiden Mächten deren Eroberungen mit Ausnahme des Gebiets rechts vom Dnjestr zurück.

Reformversuche.

Im Innern hatten die wiederholten langwierigen Kriege den Verfall beschleunigt: die Finanzen waren völlig zerrüttet, das Ansehen der Regierung geschwächt, die Bande des Gehorsams gelockert und die Einheit des Reichs durch Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Paschas erschüttert. Selims Reformversuche blieben diesen Schwierigkeiten gegenüber wirkungslos. Dazu kamen wieder auswärtige Verwickelungen: 1798 der Einsall Bonapartes in Ägypten, 1806 wegen Verletzung des Friedens von Jassy eine neue russische Kriegserklärung. Als Selim die Errichtung eines neuen, nach europäischem Muster ausgehobenen und organisierten Heers versuchte, welches die Janitscharen ersetzen sollte, ward er 29. Mai 1807 auf Betrieb der beim Volk beliebten Janitscharen durch die Ulemas abgesetzt und Abd ul Hamids Sohn Mustafa IV. zum Sultan ernannt, und als sich der Seraskier Mustafa Bairaktar, Pascha von Rustschuk, im Juli 1808 für Selim erhob, ward dieser im Gefängnis ermordet. Bairaktar rückte nun auf Konstantinopel, erstürmte das Serail und setzte an Mustafas Stelle dessen jüngern Bruder, Mahmud II. (28. Juli 1808), auf den Thron, der einen neuen Aufstand des von den Janitscharen aufgereizten fanatischen Volkes im November 1808 blutig niederschlug u. Mustafa IV. hinrichten ließ; sein Großwesir Bairaktar, vom Pöbel in einen Turm eingeschlossen, sprengte sich mit diesem in die Luft.

Mahmud II. (1808-39), der jetzt als einzig überlebender Nachkomme Osmans von den Türken als rechtmäßiger Herrscher anerkannt wurde, machte sich besonders die Wiederherstellung der Autorität der Pforte gegen die zahlreichen Unabhängigkeitsbestrebungen der Paschas und der christlichen Stämme zur Aufgabe. Die drohende Haltung Napoleons gegen Rußland bewog dieses, trotz seiner glänzenden Siege im Frieden von Bukarest (28. Mai 1812) die meisten seiner Eroberungen wieder herauszugeben. Zwar gelang es Mahmud, mehrerer unbotmäßiger Paschas, namentlich Ali Paschas von Janina (1822), Herr zu werden und durch blutige Ausrottung des sich jeder Neuerung widersetzenden Janitscharenkorps (Juni 1826) wie durch Errichtung eines regulären, nach europäischem Muster organisierten Heerwesens seine Macht wiederherzustellen. Dagegen glückte es ihm nicht, den Aufstand der Serben (seit 1804) und der Griechen (seit 1821) zu unterdrücken; die Grausamkeit Mahmuds gegen die Griechen isolierte die Pforte völlig den europäischen Mächten gegenüber, und so konnte Rußland dem wehrlosen Reich erst den Vertrag von Akjerman (6. Okt. 1826) abnötigen, welcher die staatsrechtlichen Verhältnisse Serbiens und der Donaufürstentümer im Sinn Rußlands regelte, und nachdem die türkisch-ägyptische Flotte 20. Okt. 1827 mitten im Frieden bei Navarino durch die vereinigten Geschwader Rußlands, Englands und Frankreich vernichtet worden, im April 1828 den offenen Krieg beginnen, indem es seine Heere in Bulgarien und in Armenien einrücken ließ. 1828 eroberten die Russen bloß Warna, Kars und Achalzych, 1829 aber auch Erzerum, und Diebitsch drang sogar bis Adrianopel vor, wo 14. Sept. unter preußischer Vermittelung ein Friede zustande kam, in welchem die Türkei die Donaumündungen und Achalzych an Rußland abtrat, die Privilegien der Donaufürstentümer und des vergrößerten Serbien bestätigte und die Unabhängigkeit Griechenlands anerkannte.

Nun nahm Mahmud seine Bestrebungen, die Einheit des Reichs wiederherzustellen, von neuem auf, geriet dabei aber in Konflikt mit dem Pascha von Ägypten, Mehemed Ali, welchem er für seine beim griechischen Ausstand geleistete Hilfe große Zugeständnisse hatte machen müssen. Mehemeds Adoptivsohn Ibrahim Pascha fiel 1831 in Syrien ein, schlug die

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Türkisches Reich (Geschichte 1832-1856).

Türken dreimal, eroberte 1832 Akka und drang 1833 in Kleinasien bis Kutahia vor. Die Pforte rief in ihrer Bestürzung Rußlands Hilfe an, welches auch 15,000 Mann zur See an den Bosporus warf und zugleich mit andern Truppen die Donau überschritt, während Frankreich und England ihre Flotte vor den Dardanellen vor Anker gehen ließen. Jetzt verstand sich Mehemed Ali zum Frieden von Kutahia (4. Mai 1833), in welchem der Sultan in Form eines großherrlichen Amnestiefermans den Vizekönig als Erbstatthalter Ägyptens anerkannte und ihm auf Lebenszeit die Verwaltung Syriens und Kretas, Ibrahim die von Adana und Tarsos zugestand. Zum Dank für die russische Hilfe schloß Mahmud mit Rußland den Vertrag von Hunkiar Skelessi (8. Juli 1833), in welchem er sich verpflichtete, allen Feinden Rußlands die Dardanellen zu schließen und keinem Kriegsschiff die Einfahrt in das Schwarze Meer zu gestatten. Um den Krieg mit Ägypten wieder aufnehmen zu können, bemühte sich der Sultan, die kriegerischen Hilfsmittel der Pforte durch straffe Zentralstation zu steigern; den Bosniern, Albanesen und verschiedenen kleinasiatischen Stämmen wurden die Reste ihrer Selbständigkeit genommen, das obere Mesopotamien und Kurdistan unterworfen. Als 1839 verschiedene Empörungen gegen die ägyptische Herrschaft in Syrien ausbrachen, erklärte im Mai Mahmud dem Vizekönig den Krieg. Doch starb er 1. Juli, ehe er Kunde erhielt von der völligen Niederlage seines Heers bei Nisib (24. Juni); dieser folgte der Abfall der Flotte, welche der Kapudan-Pascha Achmed 14. Juli in Alexandria an Mehemed Ali überlieferte. Die Lage der Türkei, in der Abd ul Medschid (1839-61), Mahmuds 16jähriger Sohn, die Regierung antrat, war daher eine höchst kritische, und sie wurde nur gerettet durch die Intervention der vier Mächte England, Rußland, Österreich und Preußen; dieselben schlossen, um Frankreichs ehrgeizige Pläne zu durchkreuzen, 15. Juli 1840 die Quadrupelallianz, welche durch eine österreichisch-englische Flotte Mehemed Ali zur Räumung Syriens zwang; demselben blieb nur die Erbstatthalterschaft von Ägypten. Unter dem Beirat Reschid Paschas erließ Abd ud Medschid das großherrliche Edikt vom 3. Nov. 1839, welches unter dem Namen Hattischerif von Gülhane berühmt geworden ist. Dies Dokument, dessen Wichtigkeit in der Bestimmung gipfelte, daß die "Unterthanen jeder Nationalität und Religion", also auch Christen und Juden, gleiche Sicherheit in betreff ihres Vermögens, ihrer Ehre und ihres Lebens haben sollten, bildete einen gewaltigen Fortschritt in der sozialen Gesittung und hatte durch Einleitung mannigfacher Reformen auf administrativem und kommerziellem Gebrauch für die Staatswirtschaft eine hohe Bedeutung. Übrigens sollte der Hatt nur die Grundsätze aufstellen, aus denen die zu erlassenden Spezialgesetze zu erfließen hätten; diese Gesetze, von den Türken Tanzimatihairijeh ("heilsame Organisation") genannt, sollten für das gesamte Pfortengebiet Gültigkeit haben, und auch Mehemed Ali mußte sich zu ihrer Annahme bequemen. 1841 wurde in London zwischen den Großmächten und der Pforte der sogen. Dardanellenvertrag abgeschlossen, durch welchen die letztere sich verpflichtete, die Dardanellenstraße und den Bosporus für fremde Kriegsschiffe in Friedenszeiten verschlossen zu halten.

Der Krimkrieg mit seinen Folgen.

Das Jahr 1848 mit seinen Freiheitsideen ging an der eigentlichen Türkei spurlos vorüber; dagegen bildete sich in den Donaufürstentümern, wo Rußland unter dem Namen einer Schutzmacht jede freiere Entwickelung despotisch niederhielt, eine Reformpartei, deren Häupter gern mit Hilfe der Pforte eine liberale Repräsentativverfassung eingeführt hätten. Um den Russen keinen Vorwand zu einer Besetzung der Donaufürstentümer zu geben, gab die Pforte die Liberalen preis; dennoch erfolgte die Besetzung. Die Hoffnungen, welche man in Konstantinopel für eine Wiederherstellung der frühern Herrschaft an der Donau auf die ungarische Insurrektion von 1849 gesetzt hatte, wurden durch die Kapitulation von Vilagos (13. Aug. 1849) vernichtet. Doch hatte die Pforte wenigstens den Mut, unterstützt durch eine vor den Dardanellen erscheinende englische Flotte, die Auslieferung der ungarischen Flüchtlinge zu verweigern. Rußland und Österreich wichen damals zurück, ließen aber bald nachher die Pforte ihren Zorn empfinden. Als die französische Republik im Herbst 1850 in Konstantinopel eine Reklamation wegen der heiligen Stätten in Palästina erhob und die Pforte dieselbe nicht ganz ablehnte, sondern wenigstens die Mitbenutzung einer Kirchenthür in Bethlehem den Katholiken zugestand, erklärte Kaiser Nikolaus sofort, daß hierdurch das religiöse Gefühl der orthodoxen Russen aufs äußerste verletzt werde, und verlangte Bürgschaften für die griechisch-katholische Kirche in der Türkei, welche Rußland ein völliges Schutzrecht über Unterthanen der Pforte gewährt hätten. Zugleich forderte Österreich die sofortige Zurückziehung der eben damals siegreich in das aufständische Montenegro eingedrungenen türkischen Truppen aus diesem österreichischen Grenzland und die Erledigung einer Anzahl privatrechtlicher Forderungen österreichischer Unterthanen. Als der außerordentliche österreichische Gesandte Graf Leiningen 14. Febr. 1853 die unbedingte Erfüllung dieser Forderungen erreichte, schickte auch Kaiser Nikolaus den Fürsten Menschikow nach Konstantinopel, um in schroffster Form den Abschluß eines förmlichen Vertrags über die der orthodoxen Kirche zu gewährenden Privilegien zu verlangen. Die Ablehnung dieser Forderung hatte einen neuen russisch-türkischen Krieg zur Folge (1853-56, s. Krimkrieg). Die türkische Armee bewies sich tüchtiger und leistungsfähiger, als man geglaubt hatte, und verteidigte die Donaufestungen sowie Armenien mit großer Zähigkeit und die erstern mit solchem Erfolg, daß die Russen über die Donau zurückgehen mußten. Dagegen wurde gleich zu Anfang des Kriegs die Flotte der Türkei bei Sinope vernichtet, und auch ihre Truppen kämpften, seit die verbündete Armee der Westmächte auf dem Kriegsschauplatz erschienen war, nur in Armenien selbständig; in der Krim spielten sie bloß die Rolle von Hilfstruppen.

Für die innern Verhältnisse der Türkei hatte der Krimkrieg besonders die Wirkung, daß die Westmächte, gewissermaßen als Belohnung und Rechtfertigung ihrer thatkräftigen Hilfe, die Einführung gründlicher Reformen in dem türkischen Reich forderten. Diese Bemühungen gipfelten in einem neuen großherrlichen Edikt, welches, von einer Diplomatenkommission zusammen mit dem türkischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten ausgearbeitet, unter dem Namen Hatti-Humayum 8. Febr. 1856 publiziert und später dem am 30. März d. J. zu Paris unterzeichneten Friedensinstrument als Annex beigegeben wurde. Dieser Hatt proklamierte die bürgerliche Gleichstellung aller Unterthanen, verbot die Bevorzugung einer Religionsgenossenschaft vor der andern, gewährte allen Staatsbürgern gleiches Recht auf Anstellung im Pfortendienst, gleiches Recht auf Schulbesuch, verordnete

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Türkisches Reich (Geschichte 1856-1860).

die Einsetzung gemischter (mohammedanisch-christlicher) Tribunale, die Wehrpflicht der Christen bei Befugnis des Stellvertreterkaufs, das Recht des Grundeigentumserwerbs für Ausländer, unbedingte Toleranz etc. Türkischerseits war gegen die gleichmäßige Zulassung von Nichtchristen zu den Staatsämtern, gegen die dem Exterritorialitätsprinzip widerstreitende Grunderwerbsbefugnis der Ausländer und gegen die unbedingte Toleranz, d. h. die Aufhebung der vom mohammedanischen Rechtsbewußtsein geforderten Strafen für Abfall vom Islam, vergeblich Einsprache erhoben worden; der Hatt, welcher den Christen die Wehrpflicht für den von ihnen immer als etwas Feindliches betrachteten Osmanenstaat auferlegte, wurde von diesen mit ebensoviel Verdruß und Argwohn aufgenommen wie von den Mohammedanern aller Parteischattierungen mit patriotischem und religiösem Ingrimm, und die türkischen Staatsmänner konnten wenigstens mit Recht beanspruchen, daß der Pforte hinlängliche Zeit für die allmähliche Ausführung der Reformen gewährt werde. Auch bei dem Pariser Friedenskongreß kamen die türkischen Interessen nur, insofern sie mit denen der Westmächte zusammenfielen, zur Geltung. Rußland wurde um die Donaumündungen und einen denselben anliegenden Streifen Bessarabiens gekürzt, trat aber diesen letztern an die Moldau ab, während die Pforte sich mit den Donaumündungen begnügen mußte. Eine erhebliche Einbuße für Rußland war dagegen die Neutralisierung des Schwarzen Meers. Die Aufnahme der Pforte in die europäische Staatenfamilie und die Gewährleistung ihrer Unverletzlichkeit schienen die Stellung der Türkei in Europa beträchtlich zu heben; dagegen wurden durch die Erneuerung des Dardanellenvertrags und die Gewährung autonomer Stellung an die drei Donaufürstentümer, unter Bürgschaft der Vertragsmächte gegen Tributzahlung an die Pforte, ihre Selbständigkeit und ihre Macht erheblich verringert.

In der That wurden die Befugnisse der Pforte über die Vasallenstaaten nicht nur nicht vermehrt, sondern, da das europäische Konzert, von dem die Türkei bloß einen Teil bildete, sich die oberste Entscheidung beimaß, mehr und mehr verringert und schließlich beinahe völlig aufgehoben. Sie konnte nicht hindern, daß 1859 auf Betrieb Frankreichs in der Moldau und der Walachei derselbe Mann, Cusa, zum Fürsten erwählt und so die Union faktisch durchgeführt wurde, und mußte sich begnügen, ihre Investitur mittels zweier verschiedener Diplome zu erteilen. In Serbien wurde der der Pforte ergebene Alexander Karageorgiewitsch 1858 zur Abdankung gezwungen und die Obrenowitsch zurückgerufen, unter denen Serbien der Herd panslawistischer Agitationen wurde, welche 1861 auch einen Aufstand in der Herzegowina erregten. Dem Druck der Großmächte nachgebend, befahl die Pforte 1862 allen außerhalb der Festung in Serbien lebenden Türken, auszuwandern, und schleifte mehrere Binnenbefestigungen. Die unter den Auspizien der Westmächte begonnenen Reformen in den Immediatprovinzen gerieten bald ins Stocken. Es gelang nur, eine Anzahl wichtiger materieller Verbesserungen durchzuführen: neue Heerstraßen wurden erbaut, Häfen angelegt, die Post besser eingerichtet und Telegraphenlinien gezogen. Die Kehrseite dieser Fortschritte bildete die Zerrüttung der Finanzen. Während die Pforte sich früher in bedrängten Zeiten mit Münzverschlechterung und Papiergeld beholfen hatte, deren nachteilige Folgen bald beseitigt waren, war während des Krimkriegs neben einer bedeutenden schwebenden Schuld im Inland eine Anleihe von 7 Mill. Pfd. Sterl. in England aufgenommen worden. Dieser folgten 1858, 1860 und 1861 drei weitere Anleihen. Die Ausgaben stiegen infolge der hohen Zinsen auf 14 Mill. Pfd. Sterl. jährlich, während die Einnahmen nur 9 Mill. betrugen. 186l brach wegen der Finanznot eine Handelskrisis aus, welcher man durch Ausgabe von 1250 Mill. Piaster Papiergeld mit Zwangskurs zu begegnen suchte. Die willkürlich verteilten und mit Härte eingetriebenen Steuern bedrückten die Bevölkerung aufs äußerste und führten in den Provinzen allmähliche Verarmung herbei, während die hohen Beamten und die Bankiers sich übermäßig bereicherten.

Zerrüttung des Staats unter Abd ul Asis.

Am 25. Juni 1861 starb Abd ul Medschid; sein Nachfolger Abd ul Asis (1861-76) ward, weil er für nüchtern, sparsam und energisch galt, mit Übertriebenen Hoffnungen begrüßt. Dieser Enthusiasmus kühlte sich bald ab, als man sah, daß dem neuen Großherrn allerdings die gutmütige, wohlwollende Gesinnung seines Bruders fehle, daß aber, was man für Charakterfestigkeit gehalten, nur Eigensinn sei, welcher sich, seiner mangelhaften geistigen Bildung entsprechend, in der Regel nach verkehrter Richtung äußerte. Er nahm, wie sein Vater, einen Anlauf, der Regenerator seines Reichs zu werden; er wollte sogar dafür Opfer bringen, seinen Harem abschaffen, auf einen Teil der Zivilliste verzichten etc. Aber das auch bei ihm hervortretende Mißverhältnis zwischen Wollen und Können erzeugte Schwermutsanfalle und Ausbrüche von Despotenlaune. Die Minister wechselten unaufhörlich, kein Regierungsplan konnte systematisch zu Ende geführt werden, die Staatseinkünfte wurden oft auf unsinnige Weise verschwendet. Den Ränken der Mächte, den Bestechungen der hohen Beamten durch Unternehmer und Bankiers waren Thür und Thor geöffnet. Dazu kam, daß die Türkei bald auch mit ihren westlichen Schutzmächten in mancherlei Konflikte geriet, welche ihr der Fanatismus der mohammedanischen Bevölkerung und die steigende Unzufriedenheit der christlichen Unterthanen verursachten. Zu Dschidda in Arabien wurden im Juni 1858 der englische und der französische Konsul ermordet. Am gräßlichsten kam die christenfeindliche Stimmung in Syrien zum Ausbruch, woselbst 1860 zunächst im Libanon nach wiederholten gegen die Christen begangenen Gewaltakten die friedliche maronitische Bevölkerung von Hasbaia, Raschaia und Deir el Kamer, nachdem sie unter Zusage vollkommenen Schutzes ihre Waffen an die türkischen Platzkommandanten jener Orte abgegeben, von herbeieilenden Drusen massenhaft abgeschlachtet wurde, und dann in Damaskus, der alten syrischen Landeshauptstadt, wo unter heimlicher Zustimmung der Behörde ein volles Viertel (5000 Seelen) der christlichen Bevölkerung dem Fanatismus der Mohammedaner erlag. Entsetzt über die verübten Greuelthaten, verlangte die öffentliche Meinung ein Einschreiten der Großmächte. Bis aber diese über die Modalität eines solchen schlüssig geworden waren, verstrichen Monate. Inzwischen hatte die Pforte den Großwesir Fuad Pascha als Kommissar mit unbedingter Vollmacht an Ort und Stelle geschickt, und derselbe hatte sich angelegen sein lassen, durch zahlreiche Hinrichtungen in Damaskus und im Libanon die Einmischung der Mächte unnötig zu machen. Doch war die Ende August erfolgte Absendung eines französischen Okkupationsheers nach dem Libanon nicht überflüssig, indem erst jetzt die hochgestellten Urheber und Förderer des Blutbades zur

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Türkisches Reich (Geschichte 1861-1875).

Strafe gezogen wurden. Erst im Juni 1861, nachdem über die Entschädigung der heimgesuchten christlichen Bevölkerungen für die erlittenen materiellen Verluste eine Einigung erzielt worden war, wurden die französischen Truppen wieder abberufen. Der Libanon wurde zu einem besondern, direkt von Konstantinopel abhängenden Verwaltungsbezirk gemacht und unter einen Statthalter christlicher Konfession mit Wesirsrang gestellt.

Auch in der christlichen Bevölkerung der europäischen Türkei regte es sich unter dem Einfluß der panslawistischen und panhellenischen Agitationen an verschiedenen Orten. Besonders gefährlich ward der Aufstand in Kreta im Frühjahr 1866. Erst im August schickte die Pforte Truppen nach der Insel, um die Ordnung herzustellen; doch brach der Kampf im Fruhjahr 1868 mit erneuter Heftigkeit aus, und erst, als die Pforte Griechenland ein Ultimatum stellte, wenn es nicht aufhöre, den kretischen Aufstand zu unterstützen, und die im Januar 1869 in Paris zusammengetretene Konferenz der Mächte Griechenland nötigte, sich diesem Ultimatum zu unterwerfen, gelang die Pacifizierung der Insel, nachdem sie große Opfer an Gut und Blut gekostet, für welche kein Ersatz geleistet wurde. Dieser Ausgang mußte die andern unterworfenen Völker ermutigen. 1866 trat Serbien mit dem Verlangen der gänzlichen Räumung des Landes seitens der türkischen Truppen hervor, und im Mai 1867 fügte sich die Pforte auch wirklich demselben, da Österreich entschieden darauf drang. Bloß Ägypten gegenüber gelang es dem Sultan, seine Autorität aufrecht zu erhalten. Er hatte 1866 dem Vizekönig Ismail Pascha bereitwilligst die Zustimmung zur neuen Thronfolgeordnung und 1867 den Titel Chedive mit erweiterten Befugnissen erteilt. Als dieser aber 1869 auf einer Reise nach Europa seine völlige Souveränität zu erlangen suchte, befahl ihm die Pforte 29. Nov. d. J., seine Armee auf 30,000 Mann zu reduzieren, keine neuen Panzerschiffe zu kaufen, ohne Genehmigung des Sultans keine Anleihen zu kontrahieren, selbständigen Verhandlungen mit fremden Mächten zu entsagen etc. Der Chedive unterwarf sich, erlangte aber im Mai 1873 bei einem persönlichen Besuch in Konstantinopel durch ein großes Geldgeschenk und Erhöhung des Tributs, daß der Sultan ihm alles, mit Ausnahme der Vermehrung der Flotte, wieder erlaubte.

Bei allen Übelständen genoß die Regierung Abd ul Asis' noch eines gewissen Ansehens, solange tüchtige Staatsmänner, wie Fuad und Aali Pascha, welche, allerdings mit Unterbrechungen, gegen 15 Jahre lang in den wichtigen Posten des Großwesirs und des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten abwechselten, an der Spitze des Staats standen. Als aber Fuad 1869 und Aali 1871 gestorben waren, da schwand mit der Geschäftskunde der Regierung auch das äußere Vertrauen zu ihr mehr und mehr. Der Sultan behielt bei der Wahl seiner Räte nur das eine Kriterium im Auge, ob sie ihn bei seinem Plan, die Thronfolge zu ändern und durch Einführung des Rechts der Erstgeburt seinen Sohn Jussuf zum Nachfolger zu bestimmen, unterstützen würden. Zunächst ernannte er Mahmud Nedim Pascha zum Großwesir, einen unwissenden und habsüchtigen Mann, welcher, um seine Kreaturen in die einflußreichen Stellen zu bringen, auf das willkürlichste unter den tüchtigern Beamten aufräumte und sich eine große Unpopularität zuzog, von welcher ein beträchtlicher Teil auf seinen Gebieter überging. Ganz gewissenlos wurden die Finanzen verwaltet. Der Sultan selbst ging mit der Verschwendung durch Prachtbauten voran. Das Heer und die Flotte verschlangen ungeheure Summen für die Neubeschaffung von Kanonen, Gewehren und Panzerschiffen. Telegraphen und Eisenbahnen, mit großen Kosten, aber nur nach den Wünschen und dem Vorteil der fremden Mächte und der Unternehmer angelegt, dienten wenig dazu, die Hilfsquellen des Landes zu vermehren, und belasteten zunächst bloß den Staatsschatz. Althergebrachte Hilfsmittel, wie stärkere Anziehung der Steuerschraube, Verpachtung von Staatsgütern, von Einkünften und Gerechtsamen, Verminderung des Gehalts der mittlern und niedern Beamten, wurden durch unverständige Ausbeutung bald abgenutzt und erfolglos und vermehrten nur die Verarmung und Unzufriedenheit im Volk. Zu immer drückendern Bedingungen mußten demnach von Jahr zu Jahr Darlehen aufgenommen werden; um nur zu Geld zu kommen, schien die türkische Regierung in ihren Zugeständnissen an die Kapitalisten keine Grenze zu kennen. Sie konnte daher bald auch die Zinsen ihrer auf 5000 Mill. Frank angewachsenen äußern Schuld nicht mehr bezahlen. Am 6. Okt. 1875 erklärte die Pforte, daß sie außer stande sei, von den Zinsen der Staatsschuld mehr als 50 Proz. zu bezahlen, daß sie aber über die restierenden 50 Proz. 5proz. Obligationen ausstellen wolle, welche später bar eingelöst werden sollten. Aber alle Versuche, der Mißwirtschaft im Innern Einhalt zu thun, waren erfolglos. Im Juli 1872 war es der patriotischen Opposition gelungen, Mahmud zu stürzen; aber seine Nachfolger erlagen alle nach kurzer Herrschaft den Ränken des russischen Botschafters Ignatiew, bis im August 1875 Mahmud wieder in die Regierung zurückberufen ward.

Innere Unruhen und neuer Krieg mit Rußlaud.

Rußland, seit 1864 durch Ignatiew in Konstantinopel vertreten, hatte unaufhörlich und mit wachsendem Erfolg daran gearbeitet, seine durch den Krimkrieg verlorne Stellung im Orient wiederzugewinnen. Da Ignatiew in Griechenland nicht mehr einen ohnmächtigen Schützling, sondern einen gefährlichen Nebenbuhler sah, so trat er fortan nicht sowohl als Protektor der orthodoxen Kirche als der slawischen Unterthanen der Türkei auf. Von ihm angestachelt, verlangten die Bulgaren ihre Loslösung von dem griechischen Patriarchat in Konstantinopel und erlangten im März 1870 auch wirklich die Errichtung eines eignen Exarchats. Um die Autorität der Westmächte zu erschüttern, stellte Rußland im Oktober 1870 während des deutsch-französischen Kriegs die Forderung, daß das durch den Pariser Frieden Rußland auferlegte Verbot, auf dem Schwarzen Meer Kriegsschiffe zu halten, aufgehoben werde. Die Pforte suchte vergeblich Hilfe bei Europa: Frankreich war zu Boden geschmettert, England hatte sich durch seine egoistische Politik im Sommer 1870 um alles Ansehen und allen Einfluß gebracht, und auf der Londoner Konferenz im März 1871 mußte sich die Pforte dem von Bismarck unterstützten russischen Verlangen fügen. Nach diesem Erfolg setzte Ignatiew seine Bemühungen, kein vernünftiges Verwaltungssystem aufkommen zu lassen, die Türkei mit Europa zu verfeinden, im Innern durch Unruhen u. dgl. zu zerbröckeln und so die völlige Unterwerfung derselben unter Rußland herbeizuführen, rastlos fort, und es gelang ihm, Mahmud Nedim Pascha durch Bestechung, den Sultan durch die Aussicht auf russische Unterstützung seines Thronfolgeplans völlig in seine Gewalt zu bringen.

1875 brach in der Herzegowina, angeblich durch Steuerdruck hervorgerufen, ein Aufstand aus. Mon-

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Türkisches Reich (Geschichte 1875-1877).

tenegro und Serbien machten sich trotz offizieller Neutralitätserklärung zu Vermittlern der von Rußland ausgehenden Förderung des Aufstandes. Die lässige Bekämpfung des Aufstandes zog den Türken einige Schlappen zu; sofort wurde der Pforte auf Betrieb Rußlands von den Mächten eine Konsularkommission zur Herstellung des Friedens aufgenötigt, und als die Bemühungen dieser an der ablehnenden Haltung der Aufständischen gescheitert und sogar eine die Pacifikationsbedingungen zusammenfassende Note der Mächte verworfen worden war, als auch eine österreichischerseits versuchte Vermittelung zu nichts geführt hatte: da glaubte die Pforte endlich selbständig agieren zu können. Durch zwei befestigte Lager hielt sie Serbien in Schach und schnitt die Insurgenten von Montenegro ab, worauf sofort der Aufstand auf einige rauhe Gebirgsgegenden beschränkt wurde. Nun aber trat Ignatiew energisch gegen eine Bedrohung Montenegros auf und erzwang eine Verlegung der turkischen Truppen von der montenegrinischen Grenze. In diesem Augenblick trat ein andres verhängnisvolles Ereignis für die Pforte ein: in Saloniki wurden 6. Mai 1876 der deutsche und der französische Konsul bei einem Tumult von fanatischen Mohammedanern, nicht ohne Verschulden der Behörden, ermordet. Die Pforte beeilte sich, den sehr strengen Genugthuungsforderungen der Mächte gerecht zu werden; doch war ihre vermehrte Isolierung die natürliche Folge des Verbrechens. Die gegen sie ganz Europa durchzuckende Mißstimmung wurde von Rußland geschickt benutzt. Dasselbe wußte von den beiden verbündeten Kaiserhöfen die Zustimmung zu dem sogen. Gortschakowschen Memorandum zu erlangen, welches die Schuld an dem Nichtgelingen der Pacifikation der Herzegowina lediglich dem Sultan beimaß und unter Androhung wirksamerer Maßregeln einen zweimonatlichen Waffenstillstand verlangte, um mit den Insurgenten wegen des Friedens zu unterhandeln. Auch die übrigen Mächte, mit Ausnahme Englands, erklärten sich mit dieser Staatsschrift einverstanden.

Alle Schichten der türkischen Nation waren überzeugt, daß Rußland auf das Verderben der Pforte sinne, und daß Eigennutz und Unverstand den Großherrn und seinen ersten Wesir dem Erbfeind als Gehilfen zuführten. Über die Verbindung des Sultans mit Rußland wurden die aufregendsten Gerüchte verbreitet, als wolle Rußland Konstantinopel mit seinen Truppen besetzen, um die neue Thronfolgeordnung mit Gewalt durchzuführen und die Unzufriedenen zu züchtigen, und der russische Botschafter trat denselben mit keiner Ableugnung entgegen. Am 11. Mai kam es zu stürmischen Auftritten vor dem Palast des Sultans; die Softas (theolog. Studenten) hatten sich bewaffnet und verlangten Entlassung Mahmuds, Entfernung Ignatiews und Krieg gegen Montenegro. Keine Hand rührte sich für Abd ul Asis. Umsonst suchte derselbe durch Berufung eines populären Mannes auf den Posten Mahmuds sich aus der Verlegenheit zu ziehen, er war selbst unmöglich geworden. Am 29. Mai vereinigte sich der neue Großwesir, Mehemed Ruschdi, mit dem Kriegsminister Hussein Avni und Midhat Pascha, den Sultan abzusetzen und den ältesten Sohn Abd ul Medschids, Murad V., auf den Thron zu erheben. In der Nacht zum 30. Mai ward die Palastrevolution ohne Blutvergießen durchgeführt. Der abgesetzte Sultan wurde darauf 4. Juni in dem Palast Tscheragan, wohin man ihn gebracht hatte, auf Befehl der Minister ermordet; man gab vor, er habe sich durch Aufschneiden der Pulsadern selbst getötet. Am 15. Juni drang von neuem die Kunde einer grauenhaften Blutthat ins Publikum: drei Minister, darunter der energische Hussein Avni, wurden im Haus Midhats von einem tscherkessischen Offizier ermordet!

Während dies in Konstantinopel geschah, brach an verschiedenen Stellen Bulgariens der von Rußland vorbereitete Aufstand aus. Es war ein Ausrottungskrieg der Bulgaren gegen ihre in der Minderzahl befindlichen mohammedanischen Mitbürger, aber die Urheber hatten sich in betreff der Ohnmacht der Pforte verrechnet. Von den gegen ihn aufgebotenen Irregulären, denen sich später Linientruppen beigesellten, wurde der Aufstand unter noch barbarischern Greueln und entsetzlichem Blutvergießen zu Boden geworfen. Inzwischen hatte auch Serbien seine Rüstungen vollendet und überschritt nunmehr die Grenze, um, wie es in dem Manifest vom 2. Juli 1876 hieß, den aufständischen Nachbarprovinzen den Frieden wiederzugeben. Rußland sandte nach Serbien die Erfordernisse für den Krieg an Geld, Waffen, Munition und vor allem an Mannschaften. Doch fochten die Serben unglücklich und sahen sich 29. Aug. genötigt, die Mächte um Vermittelung eines Waffenstillstandes anzugehen, den sie verräterisch brachen, sobald sie durch russische Hilfe ihre Kampffähigkeit wiederhergestellt zu haben glaubten. Neue Siege bei Alexinatz (Ende Oktober) eröffneten nunmehr den Türken den Weg in das Herz Serbiens; aber ihren Erfolgen gebot ein Telegramm des Kaisers Alexander II. aus Livadia vom 30. Okt. 1876 Halt, welches unter Androhung sofortigen diplomatischen Bruches ihnen binnen 24 Stunden Einstellung ihrer Operationen auferlegte. Inzwischen war in Konstantinopel Murad V. wahnsinnig geworden; 31. Aug. folgte ihm sein Bruder Abd ul Hamid II. In der nichtigen Hoffnung, Rußland durch Nachgiebigkeit zu entwaffnen, unterzeichnete dieser 31. Okt. die Waffenstillstandsakte, berief seine Truppen aus Serbien zurück und gewährte dem treulosen Vasallenstaat 1. März 1877 den denkbar günstigsten Frieden unter Herstellung des Status quo ante.

Gleich nach dem Abschluß des serbisch-türkischen Waffenstillstandes schlug England eine Konferenz vor, welche unter Wahrung der Integrität des Osmanenreichs eine administrative Autonomie für die slawischen Balkanprovinzen feststellen sollte. Beim Zusammentritt derselben, welche in Konstantinopel tagte, ließ Midhat Pascha, seit 19. Dez. 1876 Großwesir, den Sultan seinem Reich eine Verfassung oktroyieren, welche, 23. Dez. 1876 publiziert, die völlige Rechtsgleichheit aller Pfortenunterthanen proklamierte und als Trumpf von der türkischen Regierung gegen die Ansprüche der Mächte zu gunsten der Slawen nicht ohne Geschick ausgespielt wurde. Die Konferenz endigte ohne Resultat. Nachdem sie selbst ihre Beschlüsse herabgemildert, wurden diese von Midhat dem Großen Diwan, einer Versammlung von gegen 300 angesehenen Personen, darunter 60 Christen, zur Prüfung vorgelegt und einstimmig zurückgewiesen. Doch wurde der thatkräftige Midhat schon im Februar 1877 infolge einer Palastrevolution abgesetzt und verbannt; an seine Stelle als Großwesir trat Edhem Pascha. Daher hatte auch die erste und einzige Session der türkischen Kammer im Februar 1877 kein Ergebnis. Um so mehr fühlte sich Rußland zu energischem Vorgehen ermutigt, und nachdem es seine Rüstungen vollendet, erklärte es 24. April 1877 an die Türkei den Krieg (vgl. Russisches Reich, Geschichte, S. 94). Derselbe entbrannte zuerst in Asien, woselbst im obern Kurthal 17. Mai die kleine Festung Ardahan

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Türkisches Reich (Geschichte: neueste Zeit).

von den Russen erobert wurde. Im Juni gingen die Russen über die Donau, ohne daß der türkische Oberbefehlshaber Abd ul Kerim es hinderte, eroberten 6. Juli Tirnowa, überstiegen 12. Juli mittels des Twyodischkapasses den Balkan,wiegelten die Bulgaren Nordthrakiens auf, erstürmten 19. Juli den für schweres Geschütz passierbaren Schipkapaß, besetzten Jamboli, Karlowo und andre Städte im Süden des Balkans, eroberten Nikopoli an der Donau und belagerten Rustschuk. Diesem glänzenden Anfang des Feldzugs entsprach aber der Fortgang nicht. Bei dem Versuch, die befestigten Höhen von Plewna zu nehmen, erlitten die Russen 20., 21. und 31. Juli Niederlagen, die eine rückgängige Bewegung zur Folge hatten. In Thrakien von Suleiman Pascha angegriffen, mußten sie sich in den Schipkapaß zurückziehen, den sie mannhaft verteidigten; in der Donaugegend wurden sie über den Schwarzen Lom geworfen. Sie sahen sich genötigt, die früher nicht recht gewürdigte Bundesgenossenschaft mit den Rumänen anzunehmen, erlitten aber bei erneuten Angriffen gegen Plewna vom 7. bis 12. Sept. abermals Niederlagen, so daß bedeutende Truppennachschübe nötig wurden. Auch in Asien stritten sie bei Zewia unglücklich gegen die Türken und wurden auf ihr eignes Gebiet zurückgeworfen, bis es ihnen 15. Okt. gelang, auf dem Aladjaberg einen glänzenden Sieg davonzutragen. Die Türken hatten militärisch mehr geleistet, als man, namentlich nach dem Beginn des Kriegs, von ihnen erwartet hatte. Da sie indes gar keine Unterstützung fanden, mußten sie endlich doch der Übermacht unterliegen. Auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ging 18. Nov. Kars verloren, und die Türken wurden nach Erzerum zurückgetrieben; in Bulgarien aber besiegelte der Fall des lange heldenmütig verteidigten Plewna (10. Dez.) den Verlust eines großen Teils der westlichen Bulgarei, in welche zu gleicher Zeit die Serben eindrangen, während die Montenegriner in Albanien siegreich vorrückten. Anfang 1878 überschritten die Russen den Balkan an mehreren Stellen zugleich. Die Armee Suleimans wurde bei Philippopel völlig zersprengt, die Schipkaarmee gefangen genommen und 31. Jan. 1878 in Adrianopel, das die Türken freiwillig geräumt, von den Russen, welche bereits bis zum Marmarameer und bis an die Thore Konstantinopels vorgedrungen waren, der Waffenstillstand diktiert. Diesem folgte 3. März, da die Türken nirgends Hilfe fanden, der Friede von San Stefano. In diesem wurden die Unabhängigkeit Rumäniens und Serbiens, des letztern und Montenegros Vergrößerung, die Abtretung der Dobrudscha und eines Teils von Armenien, die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien, welches außer dem eigentlichen Bulgarien einen großen Teil Rumeliens und Makedoniens umfaßte, stipuliert und die Zahlung einer beträchtlichen Kriegsentschädigung der Türkei auferlegt.

Die Ausführung des Friedens verzögerte sich indes infolge des Konflikts zwischen Rußland und England, das eine Flotte in das Marmarameer einlaufen ließ. Während die energische Haltung der englischen Regierung den Ausbruch eines Kriegs mit Rußland erwarten ließ, wenn dieses sich nicht nachgiebig zeigte, und die Mächte sich eifrig bemühten, durch einen Kongreß eine friedliche Lösung der orientalischen Wirren herbeizuführen, fehlte es in Konstantinopel an jeder klaren, entschiedenen Haltung. Die Minister kamen und gingen je nach den Launen des Sultans und seiner Günstlinge. Die Kammern waren schon im Februar nach Haus geschickt und damit die Komödie einer "osmanischen Verfassung" geschlossen worden. Der unerfahrene Abd ul Hamid litt an fast krankhafter Furcht vor Verschwörungen zu gunsten seines Bruders Murad; eine solche wurde in der That im Mai 1878 versucht, aber blutig unterdrückt. Am 1. Juni ward Mehemed Rüschdi Pascha wieder zum Großwesir ernannt. Unter ihm warf sich die Pforte endlich England in die Arme, indem sie 4. Juni einen geheimen Vertrag mit diesem schloß, wonach England den Schutz der asiatischen Besitzungen der Türkei übernahm, solange Rußland nicht seine Eroberungen in Armenien herausgegeben haben würde, und dafür das Recht erhielt, Cypern zu besetzen. Mehemed ward bereits 8. Juni durch Savfet Pascha ersetzt. Dieser leitete die türkische Politik während des Berliner Kongresses (13. Juni bis 13. Juli 1878). Allerdings wurden in Berlin mehrere Bestimmungen des Friedens von San Stefano zu gunsten der Türkei verändert: Aladschkert und Bajesid in Armenien fielen an sie zuruck; das autonome Fürstentum Bulgarien wurde auf das Gebiet nördlich vom Balkan nebst Sofia beschränkt, der südliche Teil, aber ohne Makedonien und den Küstenstrich, als eine Provinz Ostrumelien (s. d.) unter türkischer Oberhoheit belassen. Dagegen wurde Österreich 29. Juni mit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina beauftragt und der Protest der türkischen Bevollmächtigten dagegen zurückgewiesen. Ferner wurde Griechenland das Recht zuerkannt, auf eine Rektifikation seiner nördlichen Grenze (Abtretung des südlichen Thessalien und Epirus mit Larissa und Janina) Anspruch zu erheben. Die Pforte unterzeichnete und ratifizierte zwar den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878, beeilte sich aber nicht mit seiner Ausführung. Der definitive Friede mit Rußland wurde 8. Febr. 1879 unterzeichnet und die an Rußland zu zahlende Kriegsentschädigung auf 802 Mill. Frank festgesetzt. Gegen die Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch österreichische Truppen im August 1878 leistete die Türkei keinen Widerstand und schloß 21. April 1879 mit Österreich eine Konvention, durch welche sie die Souveränität des Sultans in jenen Proinzen formell wahrte.

Neueste Zeit.

Die Macht des türkischen Reichs war durch den Berliner Frieden erheblich geschwächt worden, namentlich in Europa, und die große Finanznot mußte ebenfalls dazu beitragen, die Autorität der Pforte im Land selbst und bei den auswärtigen Mächten herabzusetzen. Es blieben daher weitere Zumutungen an sie nicht aus. Die Griechen verlangten dringend die Verwirklichung der Grenzrektifikation durch Abtretung von Epirus und Thessalien und erlangten auf der Berliner Konferenz 1880 eine Grenze zugebilligt, welche ihre Ansprüche beinahe völlig befriedigte, so daß die Pforte 3. Juli 1881 fast ganz Thessalien u. den epirotischen Bezirk Arta an Griechenland abtreten mußte. In Albanien sah sie sich 1880 genötigt, ihre eignen Unterthanen in Dulcigno mit Gewaltkur Unterwerfung unter ihre Abtretung an Montenegro zu zwingen. Ihr Versuch, 1879 bei der Absetzung des Chedive von Ägypten ihre Hoheitsrechte über dies Land zu vermehren, wurde durch den Einspruch der Mächte vereitelt; ihre Unthätigkeit während der von Arabi Pascha 1882 verursachten Unruhen ermöglichte England das eigenmächtige Einschreiten in Ägypten und die militärische Besetzung des Landes. Das 1871 enger an das türkische Reich gekettete Tunis ging 1881 an Frankreich verloren. Dennoch hatte die Pforte bei diesen Vorgängen eine solche Geschicklichkeit und Sicherheit in den diplomatischen Verhandlungen gezeigt, daß sich ihre Stellung den Großmächten ge-

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Türkischrot - Turkistan.

genüber zu ihrem Vorteil veränderte. Während sie den Anmaßungen Englands mit Ruhe und Festigkeit entgegentrat, gewann sie an Deutschland und Österreich seit Auflösung des Dreikaiserbündnisses eine immer wirksamere Stütze, wodurch es ihr möglich wurde, ihren Besitzstand in Europa zu behaupten und ihren Einfluß in Afrika und Asien zu vermehren. Im Innern scheiterte allerdings ein Reformversuch, den der zum Großwesir ernannte, ehemals tunesische Minister Khereddin Pascha 1879 machte, an dem Widerstand der alttürkischen Partei und einiger allmächtiger Günstlinge des Sultans, wie Osman und Mahmud Damat. Indes befreite sich der Sultan Abd ul Hamid, je mehr er in Staatsgeschäften ein selbständiges Urteil erlangte und handelnd eingriff, allmählich von diesem verderblichen Einfluß. Um die Finanzreform durchzuführen, berief er deutsche Beamte, welche auch 1881 eine durch Irade vom 20. Dez. bestätigte Einigung mit den Gläubigern zu stande brachten, durch die der Betrag der Staatsschuld von 250 aus 106 Mill. Pfd. Sterl. herabgesetzt und für diese ein zunächst auf mindestens 1 Proz. reduzierter Zinsfuß, zugleich aber auch eine Amortisation von 1/3 Proz. und deren Zahlung durch Garantie mehrerer Einkünfte gesichert wurde. Zur Vermehrung der Einnahmen wurde die Tabaksregie eingeführt. Deutsche Offiziere begannen auf Grund eines 1880 vom Sultan genehmigten Plans eine Reorganisation des Heerwesens und arbeiteten ein Militärgesetz für das ganze Reich aus, das 1887 in Kraft trat. Nach außen hin beobachtete die Türkei eine große Zurückhaltung, da sie vor neuen kriegerischen Verwickelungen zurückscheute. Dies zeigte sich besonders 1885, als im September der Generalgouverneur von Ostrumelien, Chrestowitsch, in Philippopel gestürzt wurde und Fürst Alexander von Bulgarien diese türkische Provinz mit seinem Fürstentum vereinigte. Obwohl die Türkei eine ansehnliche Truppenmacht an der Grenze aufstellte, konnte sie sich doch nicht zu bewaffnetem Einschreiten, um ihre Rechte zu wahren, entschließen und gab im Frühjahr 1886 auf der Konferenz zu Konstantinopel ihre Zustimmung dazu, daß der Fürst von Bulgarien zum Generalgouverneur von Ostrumelien ernannt wurde. Ebenso verhielt sie sich unthätig, als im August 1886 Fürst Alexander durch russische Ränke gestürzt wurde, und ließ alle weitern Ereignisse in Bulgarien geschehen, ohne sich anders als diplomatisch einzumischen, obwohl Rußland die Pforte zum thätlichen Einschreiten drängte, um die ihm verhaßte Regentschaft, dann den Fürsten Ferdinand zu beseitigen. Sie gab damit tatsächlich die Herrschaft über Ostrumelien auf. Die Ereignisse in Bulgarien, welche wie Serbien so auch Griechenland zu einer kriegs- und eroberungslustigen Haltung veranlaßten, nötigten aber die Türkei zur Aufstellung einer großen Heeresmacht, welche so große Kosten verursachte, daß sie wieder Anleihen bei der Ottomanischen Bank machen und dafür mehrere einträgliche Zölle verpfänden mußte. 1889 kam durch Schiedsspruch endlich eine Einigung mit dem Baron Hirsch, der die türkischen Eisenbahnen gebaut hatte u. ausbeutete, zu stande, welche der Türkei die Verfügung über die Bahnen teilweise zurückgab.

Vgl. Hammer-Purgstall, Geschichte des osmanischen Reichs (2. Aufl., Pest 1834-36, 4 Bde.); Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reichs in Europa (Hamb. u. Gotha 1840-63, 7 Bde.); Rosen, Geschichte der Türkei, 1826-56 (Leipz. 1866-67, 2 Bde.); Schmeidler, Geschichte des osmanischen Reichs im letzten Jahrzehnt (das. 1875); Blochwitz, Die Türken, kurzer Abriß ihrer Geschichte (Berl. 1877); de la Jonquière, Histoire de l'empire ottoman (Par. 1881); Hertzberg, Geschichte der Byzantiner und des osmanischen Reichs (Berl. 1884); v. Schlechta-Wssehrd, Die Revolution 1807-1808 (Wien 1882); Engelhardt, La Turquie et le Tanzimat ou l'histoire des réformes dans l'empire ottoman depuis 1826 (Par. 1882-83, 2 Bde.).

Türkischrot, s. Färberei, S. 42.

Türkisgrün, s. Kobaltgrün.

Turkistan (Turkestan, "Land der Türken"), Name der Länder in der großen Längssenkung des Tarimbeckens in der östlichen, der Flußsysteme des Amu Darja und Sir Darja in der westlichen Hälfte Innerasiens, zwischen welchen die Gebirgsketten, welche die Pamirhochthäler einfassen, die Wasserscheide bilden (s. Karte "Zentralasien"). Geographisch gehört die Osthälfte zu dem großen Gebiet der seit langen geologischen Zeitperioden abflußlosen Wasserbecken Zentralasiens (s. d.); die Westhälfte dagegen endigt in der erst seit jüngerer Zeit vom Meer verlassenen aralokaspischen Niederung. Politisch bildet die westliche Hälfte das russische Generalgouvernement T., die östliche Hälfte einen Teil des chinesischen Kaiserreichs. Im folgenden sind beide Teile selbständig behandelt.

I. Das russische Generalgouvernement Turkistan

grenzt im N. an die Kirgisensteppe (Akmollinsk, Turgai etc.), im O. an das chinesische Ostturkistan, im S. an Bochara, im W. an Chiwa und hat einen Flächeninhalt von 1,604,892 qkm (29,148 QM.) mit (1885) 3,426,324 Einw. Administrativ zerfällt es in die folgenden Verwaltungsbezirke:

QKilom. QMeilen Einwohner

Transkaspische Provinz 550629 10000 301476

Semiretschinsk 381609 6930 666339

Ferghana 95227 1729 716133

Serasschan 54633 992 394446

Sir Darja 449822 8169 1214300

Amu Darja 102972 1870 133630

An der Spitze der Militär- und Zivilverwaltung steht ein Generalgouverneur, der seinen Sitz in Taschkent hat, und welchem Gouverneure und Kreis-, resp. Distriktschefs untergeordnet sind. Die untersten Vollzugsorgane sind Eingeborne. Allgemeine Wehrpflicht besteht hier nicht; von russischen Truppen stehen hier 1 Schützenbrigade, 19 Linienbataillone, 1 Artilleriebrigade (7 Batterien), 1 Gebirgsbatterie, 1 Sappeurhalbbataillon, 3 Orenburger und 2 Ural-Kosakenregimenter, 3 Festungsartilleriekompanien, 11 Lokallommandos. Das Territorium wird in seinem gebirgigen Ostteil von den westlichen Ketten des Thianschan (s. d.), welcher selbst als Narat, Mustag, Sary-dshaß, Kok-schaal, Alai und Hissarrücken die südöstliche Grenze bildet, ausgefüllt. Im Pik Chan-Tengri erreicht er eine Höhe von 6558 m. Hier entspringen der Naryn, einer der Quellflüsse des Sir Darja (s. d.), und der Tekeß, Quellfluß des Ili. Das rechte Ufer des letztern bilden der Borochorskische und Dsungarische Alatau. Rechts des Flußgebiets des Naryn und Sir Darja zieht sich der Alatau hin, welcher sich beim Chan-Tengri vom Thianschan abzweigt. Anfangs heißt er Terskei-tau, weiter nach W. Sussamir-tau und endlich Urtak-tau. Durch die Flüsse Tschirtschik, Aryß, Talaß, Tschu, den See Issi-kul, die Flüsse Tschirik und Tscharyn und die rechten Zuflüsse des Naryn wird der Alatau in verschiedene Gebirgszüge geteilt, welche bald russische, bald kirgisische Namen haben. Dieser gebirgige Teil des Territoriums ist teilweise bewaldet und von vielen Flüssen

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Turkistan (Russisch -T.: Geographisches).

(die hauptsächlichsten sind erwähnt) durchströmt. Die Ebenen dagegen zeichnen sich im allgemeinen durch das Fehlen geglichen Baumwuchses und durch Wassermangel aus. Je nach der Menge der Feuchtigkeit und der Bodenbeschaffenheit zerfallen sie in solche mit salzhaltigem Thonboden, am Fuß der Gebirge gelegen (sie werden durch künstliche Bewässerung zu außerordentlich fruchtbaren Gegenden), und in die unbegrenzten wasserlosen Sandwüsten, wie im W. die Kisilkum, im N. die Karakum, Dschitikonur und Mojunkum und endlich die am Balchasch gelegenen Wüsten. Die Wasserlosigkeit ist jedoch nur eine bedingte: in der Tiefe findet sich Wasser, so daß auch eine gewisse Vegetation vorhanden ist; ferner sind längs der Karawanenstraßen Brunnen angelegt. Die Sandsteppen scheiden sich in veränderliche und feste. Erstere liegen zumeist an den Rändern der Sandstrecken; sie sind vollständig vegetationslos. Letztere werden dadurch charakterisiert, daß sie mit einer dünnen Erdschicht von dunkelgrauer Farbe bedeckt sind und infolge der in der Tiefe vorhandenen Feuchtigkeit eine gewisse Vegetation haben; in den tiefer gelegenen Gegenden wachsen sogar Bäume und Futterkräuter. Am meisten kommen Saxaul, Wacholder und Disteln vor. Die wenigen Flüsse, welche die Sandstrecken durchfließen, sind seicht und großtenteils mit Schilf bewachsen, das an den Mündungen unpassierbare Moräste bildet. Weite Sumpfflächen liegen am Balchasch, am Alakulsee, am Tschu, an der Mündung des Sir Darja und an dem untern Amu Darja. Schließlich sind noch die Seen (wie Balchasch, Issi-kul, Karakul u. a.) und die Salzmoräste zu erwähnen. Letztere sind meist ausgetrocknete Seen und finden sich häufig in den Sandsteppen. Das Klima wird durch die kontinentale Lage und außergewöhnliche Trockenheit bedingt. Zwischen Tag und Nacht und in den verschiedenen Jahreszeiten treten sehr große Temperaturunterschiede hervor. Abgesehen von der Gebirgsgegend ist Regen nur eine seltene und außergewöhnliche Erscheinung im Sommer. Dagegen regnet es in den Gebirgen bei einer Hohe von 1200-1500 In im Mai und Juni fast taglich zwischen 4 und 7 Uhr nachmittags, selten morgens und nachts; in der Höhe von 2400 m regnet und schneit es abwechselnd in den Sommermonaten; in einer Höhe von 2700 m fällt nur noch Schnee. Wälder, vorzugsweise Tannenwälder, trifft man nur in den Semiretschinskischen Gebirgen, hier aber auch nur an den nördlichen und nordwestlichen Abhängen, sofern die Berge mit Schnee bedeckt sind. In klimatischer Beziehung kann man das gesamte Gebiet in vier Teile teilen: 1) Der Norden etwa bis zum 45.° nördl. Br.; Jahresmittel im W. +6,2° C., im O. +7,5. Winter von 2-3 Monaten Dauer. Der Sir ist 123 Tage zugefroren. 2) Die südlich daran sich schließende Gegend der Forts Tschulek, Perowski, der Städte T., Aulinata und Wiernyi, mit der Jahrestemperatur von +7° (Sommer +30, Winter -24°). Der Sir ist nur 97 Tage zugefroren; Aprikosen werden reif. 3) Die Gegend um Tschemkent, Taschkent, Kuldscha, Samarkand, Petro-Alexandrowsk; Jahresmittel in Kuldscha +9,2° C., in Taschkent +14,3°; Pfirsich-, Mandelbäume, Weinstock gedeihen. 4) Das Thal von Chodshent, die Gegend der Stadt Chokand und südlich vom 42.° nördl. Br.; mittlere Temperatur im Januar +2,4° C., im Juli +28,8° C.; Pistazien gedeihen noch in 1000 m Höhe, wilde Mandelbäume bis zu 1200 m, Aprikosen bis zu 1500 m, wilde Apfelbäume bis zu 1900 m Höhe. Hinsichtlich der Kultur sind 2,06 Proz. des Areals kultiviertes Land, 43,30 Weideland, 54,61 Proz. Unland. Ferghana und Serafschan nehmen die erste Stelle ein. Ackerbau ist nur bei künstlicher Bewässerung möglich. Dieselbe wird durch Aksakali (Beamte) geleitet. Die erste Arbeit im Frühjahr ist die Reinigung der Kanäle; dann wird das Land gepflügt, gedüngt, bewässert und geeggt. Eine mittlere Ernte gibt 20, im Samarkander Distrikt von Weizen 25 Korn. Nach der Ernte von Winterweizen und Gerste säet man noch in demselben Jahr Hirse, Sesam, Linsen, Mohrrüben, seltener Mohn. Auf dem größten Teil des zur Sommerernte bestimmten Bodens wird Reis und Dschugara gebaut; dann folgt Baumwolle; Luzerne ist das wichtigste Futterkraut; Krapp, Lein, Tabak werden nur noch in unbedeutender Menge kultiviert, haben aber eine gute Zukunft, ebenso wie der Weinbau; von Gartenfrüchten sind besonders hervorzuheben: Melonen, Arbusen, Gurken, Kürbisse; unsre Gemüse geben einen reichen Ertrag. Die Baumwolle, allerdings von keiner guten Qualltät, hat für T. doch eine große Bedeutung: 1867 wurde bereits für über 5 Mill. Rubel nach Rußland ausgeführt. Der Seidenbau spielt ebenso eine wichtige Rolle: die Produktion ergibt jährlich 1,816,000 Kokons. Die Wollproduktion bildet ausschließliche Beschäftigung der Nomaden: Schafe, Ziegen, Kamele werden geschoren. Auch die Viehzucht fällt jenen ausschließlich zu und hat einen ganz bedeutenden Umfang: man berechnet die Zahl der Kamele auf 390,361, der Pferde auf 1,602,116, des Rindviehs auf 1,180,000, der Schafe auf 11,351,278. Die Flüsse und Seen sind überaus reich an Fischen; der Fischfang wird aber noch wenig, fast nur von den Nomaden, betrieben. An wilden Tieren gibt es Tiger, Panther, wilde Schweine, Bären, Wölfe, Füchse, wilde Esel, wilde Ziegen, wilde Katzen etc. An Salz ist großer Reichtum vorhanden; die Nutzbarmachung ist aber unbedeutend. In Ferghana gibt es Naphthaquellen, deren Ausbeute sehr nutzbringend werden kann. Auch Goldsand, Silber-, Kupfer-, Blei- und Eisenerze, Steinkohle, Schwefel, Salpeter, Türkise sind dort zu finden. Die Ausbeute ist noch eine ganz unbedeutende. Vorläufig ist der Besitz Turkistans für Rußland noch keine Hilfsquelle; letzteres muß sogar für dies neuerworbene Land noch erhebliche Opfer bringen.

Die Bevölkerung gehört zwei Rassen an: der kaukasischen und der mongolischen. Die erstere umfaßt Russen, Tadschik (s. d.), Perser und Afghanen, ferner Juden und Araber; die letztere zerfällt in die altaischen (turkotatarischen) Völkerschaften, welche hier als Kirgisen, Karakirgisen, Uzbeken, Karakalpaken, Kiptschak, Turkmenen, Tataren (s. diese Artikel) auftreten, und in die eigentlich mongolischen: Kalmücken, Chinesen, Sibo, Solonen u. a. Die Sarten (s. d.), Tarantschen (s. d.) und Kuraminzen, ein Gemisch verschiedener Völkerschaften, können füglich zu den Turkotataren gerechnet werden, ebenso wohl die Dunganen (s. d.), welche einen Übergang von den türkischen zu den mongolischen Völkerschaften bilden. Annähernd wird das ganze Gebiet bewohnt von 59,283 Russen, 7300 Tataren, 690,305 Sarten, 137,283 Tadschik, 182,120 Uzbeken, 58,770 Karakalpaken, 70,107 Kiptschak, 5860 Turkmenen, 20,000 Dunganen, 36,265 Tarantschen, 1,462,693 Kirgisen, 77,301 Kuraminzen, 24,787 Kalmücken, 22,117 Mangow-Mandschuren, 2926 Persern, 857 Indern. Die Russen, ungefähr 1 Proz. der Gesamtbevölkerung, konzentrieren sich hauptsächlich in dem Semiretschinskischen Bezirk als Kosaken, Bauern und Einwohner der Städte; in dem Sir Darja-Gebiet wohnen sie groß-

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Turkistan (Russisch-T.: Geschichte).

tenteils in Taschkent und in Kasalinsk und in sehr beschränkter Anzahl in den übrigen Flecken etc.: nur 4000 (ca. 1 Proz. der Bevölkerung) bewohnen den Bezirk Serafschan, 1184 (1 Proz.) den Amu Darja-Distrikt als Kolonisten der Uralkosaken, 1229 den Ferghanabezirk. Tataren sind das Handel treibende Element in den Städten. Sarten, angesiedelte Nomaden, beschäftigen sich mit Ackerbau und Handel und bilden den Kern der eingebornen Stadt- und Landbevölkerung in den südlichen Kreisen des Sir Darja-Bezirks und in ganz Ferghana sowie im Serafschanbezirk; in Semiretschinsk kommen sie nur vereinzelt vor. Kirgisen treiben als Nomaden Viehzucht, nur die armen Stämme (die Igintschamen) sind angesessen und treiben Ackerbau; sehr ungleichmäßig verteilt, bilden sie in Semiretschinsk 78 Proz., im Slr Darja-Distrikt 62, im Amu Darja-Distrikt 29, in Ferghana 17 und in Serafschan nur 0,2 Proz. der Bevölkerung. Kuraminzen bewohnen als Ackerbauer den Kuraminzkischen Kreis der Provinz Sir Darja. Kiptschak wohnen als Handel und Ackerbau treibend ausschließlich im nördlichen Teil von Ferghana. Nomadisierende Uzbeken treten in größerer Masse im Kreis Serafschan, dann am rechten Ufer des Amu Darja und in geringer Anzahl in der Provinz Sir Darja auf. Karakalpaken haben sich als Ackerbauer und Viehzuchttreibende hauptsächlich im Amu Darja-Distrikt angesiedelt. Turkmenen leben ausschließlich als halbangesessene Nomaden in der Provinz Amu Darja. Die Tarantschen nehmen das Ilithal ein und siedeln jetzt zum großen Teil aus dem an China abgetretenen Kuldschadistrikt auf russisches Gebiet über, Dunganen hauptsächlich in dem an China abgetretenen Kuldschadistrikt, dann aber auch in der Provinz Ferghana und im Kreis Serafschan; die größte Ansiedelung, 4000 Seelen, befindet sich im Thal Karakunuß im Kreis Tokmak. Kalmücken nomadisieren in den Kreisen Wlärnyl und Issi-kul der Provinz Semiretschinsk. Tadschik gibt es im Kreis Chodshent, im Kreis Serafschan, im Kreis Kurama in dem Gebirge und in Ferghana. Perser, früher Sklaven, kommen im Kreis Serafschan und im Kreis Amu Darja vor. Inder sind in den Handelszentren verteilt; es sind nur Männer. Zigeuner und Juden wohnen hauptsächlich im Kreis Serafschan. Araber führen ein halbangesessenes Leben in der Umgegend von Samarkand und Kattykurgan. Nach den Glaubensbekenntnissen teilt sich die Einwohnerschaft des Generalgouvernements T. in 2,900,000 Mohammedaner (hauptsächlich Sunniten), 57,000 Griechisch-Orthodoxe, 2000 Katholiken, 1000 Protestanten, 50,000 Heiden, 3000 Juden. 1877 betrug die angesessene Bevölkerung 1,620,535, die nomadisierende 1,417,584. Vgl. Kostanco, Turkestan; Materialien für die Geographie und Statistik Rußlands (russ., Petersb. 1880).

[Geschichte.] Die ersten Beziehungen Rußlands zu Mittelasien, speziell zu Chiwa (s. d.), datieren aus der Regierungszeit Peters d. Gr. Einen positiven Erfolg hatten dieselben nur insofern, als die zwischen der Wolga und dem Ural wohnenden Kirgiskasaken russische Unterthanen wurden. 1725 lief die russische Grenze in Asien längs der Flüsse Ural und Mijas mit Kurgas und Omsk, längs des Irtisch und der Vorberge des Altai zwischen Biisk und dem Telezkischen See hindurch, an den Quellen des Abankan vorbei nach der jetzigen Grenzlinie mit China hin. In Mittelasien hatte Rußland somit damals noch keine Besitzungen. 1732 erlangte Rußland südlich dieser Grenze die Herrschaft über die Kleine und Mittlere Horde der Kirgisen. Um diese nur nominellen zu wirklichen Unterthanen zu machen, legte man 1820 befestigte Punkte an zum Schutz der neuen Grenze und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in dem neuerworbenen Gebiet. So entstand eine Linie in der Mittlern und die ilezkische Linie in der Kleinen Horde der Kirgisen. Die unbotmäßigen Kirgisen fanden Unterstützung an dem Chan von Chiwa. Infolgedessen fand die unglückliche Expedition des Generals Perowski 1839 nach Chiwa (s. d.) statt. Vorher jedoch hatte man den Posten Nowo-Alexandrowsk an der Kaidakbucht des Kaspischen Meers, den Embaposten 400 km südlich von Orenburg und Akbulak etwa 160 km noch weiter südlich nach dem Ust-Urt-Plateau zu angelegt. Nach dem niedergeworfenen Kirgisenaufstand 1846 erhielten Embinsk und Akbulak feste Garnisonen, und in der Steppe entstanden die Posten Uralskoje und Orenburgskoje. 1846 erkannten auch die Kirgisen der Großen Horde die russische Oberherrschaft an: Kopal südöstlich des Balchaschsees wurde als Stützpunkt angelegt. Raimskoje an der Mündung des Sir Darja entstand um dieselbe Zeit. 1847 zog die russische Grenze von Osten nach Westen über den Ilifluß zum Alataurücken und längs des Tschu zum Sir Darja. Es begannen die Kämpfe mit Chokand (s. d.). Schon 1854 war die Linie des Sir Darja durch die Forts Nr. 1 (Raimskoje war aufgegeben), 2 und Perowski, etwa 350 km östlich vom Aralsee gelegen, gut befestigt. 1860 unterwarf man von Kopal her die Karakirgisen und nahm an der Sirlinie die Forts Djulek und Jany-Kurgan. 1864 wurden Aulinata, die Städte T. und Tschimkent genommen. Anfang 1865 wurde das neuerworbene Land mit der Sir Darja-Linie und den am See Issi-kul gelegenen Erwerbungen, wo man vom Fort Wiernoje aus bis an den Naryn vorgegangen war, zu dem Grenzgebiet T. verbunden. Am 10. März 1865 fiel Taschkent. Jetzt trat Bochara (s. d.) in den Kampf mit Rußland ein. Am 8. Mai 1866 wurde der Emir auf der Ebene Ir Djar geschlagen, die Stadt Chodshent 24. Mai erstürmt; 2. Okt. fiel Dschisak, am 18. Ura-Tjube, beides strategisch wichtige Befestigungen an Pässen des Kaschgar-Dawan. Zu Ende dieses Jahrs war letzterer die Südgrenze Rußlands. Im Frühjahr 1867 wurde Jany-Kurgan besetzt. Ein Ukas vom 11. Juli d. J. verfügte die Organisation des bis dahin dem Generalgouverneur von Orenburg unterstellt gewesenen mittelasiatischen Gebiets zu einem selbständigen Generalgouvernement T., das in den Sir Darinskischen und Semiret-schinskischen Oblaßtj geteilt wurde. Die Friedensverhandlungen mit Bochara hatten keinen Erfolg, und so fielen im März 1868 Samarkand, Kurgan, Katty Kurgan und Tschilek und wurden später als Serafschanbezirk einverleibt; am 2. Juli wurde endlich die letzte bocharische Armee auf den Höhen von Schachrissiabs total geschlagen. Waren so Bochara u. Chokand Vasallenstaaten Rußlands geworden, so widerstand noch Chiwa. Russischerseits verschaffte man sich zunächst Stützpunkte im Osten dieses Chanats. 1869 entstand das russische Fort Krassnowodsk an dem Ostufer des Kaspischen Meers. Im Frühjahr 1870 besetzte man das in dem Balchangebirge gelegene Tasch-Arwat mit den beiden Etappen Michael und Mulla-Kari-Posten. Im Herbste desselben Jahrs führte eine Expedition die Russen schon 200 km weiter nach Osten, um die mit Chiwa verbündeten Turkmenen für deren Räubereien zu strafen. Weitere Rekognoszierungen in der Richtung auf den See Sary-Kamysch fanden 1871 statt; das Fort Tschikischljar an der Mündung des Atrek wurde angelegt.

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Turkistan (Ostturkistan: Geographisches).

Im März 1873 trat Rußland nun in den Krieg gegen Chiwa (s. d.) ein. In dem am 12. Aug. 1873 geschlossenen Frieden wurde das Amu-Delta sowie das rechte Amu-Ufer dem Generalgouvernement T. als Amu Darja-Distrikt einverleibt. Hier entstand das Fort Petro-Alerandrowsk, 2½ km vom rechten Ufer des Amu Darja zwischen Chanka und Schurachana gelegen. An die Expedition gegen Chiwa reiht sich der Feldzug der Russen gegen Chokand (s. d.). Dieses Chanat wurde erobert und durch Befehl vom 19. Febr. 1876 als das Gebiet Ferghana dem Generalgouvernement T. einverleibt. Das zeitweise von den Russen 1871 in Besitz genommene und dem Generalgouvernement T. zugewiesene Kuldschagebiet (s. d.) ist bis auf einen kleinen Teil durch den Vertrag vom 2. (14.) Febr 1881 an China zurückgegeben. Durch Verfügung vom 25. Mai 1882 ist schließlich der Semiretschinskische Oblaßtj von dem Generalgouvernement T. abgezweigt und mit dem Akmollinskischen und Semipalatinskischen Oblaßtj zu einem Steppen Generalgouvernement vereinigt, das mit dem Tobolskischen und Tomskischen Gouvernement den Militärbezirk Omsk bildet.

II. Ostturkistan.

Ostturkistan (chines. Thianschan Nanlu, "Weg südlich des Thianschan", türk. Altischahar oder Dschitischahar, sonst auch Kaschgarien) liegt zwischen 36-43° nördl. Br. und 73-92° östl. L. v. Gr. oder zwischen dem Randagebirge Tibets im S., dem Thianschan im N., dem Alai- und Pamirplateau mit dem Kisiljart als Randgebirge im W., während im O. das Reich in die Gobiwüste ausläuft, und hat ein Areal von 1,118,713 qkm (20,135 QM.), wovon aber der größte Teil unbewohnbar ist. Am Fuß der Hochgebirge, an der Grenze, über welche Paßübergänge nirgends unter 3400 m führen, liegt der anbaufähigste Boden, eine nach dem Innern sich abdachende schiefe Ebene, von zahlreichen Flüssen bewässert, die aber sämtlich nur für Fischerboote (im untern Teil) schiffbar, doch sehr fischreich sind. Den tiefsten Teil des Landes nehmen Steppen und Sandwüsten ein (700-1200 m ü. M.) Vom Thianschan fließen ab: Kaidugol, Scharjar und Kisilkungai (Aksu); vom Kisiljart: Kaschgar, Jamunjar; vom Karakorum: Jarkand und Karakasch, später Chotanfluß genannt; sie alle vereinigen sich im Tarim, der in den Sümpfen und Süßwasserseen des zuerst 1877 von Prschewalskij befahrenen Lobsees sein Ende findet. Das Klima kennzeichnen große Trockenheit, mehr oder weniger dichter, mit Wüstenstaub versetzter Duft, der selten ganz verschwindet, heftige Nord- oder Nordwestwinde im Frühjahr und Herbst, Windstille zu andern Zeiten, große Hitze im Sommer, strenge Kälte im Winter. Im Sommer machen Trockenheit der Luft und Ausstrahlung des erhitzten Bodens Arbeiten im Sonnenschein unmöglich, man sieht dann weder Feldarbeiter noch Träger oder Fußreisende; der August hat eine Wärme von durchschnittlich 26° E. im Schatten. Im Winter fällt das Thermometer bis zu -25° C.; das Frühjahr geht rasch in den Sommer, ebenso der Herbst in den Winter über. In der Ebene säet man Winterfrucht Ende August, Sommerfrucht Anfang April und erntet im Juli. Für Jarkand ist die mittlere Jahrestemperatur zu 12,2° C. geschätzt (genauere Berechnungen geben Bkanfords "Indianmeteorological memoirs", Kalk. 1877). Die Gold- und Nephritlager Chotans waren schon im Altertum berühmt; ausgezeichnete Steinkohle brennt man in Aksu und Turfan. Von Eisen, Kupfer, Alaun, Blei kennt man ergiebige Lager, die aber noch schlecht ausgebeutet werden; Salz stellt man sehr unvollkommen aus ausgetrockneter Moorerde dar. Das Hochgebirge liefert saftige Fettweiden, tiefer hinab folgen Dickichte von Wacholder, Weiden, Tamarisken, Rosen etc. mit Pappeln als hochstämmigen Bäumen. In den nicht angebauten Teilen der Ebene und den Wüsten ist die Vegetation äußerst spärlich, im Ackerland dagegen herrscht üppiges Wachstum. Hauptfrüchte sind: Weizen, Gerste, Mais und Hirse, dann Reis; Baumwolle, Flachs und Hanf werden als Gespinstpflanzen, Mohn zur Opiumgewinnung fleißig angebaut. Die Gärten sind mit unsern Gemüsen und Obstsorten bepflanzt; es reifen aber auch Feige und Granatapfel, die Weinrebe wird am Spalier gezogen und im Winter gedeckt; Seidenbau findet im S. und SW. statt. Das Tierreich zeigt viel Eigenartiges. In den Umgebungen des Lobsees gibt es noch wilde Kamele, wilde Pferde und Ochsen, im Hochgebirge das große wilde Schaf (Ovis Ammon), stattliche Hirsche, Antilopen und Hasen; dann Tiger, Panther, Luchse, Füchse und Wildschweine in den Dickichten an den Flußufern. Zahlreiche Schwäne und Wasservögel hausen an den Ufern des Lobsees. Haustiere sind: Grunzochse (Yak), Kamel, Pferd, Esel, Schaf, Schwein, Hund, Katze, Hühner und Tauben; große Rinderherden sind zahlreich. Das Pferd ist klein, aber sehr ausdauernd. Maultiere sind selten, dagegen werden Schafe in großer Zahl gehalten, und Wolle und Fleisch sind gleich ausgezeichnet (erstere ein Hauptausfuhrartikel). Die Gewerbthätigkeit hat geringe Bedeutung; die altberühmte Seidenkultur und -Weberei in Chotan ist verfallen; gesucht im Ausland sind Filze und Teppiche, im Innern die landesüblichen groben Baumwollenstoffe. Der Handel ging sonst nach China und in geringern Beträgen nach Chokand und der Mongolei. Seit 1867 machten die Engländer große Anstrengungen, einen Verkehr mit Indien einzurichten, setzten in Leh einen Handelsagenten ein, verbesserten die Zugänge durch Tibet (Ladak) und erwirkten 1873 zu Jarkand den Abschluß eines günstigen Handelsvertrags mit verhältnismäßig niedrigen Zollsätzen (2½ Proz. Wertsatz) sowie die Zulassung eines Engländers in Kaschgar als Konsularagenten. 1874 bildete sich mit dem Sitz in Lahor eine Zentralasiatische Handelsgesellschaft auf Aktien, die alle zwei Jahre eine große Karawane nach Kaschgar abfertigt und sie im nächsten Jahr beladen zurückgehen läßt. Diese Gesellschaft hat belebend eingegriffen, und der Umsatz, der 1867 kaum 1 Mill. Mk. wertete, war 1874 bereits auf 2½ Mill. Mk. gestiegen. Ebenso große Anstrengungen, Ostturkistan mit seinen Waren zu versehen, macht Rußland. Durch den am 14. Febr. 1881 abgeschlossenen Vertrag mit China hat dasselbe das Recht erworben, neben den bereits bestehenden Konsulaten in Ili, Tarbagatai, Kaschgar und Urga auch solche in Sutschshan und Turfan zu errichten. Den russischen Unterthanen steht das Recht zu, in den Bewirken Ili, Tarbagatai, Kaschgar, Noumzi Handel zu treiben, ohne Abgaben zu zahlen.

Die Bevölkerung beträgt annähernd 580,000 Seelen; am dichtesten ist die Provinz Jarkand bevölkert. Städtische und ländliche Bevölkerung zeigen im Äußern und in der Lebensweise merkliche Unterschiede. In den Städten hat weitgehende Mischung von vielerlei Völkerschaften stattgefunden; "alles, was man sagen kann, ist, daß Tatar- (mongolisches) Blut überwiegt, daß Turkblut in größerer oder geringerer Menge zugesetzt ist, und daß fremde Tadschik- (persische) Formen mehr oder weniger dick eingesprengt

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Turkistan (Ostturkistan: Geschichte).

sind; was immer die Beschäftigung ist, der große Haufe zeigt Gesichtszüge, die aus Tatar und Mandschu, aus Kalmuk und Kirgis gemischt und keiner dieser Nationen bestimmt zuzurechnen sind". Die Größe ist bei Männern 1,62, bei Frauen 1,51 m, die Hautfarbe hell. Die seßhafte Landbevölkerung ist von Turkabstammung und stellt die alten Hiungnu oder Uighur dar, die Hunnen von Attilas anstürmenden Scharen; dem Menschenschlag ist aber im W. deutlich arisches Blut beigemengt, was sich in Statur, Gesichtsbildung und Bartfülle ausspricht. Noch heute sitzen reine Arier in den Hochthälern, die sich vom Mustag (Karakorum) herabziehen, ohne Zweifel Reste der indogermanischen Urrasse, welche einst die Abhänge des westlichen Thianschan bevölkerte. Echte Kirgisen ziehen sich um das ganze Land herum und weiden die Steppen im Hochgebirge ab; die Kalmücken sitzen in der Niederung und an den Sümpfen im Lobdistrikt. Die Sprache ist türkisch mit vielen altertümlichen Formen (vgl. Shaw, Turki language as spoken in Kaschgar and Yarkand, Lahor 1875). Die Nahrung ist nahezu dieselbe wie unter Europäern; man ißt alles, was genießbar ist, insbesondere Fleisch und Fische in großen Mengen. Das Getränk bildet Thee, gebrannte Getränke sind verboten. Der Anzug besteht aus Hemd, Hose und darüber langem Rock; die Füße stecken bei beiden Geschlechtern in Schuhen oder Stiefeln, den Kopf schützt eine Mütze. Die Frauen tragen Hemd, Hose, weiten Kittel, langen Rock und Schulterüberwurf, auf dem Kopf eine niedrige Mütze. Unter den Sitten fällt Gleichgültigkeit gegen weibliche Schamhaftigkeit, gegen Abstammung und Glaubensbekenntnis auf. Zwischen dem 14. und 16. Jahr erfolgt die Verlobung; Scheidung der Frau vom Mann ist häufig und wird geradezu als Geschäft betrieben. Die Religion ist der Islam, aber die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu China bewirkte Lauheit im Glauben. Nachdem Jakub Beg (s. unten) sich die Regierung angeeignet hatte, hielt er streng auf die Erfüllung aller Gebräuche des mohammedanischen Glaubens. Nur diesen duldete er im Land; für die Kalmücken fand indes eine Ausnahme statt. Er bot alles auf, um Sittenstrenge wieder einzuführen. Seitdem aber die Chinesen wieder Herren sind, griff auch die frühere lockere Moralität wieder Platz.

[Geschichte.] Die Geschichte Ostturkistans reicht hinauf bis zum 2. Jahrh. v. Chr.; damals unterwarfen die Chinesen, die jedenfalls schon seit längerer Zeit Beziehungen zu Ostturkistan hatten, dieses wie das jenseit des Gebirges liegende Chokand, und wenn auch Chinas Beziehungen zu Ostturkistan zeitweise unterbrochen wurden, so gebot doch China im ganzen bis zum Einfall der Mongolen; die Religion war in der ersten Zeit der Buddhismus, dem hier im 5. und 7. Jahrh. n. Chr. weitberühmte Klöster errichtet waren; auch alte Christengemeinden (Nestorianer) gab es. Im 8. Jahrh. (713 nach arabischen Quellen) zogen Araber über den Terekpaß östlich bis Turfan, der Buddhismus dauerte aber fort; erst Mitte des 10. Jahrh. nahm Satuk (auch Ilikchan), der in Kaschgar regierende (Türken-) Fürst, den Islam an. Dieser Satuk vereinigte alle türkischen Stämme unter seinem Zepter, überzog Bochara, selbst Chiwa, mit Krieg und starb 1037; ein Angriff, den der Herrscher von Chotan auf das von Satuk hinterlassene Reich machte, mißlang, brachte aber Zerrüttung und erleichterte den Mongolen den Sieg. 1218 überzog Dschengis-Chan mit seinen Scharen Ostturkistan, und dessen Herrscherfamilien, welchen die Regierung in Kaschgar, Jarkand, Chotan etc. belassen wurde oder im Weg der Auflehnung zufiel, blieben von nun an in größerer oder geringerer Abhängigkeit von den mongolischen Herrschern aus der Dschagataidynastie, lagen auch unter sich in stetem Hader und hatten wiederholt Kämpfe mit den Tibetern zu bestehen. Die islamitische Geistlichkeit erlangte seit dem 14. Jahrh. großen Einfluß; in Kaschgar bildete sich aus ihren Vorständen (Chodscha, Chwadscha) eine Partei der Weißen Berge und der Schwarzen Berge; erstere wurde Mitte des 17. Jahrh. mit Hilfe des ihr abgeneigten Herrschers von dort vertrieben, wandte sich an den Kalmückenchan der Dsungarei und erwirkte, daß dieser 1678 gegen Kaschgar zog und ihren Führer als Vasallen einsetzte. 1757 besetzten die Chinesen unter ungeheurem Blutvergießen das Land. Die Chodschas fanden Zuflucht im benachbarten Chokand, und ihre Mitglieder benutzten im Einverständnis mit den Eingebornen und mit Unterstützung des Chans von Chokand jeden Anlaß, um den Chinesen die Herrschaft wieder zu entreißen. Madalichan von Chokand zog 1820 selbst gegen Kaschgar und eroberte es; wenn auch der von ihm als Regent eingesetzte Chodscha sich gegen die Chinesen nicht halten tonnte, so sahen sich letztere doch veranlaßt, 1831 mit Madalichan einen Vertrag abzuschließen. Hauptbedingung war, die Chodschas zu überwachen. Als indes Chudojarchan 1846 den Thron von Chokand bestiegen hatte, erhoben diese von neuem ihr Haupt; ein Bund von sieben Chodschas kam zu stande, hatte aber keinen Erfolg; ebensowenig die weitern Versuche 1855 und 1856. Neues Blutvergießen brachte 1857 der vorübergehend erfolgreiche Einfall Walichans; demselben fiel 26. Aug. d. J. leider unser Landsmann Adolf v. Schlagintweit (s. d.) zum Opfer, der erste Europäer, der Kaschgar von Indien aus erreichte. Von nun an aber kam das Land nicht mehr zur Ruhe; eine kleine Revolution folgte der andern. Der Aufstand der Dunganen (s. d.) hatte einen solchen Erfolg, daß die Chinesen 1863 sich nur noch in der Citadelle von Kaschgar und Jarkand und in der Stadt Jani-Hissar halten konnten. Schon 1862 hatte Rascheddin-Chodscha den "Hasawat" (heiligen Krieg) gegen die Chinesen erklärt, und zu Anfang 1864 war er bereits als Herrscher von Kaschgarien anerkannt. Da aber Rascheddin kein direkter Nachfolger der in Kaschgarien herrschenden Chodschas war, so entstand bald ihm gegenüber eine feindliche Partei. An die Spitze der letztern stellte sich Sadyk Beg. Dieser wandte sich an den damals in Taschkent und Chokand regierenden Alim-Kul mit der Bitte, den in Kaschgarien sehr populären Busuruk-Chodscha zu senden, welchem er zur Herrschaft verhelfen wollte. 1864 erschien Busuruk in Begleitung eines Gefolges von 50 Mann, unter welchen sich Jakub Beg (s. d.) als Befehlshaber befand, vor den Thoren Kaschgars und wurde mit Freuden aufgenommen. Sadyk Beg übergab ihm die Herrschaft. Jakub Beg wußte sehr bald Sadyk zu verdrängen und wurde zum Oberkommandierenden ernannt. Die Organisation des Heers war sein erstes Werk; schnell hatte er einige tausend Mann zusammen, welche bei der Belagerung der noch von den Chinesen besetzten Citadelle von Kaschgar im Waffenhandwerk geübt wurden. Bald lehnten sich Rascheddin-Chodscha, welcher im Osten von Aksu regierte, Abd ur Rahmân, der Regent von Jarkand, sowie die Städte Aksu, Kutscha und Chotan gegen Busuruk auf. Jakub Beg besiegte deren Truppen und gelangte noch 1865 in den Besitz der Citadelle von Kaschgar. Der schwache Busuruk, nicht im stande, Jakub entgegenzutreten, übergab ihm jetzt alle Geschäfte. Ein Aufstand der

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Turkistan - Turkmenen.

Kiptschak, mit welchen Busuruk im Bund war, wurde von Jakub niedergeworfen; er setzte Busuruk ab, erhob an seiner Statt Kattatjura, vergiftete denselben aber schon nach vier Monaten und setzte Busuruk von neuem als Chan ein. 1866 u. 1867 hatte Jakub schon die Bezirke von Kaschgar, Jangi-Hissar, Jarkand und Chotan unter seine Herrschaft gebracht. Busuruk wurde nun abgesetzt und Jakub als Chan ausgerufen. Er nannte sich anfangs Herrscher von "Alti Schahar" (s. d.), dann von "Dschiti Schahar". Zuerst führte er den Titel "Atalik Ghazi" ("Verteidiger des Glaubens) und schließlich "Badaulet" ("der Glückliche"). Sein einziger Gegner in Kaschgarien blieb Rascheddin in Aksu, gegen welchen er sich 1867 wandte. Durch List kam derselbe in die Gewalt Jakubs, wurde getötet und Aksu genommen, ebenso Kurlja. Mit den Dunganen wurde ein Vertrag geschlossen und die Grenze zwischen ihnen und Kaschgarien festgesetzt. Bald waren aber diese mit den Abmachungen nicht zufrieden, sie überschritten die Grenze, waren auch anfangs siegreich, wurden aber schließlich doch von Jakub geschlagen, welcher nun Kunja-Turfan und Urumtschi (1869 bis 1870) in seine Gewalt brachte. Ein zweiter wieder niedergeworfener Aufstand der Dunganen ließ noch 1872 Manaß in seine Gewalt kommen. 1872-1876 genoß Kaschgarien endlich der Ruhe, und Jakub wurde von Türken und Engländern als Emir anerkannt. Den Chinesen gelang es mittlerweile, die Dunganen nach und nach niederzuwerfen und auch Manaß und Urumtschi wiederzuerobern. Im Winter 1876-1877 hielten die Chinesen Urumtschi, Jakub Beg die kleine Festung Dawantschi besetzt. Die Truppen des letztern waren in moralischer Beziehung merklich schlechter geworden: die Desertion nahm überhand; selbst auf die bis dahin ergebensten Diener konnte Jakub nicht mehr rechnen. Die Überläufer wurden von den Chinesen sehr freundlich aufgenommen. Am 3. April 1877 rückten die Chinesen aus Urumtschi gegen Diwantschi aus; nach dreitägiger schwacher Verteidigung ergab es sich, ebenso Kunja-Turfan. Mit den Gefangenen verfuhr der chinesische Oberbefehlshaber Lutscha darin sehr geschickt, daß er sie zum Teil wieder freiließ und ihnen versicherte, daß er lediglich Krieg mit Jakub Beg führe. Um die Verbreitung dieser Nachrichten zu verhindern, wurde ein großer Teil der zurückgekehrten Gefangenen auf das Geheiß des Badaulet ermordet. Diese Maßregel erregte in ganz Kaschgarien den bittersten Haß gegen den Chan. Am 28. Mai 1877 war Jakub gegen seinen Sekretär Chamal wegen Nichterfüllung gegebener Befehle so aufgebracht, daß er ihn tötete. Mit seinem Schatzmeister Sabir Achun wollte er ebenso verfahren, wurde aber plötzlich vom Schlage getroffen. Der Sprache und des Bewußtseins beraubt, starb Jakub Beg 29. Mai 2 Uhr morgens (daß er von seinem Sohn getötet oder sich selbst vergiftet, sind Fabeln). Jakub hinterließ drei Söhne, Bik Kuly Beg, Chak Kuly Beg und Chakim Chan Tjurja. Chak Kuly Beg wurde, als er mit der Leiche seines Vaters auf dem Weg nach Kaschgar war, von dem Abgesandten seines ältesten Bruders, Machmed-siapanssat, ermordet. Kaschgarien stand nunmehr unter drei Herrschern: in Kaschgar regierte Bik Kuly Beg, in Aksu Chakim Chan Tjurja und in Chotan Nias Beg. Anfang Oktober war Bik Kuly Beg nach Besiegung der beiden andern Alleinherrscher. Aber auch er verließ als Flüchtling das Land, das unter Jakub Beg eine so große Rolle zu spielen begann, als Anfang Dezember die Chinesen gegen Kaschgar zogen. Mit ihrem Einzug hier sind sie wieder Herren des Landes geworden: Kaschgarien ist jetzt vollständig in den Besitz Chinas übergegangen. Vgl. Gregorjew, Ostturkistan (russ., Petersb. 1873); Wenjukow, Die russisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, Leipz. 1874); Shaw, Reise nach der Hohen Tatarei (deutsch, Jena 1872); Forsyth, Report of a mission to Yarkand (Kalk. 1875; deutsch im Auszug, Gotha 1878), und besonders Kuropatkin, "Kaschgarja, historisch-geographischer Abriß" (russ., Petersb. 1879; engl. Ausg., Lond. 1883).

Turkmenen (Turkomanen, Türkmen, vom Eigennamen Türk und dem Suffix men, "schaft", also "Türkenschaft"), der Gesamtname für mehrere zum türkischen Zweig der Altaier gehörige Volksstämme, deren Wohnplätze und Ernährungsquellen sich in dem anbaufähigen Land finden, das einem Ringe gleich die in dem Raum zwischen dem Kaspischen Meer und dem Amu Darja gelegene ungeheure Sandwüste Karakum umschließt. Die T. zerfallen in verschiedene Stämme, Zweige, Geschlechter und Familien, die nicht selten sich feindlich gegenüberstehen; ihre Rasseneinheit haben sie aber dennoch treu bewahrt. Ursprünglich waren wohl alle T. Nomaden; doch haben die Beschränkung ihres Weideterrains sowie ihre Einengung durch die sie umgebenden Staaten, besonders Rußland, einen Teil derselben zu Ackerbauern gemacht. Oft nomadisiert der eine Teil der Glieder einer Familie, während der andre Ackerbau treibt und ansässig ist. Die Nomaden heißen Tschorwa, die Angesessenen Tschomur. Verliert ein Tschorwa seine Kamele und Schafe, so wird er Tschomur, während auch umgekehrt ein Tschomur wieder zu einem Tschorwa werden kann. Die einzelnen Stämme sind:

1) Die Jomuden, deren einer Hauptzweig, die Kara Tschuka, zwischen den Flüssen Atrek und Gurgen, der andre, Bairam-Schali (20,000 Kibitken), ganz in Chiwa lebt. Die Kara Tschuka zerfallen in die 8000 Kibitken zählenden Dschafarbai mit 2 Untergeschlechtern und 10 Familien und die Atabai (7000 Kibitken) mit 7 Untergeschlechtern. Erstere gelten für russische, letztere für persische Unterthanen. Von beiden zusammen gehören etwa 6000 Kibitken zu den Tschomur, welche neben Ackerbau noch Fischerei treiben.

2) Die Ogurdschalen wohnen in der Stärke von 800 Familien an der Küste des Kaspischen Meers und auf der Insel Tschaleken, wo sie sich mit der Fischerei und der Gewinnung von Naphtha und Salz beschäftigen, und in 50 Kibitken auf der Insel Ogurtschinskij, wo nur Fischerei getrieben wird.

3) Die Schichzen auf der Landzunge Bekowitsch und zwischen den Buchten von Krassnowodsk und Kara Bugas fischen und gewinnen Salz.

4) T. verschiedener Stämme, besonders Igdyr, leben auf der Halbinsel Mangyschlak vom Kara Bugas bis zum Kap Tjub Kargan, etwa 1000 Kibitken stark. Während der Ackerbau der kaspischen Tschomur sich hauptsächlich am Atrek und Gurgen konzentriert und hier die Ernten in guten Jahren oft das 20., ja das 30. Korn geben, ist das Dorf Hassan Kuli der Mittelpunkt der Fischerei. Salz wird aus Seen, Salzmooren und Steinsalzlagern gewonnen, jedoch nicht in bedeutendem Maß; Persien und auch Transkaukasien bilden das Absatzgebiet. Die Naphthaproduktion gewinnt immer bedeutendern Umfang, seitdem es den Einwohnern gestattet ist, ihre Anteile an den Naphthabrunnen Industriellen in Pacht zu geben.

5) Goklanen, persische Unterthanen, nomadisieren östlich von den Jomuden zwischen Atrek und Gurgen in der Stärke von etwa 4000 Kibitken, während etwa 2000 in den Grenzstrichen von Chiwa leben; sie teilen sich in 6 Zweige: die Gaï mit 25, Bajandyr mit 6, Kyryk

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Turkos - Turm.

mit 8, Ai-Derwisch mit 7, Tschakyr Beg Deli mit 10 und die Jangak Sagri mit 7 Familien.

6) Die Tschoudoren leben in etwa 12,000 Kibitken in den Grenzstrichen Chiwas.

7) Dem linken Ufer des Amu Darja weiter aufwärts folgend, leben die Sakar, 3000 Kibitken, 20 km oberhalb der bocharischen Stadt Tschardschui, und

8) die 30,000 Kibitken zählenden Erssary mit 4 Geschlechtern; sie sind mehr oder weniger von Bochara abhängig und erstrecken sich bis Afghanistan.

9) Die Teke, der mächtigste, tapferste und zahlreichste Stamm, haben die Achal-Oase und Merw-Oase inne. Die Achal-Teke zählen etwa 30,000, die Merw-Teke etwa 50,000 Kibitken; der ganze Stamm zerfällt in die Tochlamysch mit den beiden Zweigen Beg (5 Geschlechter, 11 Familien) und Wekil (2 Geschlechter, 12 Familien) und die Otamysch mit den Zweigen Sytschmes (6 Geschlechter) und Bachschi (5 Geschlechter). Die Merw-Teke scheinen sich in der Mitte der 30er Jahre von den Achal-Teke abgelöst zu haben und sind weiter ostwärts gezogen, wo es ihnen in blutigen Kriegen gegen Persien gelang, des ganzen Merwgebiets sich zu bemächtigen. Die Achal-Teke wurden 1881 von den Russen unterworfen, die Merw-Teke unterwarfen sich 1883 freiwillig; ihre Gebiete wurden dem transkaspischen Bezirk einverleibt.

10) Die Saryk bewohnen die südöstlich von Merw am Murghab gelegenen Landschaften Juletan und Pandsh-Dech; 12,000 Kibitken in 5 Geschlechtern mit 16 Familien; sie treiben Garten- und Ackerbau und leben mit den Merw-Teke in Feindschaft.

11) Die Salyr, 3000 Kibitken, hatten sich in der persischen Landschaft Sur-Abad niedergelassen, verlegten dann ihren Wohnsitz nach Alt-Sarachs am Heri-Rud, wurden hier aber von den Merw-Teke überfallen, mit ihrer ganzen Habe fortgeschleppt und diesen einverleibt. Im ganzen beziffert sich somit die Stärke aller T. auf 900,000-950,000, auch wohl 1 Mill. Köpfe.

Alle T. betrachten den Raub als eine vollständig gestattete Erwerbsquelle; sie leben deshalb in fast steter Feindschaft untereinander, sind aber besonders eine entsetzliche Geißel für die benachbarten Völkerschaften, zumal wenn sie als Sunniten den Schiiten gegenüberstehen. Nachdem aber Rußland bis in das Herz Turkmeniens vorgedrungen ist, wird diesen Räubereien wohl bald ein Ziel gesetzt werden, zumal wenn Persien in seinen Nordprovinzen einen größern Widerstand leistet, als dies jetzt der Fall ist. Das einzige, was die T. achten, ist die Macht der Stärke und das Adat, das uralte Gewohnheitsrecht. Die Stämme wählen wohl aus ihrer Mitte Chane; doch haben diese keinerlei Gewalt, wenn sie auch durch persönliche Vorzüge zuweilen bedeutenden Einfluß ausüben. Die Mollas sind wenig geachtet, wie überhaupt die T. sich leicht über die Lehren des Korans hinwegsetzen. Je mehr aber die seßhafte Lebensweise Platz greift, desto mehr werden die T. auch einer gesellschaftlichen Ordnung zugänglich werden. Die den Frauen zugestandene geachtete Stellung, die Liebe zu den Kindern, das Halten des gegebenen Wortes und stete Gastfreiheit sind als Charaktereigenschaften hervorzuheben. Dabei sind sie äußerst mäßig. Ein magerer, zäher Körper, fast bronzefarbige Gesichter mit kleinen, tief liegenden Augen, schwarze Haare, ungewöhnlich weiße Zähne, lange Bärte kennzeichnen das Äußere. Das nationale Kostüm besteht aus einem weiten, langen Gewand, je nach dem Stand von Seide oder einem andern Stoff, und hohen Lammfellmützen, welche die Frauen durch einen um den Kopf gewundenen Shawl ersetzen. Letztere lieben und tragen viel Schmuck und verhüllen sich nicht. Zur Wohnung dient die Filzjurte, in welcher die Frauen frei schalten. Gewöhnlich hat der Turkmene zwei Frauen, für welche er einen gewissen Kaufpreis zu zahlen hat. Die Ehe kann aber willkürlich gelöst werden. Ackerbau, Gartenbau, Fischerei, Viehzucht sind je nach den Wohnplätzen die Hauptbeschäftigungen. Die Jagd wird nicht sehr kultiviert. Die Industrie beschränkt sich auf Anfertigung von Reitzeug, Kamelhaartuch, Ackergerätschaften etc.; die Fischerboote, in Hassan Kuli gefertigt, und die Teppiche der Teke haben einen großen Ruf. Vorläufig ist von Handel noch keine Rede, daß aber die Transkaspische Eisenbahn in dieser Beziehung einen Umschwung hervorbringen wird, dürfte kaum bezweifelt werden. Vgl. "Petermanns Mitteilungen", Bd. 26 (1880); v. Hellwald, Zentralasien (Leipz. 1880); Wenjukow, Die russisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, das. 1874); Vambéry, The Turkomans between the Caspian and Merw (im "Journal of the Anthropological Institute etc.", Februar 1880); Weil, La Tourkménie et les Tourkmènes (Par. 1880); Vambéry, Das Türkenvolk (Leipz. 1885).

Turkos, frühere Bezeichnung für die heutigen Tirailleure Algeriens, afrikanische Fußtruppe der französischen Armee, 1842 errichtet, jetzt 4 Regimenter à 4 Bataillone zu je 4 Kompanien und einer Depotkompanie. Die Offiziere vom Hauptmann aufwärts und pro Kompanie zwei Leutnants sind Franzosen. Ihre Uniform entspricht der arabischen Tracht: hellblaue Jacke und Weste, Turban, Burnus, Gamaschen etc.

Turksinseln, Inselgruppe der brit. Bahamainseln (Westindien), bestehend aus der Insel Grand Turk (18 qkm mit 2500 Einw.) und dem kleinern Inselchen Salt Cay (s. d.). Grand Turk ist niedrig und sandig und liefert außer Fischen und Schildkröten noch Salz. Es bildet mit den Caicos (s. d.) einen Verwaltungsbezirk, der seit 1874 vom Gouverneur von Jamaica abhängt, und insgesamt ein Areal von 575 qkm (10,4 QM.) mit (1881) 4732 Einw. hat. Die Ausfuhr belief sich 1887 auf 26,015 Pfd. Sterl., die Einfuhr auf 26,721 Pfd. Sterl. Lokalrevenue 1887: 6203 Pfd. Sterl.

Turlupin (franz., spr. türlüpäng), ursprünglich Name einer übel berüchtigten fanatischen Sekte, die im 13. und 14. Jahrh. in Frankreich umherzog; dann Beiname des französischen Komikers Legrand unter Ludwig XIII., daher s. v. w. Possenreißer. Turlupinade, Hanswurstiade, Hänselei.

Turm, Gebäude von regulär prismatischer oder cylindrischer Grundform, dessen Höhe die Abmessungen seiner Grundfläche mehr oder minder bedeutend übertrifft. Die Türme werden meist andern Gebäuden, wie Kirchen, Schlössern, Rathäusern, Stadtthoren, Festungen, angefügt und mit ihnen zu einem architektonischen Ganzen verbunden, oder sie stehen isoliert. Bei der ägyptischen Baukunst erkennen wir in den Pylonen ihrer Tempel und in ihren Pyramiden die ersten Vorläufer der Turmbauten; von den Griechen ist uns nur der achteckige, mit niederm Zeltdach versehene "T. der Winde" (s. Tafel "Baukunst IV", Fig. 10) erhalten. Die Römer kannten nur feste, oben mit Plattform und Zinnen versehene Verteidigungstürme. Ähnlich waren die meist runden oder quadratischen Festungstürme des Mittelalters, welche oft noch eine Laterne auf den Zinnen oder einen kurzen Steinhelm erhielten. Indes zeigten sich die Türme hier überall noch als mehr oder minder willkürliche An- oder Aufbauten. Erst der christlichen Baukunst war es vorbehalten, die Türme zu einem integrieren-

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Turma - Turmalin.

den Bestandteil der Kirchen und ihrer Architektur zu machen, indem man in der Zeit Konstantins die christlichen Tempel mit Glockentürmen zu versehen begann. Dieselben waren anfangs rund und trugen einen Pavillon mit niedrigem Zeltdach, später wurden sie viereckig, geböscht und mit einem Pavillon unter hohem Zeltdach geschlossen. Anfangs standen die Türme isoliert neben der Kirche; eine organische Verbindung des Turms mit der Kirche zeigt sich erst im romanischen Stil. Die echt architektonische Ausbildung und vollkommen organische Verbindung mit den übrigen Gebäudeteilen zu einem Ganzen erhielten die Türme aber erst in dem gotischen Kirchenbaustil, dessen Idee in dem Bau des Turms ihren eigentlichen Ausdruck findet. Unter die sowohl durch den Adel ihrer Bauart als die Höhe ihrer Helme ausgezeichneten Turmbauten gehören unter andern die Münster und Kirchen zu Köln, Straßburg, Freiburg, Wien, Magdeburg, Marburg, Regensburg, Nürnberg, Trier, Antwerpen, Brüssel, Venedig und Mailand. Der für die Pariser Weltausstellung von 1889 auf dem Marsfeld von Eiffel und Sauvestre errichtete T. ist 300 m hoch, bedeckt eine Grundfläche von mehr als 1 Hektar und ruht auf vier Mauerwerkskörpern, die durch Mauern zu einem Fundament vereinigt sind. Der T. hat das Aussehen eines riesigen Gerüstes, ist ganz aus Eisen konstruiert und enthält in 60 m Höhe das erste, in 115 m Höhe das zweite und in 275 m Höhe das dritte Stockwerk. Eine 250 qm große Glaskuppel krönt den T. In quadratischen Röhren an den vier Ecken des Turms befinden sich Treppen und acht hydraulische Aufzüge. Die Erbauungskosten sollen 5-6 Mill. Frank betragen. Vgl. Schmidt, Vergleichende Darstellung der höchsten Denkmäler und Bauwerke (Berl. 1881); Sutter u. Schneider, Turmbuch (das. 1888).

Übersicht der höchsten Türme.

Paris: Eiffelturm 300 m.

Washington: Washingtondenkmal (projektiert) 175 m.

Köln: Dom 156 m.

Rouen: Kathedrale 151 m.

Ulm: (projektiert) Münster 151 m.

Hamburg: Nikolaikirche 147 m.

Reval: Olauskirche 145 m.

Hamburg: Michaeliskirche 143 m.

Rom: Peterskirche 143 m.

Straßburg: Münster 142 m.

Riga: St. Peter 140 m.

Pyramide des Cheops 137,2 m.

Wien: St. Stephan 136,7 m.

Pyramide des Chefren 136,4 m.

Hamburg: Petrikirche 134,5 m.

Landshut: Martinskirche 133 m.

Rostock: Petrikirche 132 m.

Amiens: Kathedrale 130 m.

Petersburg: Peter-Paulsk. 128 m.

Lübeck: Marienkirche 124 m.

Antwerpen: Dom 123 m.

Hamburg: Katharinenk. 122 m.

Freiburg i. Br.: Münster 122 m.

Brüssel: Justizpalast 122 m.

Salisbury: Kathedrale 122 m.

Brügge: Liebfrauenkirche 120 m.

Cremona: Torrazzo 120 m.

Paris: Notre Dame (proj.) 120 m.

Florenz: Dom 119 m.

Gent: Belfried 118 m.

Chartres: Kathedrale 115 m.

Brüssel: Rathaus 114 m.

Hamburg: Jakobikirche 114 m.

Lüneburg: Johanniskirche 113 m.

London: St. Paulskathedrale 111 m.

Sevilla: Giraldakirche 111 m.

Dschagaunath: Pagode 110 m.

Breslau: Elisabethkirche 108 m.

Brügge: Hallenturm 107,5 m.

Wien: Rathaus 107 m.

Bordeaux: St.-Michel 107 m.

Chartres: Kathedrale 106,50 m.

Mailand: Dom 105 m.

Groningen: Martinikirche 105 m.

Paris: Invalidendom 105 m.

Moskau: Erlöserkirche 105 m.

Magdeburg: Dom 103,6 m.

Utrecht: Dom 103 m.

London: Parlamentsgeb. 102 m.

Augsburg: Dom 102 m.

Petersburg: Isaakskirche 102 m.

Nördlingen: Georgskirche 102 m.

Brannschweig: Andreask. 101 m.

Dresden: Schloßturm 101 m.

München: Frauenkirche 99 m.

Berlin: Petrikirche 96 m.

Berlin: Rathaus 88 m.

Meißen: Dom 78 m.

Schiefe Türme oder Turmhelme verdanken ihre Abweichung von der lotrechten Stellung entweder einseitiger Senkung oder einer beabsichtigten Baukünstelei. Bei dem berühmten schiefen Glockenturm zu Pisa streitet man zur Zeit noch über den Grund der Abweichung seiner Achse vom Lot, während man z. B. den schiefen Turmhelm der Pfarrkirche in Gelnhausen als das Kunststück eines Zimmermeisters zu betrachten hat, da er nicht nur geneigt, sondern auch spiralförmig gewunden ist.

In der Kriegsbaukunst war der Gebrauch von Türmen schon bei den Alten und im Mittelalter an der äußern Seite der Stadtmauern in teils runder, teils viereckiger Gestalt zur Ermöglichung der Seitenverteidigung üblich. Der Hauptturm einer jeden Burg hieß Bergfried, bei den Burgen des Deutschen Ordens bildete ein T. (Danziger) ein vorgeschobenes Außenwerk. Nach Erfindung des Schießpulvers wurden sie enger mit den Mauern verbunden, und es entstanden aus ihnen die Bastione, während eigentliche Türme außer Gebrauch kamen. Erst später wandte sie Vauban unter dem Namen Bollwerkstürme wieder an. Montalembert verbesserte diese Türme und gab ihnen eine vielfach veränderte Gestalt. Sie sind kasemattiert und so eingerichtet, daß die innern Gewölbe nicht auf den äußern Umfassungsmauern, sondern auf innern Strebepfeilern ruhen und in bedeckten Geschützständen mehrere Reihen Geschütze übereinander stehen. Ähnlich eingerichtet sind die sogen. Martellotürme (s. d.) in England zur Küstenverteidigung. In neuester Zeit kommen Türme, mit Eisenpanzerung versehen und mit ihrem obern Teil auf einer Unterlage drehbar, bei Landbefestigungen, namentlich aber zum Küstenschutz und auf den Kriegsschiffen selbst vor. Vgl. Panzerungen.

Turma (lat., "Haufe, Trupp"), die kleinste taktische Abteilung in der Reiterei der alten Römer und ihrer Bundesgenossen, betrug bei den erstern 30, bei den letztern 60 Mann und hatte eine eigne Fahne.

Turmair, Johannes, s. Aventinus.

Turmalin (Schörl), Mineral aus der Ordnung der Silikate (Turmalingruppe), kristallisiert rhomboedrisch, ausgezeichnet hemimorphisch, meist mit vorwaltender, gewöhnlich stark gestreifter Säule. Er findet sich aber auch in derben, stängeligen (Stangenschörl) und faserigen, auch körnigen Varietäten; er ist selten farblos und durchsichtig, gewöhnlich grau, gelb, grün, blau (Indikolit), rot (Rubellit), braun oder schwarz (Schörl), glasglänzend, durchsichtig bis undurchsichtig, wird durch Reiben oder Erhitzen stark elektrisch (daher sein Name: Aschenzieher); Härte 7-7,5, spez. Gew. 2,94-3,21. Die chemische Zusammensetzung des T. ist eine äußerst komplizierte; nach Rammelsberg lassen sich indessen alle Varietäten als isomorphe Mengungen der Silikate R(I)6SiO5, R(II)3SiO5 und (R2)(IV)SiO5 [s. Bildansicht] auffassen, worin Kalium, Natrium, Lithium, auch Wasserstoff als einwertige, Magnesium, Eisen, Mangan und Calcium als zweiwertige Elemente, Aluminium, Bor und Eisen in sechswertigen Doppelatomen auftreten und ein Teil des Sauerstoffs durch Fluor ersetzt ist (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 17 u. 18). Von den Varietäten des T. findet sich der Schörl in vielen alten Silikatgesteinen (Granit, Gneis, Talk-, Chlorit- und Glimmerschiefer) sowie in Kalken und Dolomiten und bildet im grob- oder feinkörnigen Gemenge mit Quarz den Turmalinfels (Schörlfels), in lagenweiser Anordnung den Turmalinschiefer (Schörlschiefer). Hauptfundorte für große Kristalle sind der Hörlberg in Bayern, das Zillerthal und andre Orte in Tirol, Norwegen, für farblosen T. Elba, für Rubellit Elba und Rozna in Mähren; grüne, braune und doppelfarbige kommen von Penig in Sachsen, vom St. Gotthard, aus Kärnten, vom Ural, aus

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Turmalinfels - Turners Gelb.

Massachusetts, Maine etc., Indikolith von der Insel Utö in Schweden und aus Brasilien. T. dient als polarisierende Substanz in Polarisationsinstrumenten, namentlich den sogen. Turmalinzangen, und ist in einigen Varietäten (edler T.) ein geschätzter Edelstein. Im Handel heißen die roten Turmaline Rubellit, Sibirit oder sibirischer T., die blauen brasilischer T., die grünen brasilischer Smaragd, die gelblichgrünen ceylonischer Chrysolith.

Turmalinfels (Schörlfels), wenig verbreitetes Gestein, aus Quarz und schwarzem Turmalin (in Körnern oder Nadeln) gebildet. Gewöhnlich gleichzeitig mit turmalinführenden Graniten, selten (Cornwall, Eibenstock und im Erzgebirge) selbständig vorkommend, ist es teils dicht, teils körnig, teils schieferig (Turmalinschiefer).

Turmalinzange, s. Polarisationsapparate.

Turmberg, s. Karthaus.

Turmequé (spr. -ke), Stadt im Staat Boyacá der südamerikan. Republik Kolumbien, südlich von Tunja, 2720 m ü. M., mit (1870) 8182 Einw.

Turmero, Stadt in der Sektion Guzman Blanco des gleichnamigen Staats der Bundesrepublik Venezuela, in reizender Lage am gleichnamigen Fluß und am Fuß der Küstenkordillere, mit (1873) 6040 Einw.

Turmfalke, s. Falken, S. 10.

Turmforts, s. Panzerungen.

Türmitz, Stadt in der böhm. Bezirkshauptmannschaft Aussig, an der Biela und der Aussig-Teplitzer Eisenbahn gelegen, mit einem Schloß, (1880) 2547 Einw., einer Zuckerfabrik, Bierbrauerei, Chemikalienfabrik, Obst- und Weinbau und bedeutenden Braunkohlenwerken.

Turmkrähe, s. v. w. Dohle, s. Rabe.

Turmschiff, s. Panzerschiff, S. 661.

Turmschwalbe, s. Segler (Cypselus).

Turm- und Schwertorden, portugies. Orden, gestiftet 1459 von Alfonso V., erneuert 1808, und 1832 von Dom Pedro, Herzog von Braganza, vollständig neu organisiert unter dem Titel: "Der alte und sehr edle Orden vom Turm und Schwert für Tapferkeit, Ergebenheit und Verdienst". Die Grade sind: Großmeister, Großoffiziere, Großkreuze, Kommandeure, Offiziere und Ritter, deren Zahl unbestimmt ist. Der Orden wird verliehen für persönliches Verdienst, ausgezeichnete Thaten und bürgerliche Treue, ist aber auch durch Nachweis derselben Inländern und Ausländern zugänglich. Die Dekoration der Ritter besteht aus einem silbernen (höhere Grade goldenen), weiß emaillierten, fünfspitzigen Kreuz, auf dessen Mittelschild im Avers ein Schwert in einem Eichenkranz ruht, im Revers ein aufgeschlagenes Buch, links mit dem portugiesischen Wappen, rechts mit dem Titel der Konstitution, sich befindet, während auf dem blauen Ring vorn: "Valor, lealdade, merito", hinten: "Pelo Rei e pela lei" steht. Das Kreuz hat zwischen den zwei obern Armen einen Turm, an dem es hängt, und ist von einem Eichenkranz umgeben. Großkreuze und Komture tragen einen goldenen Stern mit dem Orden obenauf; die Ordenskette besteht aus den Türmen und Schwertern in Kränzen des Ordens, dessen Band dunkelblau ist. Ordenstag: der 29. April.

Turn (Dorne), Dichter, s. Reinbot von Turn.

Turnau, Stadt im nördlichen Böhmen, an der Iser und an der Pardubitz-Reichenberger Eisenbahn, in welche hier die Eisenbahn Prag-Kralup-T. einmündet, hat eine Dechantei- und eine gotische Marienkirche, ein Franziskanerkloster, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat eine Gewerbeschule für Edelsteinbearbeitung, Bierbrauerei, Mühlenbetrieb, Dampfsäge, Druckerei, Wachs- und Seilerwarenfabrikation, Schleiferei böhmischer Granate und andrer (echten und unechten) Edelsteine (früher viel bedeutender) und zählt (1880) 4948 Einw. Hier 26. Juni 1866 siegreiches Gefecht der Preußen gegen die Österreicher. In der durch ihre Sandsteinformation bemerkenswerten Umgebung sind die Kaltwasserheilanstalt Wartenberg, die Ruine Waldstein, Stammburg des berühmten Geschlechts, die Schlösser Großskal, Sichrow, Groß-Rohosetz mit Parkanlagen zu erwähnen.

Turnbulls Blau, s. Berliner Blau.

Turnen, s. Turnkunst.

Turner, 1) Sharon, engl. Geschichtschreiber, geb. 24. Sept. 1768 zu London, widmete als Advokat in seiner Vaterstadt seine Muße vorzüglich der Erforschung der Geschichte seines Vaterlandes und begründete seinen Ruf durch die "History of the Anglo-Saxons" (Lond. 1799 ff.; 7. Aufl. 1852, 3 Bde.). Es folgten: "History of England during the middle ages" (neue Ausg. 1853, 4 Bde.); "The history of the reign of Henry VIII." (neue Ausg. 1835, 2 Bde.); "Modern history of England" (1826 ff., 2 Bde.); "The history of the reigns of Edward VI., Mary and Elizabeth" (neue Ausg. 1854, 2 Bde.); "Sacred history of the world" (2. Aufl. 1848, 3 Bde.). T. starb 13. Febr. 1847 in London.

2) Joseph Mallord William, engl. Maler, geb. 23. April 1775 zu London, trat 1789 als Schüler in die königliche Akademie und erwarb sich durch seine Fluß- und Seelandschaften nach englischen Motiven, die zumeist von den Holländern, Claude Lorrain und Poussin beeinflußt waren, bald solchen Ruf, daß ihn die Akademie 1802 zu ihrem Mitglied ernannte. Durch wiederholte Studienreisen nach Schottland, Frankreich, der Schweiz, Italien und nach dem Rhein erweiterte er seinen Gesichtskreis. 1807 wurde er zum Professor der Perspektive an der Akademie ernannt, hielt aber nur wenige Jahre Vorlesungen. Er starb 19. Dez. 1851 in Chelsea. T. nimmt unter den englischen Landschaftsmalern eine der ersten Stellen ein. Obwohl seine Bilder, namentlich diejenigen seiner letzten Zeit, oft an Maßlosigkeit der Phantasie und Übertreibung im Kolorit leiden, besonders in den Lichtwirkungen, so sind sie doch nach Auffassung und Behandlung höchst originell. Außer Landschaften hat er auch Marine- und Historienbilder gemalt, und eine besondere Virtuosität entfaltete er im Aquarell. Eine reiche Sammlung seiner Gemälde (112) besitzt die Londoner Nationalgalerie, darunter seine Hauptwerke: Jason, die Schmiede, Apollo und Python, der Schiffbruch, Dido und Äneas, der Fall Karthagos, die Bai von Bajä, Odysseus verhöhnt den Polyphem, Hannibals Zug über die Alpen, der Pier von Calais. Eine Sammlung seiner Skizzen veröffentlichte er unter dem Titel: "Liber studiorum". Außerdem lieferte er Illustrationen zu den Gedichten von Byron, Campbell, Scott, Roger u. a. Von seinem großen Vermögen setzte er 200,000 Pfd. Sterl. zum Bau eines Asyls für arme Künstler aus. Vgl. Thornbury, Life of J. M. W. T. (neue Ausg. 1877, 2 Bde.); Dafforne, The works of J. M. W. T. (1878); Hamerton, T. (Par. 1889).

Turneraceen, dikotyle, etwa 100 Arten umfassende, vorzugsweise im tropischen Südamerika einheimische Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Passiflorinen, von den nächsten Verwandten durch gedrehte Knospenlage der Blumenblätter und den Mangel eines stielförmigen Fruchtknotenträgers unterschieden.

Turners Gelb, s. Bleichlorid.

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Turnhout - Turnkunst.

Turnhout (spr. törnhaut), Hauptstadt eines Arrondissements in der belg. Provinz Antwerpen, in der sogen. Campine, durch Eisenbahnen mit Tilburg und Lierre verbunden, hat ein altes, 1371 von Maria von Geldern erbautes Schloß (jetzt Justizpalast), eine höhere Knabenschule, ein Tribunal, lebhafte Industrie in Baumwolle, Leinwand, Spitzen, Papier, Branntwein etc., Färberei, Gerberei, Bleicherei, Handel nach den Niederlanden und (1888) 17,800 Einw. Hier 22. Jan. 1597 Sieg der Niederländer unter Moritz von Oranien über die Spanier und 27. Okt. 1789 Sieg der belgischen Insurgenten (Patrioten) über die Österreicher.

Turnier (Turnei, franz. Tournoi, lat. Torneamentum, Hastiludium), eine im 11. Jahrh. angeblich von dem französischen Ritter Godefroy de Preuilly erfundene Umgestaltung der bei allen kriegerischen Völkern nachweisbaren Waffenspiele. Während der Buhurt (s. d.) bloß die Gelegenheit bot, die Gewandtheit des Reiters zur Geltung zu bringen, in der Tjost (franz. joute, lat. justa, ital. giostra) nur zwei Gegner sich gegenüberstanden, die mit abgestumpften, oft aber auch mit scharfen Waffen miteinander kämpften, ist das T. ursprünglich das Abbild einer großen Reiterschlacht, vertritt gewissermaßen unsre Manöver. Vor Beginn des Turniers wurden die Scharen geteilt, so daß auf jeder Partei gleichviel Kämpfer sind. Schon den Tag vor dem Kampffpiel hatten die Ritter in der Tjost ihre Kräfte gemessen; das ist die Vesperie oder Vespereide. Das T. begann mit dem Speerkampf; jeder suchte seinen Gegner durch einen geschickten Stoß gegen das Kinnbein, gegen das Zentrum des Schildes (die vier Nägel) etc. aus dem Sattel zu heben. Zugleich aber manövrierte auch Schar gegen Schar unter Kommando ihrer Befehlshaber. Auch über diese Angriffsarten sind wir ziemlich unterrichtet. Waren die Speere verstochen, so wurde das Gefecht mit den Schwertern fortgesetzt, endlich durch Ringen der Kampf entschieden; daß einer unterlag und sich als Gefangener seinem Gegner ergab, das ist die Sicherheit, die Fîanze. Das Roß des Besiegten gehörte dem Sieger, der es von seinen Leuten in Sicherheit bringen ließ; ebenso nahm er den Harnisch und die Waffen in Anspruch und verlangte von seinem gefangenen Gegner auch noch ein angemessenes Lösegeld. So ist die Teilnahme an einem T. eine Art Glücksspiel: man konnte alles verlieren, aber auch viel gewinnen, und es gab deshalb damals schon Leute ("Glücksritter"), die aus reiner Gewinnsucht sich an Turnieren gewohnheitsmäßig beteiligten. Aber auch lebensgefährlich war das T.; zahllose Unglücksfälle haben sich bei ihnen ereignet, und deshalb erschien es durchaus gerechtfertigt, daß die Päpste Innocenz II., Eugen III., Alexander III. und Cölestin III. die Teilnahme an den Turnieren, freilich ohne jeden Erfolg, bei Strafe der Exkommunikation verboten. Damen haben wohl hin und wieder bei den Turnieren zugesehen, und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. mag auch zuweilen ein Preis dem hervorragendsten Ritter zuerkannt worden sein; aber alle diese Verschönerungen, die das T. zu einem höfischen Fest umgestalten, haben eigentlich mit der Hauptsache: den Rittern Gelegenheit zu geben, sich im Reitergefecht praktisch zu üben, nichts zu thun. Vgl. Niedner, Das deutsche T. des 12. und 13. Jahrhunderts (Berl. 1881); Reinh. Becker, Ritterliche Waffenspiele nach Ulrich v. Lichtenstein (Düren 1887); A. Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, Bd. 2, S. 106 ff. (2. Aufl., Leipz. 1889).

Die Geldgier der Ritter machte schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. die Turniere zu Schauplätzen der Roheit und der gemeinen Raubsucht. Im 14. Jahrh. wird das T. als ein adliges Vergnügen noch eifrig gepflegt, besonders war Johann von Luxemburg, der König von Böhmen, ein großer Freund dieser Leibesübung. Auch im 15. Jahrh. finden noch viele Turniere statt, aber es sind schon mehr bloße Schaustellungen von persönlicher Geschicklichkeit; den Charakter eines Reitermanövers haben sie verloren. In der Regel handelt es sich nur um einen Zweikampf, der auch bei den schweren Eisenrüstungen kaum mehr gefährlich ist, natürlich nur ganz kurze Zeit andauern konnte. Über die verschiedenen Arten des Turniers, das Stechen und Rennen, im hohen Zeug etc., hat Q. v. Leitner in der Einleitung seiner Ausgabe des "Freidal, des Kaisers Marimilian I. Turniere und Mummereien" (Wien 1880-82) wohl das Beste veröffentlicht. Die Ritter hatten sich im 15. Jahrh. zu Turniergesellschaften vereinigt, welche die neugeadelten Kaufleute von ihren Kampfspielen ausschlossen, über die Art des Turniers, die Ehrenhaftigkeit der Teilnehmer etc. Beschlüsse faßten. Diese Partie des ehedem so hochgeehrten Turnierbuchs von dem bayrischen Herold Georg Rüxner (2. Ausg. 1532) ist wohl unbedingt glaubwürdig. Kaiser Maximilian I. war ein eifriger Pfleger der Turnierkunst und hat sich um die Ausbildung derselben viele Verdienste erworben. Nach dem Tod Maximilians werden die Turniere seltener, und der Unglücksfall, der 1559 dem französischen König Heinrich II. das Leben kostete, brachte das eigentliche Waffenspiel immer mehr in Mißkredit. Statt des Turniers wird nun beliebt das ungefährliche Karussellreiten, das Ringelrennen, das Stechen nach der Quintane und wie alle diese Spiele heißen, die dem Reiter Gelegenheit boten, seine Kunst und Geschicklichkeit ins beste Licht zu setzen. Dabei konnte aller Prunk entfaltet werden, und so entsprach ein solches Fest allen Anforderengen, die man im 17. und 18. Jahrh. an höfische Vergnügungen stellte. Seit dem Tode des Königs August des Starken sind auch diese Leibesübungen in Vergessenheit gekommen, nur bei großen Hoffestlichkeiten werden von Zeit zu Zeit noch Schauspiele veranstaltet, die zwar als "Turniere" zuweilen bezeichnet werden, mit den mittelalterlichen Turnieren der ältern Zeit aber nichts als den Namen gemein haben.

Turnierkragen, s. Beizeiten.

Turnikett, s. v. w. Tourniquet.

Turnips, s. v. w. Wasserrübe, Brassica rapa rapifera (s. Raps); in einigen Gegenden s. v. w. Runkelrübe (s. d.).

Turnkunst (Turnen), die Kunst der Leibesübung (Gymnastik) in ihrer deutschen Entwickelungsform. Der Name stammt vom Turnvater Jahn, der ihn als einen vermeintlich echt deutschen dem altdeutschen turnan (drehen) entnahm, welches aber nur ein Lehnwort aus dem griechisch-lateinischen tornare (runden, drehen) ist, verwandt mit Turnier und Tour. Die T. umfaßt die Gesamtheit der bei uns einer geregelten Ausbildung des menschlichen Körpers um dieser selbst willen dienenden Leibesübungen, bietet so aber auch die Grundlage für die bestimmten Zwecken dienenden leiblichen Fertigkeiten, wie z. B. für den Tanz und die militärischen Bewegungsformen, für Fechten und Reiten, schließt aber solche nicht schon in sich. Sie ist somit als allgemein vorbildend ein wesentlicher Teil der Erziehung und eine Pflicht der letztern insofern, als ihr die Ausbildung der menschlichen Kräfte innerhalb der Grenzen eines harmoni-

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Turnkunst (geschichtliche Entwickelung in Deutschland).

schen Zusammenwirkens derselben obliegt. Durch letzteres unterscheidet sie sich von der die leibliche Kraft und Gewandtheit ausschließlich und berufsmäßig ausbildenden Athletik wie von dem nur einzelne Fertigkeiten pflegenden Sporte. Die T. hat mit ihrem Einfluß auf die Funktionen der Leibesorgane eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit, sowohl durch Bewegung, Kräftigung und Abhärtung Krankheit verhütend als eingetretenen Störungen des Organismus entgegenwirkend. Das Turnwesen bildet somit einen wichtigen Teil der auf Volksgesundheitspflege gerichteten Bestrebungen. Da nun aber Leib und Geist als Teile desselben Organismus in steter Wechselwirkung stehen, so wird die leibliche Ausbildung zur Pflicht nicht nur um des Leibes willen, sondern die T. kann und will auch an ihrem Teil geistige Frische und Rüstigkeit, Selbstvertrauen in die Leibeskräfte, männliche Wehrhaftigkeit, sittliche Beherrschung des Leibes mit fördern helfen. Auf den Namen einer Kunst hat die T. nur in bedingter Weise, aber insofern Anspruch, als sie, wie die Baukunst und andres Kunsthandwerk, bei der Ausführung ihrer einem praktischen Zweck dienenden Übungen nach Schönheit der Form strebt. Auch werden manche ihrer reigenartigen Gebilde in den Ordnungsübungen, gewissen Formen der Tanzkunst verwandt, oft nur um der Gestaltung wohlgefälliger Formen willen geschaffen. Für den Zusammenhang der T. mit geistigen Bestrebungen ist bezeichnend, daß, wie die griechische Gymnastik sich bei dem geistig am höchsten und vielseiligsten entwickelten Volk des Altertums findet, so auch die T. einer Zeit voll höchster geistiger Regsamkeit und begeisterten patriotischen Aufschwunges ihren Anstoß verdankt, und daß auch ihre weitern Schicksale mit den Wandlungen unsers nationalen Geisteslebens engen Zusammenhang zeigen.

[Geschichte.] Das Leben setzt in jeder Form ein gewisses Maß leiblicher Fertigkeit und Übung voraus, und wenn man von mönchisch-asketischen, auf Ertötung des Leiblich-Sinnlichen gerichteten Bestrebungen absieht, konnte der Nutzen leiblicher Kraft und Gewandtheit kaum irgendwo verkannt werden, ja vielmehr hat sich die Lust an leiblicher Regung, in welcher Form es auch sei, noch zu allen Zeiten geltend gemacht. Daher finden sich auch in Deutschland seit der Zeit des Mittelalters, wo die Bewegungslust mit dem Waffenhandwerk den Bund zu ritterlichem Kampf- und Turnierwesen eingegangen war, mannigfache Leibesübungen in den verschiedenen Kreisen unsers Volkslebens, an welche vielfach dann die T. nur anzuknüpfen brauchte (vgl. Gymnastik); so einmal als eine Art Nachklang jener ritterlichen Zeit die Fechtkünste und das Voltigieren (s. d.) am lebenden oder am nachgebildeten Pferd, wie besonders an Universitäten und adligen Schulen; ferner die mehr allgemein als Jugendspiele oder gelegentliche Volksbelustigungen auftretenden Ballspiele (s. d.), das Ringen (s. d.), Wettlaufen, Klettern u. a.; endlich besondere Fertigkeiten, wie Schwimmen, Schlittschuhlaufen und die mancherlei Schießübungen mit Armbrust und Feuergewehr. Der Leibesausbildung um ihrer selbst willen redeten zuerst wieder Vertreter der in der Zeit vor der Reformation erwachenden humanistischen Studien das Wort, die ja auch in dieser Hinsicht auf das Vorbild des klassischen Altertums hinweisen konnten; ein Zeugnis solcher Bestrebungen ist das Buch des italienischen Arztes Hieron. Mercurialis: "De arte gymnastica" (2. Aufl. 1573). Daß man seitdem besonders um der Erziehung willen Leibesübungen befürwortete, ihre Vernachlässigung beklagte, hier und da auch zu einem Versuch leiblicher Schulung Hand anlegte, dafür sind Aussprüche und Lehren von Männern wie Luther, Zwingli, Camerarius und Comenius am bezeichnendsten. Auch von seiten der realistischen philosophischen Betrachtung kam man wegen der Wirkung des Sinnlichen auf das Geistige zu der Forderung einer geregelten Leibeserziehung, wie besonders Locke in seinen "Gedanken über Erziehung" (1693) als höchstes Ziel der Erziehung den gesunden Geist im gesunden Körper hinstellte. Mit noch größerm Nachdruck und weit allgemeinerer Wirkung besonders auf das deutsche Erziehungswesen erhob dieselbe Forderung J. J. Rousseau (s. d.) in seinem epochemachenden Erziehungsroman "Émile" (1762), der ein Ideal naturgemäßer Erziehung geben sollte gegenüber der unnaturlich künstelnden Erziehung seiner Zeit. Zum Teil unter dem Eindruck Rousseauscher Ideen und selbst wieder weitern Kreisen Anregung gebend, machte in Deutschland Basedow in der 1774 zu Dessau ins Leben gerufenen, Philanthropin genannten Erziehungsanstalt auch zuerst den Versuch einer geregelten Leibesausbildung, zu der er den Stoff teils aus den an den Ritterakademien dauernd in Pflege erhaltenen Künsten des Tanzens, Fechtens, Reitens und Pferdspringens, teils auf Anregung seines Gehilfen Joh. Friedr. Simon der griechischen Gymnastik in den Übungen des Laufens, Springens u. a., teils aus militärischen Bewegungsformen entnahm. Von hier übertrug diese Übungen Salzmann in die von ihm 1784 zu Schnepfenthal gegründete Erziehungsanstalt, in welcher die Leibesübungen seit 1786 mit größter Sorgfalt und nachhaltigster Wirkung J. Chr. Guts Muths (s. d.) leitete, welchem außerdem das große Verdienst gebührt, in seiner zuerst 1793 erschienenen "Gymnastik für die Jugend" öffentlich nicht nur als ein begeisterter Fürsprecher der Leibesübungen aufgetreten zu sein, sondern auch besonders den von ihm in emsigem Nachforschen und Prüfen stark erweiterten und geordneten Übungsstoff weitern Kreisen erschlossen zu haben. Zu gleicher Zeit gab G. U. A. Vieth in Dessau (1763-1836) in seinem "Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen" (Tl. 1 u. 2, 1794-95; Tl. 3 mit Nachträgen, 1818) sowohl eine Übersicht der Leibesübungen vieler Völker aus alter und neuer Zeit als auch den ersten Versuch einer systematischen Einteilung der Leibesübungen. Auch Pestalozzi stellte sich seit 1807 in der Schweiz die Aufgabe, Leibesübungen nach einem der Bewegungsfähigkeit der Körperteile folgenden systematischen Plan zu erfinden und zu üben. Der sogen. Tugendbund (s. d.) machte 1809 den ersten Versuch mit Einrichtung eines öffentlichen Turnplatzes zu Braunsberg. Während aber die bisher angegebenen Anregungen nur zu ganz vereinzelter Einführung der Leibesübungen und meist an geschlossenen Erziehungsanstalten geführt hatten, war es das Verdienst von F. L. Jahn (s. d.), mit dem nach Deutschlands tiefer Erniedrigung in den Napoleonischen Kriegen zumal in Preußen erwachenden ernsten Streben nach einer Wiedergeburt unsers Volks- und Staatslebens und unsrer Wehrkraft, wie es sich besonders in Arndts "Geist der Zeit", in Fichtes "Reden an die deutsche Nation", in Jahns "Volkstum", in Steins Reformen und in den Gneisenau-Scharnhorstschen Plänen zur Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht zeigte, den lauten Ruf nach einer "volkstümlichen" Leibeskunst zu verbinden und mit Einsetzung seiner ganzen kraftvollen, jugendliche Begeisterung weckenden Persönlichkeit in Berlin dieser "T." die erste öffentliche Stätte zu bereiten. Im

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Turnkunst (Bankanstalten, Unterricht).

Frühjahr 1811 wurde von ihm der Turnplatz in der Hasenheide bei Berlin eröffnet, von dem aus durch seine Schüler die Keime einer wirklich jugendfrischen, die Knaben in ihrer Vollkraft packenden Leibeskunst bald auch nach andern Orten Deutschlands, insbesondere an die Hochschulen Halle, Jena und Breslau, verpflanzt wurden. Nachdem das Treiben auf dem Turnplatz natürlich durch die Unruhe der folgenden Kriegsjahre beschränkt worden, auch manche der eifrigsten Jünger der Turnsache, wie besonders Friedr. Friesen (s. d.), im Feld geblieben waren, wurde die Sache mit erneutem Eifer und größerer Vertiefung und Sichtung des Übungsstoffes wieder aufgegriffen. Den letztern durch Einführung von reicher Ausnutzung fähigen Geräten, wie des Recks und des Barrens, erweitert und über das Gebiet der einfachen volksüblichen Übungen noch mehr erhoben zu haben, ist neben seiner Sorge für die sprachliche Bezeichnung (s. unten) Jahns entscheidendes technisches Verdienst um die T. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind von ihm in der 1816 mit seinem Schüler E. Eiselen zusammen herausgegebenen "Deutschen T." niedergelegt. Die in dieser Zelt im Gegensatz zu der erwarteten freiheitlichen Gestaltung unsers Staatslebens eintretende Reaktion glaubte natürlich gegen die mit freiheitlichen und nationalen Ideen erfüllten, dazu allerdings hier und da auch ungebundenes und ungeschlachtet, renommistisches Wesen zur Schau tragenden Jahnschen Turnerscharen besonderes Mißtrauen hegen zu müssen. Die Schattenseiten des turnerischen Treibens und das unreife Gebaren von Mitgliedern der mit der Turnerei enge Fühlung unterhaltenden Burschenschaften auf dem Wartburgsest (18. Okt. 1817) veranlaßten zunächst die litterarische Breslauer Turnfehde, die besonders durch Henrich Steffens (s. d.) und K. A. Menzel auf gegnerischer Seite, auf turnerischer geführt ward von Franz Passow, Chr. W. Harnisch (s. d.) und dem Hauptmann W. v. Schmeling, dem Verfasser von "Die Landwehr, gegründet auf die T." Nach Kotzebues Ermordung durch den Burschenschafter und Turner Sand (1819) folgte die Schließung sämtlicher (über 80) preußischen, bald auch der meisten andern deutschen Turnplätze und Jahns Verhaftung. Nun wurde zwar auch während dieser Zeit der sogen. Turnsperre an nicht wenigen Orten fortgeturnt, und namentlich hatte Ernst Eiselen (s. d.) Verdienste um die dauernde Pflege und innere Weiterbildung der T., desgleichen Klumpp in Stuttgart, H. F. Maßmann (s. d.) in München; der eigentliche Lebensnerv war aber der Sache durch den Ausschluß der Öffentlichkeit und Jahns erzwungene Fernhaltung unterbunden. Erst der durch Ignaz Lorinsers (s. d.) Schrift "Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen" hervorgerufene Schulstreit über die körperliche Schädigung der Jugend durch den Schulunterricht, ferner die Erweckung des deutschen Nationalgefühls durch die französischen Rheingrenzgelüste im J. 1840 und der gleichzeitige Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. brachten für die Turnsache wieder bessere Zeiten; durch die Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurden die Leibesübungen als ein "notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung" anerkannt und 1843 Maßmann behufs Einrichtung des Turnunterrichts im preußischen Staat nach Berlin berufen. Während jedoch letzterer an die Überlieferungen des Jahnschen, eine gemeinsame Beteiligung von jung und alt auf den Turnplätzen voraussehenden, also Schul- und Vereinsturnen noch nicht scheidenden Turnbetriebs enger anknüpfte, als es sich mit der Aufgabe einer allgemeinen Einführung des Turnens an den Schulen vertrug, war mittlerweile durch Adolf Spieß (s. d.), welcher die Gebiete der Frei- und Ordnungsübungen erschlossen, den turnerischen Übungssteff systematisch gegliedert und mit Rücksicht auf das Schulturnen beider Geschlechter reich entwickelt hatte, der T. die nötige Ergänzung zu teil geworden, um als Schulunterrichtsfach allgemein zur Einführung gelangen zu können.

[Bilduugsanstalten. Unterricht.] Für die weitere Entwickelung des Schulturnens und die methodische Verarbeitung des Übungsstoffes war nicht ohne Bedeutung die Gründung von Turnlehrerbildungsanstalten, wie der zu Dresden (1850) unter dem auch als fruchtbarer Turnschriftsteller wirkenden Moritz Kloss (gest. 1881, seitdem unter Bier) und der preußischen Zentralturnanstalt zu Berlin. Die letztere, die 1851-77 die Abteilungen für die Ausbildung von Militär- und Zivilturnlehrern vereinigte, suchte unter Rothsteins (s. d.) Oberleitung (bis 1863) die auf Lings (s. d.) System beruhende, sogen. schwedische Gymnastik zur Einführung zu bringen, die aber von seiten der deutschen T. entschieden und erfolgreich bekämpft wurde und auch mehr und mehr dem deutschen Turnen Platz machte, in der Zivilabteilung, die 1877 in eine selbständige Turnlehrerbildungsanstalt umgewandelt wurde, unter Karl Eulers (s. d.) Vermittelung. Für Württemberg besteht eine Turnlehrerbildungsanstalt seit 1862 in Stuttgart unter Otto Jäger (s. d.), der ein eignes Turnsystem eingeführt hat, für Baden seit 1869 in Karlsruhe unter Maul (s. d.), für Bayern in München seit 1872 unter Weber. Auch für Turnlehrerinnen bieten die meisten der gedachten Anstalten neuerdings entsprechende Ausbildungsgelegenheit. In einzelnen kleinern deutschen Staaten werden Turnlehrerausbildungskurse von Zeit zu Zeit durch geeignete Kräfte abgehalten. - Auch die Turnlehrerversammlungen, deren seit 1861 an verschiedenen Orten zehn stattgefunden, haben durch Vorträge, Verhandlungen und Vorführungen zur Förderung des Turnunterrichts und Klärung der für ihn geltenden Grundsätze beigetragen.

Der Turnunterricht ist jetzt in Deutschland an den höhern Schulen und den Seminaren so gut wie allgemein, wenn auch an vielen Orten noch in unzulänglicher Form, eingeführt; auch für die Knabenvolksschulen ist er in den meisten Staaten, in Preußen seit 1862, in Baden seit 1868, in Sachsen seit 1873, in Württemberg seit 1883, gesetzlich zur Pflicht gemacht, läßt aber hier noch vieles, an den Landschulen vielerorts noch so gut wie alles zu wünschen übrig. Mit dem Turnunterricht an Mädchenschulen ist man bisher meist nur in Städten vorgegangen. In der Regel beschränkt sich die Einführung des Schulturnens auf zwei wöchentliche Unterrichtsstunden, und selbst diese können wegen Mangels geeigneter Winterturnräume noch nicht überall das ganze Jahr hindurch fortgesetzt werden. Schulneubauten in Städten erhalten jetzt in der Regel eigne Schulturnhallen. Außer dem Schulturnen werden auch an nicht wenigen Orten noch Turnspiele gepflegt, besonders seit dem dahin gehenden Erlaß des preußischen Ministers v. Goßler vom Oktober 1882. Eine Übersicht über die Entwickelung des Turnunterrichts und seinen Stand um das Jahr 1870 gibt die "Statistik des Schulturnens in Deutschland", hrsg. von I. K. Lion (Leipz. 1873); vgl. Pawel, Kurzer Abriß der Entwickelungsgeschichte des deutschen Schulturnens (Hof 1885). Vgl. auch Euler und Eckler, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in

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Turnkunst (Vereine; das Turnen außerhalb Deutschlands).

Preußen betreffend (Leipz. 1869); Rud. Lion, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in Bayern betreffend (2. Aufl., Hof 1884). - In der preußischen Armee wurde das Turnen durch die "Instruktion für den Betrieb der Gymnastik und des Bajonettfechtens bei der Infanterie" von 1860 als den übrigen Dienstzweigen gleichtrechtigt anerkannt und geregelt. An die Stelle dieser seit 1871 für das ganze deutsche Heer maßgebenden Instruktion traten 1876 die "Vorschriften über das Turnen der Infanterie", die 1886 in veränderter Form erschienen. Entsprechend traten an die Stelle der "Instruktion für den Betrieb der Gymnastik bei den Truppen zu Pferde" vom Jahr 1869 die "Vorschriften über das Turnen der Truppen zu Pferde" vom Jahr 1878.

[Vereine.] Auch das Vereinsturnwesen hat seit den 40er Jahren mehr und mehr an Boden gewonnen, am raschesten in Sachsen, am Mittelrhein und in Württemberg; dasselbe ist auch auf die Einführung des Jugendturnens wie auf die technische Gestaltung des Turnbetriebs von großem Einfluß gewesen. Besondere Anregung für die Vereinsbildung gab, nachdem auch hierin nach 1848 ein Rückschlag eingetreten, der Aufschwung unsers Nationalgefühls im Jahr 1859; die deutschen Turnfeste zu Koburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) gaben unter steigender Beteiligung und Begeisterung dem neuerwachten turnerischen Leben Ausdruck und neue Anregung. Die Anzahl der Vereine war von kaum 100, die sich bis 1859 erhalten hatten, bis 1864 auf 1934 mit gegen 200,000 Angehörigen gestiegen. Die Kriege der nächstfolgenden Zeit wirkten auf die Vereinsthätigkeit hemmend; doch war, während die Statistik von 1869 nur noch gegen 1550 Vereine aufwies, deren Anzahl schon 1876 wieder auf 1789 mit gegen 160,000 Mitgliedern gestiegen und betrug nach stetigem Wachstum 1889 an etwa 3600 Orten 4300 mit gegen 370,000 Mitgliedern über 14 Jahre, darunter 50,000 Zöglinge. An Turnübungen nahmen teil 190,000 unter 18,600 Vorturnern und zwar auch im Winter aus 3400 Vereinen; eigne Turnplätze besitzen 512, eigne Turnhallen 238 Vereine. (Vgl. die "Statistischen Jahrbücher der Turnvereine Deutschlands" von G. Hirth 1863 u. 1865, das dritte "Statistische Jahrbuch" von Goetz und Böhme 1871 und "Turnzeitung" 1889, Nr. 27.) Die große Masse dieser Vereine (zur Zeit 3850) bildet, nachdem sie von 1860 an durch einen ständigen Ausschuß vertreten war, seit 1868 die Deutsche Turnerschaft, deren Grundgesetz 1875 neugestaltet, 1883 und 1887 revidiert worden ist. Dieselbe ist in 17 Kreise geteilt: Kreis I umfaßt den Nordosten, II Schlesien und Südposen, IIIa Pommern, IIIb die Mark, IIIc die Provinz Sachsen, IV den Norden, V Niederweser und Ems, VI Hannover, VII Oberweser, VIII Niederrhein und Westfalen, IX Mittelrhein, X Oberrhein, XI Schwaben, XII Bayern, XIII Thüringen, XIV das Königreich Sachsen, XV Deutsch-Österreich. Jeder dieser Kreise ist in sich besonders organisiert, in Gaue gegliedert und hat an seiner Spitze einen Kreisvertreter. Letztere bilden mit fünf vom Turntag zu wählenden Mitgliedern den Ausschuß der Deutschen Turnerschaft. An der Spitze des letztern stand von 1861 bis 1887 Theodor Georgii (Rechtsanwalt in Eßlingen, geb. 1826 daselbst u. wohlverdient besonders um das schwäbische Turnwesen; vgl. seine "Aufsätze und Gedichte", hrsg. von I. K. Lion, Hof 1885); ihm folgte A. Maul (s. d.). Geschäftsführer der Deutschen Turnerschaft ist seit 1861 der um die deutsche Turnsache hochverdiente Dr. med. Ferd. Goetz (geb. 1826 zu Leipzig, praktischer Arzt in Lindenau, seit 1887 Abgeordneter zum deutschen Reichstag; vgl. seine "Aufsätze und Gedichte", Hof 1885). Aus den Abgeordneten der Deutschen Turnerschaft (auf je 1500 Turner einer) werden die in der Regel alle vier Jahre abgehaltenen Turntage gebildet. Die Turnfestordnung enthält insbesondere die Bestimmungen der Wettturnordnung (s. d.). Weiteres über die Organisation der Deutschen Turnerschaft s. Goetz, Handbuch der Deutschen Turnerschaft (3. Ausg., Hof 1888). Das vierte deutsche Turnfest hat 1872 in Bonn stattgefunden, das fünfte 1880 in Frankfurt, das sechste 1885 in Dresden, die letztern beiden von 9800, resp. 18,000 Turnern besucht und große Fortschritte in den vorgeführten Leistungen aufweisend. Das siebente, 1889 in München abgehaltene war von 21,000 Turnern besucht.

Leibesübungen außerhalb Deutschlands.

Die Wiederbelebung der Gymnastik in der deutschen T. hat auch den meisten Kulturländern außerhalb Deutschlands zu geregelter Pflege der Leibesübungen die Anregung und vielfach auch den Stoff gegeben; insbesondere sind der Aufschwung des deutschen Vereins- und Schulturnens seit dem Jahr 1859 sowie Deutschlands Kriegserfolge in den darauf folgenden Jahren, vielfach auch die Gründung von Turnvereinen durch Deutsche im Ausland die Veranlassung gewesen, sich in Förderung und Betrieb von Leibesübungen mehr oder minder eng an das Vorbild des deutschen Turnens anzuschließen. Schon die Wirksamkeit von Guts Muths hat im Ausland kaum weniger Nachfolge gefunden als bei uns. So haben vor allem in Dänemark die Leibesübungen nach seinem Vorbild durch F. Nachtegall früh Eingang und seitdem in Schule und Heer, weniger im Vereinsturnen, Verbreitung gefunden. Schon 1827 wurde hier Turnunterricht für alle Knabenschulen vorgeschrieben. Auf in Dänemark erhaltenen Anregungen fußend, hat in Schweden P. H. Ling (s. d.) ein eignes System der Gymnastik aufgestellt, das bei uns so genannte schwedische Turnen, aber im Gegensatz zu der aus lebendiger Praxis herausgewachsenen deutschen T. auf Grund von dürren, scheinwissenschaftlichen anatomischen und physiologischen Spekulationen. Dasselbe hat, abgesehen von seiner Verwendung als Heilgymnastik (s. d.), außer Schweden vorübergehend durch Rothstein (s. d. und oben) in Preußen Eingang gefunden. An den Schulen Schwedens, wenigstens den höhern, werden jetzt die Leibesübungen, und zwar nicht mehr in der vollen Einseitigkeit des Lingschen Systems, in ausreichenderer Zeit gepflegt als in Deutschland; auch werden sie hier und in Norwegen durch Vereine (in Schweden i. J. 1885: 46 mit 2500 Mitgliedern) betrieben. Am unmittelbarsten ist mit der Entwickelung der deutschen T. außer den Erziehungsanstalten der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands das Turnwesen Österreichs und der Schweiz Hand in Hand gegangen. In den deutschen Ländern Österreichs, vor allen in Siebenbürgen, wurde das Turnen nach den Befreiungskriegen vereinzelt in Schulen und Vereinen gepflegt; das Mißtrauen der Behörden wich auch hier nach 1848 allmählich einer wohlwollenden Duldung, bis der Turnunterricht seit 1869 an allen Knabenvolksschulen, fast allgemein an den Realanstalten und zumeist an den Gymnasien gesetzlich eingeführt wurde. Dies war auch hier wesentlich mit eine Folge großer Verbreitung und rühriger Thätigkeit der Turnvereine seit 1860. Letztere blieben mit der deutschen Turnerschaft (als deren XV. Kreis, s. oben) dauernd

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Turnkunst (Turngeräte).

in Verbindung und beteiligen sich an ihren Festen. Auch ohne solche Gemeinsamkeit der Vereinsorganisation hat das Turnwesen der Schweiz schon durch Wirken von Männern wie Spieß und Maul (s. d.) enge Fühlung mit dem deutschen behalten. Auch hier liegen die Keime der spätern Entwickelung, abgesehen von der Thätigkeit des durch Guts Muths angeregten Offiziers Phokion Heinrich Clias (Käslin; geb. 1782, gest. 1854), hauptsächlich im Vereinsturnen, besonders an den Hochschulen deutschen Stammes, und schon 1832 wurde ein Eidgenössischer Turnverein gebildet, der in "Sektionen" (1886: 122 mit 6000 Mitgliedern; außerdem noch viele freie Vereine) zerfällt und seit 1873 alle zwei Jahre (früher alljährlich) das eidgenössische Turnfest feiert, in dessen Wettkämpfe schon 1855 auch die in der Schweiz seit langem volkstümlichen Künste des Schwingens, Ringens (s. d.), Steinstoßens u. a. mit aufgenommen wurden (vgl. Niggeler, Geschichte des Eidgenössischen Turnvereins, Bern 1882). Auch das Schulturnen der Schweiz ist infolge des Wirkens trefflicher Turnlehrer, wie Iselin, Niggeler, Jenny, dem deutschen entsprechend fortgeschritten. In einigen größern Städten gehen neben ihm noch die auf unmittelbare militärische Jugenderziehung abzielenden sogen. Kadettenkorps her (s. Jugendwehren); auf dem Land ist es vor allem um der Vorbildung für das Milizsystem willen nach der "Turnschule für den militärischen Vorunterricht" zur Einführung gekommen. Aus der Schweiz wurde die T., und zwar wesentlich auf Grund der Betriebsweise von Spieß, nach Italien, wo schon vorher Guts Muthssche Anregungen gefruchtet hatten, verpflanzt durch Rud. Obermann, der (geb. 1812 zu Zürich, gest. 1869 in Turin) 1833 nach Turin berufen wurde zur Einführung der Gymnastik in das sardinische Heer, doch auch den Anstoß gab zur Verbreitung desselben in Schulen und Vereinen, hierbei insbesondere unterstützt durch den Grafen Ernesto Ricardi di Netro. 1883 gab es 143 zu mehreren Bünden vereinigte Vereine mit 17,000 Mitgliedern. Für die höhern Schulen wurde das Turnen 1861 als freies, für fast alle Schulen 1878 als Pflichtfach erklärt und kommt allmählich zur Durchführung. Seit 1863 gibt es eine Turnlehrerbildungsanstalt in Turin, seit 1888 in Rom. In den Gymnasien Griechenlands ist teils gymnastischer, teils militärischer Unterricht durch Verfügung von 1862 und Gesetz von 1883 zur Einführung gekommen und in Athen eine Turnlehrerbildungsanstalt errichtet worden. In Erneuerung der Olympischen Spiele werden hier auch volkstümliche Wettkämpfe abgehalten. In Belgien und Holland sind nach schwachen Anfängen in den 30er Jahren seit 1860 sowohl zahlreiche Vereine entstanden mit einer der deutschen T. entlehnten Betriebsweise als auch ein entsprechendes Schulturnen. In Belgien umfaßte die Fédération belge de gymnastique 1888: 70 Vereine mit etwa 7000 Angehörigen. In Holland gab es in demselben Jahr 230 Vereine, von denen 120 dem Nederlandsch Gymnastik Verbond angehörten. Hier sind auch Vereine für allerlei Sport stark vertreten. Letzterer beherrscht in England noch so sehr das Feld mit der Pflege von angewandten Fertigkeiten, wie Rudern, Boxen, und von Ballspielen, daß die allgemeine Gymnastik hier außer dem Heer, in das sie schon 1822-28 Clias (s. oben) einführte, und den von Deutschen gegründeten Vereinen noch nicht viel Boden gewonnen hat. Auch Sport und Spiele werden fast nur von der wohlhabenden Minderheit gepflegt. In Frankreich haben sich gymnastische Übungen, besonders durch die Thätigkeit des von Pestalozzi und Guts Muths angeregten Spaniers Amoros (1770-1847), in erster Linie in der Armee Eingang verschafft und sind auch seitdem hauptsächlich als ein wichtiger Zweig der militärischen Vorbildung in und außer dem Heer gepflegt worden. Einen noch engern Anschluß der leiblichen Jugendbildung an das Heerwesen veranlaßten die Erfuhrungen von 1870/71 in Form der Schülerbataillone, die aber auch hier mehr und mehr Gegner finden und einer allgemeinen Gymnastik weichen. Seit 1880 ist der gymnastische Unterricht an sämtlichen Knabenschulen gesetzlich zur Pflicht gemacht. Die Militärturnschule zu Joinville le Pont dient auch zur Ausbildung für Schulturnlehrer. Die von der deutschen T. eingeführten Geräte, wie Reck und Barren, sind auch hier in Benutzung. Vereine entstanden in geringerer Zahl in den 60er Jahren, in größerer seit 1871, so daß im J. 1886 gegen 600 Vereine (mit 20,000 Mitgliedern) bestanden, von denen die Union fédérale des sociétés de gymnastique de France 171 umfaßte. Die Gründung von Turnvereinen in überseeischen Ländern ist in der Regel durch Deutsche erfolgt. Am ausgebreiteten ist das Turnvereinswesen der Vereinigten Staaten, wohin unter andern Schüler Jahns, wie Franz Lieber und Karl Follen (s. d.), die T. übertrugen, und wo der Nordamerikanische Turnerbund 1888 über 250 Vereine mit 30,000 Mitgliedern umfaßte und zeitweise ein Turnlehrerseminar, zuletzt in Milwaukee unter Brosius, bestand.

Turngeräte. Übungsgebiet.

Während die hellenische Gymnastik (s. d.) zu ihren Übungen außer dem Diskus, dem Wurfspeer, den Halteren und Bällen fast kein Gerät brauchte, sehen wir die neuere Kunst der Leibesübung von vornherein darauf bedacht, für ihre Übungen, die planmäßig den Leib schulen, nicht nur im Wettkampf gipfeln und auch in geschlossenen Räumen betrieben werden sollen, Geräte in ihren Dienst zu nehmen oder zu erfinden. So wurde das Springen und Schwingen (Voltigieren, s. d.) am künstlichen Pferd (s. d.) schon von Basedow (im Anschluß an den Reitunterricht der Zöglinge) und dann auch von Guts Muths und Jahn aus den Fechtböden und Reitschulen herübergenommen, Basedow verwendete außerdem den Schwebebalken (Balancierbalken), einen Springel zur Messung von Hochsprüngen, Stäbe zum Stangenspringen, Sandsäcke zur Belastung u. a. Bei Guts Muths finden wir auch Vorrichtungen zu Weit- und Tiefsprung und ferner vor allem ein Gerüst mit Mastbaum, Leitern, Strickleitern, Kletterstangen, einen schräg ansteigenden Querbalken und Seile zum Ziehen, Schwingen und Springen u. a. Die der vielseitigsten Verwendung fähigen Geräte Reck und Barren und außerdem den Pfahl zum Gerwerfen fügte Jahn hinzu. Bei Clias findet sich um dieselbe Zeit (1816) auch der Triangel (Trapez, Schaukelreck) und ein Klettertau mit Sprossen in großen Abständen. Bei Eiselen begegnen uns zuerst der Bock (Springbock), die sogen. Streckschaukel (die sogen. römischen Ringe), der Rundlauf, das Sturmlaufbrett, die wagerechte Leiter, die Wippe und die wohl schon von Jahn eingeführten Hanteln. Den schon von Eiselen benutzten kurzen Stab (Windestab) verwendete als Eisenstab (Wurfstab) besonders Jäger. Lion verwendete zuerst den kurzen und den dreiholmigen Barren und Gerätverbindungen, wie das Kreuzreck, das Doppelreck (mit zwei Stangen untereinander), den hohen Barren (mit zwei Stangen nebeneinander). Die Militärgymnastik führte an Stelle des Recks den Querbaum ein, an

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Turnkunst (Frei-, Ordnungs-, Gerätübungen; Vereins- u. Schulturnen etc.).

Stelle des Pferdes den Kasten (s. Tisch), der seit 1881 wieder abgeschafft ist, und die Hindernisbahn mit dem Eskaladiergerüst. Über den seit Jahn vielfach vervollkommten Bau der Turngeräte und die Einrichtung von Turnräumen vgl. Lion, Werkzeichnungen von Turngeräten (3. Aufl., Hof 1883); Euler und Kluge, Turngeräte und Turneinrichtungen (Berl. 1872); W. Angerstein, Anleitung zur Einrichtung von Turnanstalten (das. 1863).

Das Übungsgebiet der T. umfaßt Übungen ohne Geräte und Übungen mit oder an solchen. Die erstern beschränken sich aus die Ausnutzung der Bewegungsfähigkeit des Leibes in sich oder mit andern, im erstern Fall als sogen. Freiübungen (s. d.) die einfachen oder miteinander verbundenen Gliederbewegungen im Stehen, Gehen, Laufen, Hüpfen und Springen umfassend, im letztern Fall Ordnungsübungen (s. d.) genannt, welche die Aufstellungen, Gliederungen und Bewegungen einer Mehrzahl von Übenden lehren und sich mit den militärischen (taktischen) Formen des Exerzierens oder denen des Tanzes berühren. Beide, insbesondere die letztern, können ihres rhythmischen Gehalts wegen mit Gesang oder Musikbegleitung in Verbindung treten. Hier reihen sich dann die Bewegungsspiele an, welche die T. mit in ihren Bereich gezogen hat (vgl. Spiel), ferner das Ringen (s. d.) und Boxen und auch die Turnfahrten genannten Dauermärsche. Die Gerätübungen sind einmal solche, bei denen das Gerät selbst bewegt wird, also die Übungen mit Hanteln (s. d.), Stäben (s. Stabübungen), Keulen (s. d.) u. dgl., das Ziehen und Schieben, das Werfen von Kugeln, Steinen, Stangen (Gerwerfen), Scheiben (vgl. Diskos) und Bällen, endlich verschiedene Arten des Fechtens. Die andern Gerätübungen gliedern sich nach der Art der an ihnen vollzogenen Leibesbewegungen in die sogen. Turnarten des Schwebens auf beschränkter (Schwebepfähle, Schwebebaum, Kante) oder beweglicher Unterlage (z. B. Stelzen, Schaukeldiele), des Springens (Springbrett, Schwungbrett, Sturmspringel, Springen im Reifen und im Seil), des Stützens auf den obern Gliedern (besonders am Barren, Reck und Pferd), des Hangens (Leiter, Ringe, Rundlauf, Reck). Aus abwechselndem Hangen der obern und Stemmen der untern Glieder bildet sich das Klettern (Kletterstange, -Mast und -Seil); das mit vorübergehendem Stützen verbundene Springen ergibt die Übungen des gemischten Sprunges (besonders am Bock, Pferd, Tisch, doch auch am Reck und Barren, dazu auch das Stangenspringen). Die Verbindung von Hangen und Stützen erlaubt am ausgiebigsten das Reck (vgl. Schaukelgeräte).

Daß das reiche Gebiet der Turnübungen auch eine angemessene sprachliche Bezeichnung gefunden hat, ist wesentlich das Verdienst F. L. Jahns, den sowohl in Aufnahme von im Volksmund üblichen Worten für Übungen und Geräte als in freier Gestaltung von neuen Bezeichnungen ein sicherer Blick geleitet hat. Neuerdings hat sich um die Turnsprache besonders Waßmannsdorff (s. d.) Verdienste erworben. - Die Übungsauswahl und Betriebsweise richten sich natürlich sowohl nach dem Zweck, der die Übenden auf den Turnplatz geführt hat, als nach dem Alter und Geschlecht derselben. Daher beim Turnen der Soldaten außer den Rücksichten auf die besondere Verwendung der einzelnen Waffengattungen (Übungen der Hindernisbahn) eine beschränktere Auswahl von den der großen Masse erreichbaren Übungen in der straffen Übungsform militärischer Disziplin; beim Vereinsturnen, der freiwilligen Beteiligung und der Vereinigung der verschiedensten Altersklasen entsprechend, ein Zurücktreten der lehrhaften Form, größerer Einfluß der Bewegungs- und Leistungslust auf Auswahl und Ausführung der Übungen, also eine Bevorzugung des Kunstturnens an Geräten; dabei größere Freiheit sowohl für das Vortreten von Stammeseigentümlichkeiten als für individuelle Ausbildung. Das Schulturnen zeigt je nach der Art der Schule und dem Alter und der Menge der Übenden bald eine mehr spielartige Form des Betriebs, bald eine Annäherung an die straffe militärische Drillung, wie besonders in der Form der Gemeinübungen mit und ohne Geräte, oder auch an die freiere Betriebsart der Vereine in Riegen unter Schülern als Vorturnern. Doch weicht die letztere Form wegen der für sie zu oft mangelnden Vorbedingungen mehr und mehr dem Turnen der geschlossenen Schulklassen unter einzelnen Lehrern. Speziell das Mädchenturnen bevorzugt unter Beschränkung der Übungen an Geräten die tanzähnlichen Hüpfarten und reigenartigen Ordnungsübungen. (Über Zimmergymnastik und Heilgymnastik s. d.) In allen diesen Betriebsformen hat das frühere meist Übungen verschiedenster Art regellos durcheinander werfende Verfahren in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr dem auf der systematischen Gliederung des Turnstoffs fußenden, Gleichartiges zusammenstellenden, schwierigere Übungen stufenweise aus ihren Elementen entwickelnden sogen. Schuleturnen, bez. Gruppenturnen Platz gemacht.

[Litteratur.] Aus der schon stark angewachsenen Litteratur des Turnwesens sind außer den oben und in den betreffenden Artikeln aufgeführten Werken von Spieß, Waßmannsdorff, Jäger, Lion, Euler und Maul noch zu erwähnen: a) Allgemeines: G. Hirth, Das gesamte Turnwesen (Leipz. 1865, eine Sammlung von 133 Aufsätzen verschiedener Verfasser mit geschichtlicher Einleitung); F. A. Lange, Die Leibesübungen (Gotha 1863); Ed. Angerstein, Theoretisches Handbuch für Turner (Halle 1870); b) für die Übungslehre: A. Ravenstein, Volksturnbuch (3. Aufl., Frankf. 1876); Kloss, Katechismus der T. (6. Aufl., Leipz. 1887); Puritz, Merkbüchlein für Vorturner (8. Aufl., Hannov. 1887; auch ins Französische, Englische und Holländische übersetzt); Derselbe, Handbüchlein turnerischer Ordnungs-, Frei-, Hantel- und Stabübungen (2. Aufl., Hof 1887); c) für das Schulturnen: Niggeler, Turnschule für Knaben und Mädchen (2 Tle.; 8. u. 5. Aufl., Zürich 1888 und 1877); Kloss, Die weibliche T. (4. Aufl., Leipz. 1889); F. Marx, Leitfaden für den Turnunterricht in Volksschulen (4. Aufl., Bensh. 1886); Derselbe, Das Mädchenturnen in der Schule (das. 1889); Hausmann, Das Turnen in der Volksschule (4. Aufl., Weim. 1882); Stöckl, Das Schulturnen (Graz 1885); Schettler, Der Turnunterricht in gemischten Volksschulklassen (Hof 1881); Schurig, Hilfsbuch für das Gerätturnen in der Volksschule (das. 1883); Schettler, Turnschule für Mädchen (2 Tle.; 6. u. 5. Aufl., Plauen 1887); d) Geschichtliches: Iselin, Geschichte der Leibesübungen (Leipz. 1886); Brendicke, Grundriß zur Geschichte der Leibesübungen (Köthen 1882); e) Verschiedenes: Kohlrausch, Physik des Turnens (Hof 1881); Bach und Fleischmann, Wanderungen, Turnfahrten und Schülerreisen (2. Aufl., Leipz. 1885-87, 2 Tle.); f) Zeitschriften: "Deutsche Turnzeitung" (Leipz., seit 1856, Organ der deutschen Turnerschaft); "Jahrbücher verdeutschen T." (hrsg. von Kloss, Dresd., seit 1855; neue Folge hrsg. von Bier, Leipz., seit 1882); "Monatsschrift für das Turnwesen" (hrsg. von Euler

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Turn-out - Turretin.

und Eckler, Berl., seit 1883); g) Literaturnachweis: Lentz, Zusammenstellung von Schriften über Leibesübungen (4. Aufl., das. 1881); "Bücherverzeichnis des Archivs der deutschen Turnerschaft" (2. Aufl., Leipz. 1885); Brendicke, Verzeichnis einer Turnvereinsbibliothek (Eisl. 1885).

Turn-out (engl., spr. törn-aut, "Ausrücken, Herausgehen"), in England die Einstellung der Arbeit durch Fabrikarbeiter in Masse.

Turnpike (engl., spr. törnpeik), Drehkreuz, in England an Straßen bei Mauthäusern angebracht zum Zweck der Erhebung des Wegegeldes, daher Turnpike-roads, Straßen mit solchen Drehkreuzen.

Turnu-Magurele, Hauptstadt des rumän. Kreises Teleorman (Walachei), am Einfluß der Aluta in die Donau, gegenüber dem bulgarischen Nikopoli, mit lebhaftem Hafen für Getreideausfuhr und 5780 Einw.; nach einigen römischen Ursprungs. Hier 1598 Schlacht zwischen Michael dem Tapfern und den Türken, 1853 zwischen Türken und Russen.

Turnus (neulat.), die wiederkehrende Reihenfolge irgendwelcher Verrichtungen, zu denen verschiedene Personen berechtigt oder verpflichtet sind.

Turnu-Severin, Hauptstadt des Kreises Mehedintzi in der Walachei, bedeutender Donauhafen und Station der Eisenbahn Chitila- (Bukarest-) Verciorova, ist Sitz des Präfekten und eines Tribunals und hat 9 Kirchen, eine Gewerbeschule, 8000 Einw. (meist Fremde, darunter viele Deutsche), welche einen lebhaften Handelsverkehr (namentlich mit Wolle und Fellen) sowie die Getreideausfuhr nach Österreich und Deutschland vermitteln. Hier hat die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft eine Agentur, eine ansehnliche Schiffswerfte, Maschinenbauwerkstätte (300 Arbeiter) und ein Hospital. Dabei die Pfeilerüberreste der von Kaiser Trajan 104-106 n. Chr. erbauten steinernen Donaubrücke sowie die Ruinen einer vom Kaiser Alexander Severus erbauten Burg, von welcher die Stadt ihren Namen hat.

Turócz (spr. tuhroz), ungar. Komitat am linken Donauufer, von den Komitaten Trentschin, Árva, Liptau, Sohl, Bars und Neutra begrenzt, 1150 qkm (20,9 QM.) groß, bildet eine ringsum von Karpathenzweigen umgebene, wellenförmige, flache und fruchtbare Ebene. Im NO. erhebt sich das bewaldete Fátragebirge. Den nördlichen Teil durchströmt die Waag, in die sich der Fluß T. ergießt. Hauptprodukte sind: Kartoffeln, Hafer, Heidekorn, Flachs, Hanf u. Holz; Getreide wird wenig gewonnen. Die üppigen Wiesen und Triften begünstigen die Viehzucht (besonders Schafzucht). Unter den Mineralquellen verdienen die Thermen in Stuben Erwähnung. Die Einwohner, (1881) 45,933 an der Zahl, sind meist Slawen, teils katholisch, teils evangelisch. Das Komitat wird von der Kaschau-Oderberger Bahn durchschnitten, an welche sich bei Ruttka die Ungarische Staatsbahn anschließt. Sitz des Komitats ist T.-Szent-Márton, Station der Ungarischen Staatsbahn, mit Untergymnasium, Handelsschule, Bezirksgericht und (1881) 2341 Einw.

Turon, s. Kreideformation, S. 183.

Turopolje (ungar. Túrmezö), privilegierter Distrikt im kroatisch- slawon. Komitat Agram, südlich von Agram, mit 24 Ortschaften, deren Einwohner vom König Bela IV. geadelt wurden und besondere Vorrechte erhielten. In letzter Zeit hatte T. nur noch das Recht der selbständigen Verwaltung und war in der Komitatskongregation durch einem Comes (Zupan) vertreten. Hauptort ist Gorica velika, Dorf an der Bahnlinie Agram-Sissek, mit 672 Einw. und Bezirksgericht.

Turpethum minerale, s. v. w. basisch schwefelsaures Quecksilberoxyd.

Turpin, Johann, Benediktinermönch im Kloster St.-Denis, ward 753 Erzbischof von Reims, befand sich 769 auf dem zu Rom wegen der Bilderverehrung abgehaltenen Konzil und starb 800. Die Angabe, daß T. Karls d. Gr. Geheimschreiber, Freund und Waffengefährte gewesen sei, gehört ins Gebiet der Sage. Die unter Turpins Namen vorhandene lateinische Chronik über Karls Zug nach Spanien, die seit 1160 in einer lateinischen Handschrift im Kloster St.-Denis aufbewahrt wird und Anfang des 12. Jahrh. auf Befehl des damaligen Erzbischofs Guido von Vienne, des spätern Papstes Calixt II., der eine 1050 in Compostela verfaßte Schrift aus Spanien mitgebracht hatte, auf Grund derselben verfaßt worden ist, enthält Lieder und Sagen aus dem karolingischen Sagenkreis, doch in kirchlichem Interesse und legendenartig umgestaltet. Die besten Ausgaben lieferten Ciampi (Flor. 1822) und Reiffenberg (in der "Chronique de Philippe Mouskes", Brüssel 1836, 2 Bde.); ins Deutsche übersetzte sie Hufnagel (im "Rheinischen Taschenbuch" 1822). Vgl. Gaston Paris, De Pseudo-Turpino (Par. 1865).

Turpithwurzel, s. Ipomoea.

Türr, Stephan, ungar. Patriot, geb. 10. Aug. 1825 zu Baja, trat als Leutnant in ein ungarisches Grenadierregiment, welches 1848 in Italien focht, ging im Januar 1849 zu den Piemontesen über und organisierte eine ungarische Legion, focht nach der Schlacht bei Novara auf seiten der Insurgenten in Baden, trat 1854 in englische Dienste, ward 1855 auf einer Reise behufs Ankaufs von Pferden in Pest verhaftet, aber wieder entlassen, kämpfte 1859 als Hauptmann der Alpenjäger unter Garibaldi gegen die Österreicher, 1860 in Sizilien und Neapel und erlangte den Rang eines Divisionsgenerals, nachdem er als Gouverneur von Neapel viel zu dessen Vereinigung mit Italien beigetragen. 1866 bereitete er eine Insurrektion in Ungarn von Serbien aus vor. 1867 kehrte er nach Ungarn zurück, wo er, mit Entwürfen von Kanalbauten und industriellen Unternehmungen beschäftigt, lebt. Mitunter nahm er als vertrauter Unterhändler zwischen Österreich, Italien und Frankreich (so bei den Verhandlungen über ein Bündnis 1869-70) noch an der Politik teil; seit 1881 leitet er den Bau des Kanals über den Isthmus von Korinth. Vgl. Schwarz, Stephan T. (Wien 1868, 2 Bde.).

Turretin (Turretin), ein Genfer Theologengeschlecht, abstammend von dem 1579 in die Schweiz eingewanderten Franz T. aus Lucca. Sein Sohn Benedikt T., geb.1588 zu Zürich, ward in Genf 1612 Pfarrer und 1618 Professor der Theologie; er starb 1631. Dessen Sohn Franz T., geb. 1623, bekleidete eine gleiche Stelle bis 1653 und starb 1687, nachdem er sich an der Herstellung des Consensus helveticus (s. d.) beteiligt hatte, welcher dann 1706 auf Bestreben seines Sohns wieder abgeschafft wurde. Dieser, Johann Alfons T., geb. 1671, gebildet in Holland, England und Frankreich, trat 1693 in geistlichen Dienst und lehrte seit 1697 Kirchengeschichte, daneben seit 1705 auch Dogmatik und übte bis zu seinem 1. Mai 1737 erfolgten Tod einen großen und wohlthuenden, durchaus ermäßigenden und auf Herstellung der Union mit den Lutheranern gerichteten Einfluß auf die reformierte Kirche in und außerhalb der Schweiz. Ebenso erfreuten sich seiner Zeit seine dogmatischen und kirchenpolitischen, exegetischen und kirchenhistorischen Werke eines begründeten Ansehens. Vgl. die biographischen Schriften von Budé über

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Turris ambulatoria -- Tussilago.

Benedikt T. (Genf 1871), Franz T. (Laus. 1871) und Joh. Alfons T. (das. 1880).

Turris ambulatoria, s. Wandelturm.

Türschmann, Richard, Recitator, geb. 26. Mai 1834 zu Penig in Sachsen, besuchte die Thomasschule und die Universität in Leipzig, ging dann zur Bühne und fand, nachdem er an verschiedenen Orten aufgetreten war, am Hoftheater zu Braunschweig als erster Charakterdarsteller Anstellung. Infolge fast gänzlicher Erblindung warf er sich dann auf die Kunst der dramatischen Recitation, die er seit 1872 mit großem und verdientem Erfolg ausübte. Sein Repertoire umfaßt die Meisterwerke Sophokles', Shakespeares, Goethes, Lessings etc., die er alle frei aus dem Gedächtnis vorträgt. Seinen Wohnsitz hat T. gegenwärtig in Blasewitz bei Dresden.

Tursellinus, s. Torsellino.

Tursi, Stadt in der ital. Provinz Potenza, Kreis Lagonegro, Bischofsitz, mit Kathedrale, Baumwollbau und (1881) 3174 Einw.; wurde im 9. Jahrh. von den Arabern erbaut.

Turteltaube, s. Tauben, S. 535.

Turtle (engl., spr. törtl), Schildkröte; Turteltaube.

Turtmanthal, linksseitiges Nebenthal des Rhône in der Schweiz. Der Thalbach, als Abfluß des vom Weißhorn herabsteigenden Turtmangletschers (s. Matterhorn), durchfließt ein hohes, einsames Alpenthal und erreicht den Rhône mit einem 24 m hohen Fall bei dem an der Bahnlinie Bouveret-Brieg liegenden Orte Turtman (Tourtemagne).

Turtur (lat.), Turteltaube.

Turuchansk, Stadt im sibir. Gouvernement Jenisseisk, nahe dem Polarkreis, an der Grenze, wo die Jagd- und Fischervölker Ostjaken, Samojeden und Tungusen aneinanderstoßen, hat hölzerne Befestigungen und (1886) 157 Einw., welche Pelzhandel betreiben.

Turzovka, Dorf im ungar. Komitat Trencsin, an der Kisucza, mit (1881) 6952 slawon. Einwohnern.

Tuscaloosa (spr. -lusa), Stadt im nordamerikan. Staat Alabama, am schiffbaren Black Warrior River, ist Sitz der 1831 gegründeten Universität von Alabama und der Staatsirrenanstalt und hat (1880) 2468 Einw. Bis 1847 war T. Hauptstadt des Staats.

Tuscaróra, nordamerikan. Indianerstamm vom Volk der Irokesen, früher am Tar und der Neuse in Nordcarolina ansässig, wurde 1711 in einen Krieg mit den Kolonisten verwickelt und zog sich infolge dessen ins Innere des Staats New York zurück, wo die Reste des Stammes (1883: 434 Seelen) eine Reservation bewohnen.

Tuscarora-Expedition, s. Maritime wissenschaftliche Expeditionen, S. 257.

Tusch, das weder an Rhythmus noch Melodie gebundene, aber innerhalb eines und desselben Akkords vor sich gehende Durcheinanderblasen der Trompeter und Harmoniemusiker bei Toasten etc. Burschikos (Touche) s. v. w. Beleidigung.

Tusche, Farben zum Kolorieren von Zeichnungen, stimmen in den bessern Sorten mit den Ackermannschen und Le France-Aquarellfarben überein, werden aber auch von sehr viel geringerer Qualität dargestellt. Die Farbkörper werden wenigstens für die bessern Sorten ebenso angerieben wie für die Aquarellfarben und zwar mit einem in Wasser nicht zu schwer löslichen Bindemittel (Leim, Gummi arabikum, Tragant, auch wohl etwas Zucker), dann zum steifen Teia eingetrocknet, geformt, gepreßt und völlig getrocknet. Für jede einzelne Farbe ist Quantität und Beschaffenheit des Bindemittels durch besondere Versuche zu ermitteln. Die chinesische T. (chinesische Tinte), eine schwarze Wasserfarbe, wird in China aus sehr sorgfältig bereitetem Ruß hergestellt, den man aus vorher möglichst entharztem Nadelholz gewinnt und mit 1/10 Ruß aus Sesamöl, auch mit etwas Kampferruß vermischt, mit tierischem Leim bindet und mit Moschus und Kampfer parfümiert. Die im Handel vorkommenden Täfelchen sind mit oft vergoldeten Handelszeichen versehen. Die T. soll um so besser sein, je tiefer sie in Wasser einsinkt; am meisten schätzt man solche, welche auf Papier mit zimtfarbenem Schimmer glänzt.

Tuschen (Tuschmanier, franz. Dessin au lavis), Mittelglied zwischen Zeichnen und Malen, besteht in dem Eintragen der Schatten in eine bloß in den Umrissen angelegte Zeichnung durch allmähliches Überarbeiten mit immer dunklern Farben. Gewöhnlich werden Tuscharbeiten einfarbig ausgeführt, meist schwarz mit chinesischer Tusche, oft auch braun mit Sepia, hin und wieder aber auch bunt. Bei einer getuschten Zeichnung ist hauptsächlich Gewicht auf zarte, genaue Umrisse, weichen, saftigen Schatten, recht rein gehaltene Lichter und markige Drucker in den dunkelsten Stellen zu legen. Die Tuschzeichnung ist gegenwärtig durch die vielseitigere Aquarellmalerei in den Hintergrund gedrängt worden. Vgl. auch Schattierung.

Tusculum, im Altertum Stadt in Latium, im Albanergebirge gelegen, schloß sich nach der Niederlage der Tarquinier am See Regillus um 496 an die Römer an und erhielt 379 römisches Bürgerrecht. Am Latinerkrieg (340-338) beteiligte sich T. gegen Rom, wurde aber nach seiner Besiegung mild behandelt. In der Umgegend lagen seit der letzten Zeit der Republik die Villen vornehmer Römer, z. B. des Lucullus, Jul. Cäsar, Hortensius, Cato, Marius und namentlich Ciceros berühmtes Tusculanum. Im Mittelalter geriet T. mit Rom in heftige Feindschaft, indem es auf seiten der Kaiser stand. Als aber 1191 Papst Cölestin III. und Kaiser Heinrich VI. Frieden schlossen, zerstörten die Römer die Stadt. Ihre Trümmer (Amphitheater, Theater, Burg) liegen östlich oberhalb Frascati. Vgl. Canini, Descrizione del antico T. (Rom 1841).

Tuscumbia, Stadt im nordamerikan. Staat Alabama, unfern des Tennesseeflusses, mit (1880) 1369 Einw.; hier 13. Dez. 1864 Sieg der Unionsarmee über die Konföderierten.

Tuskar, Inselchen mit Leuchtturm im St. Georgskanal an der Südostspitze von Irland, 10 km vom Carnsore Point.

Tusker (Tusci), die alten Bewohner Etruriens (s. d.); daher Tuscia, s. v. w. Etrurien; Tuskisches Meer (Mare Tuscum), s. v. w. Tyrrhenisches Meer.

Tuslü (Tusly), Salzsee im russ. Gouvernement Taurien, Kreis Eupatoria, hat 15 km im Umfang, trocknet im Sommer fast ganz aus und wird zu Salzgewinnung und Schlammbädern benutzt.

Tusnád, Badeort im ungar. Komitat Csik (Siebenbürgen), 656 m hoch, in einer Bergschlucht am Altfluß, mit alkalisch-muriatischen Eisensäuerlingen. In der Nähe der schieferhaltige Berg Büdös (Torjaer Stinkberg) und der St. Annensee.

Tussackgras, s. Festuca.

Tussilago Tourn. (Huflattich), Gattung aus der Familie der Kompositen, mit der einzigen Art T. Farfara L. (Brust-, Eselslattich, Roßhuf, Quirinkraut), einer ausdauernden Pflanze mit tief gehendem, kriechendem Wurzelstock, grundständigen, langgestielten, herzförmigen, eckigen, unten dicht- und weißfilzigen Blättern und einzeln end-

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Tussis - Tuzla.

ständigen, gelben, vor den Blättern sich entwickelnden Blüten, wächst auf feuchten, thonigen Feldern in Europa und dem gemäßigten Asien, auf Äckern ein schwer auszurottendes Unkraut. Offizinell sind die geruchlosen Blätter als bitterschleimiges und adstringierendes Mittel. T. Petasites, s. Petasites.

Tussis (lat.), Husten.

Tussoo (Tössuh), ind. Längenmaß, = 1/16 Hath = 1/32 engl. Yard = 0,029 m.

Tutamen (lat.), Schutzmittel. Tutauiablech, s. Britanniametall.

Tute, s. Blatttute. Tutel (lat.), s. Vormundschaft.

Tutela, bei den Römern Schutzgöttin eines Ortes oder einer Person.

Tuten, in der Probierkunst benutzte Schmelztiegel mit Fuß.

Tutenag, ordinäres chines. Neusilber.

Tutenmergel, s. Nagelkalk.

Tuthmofis, Name mehrerer ägypt. Könige, von denen T. III. (1625-1565 v. Chr.) nach der Vertreibung der Hyksos zahlreiche Feldzüge nach Syrien unternahm und die Küste wie das Bergland bis Damaskus und Hamat unterjochte; ebenso unterwarf er das untere Nubien; seine Siege verherrlichte er durch Inschriften auf feinen prachtvollen Bauten in Theben und anderwärts.

Tutikorin (Tutukudi), Hafenstadt an der Südostküste der indobrit. Präsidentschaft Madras, am Golf von Manaar, Endstation der Südindischen Eisenbahn, mit katholischer Mission, einem Nonnenkloster und (1881) 16,281 Einw. (ein Drittel Katholiken), welche bedeutenden Handel und Perlenfischerei betreiben. T. ist Sitz eines deutschen Konsulats.

Tutiliina , röm. Gött.n des Getreideeinfahrens.

Tutor (lat.), Vormund, s. Vormundschaft. In England ist T. (spr.tjuhter) Titel für gewisse Universitätslehrer, und zwar unterscheidet man College tutors und Private tutors ; die erstern, angestellte Professoren, fungieren in den einzelnen Colleges als Aufseher und Studienleiter, während die letztern, als Fellows (s.d.) der Universität attachiert, zu den Studenten im Verhältnis bezahlter Privatlehrer stehen.

Tutowa, rumän. Kreis in der Moldau, mit der Hauptstadt Berlad.

Tutti Frutti (ital."alle Früchte"), Gericht, aus verschiedenen Gemüsen oder Früchten zusammengesetzt, Allerlei (auch als Büchertitel gebraucht, z. B. von Fürst Pückler).

Tutilingen, Oberamtsstadt im württembergischen Schwarzwaldkreis, an der Donau, unweit der badischen Grenze, Knotenpunkt der Linien Rottweil-Immendingen und T.-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, 643 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Kinderrettungs- und Erziehungsanstalt, ein Denkmal des Dichters Schneckenburg er, ein Amtsgericht, ein Kameralamt, ein neues Schlachthaus, bedeutende Schuhfabrikation, Fabriken für chirurgische Instrumente, Messer, Leder und Wollwaren, Bierbrauerei, einen Wollmarkt, lebhaften Getreidehandel u. (1885) 8659 meist evang. Einwohner. In der Nähe das königliche Eisenhammerwerk Luwigsthal. Über der Stadt auf einem Berg liegen die schönen Ruinen des Schlosses Honberg, das im

Krieg zerstört wurde. Südöstlich davon, meist auf badischem Gebiet, die Tuttlinger Höhe (864 m) mit herrlicher Aussicht nach den Alpen. Die Stadt T. stammt wohl schon aus der Römerzeit; sie gehörte dann zur Grafschaft Baar und kam im 15. Jahrh. an Württemberg. Hier 24. Nov. 1643 Sieg der Österreicher und Bayern unter Johann v. Werth, Hatzfeld und Mercy über die Franzosen unter dem Grafen Rantzau.

Tutto (ital.), ganz; Tutta la forza, musikal. Vortragsbezeichnung, s. v. w. mit ganzer Kraft; Tutti, s.v.w. alle, womit im Gegensatz zu Solo (s. d.) der Einsatz des Orchesters oder Chors angezeigt wird.

Tutuila, eine der Samoainseln (s. d., S. 260).

Tütz, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Marienwerder, Kreis Deutsch-Krone, zwischen drei Seen, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Schloß und (1885) 2045 Einw.

Tutzing, Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, Bezirksamt München II, am Starnberger See, Knotenpunkt der Linien München -Peißenberg und T.-Penzberg der Bayrischen Staatsbahn, ein beliebter Sommeraufenthalt der Münchener, hat eine kath. Kirche, ein Schloß, schöne Villen, Bierbrauerei und (1885) 800 Einw.

Tuwumba (engl. Toowoomba), Stadt in der britisch-austral. Kolonie Queensland, Grafschaft Aubigny, an der Eisenbahnlinie Brisbane-Roma, das Zentrum des reichen Weidedistrikts der Darling Downs, mit Hospital, 5 Bankfilialen und (1881) 6270 Einw., darunter über 1000 Deutsche, die hier 2 Kirchen und 2 Schulen haben.

Tüxpam, Seehafen im mexikan. Staat Veracruz, an der Mündung des gleichnamigen Flusses, hat ein Hospital, ein Gefängnis und (1880) 5979 Einw. im Munizipium. In der Nähe (bei Chapopote) ist eine Petroleumquelle. Ausfuhr 1883-84: 401,892 Pesos, bestehend aus Honig, Rohfellen, Kautschuk, Ze-dernholz, Gelbholz, Sassaparille etc.

Tuxtla, thätiger Vulkan an der Küste von Mexiko, südlich von Veracruz, 1560 m hoch.

Tuxtla Gutierrez, Stadt im mexikan. Staat Chiapas, am Rio Mescalapa, 50 km westlich von San Cristobal, hat Kakao- und Tabakshandel und (1880) 6963 Einw.

Tuy, Bezirksstadt und Festung in der span. Pro-vinz Ponteveora, am Minho und an der Eisenbahn von Monforte nach Vigo, gegenüber der portugiesischen Festung Valenca gelegen, mit Leinwandfabriken, Bereitung von Konfitüren, starkem Obstbau, Ausfuhr von Rindvieh und (1878) 11,710 Einw. T. ist ein Hauptsitz des Schleichhandels nach Portugal. Es ist seit dem 6. Jahrh. Bischofsitz. In der Nähe warme Schwefelquellen.

Tuzla (Unter-T., Doljnja-T.), Kreisstadt in Bosnien, an beiden Ufern der Ialta, Station der Bahnlinie Doboj-T.-Siminhan, Sitz eines griechischoriental. Bischofs, eines Militär-Platzkommandos und eines Bezirksgerichts, hat 3 Brücken, zahlreiche Mo-

scheen, ein Nonnenkloster, (1885) 7189 Einw. (5171 Mohammedaner), lebhaften Handel, besonders mit Vieh und Pferden, eine Volks- und Handelsschule, ein Spital, einen Park, reiche Kohlenlager und berühmte Salzquellen, von welch letztern T. seinen Namen hat (Tuz = Salz). Bei T., dessen Umgebung reich an Bogumilengräbern ist, und das 1225 Hauptstadt der Provinz Soli war, 1693 Sieg des kaiserlichen Feldherrn Percinlija über die Türken und 9.bis 10. Aug. 1878 Gefechte zwischen österreichischen

Truppen und den Insurgenten.

Twain - Twer.

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Twain (spr. twähn), Mark, Pseudon., s. Clemens 2).

Twalch, s. v. w. Taumellolch, s. Lolium.

Twardowski, in der poln. Volkssage ein Edelmann im 16. Jahrh., der, um sich übernatürliche Kenntnisse und Genüsse zu verschaffen, sich auf dem Berge Krzemionki bei Krakau dem Teufel verschrieb und eine Menge lustiger Abenteuer bestand. Als ihn schließlich der Teufel durch die Luft davonführte, rettete sich T. zwar durch Anstimmen eines geistlichen Liedes, muß aber bis zum jüngsten Tag zwischen Himmel und Erde in der Luft schweben. Das Ganze ist die polnische Version der Faustsage und wurde von polnischen Dichtern (z. B. von Kraszewski) vielfach bearbeitet. Vgl. Vogl, T., der polnische Faust (Wien 1861).

Tweed (spr. twihd), Fluß im südöstlichen Schottland, bildet in seinem untern Lauf die Grenze zwischen Schottland und England und fällt bei Berwick nach einem Laufe von 154 km in die Nordsee.

Tweed (spr. twihd), William Mercy, amerikan. Politiker, geb. 3. April 1823 zu New York, ward Handwerker, wandte sich bald den öffentlichen Angelegenheiten zu, wurde 1852 zum Alderman von New York und 1853 in den Kongreß gewählt, dem er bis 1855 angehörte. Er verwaltete darauf die städtischen Ämter eines Supervisors, eines Schulkommissars und eines Kommissars für die Straßen, war auch 1867-71 Mitglied des Senats des Staats New York und ward 1870 Kommissar des Departements für die öffentlichen Arbeiten der Stadt New York. Den großen Einfluß, den er im Tammany-Ring (f. d.) erlangt hatte, benutzte er zu schamloser Bereicherung, die ihm die Entfaltung eines ungeheuern Luxus gestattete. Mehrere Versuche, diesem frechen Raubwesen ein Ende zu machen, blieben erfolglos; T. ward im Oktober 1871 auf eine Anklage hin verhaftet, aber gegen eine Bürgschaft von 1 Mill. Doll., die sofort beschafft wurde, freigelassen und sogar wieder zum Staatssenator gewählt. Im Januar 1873 ward er zum zweitenmal verhaftet und vor Gericht gestellt, aber von den Geschwornen freigesprochen. Erst im November 1873 ward seine Verurteilung wegen Betrugs zu zwölf Jahren Gefängnis erreicht, dieses Urteil aber als ungesetzlich vom Appellhof umgestoßen und T. 1875 wieder freigelassen. Doch war er zu gleicher Zeit wegen Wiedererstattung von 6 Mill. Doll. nebst Zinsen angeklagt worden, und da er die Bürgschaft von 6 Mill., welche man verlangte, nicht leisten konnte, so ward er von neuem in Haft genommen, aus der er im Dezember entsprang, um nach Spanien zu gehen, dessen Regierung ihn aber 1876 wieder auslieferte. T. starb 12. April 1878 im Gefängnis zu New York.

Tweeddale (spr. twihdehl), s. Peeblesshire.

Tweedmouth (spr. twihdmoth), nördliche Vorstadt von Berwick upon Tweed, in der engl. Grafschaft Northumberland, mit Maschinenbau, einem Hafen und (1881) 4819 Einw.

Twehle, s. Zwehle.

Twelfth-cake (spr. -kehk), nach engl. Sitte am Dreikönigstag verzehrter Kuchen; vgl. Bohnenfest.

Twenthe, eine den südöstlichen Teil der niederländ. Provinz Overyssel bildende Landschaft, Hauptsitz der niederländischen Baumwollindustrie, mit den Städten: Ryssen, Almelo, Goor, Enschede u. a. Die T. führt ihren Namen von dem alten Volk der Tubanten.

Twer, russ. Gouvernement, wird von den Gouvernements Nowgorod, Jaroslaw, Wladimir, Moskau, Smolensk und Pskow umschlossen, umfaßt 64,682 qkm

(nach Strelbitsky 65,329,7 qkm = 1186,46 QM.). Der Wolchonskiwald, aus Kalksteinhügeln von 300 m Höhe bestehend und mit undurchdringlichen Waldungen bedeckt, durchzieht mit seinen Ausläufern zwischen Seen und Sümpfen fast das ganze Gouvernement. Der Boden besteht aus bläulichrotem Lehm, über welchem lehmiger Sand, häufig auch Kalkstein liegt; außerdem ist das devonische System entwickelt und zwar in der Form glimmerigen Sandsteins ohne Versteinerungen. Sieben Mineralquellen sind im Gouvernement. Der wichtigste Fluß ist die Wolga, welche innerhalb des Gouvernements eine Länge von beinahe 530 km hat und von rechts die Shnkopa, Pesotschnja, Wasusa, Dersha, Schoschtscha, Dubna, von links die Selicharowka, die Große Koscha, Itomlja, Tma, Twerza, Medwjediza , Kaschinka und Mologa aufnimmt. Die Düna hat im SW. ihren obern Lauf, ferner die Flüsse Msta und Zna. Unter den Hunderten flachuferiger Seen sind der Seliger, Ochwat-Shadenje, Steresh, Wselug, Budbino, Mstino, Udomlja und Weristowo die größten. Das Areal setzt sich zusammen aus 32,2 Proz. Wald, 28,3 Wiese und Weide, nur 26,8 Acker- und 12,7 Proz. Unland. Die großen Wälder bestehen im N. vorzugsweise aus Tannen und Kiefern, im S. aus Birken und Erlen. Das kontinentale Klima wird ein wenig durch die Seen und Sümpfe gemäßigt. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt +5,3° C.; die Hitze des Sommers steigt bisweilen bis 35°, während im Winter schon Kälte von -45 °C. herrschte. Unter den (1885) 1,681,790 Einw. des Gouvernements, 24 pro QKilometer (außer Großrussen auch Deutsche, Polen und Juden), sind 100,000 Karelen, Überreste der finnischen Urbevölkerung des Landes. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 11,199, der Gebornen 76,142, der Gestorbenen 67,200. Die Landwirtschaft wird bei der Unfruchtbarkeit des Bodens, der nur das zweite oder dritte Korn liefert, schwach betrieben. Die Ernte besteht (1887) vorzugsweise in Roggen (4,8 Mill. hl) und Hafer (5,7 Mill. hl), und es müssen aus den andern Gouvernements beträchtliche Zufuhren an Getreide stattfinden. Flachs wird in größerer Ausdehnung gebaut. Auch die Viehzucht ist von geringer Bedeutung. 1885 wurden 583,671 Stück Rindvieh, 351,632 Pferde, 373,779 grobwollige Schafe, 20,612 Schweine gezählt. Ansehnlicher ist die Fischerei, namentlich im See Seliger. Die Waldwirtschaft besteht einesteils im Aushauen und Flößen der Baumstämme, welche wolgaabwärts oder längs der Düna nach Riga geschafft werden, andernteils in der Gewinnung von Teer, Pech und Terpentinöl. Ein früherer Erwerbszweig, der Bau von Flußfahrzeugen, sinkt seit der Eröffnung der Eisenbahnen fortwährend. Sonst beschäftigen sich die Bauern mit dem Verfertigen von Holzgegenständen und Hausgeräten oder mit Schmiedearbeiten (Beile, Sensen, Nägel etc.). Torshok erfreut sich eines trefflichen Rufs durch seine Saffianarbeiten. Die Industrie wurde 1884 von 644 Anstalten mit 20,378 Arbeitern betrieben und bringt für 22,386,000 Rubel Waren hervor. Besonders entwickelt find: Baumwollspinnerei (10 Mill. Rub.), Industrie in Hanf (1 1/2 Mill.), Leder (1 1/2 Mill.), Glas (1,2 Mill. Rub.). Außerdem sind bemerkenswert: die Fayenceindustrie, Getreidemüllerei, Baumwollweberei, Papierfabrikation, Ziegelei, Holzsägemühlen, Branntweinbrennerei. Die Industrie wird wesentlich angetroffen in den Städten Twer, Rshew, Wyschnij-Wolotschok, Ostaschkow und Koljäsin. Der Handel konzentriert sich hauptsächlich in Rshew, Torshok, Bjeshezk und Bologoje. Bildungszwecken oienen1885: 1095 Elementar-

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Twerza - Tyana.

schulen mit 57,392 Schülern, 16 Mittelschulen mit 2720 Schülern und 4 Fachschulen mit 842 Schülern. T. zerfällt in zwölf Kreise: Bjeshezk, Koljäsin, Kaschin, Kortschewa, Nowotorshok, Ostaschkow, Rshew, Stariza, Subzow, T., Wessegonsk, Wyschnij-Wolotschok. - Das Land war einst vom finnischen Stamm der Wessen bewohnt; mit dem Erscheinen der Slawen wurden die Finnen meistens nach N. gedrängt. Ob die Kurgane (Grabhügel) an der Mologa finnischen oder slawischen Stämmen angehörten, ist unentschieden. Nach der Teilung Rußlands unter die Söhne Jaroslaws im 12. Jahrh. wurde das Land unter die Fürsten von Nowgorod, Smolensk und Susdal geteilt. Während der innern Fehden im 12. Jahrh. entstand das Fürstentum T.; 1484 ward dasselbe mit dem Moskowiterreich vereinigt. Die gleichnamige Hauptstadt liegt an der Petersburg-Moskauer Eisenbahn, zu beiden Seiten der hier 213 m breiten Wolga, welche hier die Twerza und Tmaka aufnimmt, und deren Ufer durch eine Schiffbrücke verbunden sind, hat schöne Plätze, Straßen und Anlagen, ein kaiserliches Palais, eine Kathedrale und 33 andre Kirchen (darunter eine evangelische), mehrere Klöster, ein geistliches Seminar, ein klassisches Gymnasium, eine Realschule, eine Kavallerie-Junkerschule, ein Lehrerseminar, weibliches Gymnasium, ein Theater, ein Denkmal Katharinas II., eine Abteilung der Reichsbank, eine Stadtbank, einen Bazar, 28 Fabriken (darunter 2 Baumwollspinnereien, 2 Baumwollwebereien und eine Zitzfabrik) und (1885) 39,280 Einw. Als Eisenbahnstation und Wolgahafen hat T. sehr bedeutenden Zwischenhandel, dessen wichtigste Gegenstände Getreide und Metallfabrikate bilden. T. ist Sitz eines griechisch-orthodoxen Erzbischofs. Unweit der Stadt befinden sich 2 eisenhaltige Mineralquellen, das Sheltikow-Kloster und das Mönchskloster des heil. Nikolaus. T. wurde 1182 als fester Platz gegen den Freistaat Nowgorod angelegt; 1763 zerstörte eine Feuersbrunst die ganze Stadt, die aber unter der Kaiserin Katharina II. bald wieder aufgebaut wurde.

Twerza, schiffbarer linker Nebenfluß der Wolga im russ. Gouvernement Twer, entspringt in der Nähe von Wyschnij-Wolotschok, ist 185 km lang und 45-90 m breit, stießt bis zur Stadt Torshok in südlicher Richtung, später in südöstlicher und ergießt sich bei der Stadt Twer in die Wolga. Die T. bildet einen Teil des Wyschnij-Wolotschokschen Kanalsystems.

Twesten, 1) August Detlev Christian, protest. Theolog, geb. 11. April 1789 zu Glückstadt, ward Gymnasiallehrer in Berlin, 1814 außerordentlicher Professor der Theologie zu Kiel, 1819 daselbst Ordinarius und 1835 Professor in Berlin an Schleiermachers Stelle, dessen theologische Richtung er im Sinn der lutherischen Rechtgläubigkeit umbildete. Von seinen Schriften sind zu nennen: "Logik, insbesondere die Analytik" (Schlesw. 1825); "Vorlesungen über die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche" (Bd. 1, Hamb. 1826, 4. Aufl. 1838; Bd. 2, 1. Abt., 1837); "Grundriß der analytischen Logik" (Kiel 1834); "Matthias Flacius Illyricus" (Berl. 1844). Er starb 8. Jan. 1876 als Oberkonsistorialrat und (bis 1874) Mitglied des evangelischen Oberkirchenrats. Vgl. Heinrici, A. T. nach Tagebüchern und Briefen (Berl. 1889).

2) Karl, Politiker, Sohn des vorigen, geb. 22. April 1820 zu Kiel, studierte 1838-41 in Berlin und Heidelberg die Rechte, trat 1845 in den preußischen Justizdienst und ward Stadtgerichtsrat in Berlin. Er schrieb 1861 eine Broschüre: "Was uns retten kann", in welcher er den General Manteuffel als Chef des Militärkabinetts verderblichen Einflusses beschuldigte, und hatte deshalb mit diesem ein Duell, in welchem er am Arm verwundet wurde. Er ward 1861 Mitglied des Abgeordnetenhauses, in welchem er zu den hervorragendsten Rednern der Fortschrittspartei gehörte, schied aber 1866 aus derselben aus und wurde Mitbegründer der nationalliberalen Fraktion. Außer im preußischen Abgeordnetenhaus, saß T. auch in dem Reichstag des Norddeutschen Bundes. Wegen mehrerer seiner Reden im Abgeordnetenhaus (namentlich 20. Mai 1865 über die Justizpflege unter Lippes Leitung und 10. Febr. 1866 über den bekannten Obertribunalsbeschluß) ward er in langwierige gerichtliche und disziplinarische Untersuchungen verwickelt. War auch der schließliche Ausgang derselben ein ziemlich glimpflicher (T. erhielt 1868 eine Geldstrafe), so fand sich T. doch 1868 veranlaßt, aus dem preußischen Justizdienst auszuscheiden, um eine Stelle in der Berliner Stadtverwaltung zu übernehmen. Er starb 14. Okt. 1870. T. schrieb noch: "Schiller in seinem Verhältnis zur Wissenschaft" (Berl. 1863); "Macchiavelli" (das. 1868) und "Die religiösen, politischen und sozialen Ideen der asiatischen Kulturvölker und der Agypter" (hrsg. von Lazarus, das. 1873, 2 Bde.).

Twickenham (spr. -häm), Dorf in der engl. Grafschaft Middlesex, an der Themse, oberhalb London, Richmond gegenüber, Lieblingsaufenthalt litterarischer Berühmtheiten (Essex, Bacon, Hyde, Pope und Fielding), mit zahlreichen Landsitzen und (1881) 12,479 Einw. Dabei Strawberry Hall, 1747 von Richard Walpole erbaut, und Orleans-Haus, 1852-71 vom Herzog von Aumale bewohnt, jetzt Klubhaus.

Twilled Sackings, s. Jute, S. 341.

Twiß, Sir Travers, engl. Rechtsgelehrter, geb. 1810 zu Westminster, studierte in Oxford, wirkte 1842-47 als Professor der Nationalökonomie daselbst und ward 1852 zum Professor des internationalen Rechts am King's College zu London ernannt, kehrte aber 1855 als Professor des bürgerlichen Rechts nach Oxford zurück. Er war außerdem 1852 Generalvikar des Erzbischofs von Canterbury geworden und erhielt 1858 die Stelle eines Kanzlers der Diözese London. Später wurde er zum königlichen Rat, 1867 zum Generaladvokaten befördert und zugleich geadelt. Unter seinen politischen, historischen und rechtswissenschaftlichen Schriften sind zu nennen: "Epitome of Niebuhr's History ofRome" (Oxf. 1837, 2 Bde.); "The Oregon question examined" (Lond. 1846); "View of the progress of political economy in Europe since the XVI. century" (das. I847); "On the relations of the duchies of Schleswig and Holstein to the crown of Denmark" (das. 1848; deutsch, Leipz. 1848); "The letters apostolic of pope Pius IX. considered" (Lond. 1851); "Lectures on the science of international law" (das. 1856); "The law of nations considered as independent political communities" (Oxf. 1861-63, 2 Bde.; 3. Aufl. 1884); "The black book of the admiralty" (Lond. 1871-76, 4 Bde.).

Twist, s. v. w. Baumwollgarn, s. Garn, S. 911.

Tworog, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Oppeln, Kreis Tost-Gleiwitz, zur Herrschaft des Prinzen zu Hohenlohe-Ingelfingen gehörig, an der Stola und der Linie Kreuzburg-Tarnowitz der Preußischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein Schloß, eine Oberförsterei und (1885) 1150 Einw.

Tyana, im Altertum Stadt im südlichen Kappadokien, in der Nähe der Kilikischen Pässe, angeblich Gründung der Assyrer, wurde unter Caracalla römische Kolonie, dann, da sie zum Reich der Zenobia

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Tyburn - Tyler.

gehörte, von Aurelianus 272 n. Chr. erobert. Valens machte sie zur Hauptstadt von Cappadocia Secunda. Ruinen beim heutigen Kilisse Hissar.

Tyburn (spr. teibörn), früher ein Bach und Dorf auf der Nordseite des Hyde Park in London, bis 1783 der öffentliche Richtplatz. 1839-50 wurde an derselben Stelle einer der schönsten Stadtteile Londons erbaut, dessen Name Tyburnia an die alte Zeit erinnert.

Tyche, in der griech. Mythologie ursprünglich die Göttin des guten Glücks, Tochter des Okeanus oder des Zeus, wurde namentlich als Beschirmerin und Erhalterin der Städte verehrt und hatte als solche in vielen Städten Griechenlands und Kleinasiens Tempel und Statuen. Allmählich bildete sich dann die Vorstellung aus, daß T. sowohl Glück als Unglück verleihe, worin sie der römischen Fortuna (s. d.) gleichkommt. In den Kunstdenkmälern wird der T. entweder ein Steuerruder als Sinnbild lenkender Gewalt oder ein Rad, auf die Flüchtigkeit derselben anspielend, oder Kopfaufsatz und Fruchthorn als Zeichen der Fruchtbarkeit beigegeben. Eigenartig charakterisiert waren die Tychen der Städte, meist mit der Mauerkrone geschmückt und mit verschiedenen Symbolen ausgestattet (so die T. von Antiochia, ein Werk des Eutychides, im Vatikan, s. Abbild.). Vgl. Lehrs, Populäre Aufsätze, S. 175 ff. (2. Aufl.).

Tycho Brahe, s. Brahe 1).

Tychsen, 1) Olaus Gerhard, Orientalist, geb. 14. Dez. 1734 zu Tondern, studierte in Halle und ward Lehrer am dortigen Waisenhaus, 1763 Professor der orientalischen Sprachen zu Bützow und nach Aufhebung dieser Universität Oberbibliothekar in Rostock, wo er 30. Dez. 1815 starb. Seine Hauptschrift ist "Bützowsche Nebenstunden" (Bützow 1766-1769, 6 Bde.), ein reichhaltiges Magazin für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. T. gilt auch als Begründer der arabischen Paläographie, und er beteiligte sich lebhaft und mit Erfolg an den ersten Versuchen, die Keilschrift zu entziffern. Seine Sammlung wertvoller Manuskripte über orientalische und spanische Litteratur und andre Antiquitäten kaufte die Rostocker Universität. Vgl. Hartmann, Olaf Gerhard T. (Brem. 1818-20, 5 Tle.).

2) Thomas Christian, Orientalist, geb. 8. Ma. 1758 zu Horsbyll im Schlesischen, studierte in Kiel und Göttingen, machte dann eine wissenschaftliche Reise durch Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien, ward 1784 Professor der Theologie zu Göttingen, 1797 Präsident der Göttinger Akademie der Wissenschaften und starb 23. Okt. 1834. Von seinen Schriften sind zu nennen: "Grundriß einer Archäologie der Hebräer" (Götting. 1789); "Grammatik der arabischen Schriftsprache" (das. 1823); die Ausgabe des Quintus Smyrnäus (Straßb. 1807) und verschiedene Essays über Numismatik, Paläographie etc. - Seine durch Schönheit und Talente ausgezeichnete Tochter Cäcilie (gest. 1812 im Alter von 18 Jahren) besang der Dichter Ernst Schulze (s. d. 4) in dem gleichnamigen epischen Gedicht.

Tydeus, im griech. Mythus Sohn des Öneus, flüchtete wegen eines begangenen Mordes nach Argos zu Adrastos, der ihn sühnte und ihm seine Tochter Deipyle zum Weib gab. T. zog mit ihm gegen Theben, wurde von Melanippos verwundet und starb an den Folgen der Wunde.

Tyfon, Wirbelsturm, s. Teifun.

Tyl, Joseph Cajetan, tschech. Schriftsteller, geb. 4. Febr. 1808 zu Kuttenberg, war Theaterregisseur in Prag und starb daselbst 11. Juli 1856. Er schrieb ca. 50 Dramen, zum großen Teil nach deutschen Vorbildern. Am gelungensten sind: "Der blinde Jüngling", "Jan Hus", "Strakonicky Dudak" etc. Von 1834 bis 1847 redigierte T. die Zeitschrift "Kvety" und veröffentlichte darin seine Erzählungen, unter denen zu erwähnen sind: "Der letzte Tscheche", "Patriotische Liebe", "Das Kuttenberger Dekret" etc. T. dichtete auch das böhmische Nationallied "Kde domuv moj?" Sein Leben beschrieb Turnovsky (Prag 1881).

Tyldesley (spr. teilsli oder tillsli), Stadt in Lancashire (England), 12 km westnordwestlich von Manchester, mit Kohlengruben, Baumwollweberei und (1881) 9954 Einw.

Tyler (spr. teiler), 1) John, zehnter Präsident der Vereinigten Staaten, geb. 29. März 1790 als der Sohn eines Pflanzers in Virginia, studierte die Rechte, ward 1816 Mitglied des Repräsentantenhauses zu Washington, dann Gouverneur von Virginia und war 1827-36 Senator für diesen Staat. 1840 von der Whigpartei als Kandidat aufgestellt und mit großer Majorität zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, wurde er durch den Tod des Präsidenten Harrison einige Wochen nach dessen Amtsantritt 4. April 1841 Präsident. T. rechtfertigte in dieser Stellung die Erwartungen seiner Partei nicht, indem er vielmehr auf die Seite der Demokraten neigte. Als er der im Juli 1841 vom Kongreß beschlossenen Bill wegen Errichtung einer Bank sein Veto entgegenstellte, reichte das Ministerium seine Entlassung ein, und Tylers Bildnis ward an mehreren Orten öffentlich verbrannt. Dennoch machte er noch wiederholt von seinem Vetorecht Gebrauch, so daß er in beständigem Hader mit der Volksvertretung lebte. Am 4. März 1845 trat er von der Regierung ab und zog sich auf sein Landgut in Virginia zurück. Er starb, nachdem er sich nach einem fruchtlosen Friedensversuch bei Ausbruch des Bürgerkriegs in den Senat der Sezessionisten hatte wählen lassen, 18. Jan. 1862 in Richmond. Tylers Leben beschrieb sein Sohn Lyon Gardiner T. (Richm. 1884, 2 Bde.).

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Tyloma - Typha.

2) S. Wat Tyler.

Tyloma (grch.), Schwiele, Verhärtung der Oberhaut.

Tylopoda (Schwielensohler, Kamele), Familie der paarzehigen Huftiere.

Tylor (spr. teilor), Edward Burnett, Anthropolog, geb. 2. Okt. 1832 zu Camberwell, wurde 1871 Fellow der Royal Society, 1883 Direktor des Universitätsmuseums in Oxford, wo er auch Vorlesungen hält. Auch ist er Präsident der Englischen Anthropologischen Gesellschaft. Er schrieb: "Anahuac or Mexico and the Mexicans" (Lond. 1861); "Early history of mankind and of civilisation" (3. Aufl., das. 1878; deutsch, Leipz. 1866); "Primitive culture: researches into the development of mythology, philosophy, religion, art and custom" (2. Aufl., Lond. 1873, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1873); "Anthropology" (Lond. 1881; deutsch, Braunschw. 1883).

Tympanitis (griech.), s. Blähungen.

Tympanon (griech.), mit Pergament überzogene beckenförmige Pauke, vorzugsweise beim Dienste der Rhea und bei Bacchusfesten gebraucht (s. Abbildung); in der Anatomie s. v. w. Trommelfell (s. Ohr, S. 349); in der Architektur jedes meist halbrund vertiefte, zur Aufnahme von Reliefs dienende Feld von Giebeln über Fenstern oder Thüren.

Tympanum (lat.), s. Trommelrad.

Tyndale (spr. tinndel), William, ein Vorkämpfer der Reformation in England, geboren vor 1500 an der Grenze von Wales, studierte in Oxford, schloß sich der Reformation an und predigte die neue Lehre in London. Er mußte deshalb 1524 aus England fliehen, ging nach Deutschland, wo er Luther kennen lernte, und dann nach den Niederlanden. 1526 wurde seine Übersetzung des Neuen Testaments gedruckt, welche von Sir Th. More bekämpft wurde, jedoch in England große Verbreitung fand. T. ward deshalb in Antwerpen auf englische Veranlassung verhaftet und nach einer langen Gefangenschaft zu Vilvoord im September 1536 erdrosselt und verbrannt. Die gewöhnliche englische Bibelübersetzung hat sich eng an die Tyndales gehalten. Seine Schriften erschienen gesammelt Oxford 1848-50, 3 Bde. Vgl. "W. T. a biography" (Lond. 1886).

Tyndall (spr. tinndel), John, Physiker, geb. 21. Aug. 1820 in Irland, arbeitete bei der trigonometrischen Aufnahme Großbritanniens, studierte seit 1848 in Marburg und Berlin, wurde Lehrer am Queenwod College und wirkt seit 1853 als Professor der Physik an der Royal Institution. Er lieferte Untersuchungen über Diamagnetismus, strahlende Wärme, Schallfortpflanzung etc. und brachte in allen seinen Arbeiten die Lehre von der Erhaltung der Energie zur Geltung. 1856 mit Huxley und später allein machte er Studien und Beobachtungen über die Gletscher, die er in dem Werk "The glaciers of the Alps" (Lond. 1860) veröffentlichte. Auch hielt er musterhafte populäre Vorträge über verschiedene Gebiete der Physik, die große Verbreitung fanden und meist von Helmholtz und Wiedemann ins Deutsche übersetzt wurden, so: "Der Schall" (2. Aufl., Braunschw. 1874), "Das Licht" (6 Vorlesungen in Amerika, das. 1876; daneben veröffentlichte er noch Vorlesungen in der Royal Institution über denselben Gegenstand) und die "Fragmente aus den Naturwissenschaften" (das. 1874). Von seinen zahlreichen übrigen Schriften nennen wir: "Heat, a mode of motion" (7. Aufl. 1887; deutsch, 3. Aufl., Braunschw. 1875); "Forms of water in clouds and rivers, ice and glaciers" (6. Aufl. 1876; deutsch, 2. Aufl., das. 1878); "On diamagnetism" (1856 u. 1870, neue Ausg. 1888); "On radiation" (1865); "Hours of exercise in the alps" (1871; deutsch, Braunschw. 1875); "Contributions to molecular physics" (1872); "Notes on electricity" (1870) und "Lectures on electricity" (1870; beide deutsch, Wien 1884); "Natural philosophy in easy lessons" (1869); "Faraday as a discoverer" (4. Aufl. 1884; deutsch, Braunschw. 1870) und den Vortrag über den Materialismus in England (deutsch, Berl. 1875).

Tyndareos, mythischer König von Sparta, floh, von seinem Halbbruder Hippokoon vertrieben, nach Ätolien zu Thestios, dem er im Kriege gegen seine Nachbarn beistand, und mit dessen Tochter Leda (s. d.) er sich vermählte. Herakles setzte ihn wieder in die Herrschaft von Sparta ein. Leda gebar ihm die Klytämnestra und den Kastor, dem Zeus die Helena und den Polydeukes. Als Kastor uno Polydeutes (die Tyndariden) unsterblich geworden waren, rief T. seinen Schwiegersohn Menelaos nach Sparta und übergab ihm die Herrschaft.

Tyne (spr. tein), Fluß im nördlichen England, entsteht in der Grafschaft Northumberland aus dem Zusammenfluß des North- und South-T., fließt östlich, bildet in seinem untern Lauf die Grenze zwischen den Grafschaften Northumberland und Durham und fällt nach einem Laufe von 117 km bei Tynemouth in die Nordsee. Zu den Häfen Newcastle, Shields und Tynemouth, die an ihm liegen, gehörten 1887: 855 Seeschiffe (darunter 666 Dampfer) von 380,913 Ton. Gehalt. Steinkohlen, Eisen u. Maschinen bilden die Hauptartikel der Ausfuhr. Vgl. Guthrie, The river T., its history and resources (Lond. 1880); Palmer, The T. and its tributaries (das. 1882).

Tynemouth (spr. teinmoth), Stadt und besuchtes Seebad in der engl. Grafschaft Northumberland, an der Mündung des Tyne, hat ein altes Schloß, Ruinen einer Abtei, ein Matrosenhospital und mit dem oberhalb liegenden North Shields, mit dem es Eine Gemeinde bildet, (1881) 43,863 Einw. (s. Shields).

Typen (griech., Mehrzahl von Typus, s. d.), in der Chemie gewisse einfache Verbindungen, die als Vorbilder zahlreicher andrer Verbindungen betrachtet werden können. Nach Gerhardts Typentheorie waren die vier wichtigsten T.: Chlorwasserstoff H Cl Wasser H H O Ammoniak H H H N Methan H H H H C Ein Körper ist nach dem Typus Wasser, Methan etc. konstituiert, wenn seine Atome in analoger Weise miteinander verbunden sind. Der Typus bleibt auch erhalten, wenn in der Verbindung ein oder mehrere Atome durch andre Atome oder Atomgruppen ersetzt werden. Aus Methan können die Substitutionsprodukte Cl H H H C oder Cl Cl H H C etc. entstehen, ebenso aus Ammoniak die Verbindungen CH3 H H N oder CH3 C2H5 C2H5 N. Über die Typentheorie s. Chemie, S. 985. - T. auch s. v. w. Buchdruckschriften oder Lettern.

Typenschreiber (engl. Type-Writer, spr. teip-reiter), s. Schreibmaschine.

Typha L. (Teichkolben, Rohrkolben), Gattung der Typhaceen, Sumpfgewächse mit langen, grund-

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Typhaceen - Typhus.

ständigen, linealen Blättern, einfachen, runden Stengeln und sehr kleinen Blüten, welche in großer Zahl (100,000) in walzigen oder länglichen, gelb- oder braunschwarzen Kolben bei einander stehen; von den zwei Kolben eines Stengels trägt der obere männliche, der untere weibliche Blüten. Von zehn Arten, die in den Tropen und den gemäßigten Zonen weit verbreitet sind, kommen T. latifolia L. und T. angustifolia L. mit 2 m hohen Stengeln in stehenden Gewässern Deutschlands vor. Man benutzt die Blätter zu Matten und zum Verlieschen der Fässer, auch mit den Stengeln als Packmaterial, die Blüten zum Polstern.

Typhaceen, monokotyle Familie aus der Ordnung der Spadicifloren, krautartige Sumpfpflanzen mit perennierendem, kriechendem Rhizom, knotenlosen, cylindrischen, einfachen oder ästigen Stengeln, wechselständigen, am Grunde des Stengels zusammengedrängten, bescheideten, linealischen, ganzen, parallelnervigen Blättern und unvollständigen, einhäusigen Blüten, welche dichte, cylindrische oder kugelige Kolben bilden, die mit abfallenden Blütenscheiden versehen sind, und von denen die obern männliche, die untern weibliche Blüten tragen. Die männlichen Blüten haben statt des Perigons einfache Fäden oder häutige Schüppchen, welche ordnungslos zwischen den zahlreichen dem Kolben aufsitzenden Staubgefäßen stehen. Die weiblichen Blüten haben an Stelle des Perigons zahlreiche Borsten oder je drei hypogyne Schüppchen. Die Fruchtknoten sind sitzend oder gestielt, einblätterig, einfächerig, mit einer einzigen hängenden, anatropen Samenknospe und einem einfachen, endständigen Griffel, welcher in eine einseitige, zungenförmige Narbe endigt. Die Früchte sind durch gegenseitigen Druck eckig, durch den Griffel spitz, nicht aufspringend, fast steinfruchtartig wegen des häutigen oder schwammigen Epi- und des leder- oder holzartigen Endokarps. Die Samen haben eine häutige Schale und in der Achse eines mehligen Endosperms einen geraden, fast ebenso langen Keimling. Vgl. Schnizlein, Die natürliche Pflanzenfamilie der T. (Nördling. 1845). Die T. zählen nur etwa 15 Arten in zwei Gattungen, welche am häufigsten in den außertropischen Zonen der nördlichen Halbkugel sind. Überreste fossiler Gattungen, Aethophyllum und Echinostachys, kommen im Bunten Sandstein, Arten der Gattungen Typha und Sparganium in Tertiärschichten vor.

Typhlitis (griech.), Entzündung des Blinddarms, s. Darmentzündung, S. 555.

Typhlosis (griech.), Blendung, Blindheit.

Typhlotypographie (griech.), s. v. w. Blindendruck (s. d.).

Typhoid (griech., "typhusähnlich"), ein Krankheitszustand, der wegen seines heftigen Fiebers und der dadurch bedingten schweren Gehirnsymptome dem Typhus nahesteht, ohne dessen anatomische Veränderungen zu zeigen. Namentlich hat man zwei Krankheitsformen mit dem Namen des Typhoids belegt, nämlich das biliöse T. und das Choleratyphoid. Ersteres ist eine Infektionskrankheit, welche am nächsten dem Typhus steht. Es wurde bisher beobachtet in Ägypten, in der Krim, in Kleinasien; über seine Ätiologie ist man nicht mehr unterrichtet als über die der typhösen Krankheiten überhaupt. Während das biliöse T. mit dem letztern die allgemeinen klinischen und anatomischen Erscheinungen teilt, ist es symptomatologisch charakterisiert durch die frühzeitig stark hervortretenden Erscheinungen seitens des Verdauungsapparats: Schmerz im Unterleib, Erbrechen, Durchfälle dysenterischer Art, Gelbsucht. Dem entspricht auch der anatomische Befund: starke katarrhalische Entzündung des Magens und Darms, Schwellung und gelbliche Verfärbung der Leber, in den spätern Stadien ausgesprochene fettige Entartung dieses Organs. Die Milz ist kolossal vergrößert, von Tausenden von kleinen Abscessen, den vereiterten Malpighischen Bläschen, durchsetzt; daneben in allen Stadien der Entfärbung und Schrumpfung begriffene blutige Infarkte von zum Teil enormer Größe. Das Choleratyphoid ist eine Nachkrankheit der eigentlichen Cholera (s. d.).

Typhon, Wirbelsturm, s. Teifun.

Typhon (Typhoeus, Typhaon, Typhos), in der griech. Mythologie ein Ungeheuer, Personifikation des wilden Sturms, besonders des Glutwindes, der aus feuerspeienden Bergen hervorbricht. Er liegt nach Homer im Arimerland (Kilikien?), welches von Zeus mit Blitzen gegeißelt wird. Nach Hesiod sind Typhaon und Typhoeus verschiedene Wesen. Ersterer ist der Sohn des letztern und zeugt mit der Echidna den Hund Orthros, den Kerberos, die lernäische Hydra und die Chimära; Typhoeus ist der jüngste Sohn des Tartaros und der Gäa und hat 100 Drachenhäupter. Er sucht die Herrschaft über Götter und Menschen zu gewinnen, aber Zeus bezwingt ihn mit dem Blitz. Seine Söhne sind die Winde, mit Ausnahme der wohlthätigen (Notos, Boreas, Zephyros etc.). Ebenso ist T. bei Äschylos und Pindar ein 100köpfiger Sohn der Erde, der die kilikischen Höhlen bewohnt. - In Ägypten war T. (Seth oder Set, auch Tebha genannt) in alter Zeit ein hoch angesehener Gott, ein Sohn des Seb (Kronos) und der Nut (Rhea). Hier war er der Gott des Kriegs. Die Könige Seti der 19. Dynastie führten von ihm den Namen. Eine besondere Kultusstätte des Set war die Stadt Ombos; allgemeiner jedoch war seine Verehrung in Unterägypten, namentlich unter den dort ansässigen Fremden. Am Ende der 21. Dynastie wurde dieser Gott aus Oberägypten verstoßen; er galt seitdem als Gott der Feinde Ägyptens und wurde allmählich vollständig zum Prinzip alles Bösen umgebildet. Nach der Sage hat er seinen Bruder Osiris umgebracht, dessen Sohn Horos sich dann an ihm in siegreichen Schlachten rächte. Er wird unter der Gestalt eines fabelhaften, eselähnlichen Tiers dargestellt oder doch mit dem Kopf desselben (vgl. Abbildung). Einigemal, wo er in menschlicher Form erscheint, trägt er ein Hörnerpaar. Vgl. E. Meyer, Set-T. (Leipz. 1875).

Typhus (griech.), eigentlich s. v. w. Betäubung, gegenwärtig aber ausschließlich Bezeichnung für verschiedene schwere und unter heftigem Fieber verlaufende Krankheitszustände, bei welchen das Nervensystem in der schwersten Weise ergriffen zu sein und der Kranke in einem anhaltenden Zustand von Betäubung sich zu befinden pflegt (Nervenfieber). Wir unterscheiden drei Formen des T., nämlich den exanthematischen T., den Unterleibs- oder Darmtyphus (t. abdominalis) und den Rückfalltyphus (t. recurrens).

1) Der exanthematische T. (Petechialtyphus,

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Typhus (Fleck-, Lazarett-, Hunger-T.; Unterleibs-T.).

Fleckfieber) ist eine in ausgesprochenster Weise ansteckende Krankheit. Der Ansteckungsstoff ist in der Atmosphäre des Kranken enthalten und besitzt eine außerordentliche Beständigkeit, so daß er sich in schlecht gelüfteten Zimmern ein halbes Jahr lang halten kann, ohne seine Wirksamkeit zu verlieren. Der Ausbruch der Krankheit scheint 7-14 Tage nach erfolgter Ansteckung stattzufinden. Er ist um so ansteckender, in je größerer Zahl die Kranken in einem Zimmer beisammenliegen, und tritt namentlich an solchen Plätzen, an welchen eine große Anzahl von Menschen auf einen engen Raum zusammengedrängt ist, wie auf Schiffen, in Gefängnissen, in Lazaretten etc., auf (Schiffstyphus, Kerker-, Lazarettfieber). Hier scheinen die Ausdünstungen und Exkremente, die Beimischung ihrer Zersetzungsprodukte zu der eingeatmeten Luft, den Nahrungsmitteln und Getränken den wesentlichsten Faktor für die Entstehung des Typhusgifts abzugeben. In Gegenden ferner, wo ein großer Teil der Bevölkerung in Armut und Elend lebt, kommt der exanthematische T. endemisch vor. Besonders nach Mißernten und Teurungen steigert sich mit der Not auch die Häufigkeit der Typhusfälle, und es treten die verheerenden Epidemien des Hungertyphus auf. Ebenso sind belagerte Städte und schlecht versorgte Feldlager häufig der Sitz verheerender Typhusepidemien (Kriegstyphus). Das frühste Kindesalter und das Greisenalter bleiben gewöhnlich vom exanthematischen T. verschont, alle übrigen Lebensalter sind dafür gleich empfänglich. Hat jemand den exanthematischen T. einmal überstanden, so ist seine Disposition für eine neue Erkrankung derselben Art bedeutend abgeschwächt, doch keineswegs ganz getilgt. Der exanthematische T. war von Anfang des 16. bis zum Ende des 18. Jahrh. über alle Länder Europas verbreitet. Während der Kriege im Anfang dieses Jahrhunderts erreichte er seine größte Ausbreitung. Nach jener Zeit schien er auf dem Kontinent ganz verschwunden zu sein, erst in den 40er Jahren zeigte er sich wieder epidemisch in Oberschlesien etc. Gegenwärtig bildet er auf den britischen Inseln und in einzelnen Gegenden Mitteleuropas (Oberschlesien, Polen, russische Ostseeprovinzen) die endemische Form des T. Kleine Epidemien des exanthematischen T. werden überall von Zeit zu Zeit beobachtet und sind dann stets durch Einschleppung von andern Orten her hervorgerufen. Vor dem Ausbruch der Krankheit, in der Zeit der Inkubation, klagen die Kranken meist schon über leichtes Frösteln, Kopfweh, gestörten Schlaf, Appetitlosigkeit etc. Die eigentliche Krankheit beginnt mit einem einmaligen Schüttelfrost und Fiebersymptomen von großer Heftigkeit. Sofort fühlen sich die Kranken aufs äußerste matt und kraftlos, klagen über Schwere und Benommenheit des Kopfes, zuweilen auch über heftigen Kopfschmerz. Dazu gesellen sich Schwindel, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, Schwerhörigkeit, Schmerzen in den Gliedern, Zittern bei den Bewegungen der Arme und Beine. Die Kranken liegen meist schon sehr apathisch im Bett und haben leichte Delirien. Andre Patienten sind aufgeregt und kaum im Bett zu erhalten. Am 3.-5. Tag der Krankheit treten am Rumpf kaum linsengroße rote Flecke auf, welche sich mit dem Finger leicht wegdrücken lassen, aber sofort wiederkehren. Von diesem Exanthem, den Flecken, rührt der Name Fleck-, exanthematischer T. her. Dieselben vermehren sich, breiten sich gegen den Hals und die Gliedmaßen aus, bis endlich der ganze Körper, mit Ausnahme des Gesichts, von ihnen bedeckt ist. Sie verlieren sich erst gegen das Ende der zweiten Krankheitswoche, wobei das Fieber und die tiefe Benommenheit des Bewußtseins gleichzeitig abnehmen. Sie werden später blau-rot, lassen sich dann nicht mehr vollständig wegdrücken und gehen manchmal sogar in wirkliche Petechien, d. h. in kleine Blutergüsse in die Haut, über. Trotz der schweren Fieberbewegung ist der Ausgang in Genesung bei weitem der häufigste. Tritt der Tod ein, so erliegen die Kranken entweder in der zweiten Woche dem hohen Fieber, oder sie enden durch hinzutretende Lungenentzündung. Die Sektion ist im Gegensatz zu dem Unterleibstyphus ohne örtliche Befunde, nur Milz, Leber und Nieren zeigen die allen Infektionskrankheiten gemeinsamen Schwellungen.

2) Der Unterleibs- oder Darmtyphus (T. abdominalis) ist ebenfalls eine Infektionskrankheit, aber nur selten von Person zu Person ansteckend (kontagiös), während Übertragungen des Giftes durch Dejektionen und Wäsche besonders auf Krankenwärter, Wäscherinnen etc. in zahlreichen Fällen außer allem Zweifel gesetzt sind. Eine wichtige Rolle bei der Bildung des Typhusgifts spielen jedenfalls die Zersetzungen tierischer Substanzen und die Beimengung der Zersetzungsprodukte zu den Speisen, Getränken und zu der Luft. Das häufige Vorkommen des T. in dicht bevölkerten Städten, in welchen die Krankheit niemals vollständig erlischt, wohl aber von Zeit zu Zeit eine epidemische Ausbreitung erfährt, scheint meist auf der enormen Zersetzung und Verwesung zu beruhen, in welcher sich der Boden großer Städte wegen massenhafter Aufnahme von Auswurfstoffen befindet. Die Erzeuger des Typhusgifts sind, wie Klebs 1881 nachgewiesen, kleine, stäbchenförmige Spaltpilze (Bakterien), deren nähere Eigenschaften indes noch der Aufklärung harren. - Typhusepidemien pflegen vorzugsweise in feuchten Jahren während des Spätsommers, im Herbst und zu Anfang des Winters zu herrschen. Das Auftreten des T. steht in einer gewissen Wechselbeziehung zu den Schwankungen des Grundwasserstandes (s. Grundwasser). Erreicht infolge atmosphärischer Verhältnisse zu gewissen Zeiten das Grundwasser einen relativ hohen Stand, um später zu seiner normalen Tiefe zu fallen, oder fällt es anderseits einmal absolut sehr tief, so werden relativ große und dicke Schichten des mit organischen, in Zersetzung begriffenen Substanzen durchtränkten Erdreichs trocken gelegt. Infolgedessen tritt eine vermehrte Fäulnis dieser Stoffe ein; die gesundheitsschädlichen Produkte dieser Zersetzung mischen sich dem Trinkwasser bei und werden so als Typhusgift selbst den menschlichen Wohnungen zugeführt. Säuglinge und Greise erkranken sehr selten am T., das mittlere Lebensalter ist am meisten dazu disponiert. Die Zahl der am T. erkrankten Männer ist etwas größer als die der Frauen; kräftige und wohlgenährte Individuen erkranken um vieles leichter als schwächliche und schlecht genährte, und unter den ärmern Klassen der Bevölkerung ist die Krankheit etwas häufiger als unter den wohlhabenden. Schwangere und stillende Frauen sind vor dem T. fast absolut sicher. Nach dem einmaligen Überstehen der Krankheit erlischt mit seltenen Ausnahmen die Disposition zu neuer Erkrankung. Der eigentliche Sitz des Typhusprozesses ist der Darmkanal, besonders die untere Hälfte des Dünndarms. Die Schleimhaut des Dünndarms befindet sich in einem katarrhalischen Zustand. Die Drüsenapparate schwellen durch eine reichliche Zellenwucherung zu markig weichen, flachen Knoten an, in gleicher Weise beteiligen sich die Gekrösdrüsen. Die Milz ist in allen Fällen vergrößert bis

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Typhus (Unterleibs- T.)

zu dem Fünf-, ja Zehnfachen des normalen Volumens; das Gewebe derselben ist in eine äußerst blutreiche, weiche, dabei sehr brüchige Substanz verwandelt. Regelmäßig sind auch in geringerm Grade die Leber und Nieren geschwollen und entzündlich verändert. Die Drüsenhaufen des untern Dünndarms wandeln sich nach kurzem Bestehen an ihrer Oberfläche in eine bräunliche oder gallig durchtränkte, schorfartige Masse um, welche abgestoßen wird. Auf der Schleimhaut zeigt sich dann ein typhöses Geschwür, welches ohne Zurücklassung einer Narbe zu heilen pflegt. In ungünstigen Fällen geht das Geschwür in der Schleimhaut auf die darunterliegende Muskelhaut über und kann sogar zur Durchbohrung der Darmwand, damit zu allgemeiner Bauchfellentzündung und zum Tod führen. Außer dem untern Dünndarm (Ileotyphus) wird häufig auch der Anfangsteil des Dickdarms (Kolotyphus), selten die Schleimhaut des obern Dünndarms und noch seltener die des Magens (Gastrotyphus) der Sitz der typhösen Geschwüre. An manchen Orten und in manchen Epidemien treten die Typhusgeschwüre auch auf der Kehlkopfschleimhaut (Laryngotyphus) auf. Stets trifft man bei T. auch einen hochgradigen Katarrh der Schleimhaut der Luftwege an, welchem sich Lungenentzündung, Pleuritis etc. anschließen können. Der T. beginnt gewöhnlich mit einem allgemeinen Krankheitsgefühl, psychischer Verstimmung, großer Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhigem Schlaf, Kopfschmerzen, Schwindel, Schmerzen in den Gliedern und manchmal wiederholtem Nasenbluten. Bald setzt dann mit einem Frostanfall das hohe Fieber mit seinen oben beschriebenen nervösen Zufällen ein. Der Unterleib ist gewöhnlich schon in den ersten Tagen etwas aufgetrieben und gespannt; ein tiefer Druck auf denselben ist dem Kranken empfindlich, namentlich wenn er in der rechten Unterbauchgegend ausgeübt wird. An dieser Stelle pflegt man bei Druck, sobald Durchfälle eingetreten sind, auch ein eigentümliches gurrendes Geräusch (Ileocökalgeräusch) wahrzunehmen. Auf der Haut des Bauches und der Brust findet man jetzt auch vereinzelte rote, linsengroße Flecke (roseolae), welche sich durch Fingerdruck entfernen lassen, alsbald aber wieder zurückkehren. Die Körpertemperatur erreicht in den ersten acht Tagen eine Höhe bis zu 40° C. und ist am Abend um 1/2° höher als am nächstfolgenden Morgen. Die Pulsfrequenz ist dabei verhältnismäßig gering, 90-100 Schläge in der Minute. Der Harn ist dunkel, in seiner Menge gewöhnlich vermindert. In der zweiten Woche des T. hören die Kranken auf, über Kopfschmerz und Gliederschmerzen zu klagen; der Schwindel aber wird heftiger, zu dem Ohrenbrausen gesellt sich Schwerhörigkeit. Der Gesichtsausdruck des Kranken wird stupider, seine Teilnahmlosigkeit immer größer. Das Bewußtsein wird umnebelt, und die Kranken verfallen allmählich in einen Zustand von Schlafsucht und Betäubung. Sie lassen jetzt Stuhl und Urin häufig unter sich gehen, liegen fast regungslos in anhaltender Rückenlage, sind im Bett herabgesunken und haben die Kniee gespreizt. Nur zeitweilig verrät eine zitternde Bewegung der Lippen oder einzelne unverständltche Worte, welche die Kranken murmeln, daß die psychischen Funktionen nicht gänzlich ruhen. Andre Kranke zeigen, daß sie gegen die sie umgebende Außenwelt vollständig unempfindlich sind, werfen sich fortwährend im Bett hin und her, versuchen das Bett zu verlassen, sich zu entblößen; sie gestikulieren, führen Gespräche oder bringen unzusammenhängende Worte hervor. Fast immer erfolgen in der zweiten Woche täglich mehrere (meist 3-4) Durchfälle von wässeriger Beschaffenheit. Die Atmung ist beschleunigt und oberflächlich. Die Wangen haben anstatt der hochroten Färbung eine mehr bläuliche angenommen, die Augenlider sind halb geschlossen, die Augenbindehaut gerötet, die Nasenlöcher erscheinen (von eingetrocknetem Schleim) wie angeraucht, Zahnfleisch, Zähne und Zunge sind mit einem schwärzlichen Belag versehen, der Atem ist stinkend. Der Unterleib ist durch größern Luftgehalt der Därme trommelartig aufgetrieben, die Empfindlichkeit desselben gegen Druck und das Ileocökalgeräusch bestehen fort. Die Milzanschwellung hat zugenommen, die Roseolae auf dem Bauch haben sich manchmal noch vermehrt, dazu ist die Haut mit zahllosen kleinen Schwitzbläschen bedeckt. Die Körpertemperatur zeigt sich in den Abendstunden auf 40-41,5° C. gesteigert, in den Morgenstunden tritt nur ein schwacher Nachlaß derselben ein. Der Puls macht 110-120 Schläge in der Minute. In der dritten Woche des T. erreicht die Schwäche des Kranken ihren höchsten Grad, die lauten Delirien hören auf, die Aufregung und Unruhe weicht einer stets zunehmenden Unempfindlichkeit für alles, was ringsumher vor sich geht. Die Erscheinungen am Unterleib und an der Brust nehmen noch zu, auch die Körpertemperatur und die Pulsfrequenz sind eher gesteigert als vermindert. Die meisten Fälle eines tödlichen Ausganges fallen in die dritte Woche. In günstigen Fällen stellt sich etwa in der Mitte der dritten Woche eine Abnahme der Krankheitserscheinungen ein. Die Körpertemperatur erreicht zwar am Abend noch 40-41° C., pflegt aber des Morgens um 2° niedriger zu sein. Nach mehreren Tagen gehen auch die Abendtemperaturen ganz allmählich herab, mit der Körpertemperatur sinkt auch die Pulsfrequenz. Diese allgemeine Besserung, welche häufig auch erst in der vierten Woche eintritt, geht entweder direkt in Genesung über, welche aber stets sehr langsam verläuft, oder es schließen sich Nachkrankheiten verschiedener Art oder neue Ablagerung von Typhusmasse im Darm an (Typhusrecidiv), und der Kranke geht darüber bald zu Grunde, bald wenigstens vergehen noch Wochen bis zum Beginn der definitiven Genesung. Der bisher geschilderte Verlauf des T. zeigt mannigfache Modifikationen. Unter Abortivtyphus (Febricula, Febris typhoides) versteht man die besonders leicht und schnell fast nach Art eines akuten Magenkatarrhs verlaufenden Fälle von T. Eine andre Modifikation ist der T. ambulatorius. leichte Typhusfälle, bei welchen unter verhältnismäßig leichten anatomischen und klinischen Erscheinungen die Kranken umhergehen und, wenn auch mangelhaft und unter großer Selbstüberwindung, ihre gewöhnlichen Geschäfte zu besorgen im stande sind. In andern Fällen zeigt der T. einen höchst tumultuarischen Verlauf, die Krankheitserscheinungen folgen schneller als gewöhnlich auf einander, die Kranken gehen dann oft schon frühzeitig (Ende der ersten, Anfang der zweiten Woche) zu Grunde. Zwischen allen den genannten Typhusformen besteht jeder nur denkbare Übergang. Unter den Zwischenfällen, welche den normalen Verlauf des T. in den ersten Krankheitswochen unterbrechen, sind die wesentlichsten die Verschwärungen von Darmarterien, durch welche profuse und in nicht seltenen Fällen tödliche Blutungen des Darms hervorgerufen werden. Unter den zahlreichen Nachkrankheiten des T. sind zu nennen: die Lungenentzündung, Pleuritis, die Parotitis, die Nierenentzündung etc., Nachkrantheiten, welche in den meisten Fällen den Tod des Patienten herbeiführen. Der

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Typik - Typolithographie.

T. geht am häufigsten in Genesung über. Während früher eine Sterblichkeit von etwa 25 Proz. bestand, ist dieselbe heute auf durchschnittlich 10 Proz. herabgemindert, und man bezeichnet eine Typhusepidemie mit höherer Durchschnittssterblichkeit als "schwere", mit niedrigerer als "leichte". Was die Behandlung des T. anbetrifft, so ist es zuvörderst geraten, den Kranken zu isolieren. Das Krankenzimmer muß groß sein und oft und gründlich gelüftet werden. Die Zimmertemperatur darf 14° nicht überschreiten. Der Körper des Kranken muß ängstlich reinlich gehalten und vor dem Aufliegen geschützt werden (durch sorgfältige Zubereitung des Lagers). Der Mund muß mit einem reinen angefeuchteten Leinwandläppchen regelmäßig gereinigt und der stinkende Belag der Zähne etc. entfernt werden. Als Getränk gibt man einfach Wasser und fordert zu fleißigem Trinken auf. Von Medikamenten gibt es kein Spezifikum gegen T. Vielfach wird, besonders im Anfang der Krankheit, Kalomel mit gutem Erfolg verabreicht, von manchen eine Mischung von Jod und Jodkali gerühmt, außerdem kommen unter Umständen Antipyretika, wie Chinin, Salicylsäure etc., in Anwendung. Viel wichtiger ist eine richtige Diät, die im Hinblick auf den langwierigen und konsumierenden Verlauf des T. kräftigend und leicht verdaulich sein muß. Deshalb wird Milch in reichlichen Quantitäten, Kakao mit Milch, Bouillon mit Ei, bei Appetit auf feste Speisen eingeweichtes Weißbrot und Wein gereicht. Die Heftigkeit des Fiebers, von welcher im Anfang der Krankheit die meiste Gefahr droht, bekämpft man durch energische Wärmeentziehung, namentlich durch kalte Bäder. Diese systematische, von E. Brand eingeführte Kaltwasserbehandlung besteht in Vollbädern, die man von 24° C. auf 20° abkühlt, und in welche man den Kranken, solange die Körperwärme 39° C. übersteigt, von Anfang bis Ende der Krankheit, bei Tag und bei Nacht alle 3 Stunden auf etwa 15 Minuten hineinträgt. Neben der Herabsetzung des Fiebers erreicht man durch diese Bäderkur einmal eine Reinigung des Körpers und ferner eine allgemeine Erfrischung und Ermunterung besonders der unbesinnlichen Kranken. Nach dem Bad wird der Kranke in wollenen Laken frottiert, abgetrocknet und durch Wein gestärkt. Die schweren Typhusfälle werden hierdurch in leichte umgewandelt, die Sterblichkeit auf ein Minimum herabgesetzt. Während der Rekonvaleszenz muß die Diät der Kranken mit ängstlicher Sorgfalt überwacht werden. Die Genesenden pflegen einen außerordentlichen Appetit zu entwickeln und müssen daher vor zu reichlichen Mahlzeiten, schwerverdaulichen, groben Speisen sorgfältig gehütet werden. Man wiederholt deshalb die Mahlzeiten lieber häufiger, gibt aber nur kleine Portionen; anfangs ist nur flüssige oder halbflüssige Nahrung (Milch, weiche Eier) zu gewähren, allmählich geht man zu Fleischdiät und zu Pflanzenkost über. Jeder Diätfehler bringt den Genesenden wieder in Gefahr, und jede scheinbar geringfügige Störung der Verdauung erfordert die sorgfältigste Berücksichtigung.

3) Mehr mit dem Flecktyphus als dem Unterleibstyphus verwandt ist der Rückfalltyphus (das rekurrierende Fieber, T. recurrens, engl. Relapsing Fever). Auch diese Form des schweren nervösen Fiebers ist ansteckend und tritt epidemisch auf, namentlich wo eine dichte arme Bevölkerung in unreinlichen Wohnungen und von kärglicher Nahrung lebt, so daß als Hunger- oder Kriegstyphus bald die exanthematische, bald die rekurrierende Krankheitsform im Vordergrund steht. Der Rückfalltyphus ist dadurch ausgezeichnet, daß nach einem mehrtägigen heftigen Fieber, das 40° C. und darüber erreicht, plötzlich unter reichlichem Schweiß ein Abfall bis zu 37 oder 36,5° C. einsetzt, an den sich eine mehrtägige, völlig fieberfreie Pause anschließt. Ebenso plötzlich kommt nun der Rückfall, er währt 3, 4 oder 5 Tage, und wieder sinkt er ebenso schnell wie das erste Mal. Drei bis vier solcher Fieberperioden folgen einander, dann tritt langsame Genesung ein. Der Tod ist so selten, daß beinahe immer eine Lungenentzündung oder Ähnliches zu vermuten ist, wenn ein Kranker im Fieberanfall zu Grunde geht. Die Ursache des Rückfalltyphus ist besser gekannt als die der andern Typhen: Obermeier hat gefunden, daß zur Fieberzeit das Blut der Kranken zahllose mikroskopische Pilzfädchen (Spirochäten, s. Spirillum) von geschlängelter Gestalt enthält, welche in der fieberfreien Periode fehlen; nur das pilzhaltige Blut vermag bei Impfungen das Krankheitsgift zu übertragen, wie direkte Versuche an Menschen, in Odessa ausgeführt, dargethan haben. Leider besitzen wir noch immer keine Kunde von der Herkunft der Spirochäte und noch weniger von einem Mittel, ihre Vegetation im lebenden Körper zu bekämpfen. Die Behandlung besteht daher nur in Darreichung kräftiger, anreizender Diät. Der Rückfalltyphus ist schon im vorigen Jahrhundert in einzelnen Ländern vorgekommen; doch hat man ihn erst genauer kennen gelernt in der von 1843 bis 1848 andauernden großen Epidemie, die Schottland und Irland überzog, ferner bei Gelegenheit der ägyptischen Epidemie und neuerdings 1864-1865, als die Seuche in Petersburg in großer Ausbreitung herrschte. Seit dem Jahr 1871 ist der Rückfalltyphus auch in einzelnen Gegenden Deutschlands in epidemischer Verbreitung beobachtet worden. Er wurde aus Polen und den russischen Ostseeprovinzen eingeschleppt und trat in den östlichen Provinzen Preußens, vorzugsweise in Breslau, 1873 auch in Berlin, Leipzig, Dresden, Wien etc. auf. Vgl. Griesinger, Infektionskrankheiten (2. Aufl., Erlang. 1864); Girgensohn,Die Rekurrensepidemie in Riga 1865-75; Virchow, Über den Hungertyphus und einige verwandte Krankheitsformen (Berl. 1868); v. Pastau, Die Petechialtyphus-Epidemie in Breslau 1868/69 (Bresl. 1871); Murchison, Die typhoiden Krankheiten (deutsch, Braunschw. 1867); Brunner, Die Infektionskrankheiten (Stuttg. 1876); Seitz, Der Abdominaltyphus (das. 1888); Brand, Über den heutigen Stand der Wasserbehandlung des Typhus (Berl. 1887).

Typik (griech., typische Theologie), s. Typus.

Typographie (griech.), Buchdruckerkunst.

Typolithographie (griech.), sowohl der Druck von hoch geätzten Steinen auf der Buchdruckpresse (Tissiérographie, s. d.) als auch der Druck von Umdrucken, die vom Schriftsatz oder von Holzschnitten auf Stein gewonnen wurden, deren Vervielfältigung alsdann auf der Steindruckpresse allein oder mit lithographierten Zeichnungen vereinigt erfolgt; letzteres geschieht meist in Fällen, wo ein wortreicher Text, dessen Herstellung für den Lithographen schwierig und zeitraubend sein würde, bildliche Darstellungen zu begleiten hat. Der überdruck wird mit starker Farbe auf glattes, festes Papier gemacht, dessen bedruckte Seite man auf den vorgängig mit trocknem Bimsstein geschliffenen lithographischen Stein legt, der nun durch die Presse gezogen wird. Auch ältere Drucke lassen sich vermittelst chemischer Behandlung auffrischen, auf Stein übertragen und vervielfältigen (s. Anastatischer Druck und Reproduktionsverfahren).

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Typologie - Tyrone

Typologie (griech.), s. Typus.

Typometer (griech.), ein in der Schriftgießerei gebrauchtes Meßinstrument zur mathematisch genauen Feststellung der Kegelstärke der Schrift. Seit 1879 bildet das von H. Berthold in Berlin auf wissenschaftlicher Basis begründete T. die Norm für die Schriftgrößen in den deutschen Gießereien.

Typometrie (griech.), das Verfahren, auf typographischem Weg Landkarten, Pläne, geometrische Figuren herzustellen. Die ersten Versuche von Haas in Basel (1770) und Breitkopf in Leipzig wurden später von Didot in Paris und namentlich von Raffelsberger in Wien vervollkommt. Die T. ist durch die Chemitypie und die photomechanischen Reproduktionsverfahren vollständig verdrängt.

Typoskop, s. Kaleidoskop.

Typus (griech., Mehrzahl: Typen), Vorbild, Urbild; die mehreren Dingen einer und derselben Art oder Gattung gemeinsame (ideelle) Grundform, z. B. T. einer Tier-, einer Pflanzengattung, einer Krankheit etc. Typik und Typologie, in der ältern Theologie die Wissenschaft von der vorbildlichen Beziehung, in welcher gewisse Personen, Ereignisse, Einrichtungen und Aussprüche des Alten Testaments mit ihren entsprechenden Gegenbildern (Antitypen) im Christentum stehen sollten.

Tyr, in der nordischen Mythologie Sohn Odins und der Frigg, der Gott des Kriegs und des Schwerts, einer der vornehmsten Asen. Er allein besaß den Mut, den grimmigen Fenrirwolf, der die Asen in Asgard bedrohte, zu bändigen, wobei er seine eine Hand einbüßte. Beim Weltuntergang kämpft er mit dem Höllenhund Garm, und beide töten sich wechselseitig. Nach ihm wurde der Dienstag (s. d.) benannt. Bei den alten Sachsen hieß T. Saxnot (angels. Saxneat), bei den Schwaben Ziu.

Tyralin, s. v. w. Fuchsin, s. Anilin, S. 591.

Tyrann (griech. Tyrannos), ursprünglich jeder unbeschränkte Herrscher, dann insbesondere ein Alleinherrscher, der nicht durch Erbschaft, sondern durch den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verfassung an die Spitze des Staats gekommen war, so daß man unter T. im geschichtlichen Sinn den Inhaber einer angemaßten Alleinherrschaft (Tyrannis) zu verstehen hat, während Äsymnet (s. d.) einen durch friedliche Übereinkunft zur Neuordnung der Verfassung eingesetzten Herrscher bezeichnet. Die Tyrannis ist im 7. und 6. Jahrh. v. Chr. in vielen griechischen Staaten die Zwischenstufe zwischen der oligarchischen oder aristokratischen Staatsform und der Demokratie, indem sich ein ehrgeiziges Mitglied der Aristokratie an die Spitze des unterdrückten Volkes stellte, sich eine Leibwache geben ließ und mit dieser den Staat nach unbeschränkter Willkür beherrschte; während der reiche Adel unterdrückt wurde, hoben die Tyrannen das Volk durch Erhaltung des Friedens, Begünstigung von Handel und Gewerbe, Bauten u. dgl. Daher gab es unter den Tyrannen viele treffliche Herrscher, wie Peisistratos in Athen, Gelon und Hieron II. in Syrakus, Periandros in Korinth, Kleisthenes in Sikyon u. a.; jedoch auch diese oder ihre Nachkommen wurden meist durch den gewaltthätigen Ursprung ihrer Macht schließlich doch zu neuen Gewalttaten getrieben. Als daher nach dem allgemeinen Sieg der republikanischen Staatsform in Griechenland die Monarchie überhaupt als eine unwürdige, sklavische Staatsform angesehen wurde, verband man mit dem Namen eines Tyrannen den Begriff eines grausamen, willkürlichen Herrschers, wie es deren in der Zeit des Verfalls mehrere gab; in diesem Sinn heißen auch die von Lysandros in Athen zur Einführung einer neuen Verfassung eingesetzten 30 Männer, welche ihr Amt zu grausamer Willkürherrschaft mißbrauchten, die Dreißig Tyrannen. In der spätern römischen Geschichte werden die Statthalter, die sich unter Gallienus in den verschiedenen Provinzen des Reichs 260-268 n. Chr. zu Gegenkaisern aufwarfen, aber bald wieder gestürzt wurden, auch als dreißig Tyrannen bezeichnet. Vgl. Plaß, Die Tyrannis bei den Griechen (Leipz. 1859, 2 Bde.).

Tyrann (Königswürger, Tyrannus intrepidus Temm.), Vogel aus der artenreichen, nur in Amerika vertretenen Familie der Tyrannen (Tyrannidae) und der Ordnung der Sperlingsvögel, 21 cm lang, mit ziemlich langen, spitzen Flügeln, ziemlich langem, breitem, abgerundetem Schwanz, kräftigen, hochläufigen, starkzehigen Beinen und etwa kopflangem, starkem, geradem, an der Spitze hakig herabgebogenem Schnabel, ist oberseits dunkel blaugrau mit einer Haube aus feuerfarbig gerandeten Federn, auf der Unterseite grauweiß, an Hals und Kehle weiß, mit bräunlichschwarzen, an der Spitze weißen Schwingen und Steuerfedern. Er lebt als Zugvogel in Nordamerika, findet sich in Baumgärten, an Waldrändern, Ufern und auf Feldern, nährt sich von Kerbtieren und verfolgt mit dem größten Mut Raubvögel, Krähen und Katzen, besonders während das Weibchen brütet, zum Schutz des eignen Nestes. Das Gelege besteht aus 4-6 rötlichweißen, braun getüpfelten Eiern. Man jagt ihn seines zarten Fleisches halber.

Tyrannius, Kirchenschriftsteller, s. Rufinus 2).

Tyras, antiker Name des Dnjestr.

Tyraß, Deckgarn zum Fang von Rebhühnern etc. von etwa 20 m Länge und 15 m Breite mit 4 cm. Maschenweite, von starkem Garn spiegelig gestrickt. Zwei Jäger ziehen das Garn an einer daran befestigten Leine über die Hühner, vor welchen ein sicherer Hühnerhund feststeht, nach diesen zu und bedecken sie mit dem Rock, wenn sie unter dem Netz aufflattern.

Tyree (spr. tirríh), Insel, s. Tiree.

Tyres (engl., spr. teirs), s. v. w. Tires.

Tyrnau, s. Tirnau.

Tyrnavos, Hauptort der gleichnamigen Eparchie im griechischen Nomos Larissa (Thessalien), am nördlichen Ufer des Xerias (Europos), 3 km von der türkischen Grenze gelegen, hat (1883) 4337 Einw., gute Schulen, eine Kaserne und Baumwoll- und Seidenweberei.

Tyroglyphus, s. Milben; Tyroglyphidae (Käsemilben), Familie aus der Ordnung der Milben (s. d., S. 606).

Tyrolienne (franz.), s. Ländler.

Tyrone (spr. tirróhn) , Binnengrafschaft in der irischen Provinz Ulster, umfaßt 3264 qkm (59,3 QM.), wovon 42 Proz. auf Seen, Sümpfe und Moore kommen, ist, mit Ausnahme des östlichen Teils am See Neagh, ein Hügelland und reich an Naturschönheiten, weshalb sie vielfach von Touristen besucht wird. Indes steigen die Hügel nur an der Nordgrenze (Slieve Sawel 683 m) zu bedeutenderer Höhe an. Unter den zahlreichen kleinen Flüssen sind der Foyle (Strule), mit seinen Zuflüssen Moyle und Derg, und der Blackwater die wichtigsten. Der Boden ist an einzelnen Stellen, besonders in den Sumpf- und Moorgegenden, der Kultur ganz unzugänglich, an andern Stellen dagegen höchst fruchtbar und erzeugt dort alle in Irland überhaupt heimischen Produkte. Von Mineralien werden Steinkohlen in geringer Menge gewonnen. Die Bevölkerung ist sehr im Abnehmen begriffen (1851 : 251,865, dagegen 1881 nur noch 197,719 Seelen, worunter 56 Proz. Katholiken) und lebt in

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Tyros - Tzetzes.

größter Dürftigkeit. Haupterwerbsquelle ist die Viehzucht (1881: 23,823 Pferde, 155,116 Rinder, 45,933 Schafe, 28,417 Schweine), weniger der Ackerbau. Die Industrie beschränkt sich auf Flachs- und Garnspinnerei; ebenso ist der Handel ohne wesentliche Bedeutung. Hauptstadt ist Omagh.

Tyros (hebr. Sor, "Felsen"), eine der berühmtesten Städte des Altertums, nebst Sidon die wichtigste und reichste See- und Handelsstadt Phönikiens, 200 Stadien (38 km) von Sidon, lag teils auf dem Festland, teils auf zwei kleinen, flachen, aber felsigen Inseln und war weniger bedeutend, bis im 10. Jahrh. v. Chr. König Hiram, der Freund Davids und Salomos, die beiden Inseln durch Aufschüttung vereinigte und erweiterte, zwei Häfen anlegte und die Stadt mit hohen Mauern umgab. Die Doppelinsel, 1600 Schritt von der Festlandküste entfernt, hatte nur 22 Stadien (5300 Schritt) im Umfang, weshalb man genötigt war, die Häuser sehr hoch (5-6 Stockwerke) zu bauen. Auf ihr befand sich ein uralter Tempel des Melkart, der von den Kolonien jährlich mit Geschenken beschickt wurde. T. überflügelte bald Sidon, beherrschte den Handel und die Kolonisation im westlichen Mittelmeer (von hier ging 846 v. Chr. die Gründung Karthagos aus) und brachte die ganze südliche Küste bis zum Berg Karmel unter seine Gewalt. Die assyrischen Könige Salmanassar und Sargon belagerten T. fünf Jahre lang, 725-720, vergeblich, und Nebukadnezar konnte es erst 573 nach 13jähriger Belagerung erobern. Als Alexander nach dem Sieg bei Issos 333 Phönikien betrat, verweigerte T. dem Sieger den Einzug, wurde von diesem belagert, aber erst nach siebenmonatlicher schwerer Anstrengung der Flotte und Landarmee, welch letztere auf einem vom Festland aus geführten Erddamm vorging, erobert (332). Dieser Damm hat sich allmählich durch Anspülung zu jenem Isthmus verbreitert, welcher die Insel heute mit dem Festland verbindet. Die Stadt hatte dann noch einmal eine 14monatliche Belagerung durch Antigonos auszuhalten. Unter der römischen Herrschaft behielt sie ihre Freiheit und eigne Verfassung, blühte durch Handel und Industrie (Metallwaren, Weberei und Purpurfärberei) und ward vom Kaiser Severus zur römischen Kolonie erhoben. In den Kreuzzügen galt sie für einen festen Platz, der von den Kreuzfahrern bis 1191 standhaft behauptet wurde. Friedrich Barbarossa wurde 1190 dort begraben. Unter der türkischen Regierung kam T. herab; verheerende Erdbeben hatten das Versinken ganzer Stadtteile unter den Meeresspiegel zur Folge. Das heutige Sur erfüllt kaum ein Dritteil der ehemaligen Insel und ist ein Ort von einigen hundert elenden Häusern mit ca. 5000 Einw. (zur Hälfte Mohammedaner, zur Hälfte Christen, wenige Juden). Der Hafen ist versandet. Das interessanteste Gebäude ist die aus dem 12. Jahrh. stammende Kreuzfahrerkirche.

Tyrosin C9H11NO3 findet sich in einigen tierischen Geweben, besonders in der Leber und Bauchspeicheldrüse, entsteht neben Leucin bei der Fäulnis eiweißartiger Stoffe (daher im alten Käse) und bei Behandlung derselben, der Wolle und des Horns mit verdünnter Schwefelsäure oder kaustischen Alkalien. Es bildet feine, farb- und geruchlose Kristalle, löst fich in Wasser und Alkohol, nicht in Äther und verbindet sich mit Säuren, Basen und Salzen, gibt bei schnellem Erhitzen Phenol, mit schmelzendem Ätzkali Paraoxybenzoesäure, Essigsäure und Ammoniak.

Tyrrhener (Tyrrheni,Tyrseni), pelasgischer Volksstamm, der, vor dem Trojanischen Krieg aus Kleinasien verdrängt, sich nach Attika gewendet, dann aber, auch von dort vertrieben, sich zerstreut und namentlich auf Lemnos, Imbros und an der Küste von Italien angesiedelt haben soll, wo er sich durch seine Seeräubereien den Hellenen furchtbar machte. Von den Griechen werden aber auch die Etrusker T. sowie deren Land Tyrrhenien genannt, und es wird erzählt, daß Tyrrhenus, Sohn des lydischen Königs Atys, dahin ausgewandert sei und dem Land und Volk den Namen gegeben habe. S. Etrurien.

Tyrrhenisches Meer (Toscanisches Meer), der Teil des Mittelländischen Meers, welcher zwischen der Südwestküste Italiens und den Inseln Corsica, Sardinien und Sizilien liegt und die Golfe von Gaeta, Neapel, Salerno, Sant' Eufemia und Gioja bildet; hieß im Altertum Mare Tyrrhenum oder Mare Tuscum (nach dem an seiner Küste herrschenden tyrrhenischen Stamm der Etrusker oder Tusker), auch Mare inferum. S. Karte "Mittelmeerländer".

Tyrtäos, griech. Elegiker des 7. Jahrh. v. Chr., aus Athen oder aus Aphidnä in Attika, verpflanzte die ionische Elegie nach dem dorischen Sparta. Nach der Sage erbaten die Spartaner in der Bedrängnis des zweiten Messenischen Kriegs auf die Weisung des delphischen Orakels einen Führer von den Athenern, die ihnen den lahmen T. schickten; diesem gelang es, durch seine Elegien die entzweiten Spartaner zur Eintracht zurückzuführen und zu solcher Tapferkeit zu entflammen, daß sie den Sieg gewannen. Gewiß ist, daß sich T.' Gesänge bis auf die spätesten Zeiten im Munde der spartanischen Jugend erhielten. Sie waren teils im elegischen Versmaß und in episch-ionischer Mundart, teils im anapästischen Marschmetrum abgefaßt. Außer Bruchstücken einer "Eunomia" ("Gesetzmäßigkeit") betitelten Elegie, durch welche er die Zwietracht der Spartaner beschwichtigte, und eines Marschliedes besitzen wir von seinen "Ermahnungen" ("Hypothekar") genannten Kriegselegien noch drei vollständig, die zu den schönsten Überresten der antiken Poesie gehören. Ausgaben von Schneidewin ("Delectus poesis graecae elegiacae", Bd. 1, Götting. 1838) und Bergk ("Poetae lyrici graeci", Bd.2); Übersetzung von Weber("Die elegischen Dichter der Hellenen", Frankf. 1826) u. a.

Tysmienica, Stadt in Galizien, Bezirkshauptmannschast Tlumacz, an der Staatsbahnlinie Stanislau-Husiatyn, mit Bezirksgericht, Schloß, Dominikanerkloster, Handel (Pferde) und (1880) 7180 Einw.

Tyssaer Wände, s. Tetschen.

Tzako, s. v. w. Tschako.

Tzendalen (Tsendals), Indianerstamm, zum Mayastamm gehörig, im mexikan. Staat Chiapas und im benachbarten Guatemala, an den Quellen von Tabasco und Uzumazinta. Vgl. Stoll, Zur Ethnographie der Republik Guatemala (Zürich 1884).

Tzetzes, Johannes, griech. Grammatiker und Dichter aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrh., lebte in Konstantinopel vom Hof, namentlich von der Kaiserin Irene, begünstigt und war ein für seine Zeit belesener, aber oberflächlicher und dünkelhafter Gelehrter, wie seine zahlreichen Schriften erkennen lassen. Außer Kommentaren zu Homer, Hesiod, Aristophanes, Lykophron u.a., deren Wert in den benutzten Schriften beruht, verfaßte er ein Epos in 1665 schlechten Hexametern: "Iliaca", bestehend aus drei Abteilungen: "Antehomerica", "Homerica" u. "Posthomerica" (hrsg. von Bekker, Berl. 18I6; von Lehrs, Par. 1840), und ein "Geschichtenbuch" ("Biblos historike") von 12,661 politischen Versen, gewöhnlich nach einer unbegründeten Einteilung in 13 Abschnitte von ca. 1000 Versen "Chiliades" genannt (hrsg. von Kießling,

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Tzimisces - Ubbelohde.

Leipz. 1826), eine ebenso ungenießbare wie durch die Fülle sonst verlorner Notizen wertvolle Sammlung mythischer und historischer Erzählungen.

Tzimisces, Johannes, oström. Kaiser, geboren um 925 in Armenien, kämpfte siegreich gegen die Araber, unterstützte Nikephoros Phokas 963 bei seiner Thronbesteigung, ermordete ihn aber 11. Dez. 969 auf Anstiften der Kaiserin Theophano, welche er darauf nach der Insel Prote verbannte, und nahm selbst vom Thron Besitz. Obwohl zu Ausschweifungen geneigt, regierte er mild und gerecht, besiegte den russischen Fürsten Swätoslaw, welcher das zerrüttete Bulgarenreich zu erobern suchte, in heftigen Kämpfen 970 und 971, machte selbst die Bulgaren unterthänig und setzte ebenso glücklich die Eroberungen seines Vorgängers in Syrien und Armenien fort. Mit dem deutschen Kaiser Otto I. schloß er Frieden und sandte die Prinzessin Theophano als Gattin für den Sohn desselben, Otto II. (972). Er starb schon 976, wahrscheinlich vergiftet.

Tzschirner, Heinrich Gottlieb, protest. Theolog, geb. 14. Nov. 1778 zu Mittweida in Sachsen, ward Diakonus in seiner Vaterstadt, 1805 Professor der Theologie zu Wittenberg und 1809 in Leipzig, 1815 auch Superintendent daselbst, 1818 Domherr des Hochstifts Meißen; starb 17. Febr. 1828. Als akademischer Lehrer übte T. großen Einfluß. Unter seinen durchweg den rationalistischen Standpunkt vertretenden Schriften nennen wir: "Der Fall des Heidentums" (Leipz. 1829); die Fortsetzung der "Kirchengeschichte" Schröckhs (s. d.); "Protestantismus und Katholizismus aus dem Standpunkt der Politik" (4. Aufl., das. 1824); "Das Reaktionssystem" (2. Aufl., das. 1825). Mit Stäudlin gab er das "Archiv für alte und neue Kirchengeschichte", mit demselben und Vater das "Kirchenhistorische Archiv", mit Keil und Rosenmüller die "Analekten" heraus und redigierte seit 1822 das "Magazin für Prediger". Aus seinem Nachlaß erschienen "Vorlesungen über die christliche Glaubenslehre" (Leipz. 1829).

U

U, u, lat. U, u, der dumpfste und tiefste der Vokale, entsteht dadurch, daß bei der Aussprache die ganze Zunge nach hinten gezogen und in ihrem hintern Teil zum Gaumen emporgehoben wird, während die Lippen sich bis auf eine kleine kreisförmige Öffnung zusammenziehen und gleichzeitig etwas vorgeschoben werden. Es bildet sich dadurch ein ziemlich großer Resonanzraum mit kleiner runder Ausflußöffnung von der Gestalt einer bauchigen Flasche ohne Hals; solche Flaschen geben die tiefsten Töne. Daher ist es bei musikalischen Kompositionen eine Regel, auf ein u keinen hohen Ton zu setzen, weil derselbe nicht gesungen werden kann. In der Sprachgeschichte zeigt das u vielfach die Tendenz, in das hellere v, namentlich aber in das noch hellere ü überzugehen. So wird das französische u schon im Altfranzösischen wie ü gesprochen; hieraus ist das englische u = ju, z. B. in hue (spr. hjuh), entstanden, während das kurze englische u meist wie ö gesprochen wird. Auch das griechische Zeichen &ny;, von dem unser u abstammt, nahm früh die Bedeutung eines ü an, während der einfache Laut u durch die zwei Buchstaben ou ausgedrückt wurde. Als die Römer ihr Alphabet von den unteritalischen Griechen übernahmen, hatte u oder v noch den Lautwert eines u; sie gaben ihm aber die Doppelbedeutung eines u und eines w. Erst im Mittelalter begann man zwischen u (u) und v (v) auch in der Schrift den noch jetzt bestehenden Unterschied zu machen; dazu kam dann ein neues Zeichen für w (s. W). Noch jetzt ist das u Vertreter des w in der deutschen und englischen Aussprache des qu, worin q für k steht. Das deutsche ü, der Umlaut von u, tritt ebenso wie das u der Kurrentschrift mit u-Häubchen (u-Strich) erst im spätern Mittelalter auf; ersteres stammt von einem u mit darübergeschriebenem e, letzteres von u mit darübergesetztem o ab.

Abkürzungen.

Als Abkürzung bezeichnet U bei den Römern unter anderm Urbs ("Stadt", nämlich Rom), insbesondere u. c. bei chronologischen Angaben urbis conditae (urbe condita). d. h. von der Erbauung der Stadt (Rom) an gerechnet. In der Chemie ist U Zeichen für Uran; in den Blaufarbenwerken für Kobaltblau (s. d.).

u. = Ultimo (s. d.).

u. A. w. g. = um Antwort wird gebeten.

u. c., in der Musik = una corda (s. Corda).

u. i. = ut infra (lat.), wie unten

u. j. d. = utriusqae juris doctor (lat.), Doktor beider Rechte.

U. K. = United Kingdom, Vereinigtes Königreich (Großbritannien).

U. L. F. = Unsre Liebe Frau, d. h. die Jungfrau Maria.

ü. M. = über dem Meeresspiegel (bei Höhenangaben).

u. s. = ut supra (lat.), wie oben.

U. S. oder U. S. A. (Am.) = United States (of America), Vereinigte Staaten von (Nord-)Amerika; vgl. "Uncle Sam".

U. S. A. = United States Army, Armee der Verein. Staaten.

U. S. N. = United States Navy, Marine der Verein. Staat.

U. S. S. = United States Ship, Schiff der Ver.Staat.-Marine.

U. T. = Utah Territory.

Ü, ü, s. U

Ualan (Kusaie), Insel der Karolinen (s. d.).

Uapou, eine der Markesasinseln (s. d.).

Uba, Stadt im S. der brasil. Provinz Minas Geraes, hat wichtige Kaffeekultur und steht mit Rio de Janeiro durch eine Eisenbahn in Verbindung.

Ubaldo del Monte, Guido, Militär und Mathematiker, geb. 1545 zu Pesaro, 1588 Generalinspektor der toscanischen Festungen, starb 1607. In seinem "Mechanicorum liber" (Pesaro 1577) kommt zuerst das mechanische Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten in Anwendung; außerdem schrieb er: "Planisphaericorum theorica" (das. 1579); "De perspectiva libri VI" (das. 1600); "Problematorum astronomicorum libri VI" und "De cochlea libri VI" (Vened. 1610).

Ubangi (Mobangi), großer Nebenfluß des Congo von N. her, nach van Gele der Unterlauf des Uelle (s. d.).

Ubate, Stadt im Staat Cundinamarca der südamerikan. Republik Kolumbien, 2562 m ü. M., am Sabia, der nördlich davon durch den Alpensee Fuquera fließt, mit (1870) 7256 Einw.

Ubbelohde, August, namhafter Romanist, geb. 18. Nov. 1833 zu Hannover, wo sein Vater Wilhelm U., der sich auch als Schriftsteller durch sein "Statistsches Repertorium über das Königreich Hannover" (Hannov. 1823) und die Schrift "Über die Finanzen des Königreichs Hannover" (das. 1834) bekannt

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Übeda - Überfracht.

machte, vortragender Rat im Finanzministerium war, studierte in Göttingen, Berlin und wieder in Göttingen die Rechte, trat 1854 in den praktischen Justizdienst und habilitierte sich 1857 in Göttingen als Privatdozent für römisches Recht. 1862 wurde er zum außerordentlichen Professor für hannöversches Privatrecht und Landwirtschaftsrecht ernannt, 1863 Sekretär des Provinzial-Landwirtschaftsvereins für Göttingen und Grubenhagen, 1865 geschäftsführender Redakteur des "Journals für Landwirtschaft". Ostern 1865 folgte er einem Ruf als ordentlicher Professor des römischen Rechts an die Universität Marburg, die er seit 1871 im preußischen Herrenhaus vertritt. 1886 ward er zum Geheimen Justizrat ernannt. Außer zahlreichen Abhandlungen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte er: "Über den Satz 'ipso jure compensatur'" (Götting. 1858); "Die Lehre von den unteilbaren Obligationen" (Hannover 1862); "Über die rechtlichen Grundsätze des Viehhandels" (Götting. 1865); "Erbrechtliche Kompetenzfragen" (das. 1868); "Zur Geschichte der benannten Realkontrakte auf Rückgabe derselben Spezies" (Marb. 1870); "Über die Usucapio pro mancipato" (das. 1870); "Grundriß zu Vorlesungen über die Geschichte des römischen Privatrechts" (2. Aufl., das. 1881); "Über Recht und Billigkeit" (Hamb. 1887).

Ubeda, Bezirksstadt in der span. Provinz Jaen, auf einem Plateau (600 m ü. M.) zwischen dem Guadalquivir und Guadalimar gelegen, hat ein großes Kastell, einige gotische Kirchen, Fabrikation von Tuch, Leder und Seife, Wein- und Ölhandel und (1878) 18,149 Einw. U. war zur Zeit der Mauren eine sehr blühende Stadt. Hier 1210 Sieg der Könige von Navarra und Kastilien über Abdallah Mohammed von Marokko.

Übelkeit (Übelsein, Nausea), s. Ekel.

Über Bank feuern Geschütze in Feldlafetten, wenn sie hinter der Brustwehr auf einer Geschützbank (s. d.) stehen, um nach allen Richtungen über die Brustwehr hinwegfeuern zu können.

Überbaurecht, s. Baurecht, S. 526.

Überbein (griech., Ganglion), eine eigentümliche harte Anschwellung in der Nähe gewisser Gelenke, namentlich des Handgelenks, am Fußrücken etc., welche meist eine länglichrunde Gestalt und mäßige Größe, etwa die einer Bohne, besitzt, nicht schmerzhaft und von gesunder Haut bedeckt ist. Die Überbeine stehen immer in einer nahen anatomischen Beziehung zu den Gelenkkapseln und Sehnenscheiden, neben denen sie liegen, und erweisen sich bei genauerer Untersuchung als cystenartige Bildungen, welche von einer dünnen fibrösen Hülle umgeben und mit einer dickflüssigen, gallertartigen oder erstarrten und glasig durchsichtigen Masse erfüllt sind. Diese Inhaltsmasse ist wahrscheinlich eingedickte Synovia oder Gelenkschmiere, der Sack des Überbeins aber ist als Ausstülpung der innern Auskleidungsmembran einer Sehnenscheide oder eines Kapselbandes zu betrachten. Das Ü. entsteht bald ohne nachweisbare Ursache, bald auch durch übermäßige Anstrengung, Dehnung und Zerrung eines Gelenks. Die meisten Überbeine veranlassen keine Beschwerden, zuweilen aber beeinträchtigen sie die Bewegungen der Hand oder des Fußes mehr oder weniger erheblich. Behandlung des Überbeins besteht am besten im Zerdrücken der kleinen Geschwulst mit den Fingern. Geschieht dies nicht, so reicht auch fortgesetztes Kneten aus. Gewaltsam kann man das Ü. sprengen durch Ausschlagen mit einem Hammer, nachdem man zuvor die Stelle durch Watte gut geschützt hat. Führt das angegebene Verfahren nicht zum Ziel, so muß das Ü. entweder angestochen und sein Inhalt ausgedrückt, oder die ganze Geschwulst Mithilfe des Messers ausgeschält werden. Die operative Behandlung ist jedoch nicht ganz unbedenklich, weil dabei leicht eine Verletzung, ja selbst Eröffnung benachbarter Gelenke stattfinden kann.

Überbildung, s. Viehzucht.

Überblasen heißt auf einem Blasinstrument anstatt des Grundtons einen seiner höhern Naturtöne hervorbringen. Bei sämtlichen Blasinstrumenten des Orchesters ist das Ü. notwendig, und sind die Tonlöcher, Klappen, Ventile etc. nur dazu da, die Lücken zwischen den Naturtönen (s. Obertöne) auszufüllen. Man unterscheidet Instrumente, bei denen beim Ü. nur die geradzahligen Töne der harmonischen Reihe ansprechen, als erster also die Duodezime, als quintierende von den oktavierenden, bei denen auch die geradzahligen ansprechen; zu erstern gehört die Klarinette und ihre Verwandten, zu letztern die Flöte, Oboe, Fagott, Horn, Trompete, Posaune etc.

Überbrochenes Feld, im Bergbau ein Feld, welches völlig abgebaut ist.

Überbürgschaft, s. Afterbürgschaft.

Überdruck (Umdruck), s. Lithographie, S. 837.

Überfahren, im Bergbau eine Lagerstätte mittels eines bergmännischen Baues durchschneiden oder auch eine Lagerstätte ihrem Streichen nach verfolgen; auch die Grenze der Grubenfelder beim Abbau überschreiten.

Überfahrtsvertrag (Passagevertrag), der von dem Verfrachter mit einem Reisenden zum Zweck der Personenbeförderung zur See abgeschlossene Vertrag (s. Fracht, S. 477). Wird das Schiff als Ganzem oder zu einem Teil oder dergestalt verfrachtet (gechartert), daß eine bestimmte Zahl von Reisenoen, z. B. von einer Auswanderungsagentur, befördert werden soll, so kommen die Grundsätze des deutschen Handelsgesetzbuchs (Art. 557 ff.) über den Frachtvertrag bei Beförderung von Gütern zur See insoweit zur Anwendung, als die Natur der Sache dieselbe nicht ausschließt (s. Fracht). Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 665 ff.

Überfall, auf Überraschung des Feindes berechneter Angriff, besonders ein solcher, dem ein geheimer Anmarsch gegen die feindliche Aufstellung vorhergeht, wie ihn die Österreicher unter Daun 14. Okt. 1758 gegen die bei Hochkirch lagernde Armee Friedrichs d. Gr. während der Nacht und vom Nebel begünstigt ausführten. Nach einem mißlungenen Ü. muß auf das Rückzugszeichen alles schnell dem festgesetzten Sammelplatz zueilen, wo eine Reserve in vorteilhafter Stellung die einzelnen Abteilungen aufnimmt oder wenigstens das Sammeln und einen geordneten Rückzug erleichtert. Wegen Ü. einer Festung s. Festungskrieg, S. 188.

Überfälliger Wechsel, schon verfallener Wechsel.

Überfallsrecht, s. Überhangsrecht.

Überfangen, in der Glasfabrikation, s. Glas, S. 390.

Überflügeln, in taktischer Bedeutung: die feindliche Fronte dergestalt angreifen, daß sie von der diesseitigen an einem oder beiden Enden überragt, der Feind also an den Flügeln auch in der Flanke und im Rücken gefaßt wird. Zur Zeit der Lineartaktik überflügelte man den Gegner direkt durch Ausdehnung der eignen Linie. Das kommt heute nur noch bei Kavallerieangriffen vor; sonst schickt man außer Sehweite und Schußbereich des Feindes besondere Abteilungen gegen dessen Flügel und Flanke.

Überfracht, der über den bedungenen Betrag hinausgehende Teil an Frachtkosten, welcher entsteht, wenn ein Schiff durch Havarie genötigt wird, seine Güter

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Überfruchtung - Überlieferung.

in ein andres Schiff umzuladen. Die Ü. ist eventuell durch den Versicherer zu erstatten.

Überfruchtung (Superfoecundatio) und Überschwängerung (Superfoetatio), die abermalige Befruchtung und Schwängerung einer Person, welche bereits empfangen hat. Beide unterscheiden sich nur durch die Zwischenzeit, welche zwischen der ersten und zweiten Empfängnis liegt. Erfolgt nämlich die zweite Befruchtung kurze Zeit nach der ersten, wenn die hinfällige Haut (decidua) an der Innenfläche der Gebärmutter noch nicht gebildet und das zuerst befruchtete Ei noch nicht in die Gebärmutterhöhle gelangt ist, so nennt man dies Ü. Dagegen versteht man unter Überschwängerung denjenigen Vorgang, wo nach bereits erfolgtem Eintritt des befruchteten Eies in die Gebärmutterhöhle und nach bereits gebildeter Decidua daselbst eine zweite Empfängnis statthaben soll. Ü. kommt bei Tieren erwiesenermaßen vor; beim Menschen ist sie wohl möglich und denkbar, aber noch nicht durch sichere Thatsachen erwiesen. Das Faktum wenigstens, daß ein Weib Kinder von verschiedener Rasse zur Welt bringt, nachdem sie mit Männern der gleichen Rasse den Beischlaf vollzogen hat, ist auch auf anderm Weg erklärbar. Überschwängerung ist aber beim Menschen nur in den sehr seltenen Fällen denkbar, wenn eine doppelte Gebärmutter vorhanden ist; doch ist auch für diesen Fall das Vorkommen der Überschwängerung noch nicht sicher beobachtet worden.

Übergabe, s. Tradition.

Übergangsformen, s. Darwinismus, S. 568.

Übergangsgebirge (Grauwackegruppe), in der ältern Geologie Bezeichnung der ältesten versteinerungführenden Sedimente unter dem Steinkohlengebirge, weil nach Ansicht Werners ihre Gesteine, insbesondere die Thonschiefer, ohne bestimmte Grenze in ihre kristallinische Unterlage übergehen, sie also gleichsam einen Übergang von seinem Urgebirge in die sekundären Sedimente bildeten. Nach jetzt gebräuchlicher Nomenklatur entsprechen die silurische und devonische Formation dem Ü.

Übergangssteuern (Übergangsabgaben) werden in Deutschland von solchen, im allgemeinen Verbrauchssteuergebiet anders als in den süddeutschen Staaten belasteten Gegenständen (Branntwein, Bier, Malz) erhoben, welche die Grenzen ihres Steuerbezirks überschreiten. Diejenigen Staaten, welche Gegenstände des Verbrauchs besteuern, können den gesetzlichen Betrag der Steuer bei der Einfuhr solcher Gegenstände aus dem andern Staat voll erheben. Dagegen darf das Erzeugnis eines andern Staats unter keinem Vorwand höher oder in lästigerer Weise besteuert werden als dasjenige der übrigen.

Übergangsstil, in der Geschichte der Baukunst diejenige Periode, während welcher der spätromanische Stil den Spitzbogen aufnahm und unter dem Einfluß desselben sich allmählich zum gotischen Stil umwandelte. In Deutschland herrschte der Ü. während des letzten Viertels des 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrh. Näheres s. Baukunst, S. 495.

Übergründet nennt man eine Aktiengesellschaft, wenn die Gründer die Vermögensstärke der Gesellschaft zu hoch in Ansatz bringen. Gegen solche Übergründungen sind die Vorschriften im deutschen Aktiengesetz vom 18. Juli 1884, Art. 209b ff. gerichtet.

Überhaltbetrieb, forstliche Betriebsart, s. Hochwald.

Überhangsrecht und Überfallsrecht, der Grundsatz des deutschen Rechts, wonach dem Inhaber eines Grundstücks das Recht zusteht, die von den Bäumen und Gesträuchen des Nachbargrundstücks auf das seinige herabhängenden und herabfallenden Früchte sich anzueignen, wie das Rechtssprichwort sagt: "Wer den bösen Tropfen genießt, genießt auch den guten"; auch im Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 862) anerkannt. Vgl. A. B. Schmidt, Das Recht des Überhangs und Überfalls (Bresl. 1886).

Überhitzt, s. Dampf, S. 446.

Überkingen, Dorf im württemberg. Donaukreis, Oberamt Geislingen, in einem tiefen Thal der Alb, an der Fils, hat eine evang. Kirche, Elfenbeindreherei, Zementwarenfabrikation und (1885) 550 Einw. Dazu das Stahlbad Ü. mit salinischem Eisensäuerling.

Überlandbrennen, s. Hainen.

Überlandpost, die Postbeförderungs-Einrichtungen der großen internationalen Postkurse, auf denen ein regelmäßiger Austausch bedeutender Korrespondenzmassen zwischen entfernten Ländern über zwischenliegende Postgebiete auf dem Landweg stattfindet, im engern Sinn die indische Ü., d. h. die regelmäßige Vermittelung des Briefverkehrs zwischen Großbritannien, Indien, Ostasien und Australien auf dem Weg über Frankreich und Italien. Die Absendung der indischen Ü. erfolgt jeden Freitag abends aus London über Dover, Calais, den Mont Cenis und Brindisi (in Brindisi Montag Mittag), von wo ab die Post durch Dampfer der Peninsular and Oriental Steam-Ship Company durch den Suezkanal, Bombay und Ceylon anlaufend, nach Kalkutta geführt wird. Jeden zweiten Freitag schließt sich in Ceylon eine Linie nach Ostasien und Australien an (große Ü.: Indian-Australian Mail). Die englisch-indische Ü. umfaßt (1889) jährlich rund 60,000 geschlossene Postsäcke mit einem Gesamtgewicht von 900,000 kg, wovon ungefähr 45,000 Säcke auf die Richtung aus Europa und 15,000 Säcke auf die Richtung aus Indien entfallen. Einzelne größere Posten zählten bis zu 2000 Säcken, welche auf der Eisenbahn eine stattliche Zahl von Packwagen anfüllen. Von den über Brindisi gehenden Überlandposten hat neben der britischen zur Zeit die größte Bedeutung die deutsche Ü. für Indien, Ostasien und Ozeanien, welche zum Teil mit den britischen Dampfern, zum Teil mit den jeden zweiten Freitag aus Brindisi abgehenden deutschen Postdampfern Beförderung erhält. Jede vierte Woche schließen die deutschen Dampfer nach Ostasien und Australien an. In Amerika sind von großer Bedeutung die Überlandposten über die Landenge von Panama (nach der Westküste von Südamerika) und über die verschiedenen, den Atlantischen und Stillen Ozean verbindenden Eisenbahnlinien (für die Korrespondenz nach Kalifornien und Ostasien über San Francisco). In Asien besteht schon seit geraumer Zeit die russisch-chinesische Überlandroute über Irkutsk-Kiachta. Mit dem Ausbau der russisch-zentralasiatischen Eisenbahn beginnt auch der Austausch geschlossener Briefposten über diesen neuen internationalen Verbindungsweg Bedeutung zu gewinnen.

Überläufer (Deserteur), ein Soldat, der zum Feind übergeht, macht sich der Fahnenflucht unter erschwerenden Umständen schuldig und wird nach dem Militärgesetz mit dem Tod bestraft. S. Desertion.

Überlebenswahrscheinlichkeit, s. Sterblichkeit.

Überlebsel, nach Tylor diejenigen Handlungen, Sitten und Gebräuche, die aus einem abgeschafften Kultus oder aus einer frühern Kulturepoche herstammen, weshalb sie meist ihrer Bedeutung nach unverständlich geworden sind und als Aberglaube gelten.

Überlieferung, s. Tradition.

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Überliegezeit - Überschar.

Überliegezeit (Überliegetage), eine Frist, deren Vereinbarung bei dem Seefrachtgeschäft üblich ist, und innerhalb deren der Verfrachter das Fahrzeug gegen eine Vergütung (Überliegegeld, Liegegeld) noch zur Einnahme der Ladung über die eigentliche Ladezeit hinaus bereit halten muß. Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 568-580, 595-606, 623.

Überlingen, Bezirksamtsstadt im bad. Kreis Konstanz, am Überlinger See, der nordwestlichen Bucht des Bodensees, in schöner wein- und obstreicher Gegend, 410 m ü. M., hat 4 kath. Kirchen, darunter die herrliche fünfschiffige gotische Münsterkirche mit bedeutenden Kunstwerken und der 88,5 Doppelzentner schweren Glocke Osanna, eine neue evang. Kirche, ein altes Rathaus mit prächtigen Holzschnitzereien von 1494, eine alte Stadtkanzlei (eine Perle deutscher Renaissance von 1598), die sogen. Burg des Alemannenherzogs Gunzo mit dem Bild Gunzos und der Jahreszahl 641, mehrere Patrizierhöfe, darunter besonders derjenige der Herren Reichlin v. Meldegg (von 1462) mit der sogen. Luciuskapelle und schönem, reichem Bankettsaal, alte Festungstürme und Thore und in Felsen gehauene Stadtgräben (jetzt in schöne Promenaden umgewandelt), ein Denkmal des um die Stadt hochverdienten Pfarrers Wocheler, eine über der Stadt gelegene Johanniter- und Malteserkommende St. Johann, einen Hafen, eine erdig-salinische Mineralquelle von 14° C. mit Bad, Seebäder und (1885) 4006 meist kath. Einwohner. In industrieller Beziehung sind zu nennen: Eisengießerei, Glockengießerrei, Fabrikation von Feuerspritzen und Brauereieinrichtungen, mechanische Werkstätten, Orgelbau, Ateliers für kirchliche Kunst, Mühlen etc.; sonst hat die Stadt Weinbau, große Fruchtmärkte, Obsthandel und Dampfschiffahrt. N. ist Sitz eines Amtsgerichts, eines Hauptzollamtes und einer Bezirksforstei, auch befindet sich dort eine höhere Bürgerschule, ein Waisenhaus, ein großes Hospital, eine Stadtbibliothek (30,000 Bände), ein ethnographisch-kunstgewerbliches Museum, ein Naturalienkabinett etc. In der nächsten Umgebung der Stadt zahlreiche Punkte mit herrlicher Aussicht. - Ü., im Altertum Iburinga, wird schon 1155 urkundlich erwähnt und erhielt 1275 von Rudolf von Habsburg ausgedehnte Privilegien, wurde jedoch erst 1397 völlig reichsunmittelbar. Es trat dem Schwäbischen Städtebund bei und nahm 1377 am Städtekrieg teil. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Stadt 1632 von Bernhard von Weimar erobert, 1634 von den Schweden unter Horn vergebens belagert, 1643 von den Schweden geplündert, 20. Mai 1644 von den Bayern nach viermonatlicher Belagerung genommen und 1647 an die Schweden übergeben, die sie nach dem Westfälischen Frieden wieder räumten. 1803 fiel Ü. an Baden.

Überlinger See, s. Bodensee.

Übermangansäure HMnO4 wird aus übermangansaurem Baryt durch Schwefelsäure abgeschieden. Die von dem entstandenen unlöslichen schwefelsauren Baryt abgegossene Lösung von Ü. ist tiefrot mit blauem Reflex, schmeckt süßlich herb, metallisch, wirkt äußerst stark oxydierend, auch bleichend, läßt sich nicht durch Papier filtrieren, zerfällt schon bei gewöhnlicher Temperatur, schneller bei 30-40° in Mangansuperoxydhydrat und Sauerstoff und kann nicht konzentriert werden. Im festen Zustand ist Ü. nicht bekannt. Ihre Salze (Permanganate) sind purpurrot, in Wasser löslich, wirken ebenfalls stark oxydierend, verpuffen zum Teil beim Reiben mit brennbaren Körpern, geben beim Erhitzen Sauerstoff, Mangansäuresalz und Mangansuperoxyd und entwickeln mit Salzsäure Chlor. Am häufigsten wird das übermangansaure Kali KMnO4 dargestellt und zur Bereitung von Sauerstoff, als Desinfektions- und Bleichmittel, in der Färberei und Zeugdruckerei, zum Beizen von Holz, in der Maßanalyse, zum Reinigen des Ammoniaks und der Kohlensäure von empyreumatischen Stoffen, als Oxydationsmittel, zu galvanischen Elementen, in der Photographie und arzneilich als Mundwasser, bei Behandlung von Wunden etc. benutzt. Man verdampft Kalilauge mit chlorsaurem Kali und sehr feinem Braunsteinpulver zur Trockne, erhitzt den Rückstand im hessischen Tiegel, bis er halbflüssig geworden, zerschlägt die aus mangansaurem Kali bestehende schwarzgrüne Masse nach dem Erkalten, erhitzt sie in einem Kessel mit Wasser, leitet in die grüne Lösung des mangansauren Kalis einen kräftigen Strom Kohlensäure, bis sie tiefrot geworden und das mangansaure Kali unter Ausscheidung von Mangansuperoxydhydrat vollständig in übermangansaures Kali übergeführt ist. Dann filtriert man durch Schießbaumwolle, verdampft die Lösung und läßt sie kristallisieren. Das Salz bildet dunkelrote, fast schwarze, metallisch grün schimmernde Kristalle, schmeckt anfangs süßlich, dann bitter herb, löst sich in 16 Teilen Wasser von 15° und färbt auch sehr große Mengen Wasser intensiv violett. Die Lösung ist aber leicht zersetzbar, weil sie energisch oxydierend wirkt, und muß daher auch vor Staub geschützt aufbewahrt werden. Eine reine konzentrierte Lösung erträgt Siedetemperatur. Übergießt man das trockne Salz mit konzentrierter Schwefelsäure, so entwickeln sich ozonhaltiger Sauerstoff und purpurfarbene Dämpfe von Übermangansäureanhydrid Mn2O7. Das übermangansaure Natron NaMnO4 wird wie das Kalisalz dargestellt, auch aus den bei der Regeneration des Mangansuperoxyds aus Chlorbereitungsrückständen gewonnenen Manganoxyden, indem man diese mit Ätznatron oder Chilisalpeter an der Luft auf 400° erhitzt. Bei Anwendung von Ätznatron wird die Schmelze ausgelaugt, die verdünnte und gekochte Lösung mit Schwefelsäure neutralisiert, verdampft, um das gebildete schwefelsaure Natron durch Kristallisation abzuscheiden, und dann weiter verdampft. Man kann auch die konzentrierte Lösung mit schwefelsaurer Magnesia oder Chlormagnesium versetzen, wobei sich unter Ausscheidung von Magnesia und Mangansuperoxydhydrat übermangansaures Natron bildet. Es ist sehr leicht löslich, schwer kristallisierbar, sonst dem Kalisalz sehr ähnlich und wird wie dieses namentlich als Desinfektionsmittel und zum Bleichen benutzt; die Lösung ist als Condys Liquid und eine Mischung des Salzes mit schwefelsaurem Eisenoxyd als Kühnes Desinfektionsmittel im Handel.

Übermäßig heißen in der Musik die Intervalle, welche um einen chromatischen Halbton größer sind als die großen oder reinen. Die Umkehrung übermäßiger Intervalle ergibt verminderte. Akkorde werden ü. genannt, wenn sie durch ein übermäßiges Intervall begrenzt werden (im Sinn des Generalbasses), nämlich der übermäßige Dreiklang (mit übermäßiger Quinte) und die verschiedenen Arten übermäßiger Sextakkorde.

Überpflanznug, s. Transplantation.

Überpflichtige Werke, s. Opera supererogationis.

Überproduktion, die Warenproduktion, welche den Bedarf derart übersteigt, daß der Preis unter die Herstellungskosten sinkt. Vgl. Handelskrisis.

Übersättigt, s. Lösung, S. 920.

Überschar, das zwischen zwei verliehenen Gruben

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Überschießen - Überwallung.

(s. Bergrecht) befindliche freie Feld, welches sich wegen seiner Kleinheit zu einer besondern Verleihung nicht eignet.

Überschießen, eine der Hauptursachen des Kenterns von Schiffen mit beweglicher Ladung (Getreide, Kohlen, lockern Erzen) oder mit beweglichem Ballast (Sand, Wasser) in nicht gänzlich gefüllten Ballasträumen. Die Gefahr besteht darin, daß dergleichen Ladungen bei der Neigung des Schiffs um eine Längsachse, dieser Bewegung folgend, den Schwerpunkt von Schiff und Ladung aus der Symmetrieebene des Schiffs herausbringen.

Überschlagen, bei den Blasinstrumenten (auch Orgelpfeifen) das Ansprechen eines höhern Naturtons als desjenigen, den man hervorzubringen beabsichtigt (vgl. Überblasen). Bei den Singstimmen ist Ü. soviel wie Umschlagen, Versagen des Tons.

Überschmolzen, s. Schmelzen, S. 552.

Überschnitten sind zwei Bauglieder (ein wagerechtes und ein senkrechtes), die so einander durchkreuzen , daß das eine durch das andre hindurchgesteckt erscheint (s. Figur). In der Gotik, welche Kröpfung und Gehrung vermeidet, müssen Simsglieder überall, wo sie sich unter einem Winkel treffen, überschnitten sein.

Überschreiben, s. v. w. das Fälligkeitsdatum über den Text des Wechsels angeben; auch sagt man einen "Auftrag überschreiben" ,d. h. erteilen.

Überschwängerung, s. Überfruchtung.

Überschwemmung, s. Hochwasser.

Übersegeln, mit einem Schiff ein zweites so treffen, daß letzteres erheblich beschädigt, bez. Zerstört wird^ '^in wirkliches Ü. findet nur dann statt, wenn zwei Schiffe von sehr verschiedener Größe aufeinander treffen. Im Sprachgebrauch gehören aber alle Fälle zum Ü., wo ein Zusammenstoß zweier Schiffe den Verlust des einen zur Folge hat.

Überse^uugsrecht, s. Urheberrecht, S. 8.

Überfichtigkeit (Hypermetropie), Fehler im Refraktionszustand des Auges, wobei Lichtstrahlen, welche parallel auf die Hornhaut auffallen, wegen zu flacher Bildung des Augapfels erst hinter der Retina ihre Vereinigung finden, so daß auf der Retina selbst kein scharfes Bild, sondern für jeden Lichtpunkt ein Zerstreuungskreis zu stande kommt, der Kranke daher alle Gegenstände nur verwaschen und undeutlich sieht. Absolute Ü. ist vorhanden, wenn das Auge selbst bei der größten Akkommodationsspannung parallele Lichtstrahlen nicht auf der Retina zur Vereinigung zu bringen vermag, folglich deutliches Sehen selbst für die Ferne ohne Konvexglas unmöglich ist. Bei relativer Ü. kann das Auge zwar für parallele (selbst schwach divergierende) Strahlen eingestellt werden, aber es muß dabei die Akkommodation unverhältnismäßig stark angespannt werden. Damit dem zunehmenden Alter die Akkommodationsfähigkeit abnimmt, so wird die in der Jugend meist relative Ü. mit den Jahren eine absolute werden; das Übel wird sich also verschlimmern. Die Augen zeigen bei äußerer Betrachtung nichts Abnormes. Die Sehschärfe ist in der Regel vollkommen. Anfänglich wird auch beim Lesen und Schreiben deutlich gesehen; bald aber, zumal bei künstlichem Licht und mangelhafter Beleuchtung, wird das Sehen undeutlich und verschwommen, es stellt sich ein Gefühl von Ermüdung und Spannung ein, die Arbeit muß für einige Zeit unterbrochen werden. Wird trotzdem die Fortsetzung der Arbeit erzwungen, so geht das Gefühl der Spannung oberhalb der Augen in wirklichen Schmerz über. Die Augen röten sich und thränen stark. DieBehandlung der Ü. besteht in der Benutzung konvexer Brillengläser, welche auch schon von jugendlichen Individuen, zumal beim Lesen und Schreiben, benutzt werden müssen, während sie beim Sehen in die Ferne anfänglich entbehrt werden können und erst im Alter auch hierzu unentbehrlich werden.

Überfiuulich, dasjenige, was über das in die Sinne Fallende sich erhebt.

Überständig heißen Bäume oder Bestände, die das Alter ihrer Haubarkeit überschritten haben.

Überstauung, s. Bewässerung, S. 859.

Ubertas, bei den Römern Personifikation der Erdfruchtbarkeit, dargestellt als schönes Weib mit umgekehrtem Füllhorn; vgl. Abundantia.

Ubertät (lat.), Fruchtbarkeit, üppige Fülle.

Übertragbar nennt man die budgetmäßig für bestimmte Zwecke verwilligten Summen, welche, wenn und soweit sie in der laufenden Finanzperiode nicht zur Verausgabung gelangten, als Ausgabenreservate oder Reservate ohne neue Bewilligung für den gleichen Zweck in der ^nächsten Periode (Jahr) verwandt werden dürfen.

Überübertragbarkeit von Wertpapieren s. Rektapapier.

Übertraguug, s. Zession.

Übertretung, s. Verbrechen.

Überversicherung, Versicherung zu Summen, welche den Wert der versicherten Sachen oder den gesetzli^ zur Versicherung zugelassenen Prozentsatz desselben übersteigen.^ Sie kann entweder durch zu hohe Deklaration des Versicherungswerts oder durch Versicherung eines und desselben Interesses bei verschiedenen Anstalten zur Erlangung des mehrfachen Betrags des Schadens (Doppelversicherung) herbeigeführt werden; sie ist verboten und in der Regel als Betrug strafbar; zur Verhütung derselben wird von manchen Staaten eine besondere Kontrolle der Versicherung, namentlich der Feuerversicherung, ausgeübt. Nicht zu verwechseln mit der n. ist diejenige Versicherung, welche dann in Kraft tritt, wenn der erste Versicherer zahlungsunfähig wird. Vgl. Versicherung.

Übervölkerung, s. Bevölkerung, S. 852.

Überwallung, ein Heilungsprozeß holziger Pflanzenteile, insbesondere der Baumstämme, bei Verletzungen, welche bis auf den Splint gehen. Das durch die Wunde bloßgelegte Stück des Splints kann wegen des verloren gegangenen Kambiums zunächst nicht weiter verdickt werden, sondern bleibt in der Vertiefung der Wunde längere Zeit sichtbar; an den Rändern der Wunde aber^ setzt die Kambiumschicht ihre Thätigkeit fort, und da sie sich dabei konvex gegen die Wundsläche zusammenzieht, so werden die neuen Jahresringe von Holz, welche sie erzeugt, zugleich allmählich in tangentialer Richtung über die Wunde hingeschoben. Auf diese Weise verkleinert sich die letztere von Jahr zu Jahr und wird endlich ganz verschlossen, wenn die Überwallungen zusammentreffen.

tewöhnlich springen die obern Ränder einer durch . sich schließenden Wunde wulstförmig vor, weil sie

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Überwälzung der Steuern - Ubicini.

durch den absteigenden Nahrungssaft, der an dieser Stelle sich aufstaut, stärker ernährt werden.

Überwälzung der Steuern, s. Steuern, S. 312.

Überweg, Friedrich, philosoph. Schriftsteller, geb. 22. Jan. 1826 zu Leichlingen in Rheinpreußen, studierte zu Göttingen unter K. F. Hermann Philologie, in Berlin unter Beneke Philosophie, wurde 1851 Lehrer zu Elberfeld, hierauf Privatdozent zu Bonn, 1862 außerordentlicher, 1867 ordentlicher Professor der Philosophie zu Königsberg, wo er 9. Juni 1871 starb. Als Philosoph gehörte Ü. der empirischen Richtung an; als Schriftsteller hat er sich durch sein "System der Logik" (Bonn 1857, 5. Aufl. 1882), das zugleich deren Geschichte enthält, vornehmlich aber durch seinen weitverbreiteten "Grundriß der Geschichte der Philosophie" (Berl. 1863-66, 3 Tle.; 7. Aufl., hrsg. von Heinze, 1886-88), der sich durch den Reichtum literarhistorischer Nachweise auszeichnet, Verdienste erworben. Beide Werke sind ins Englische übersetzt worden. Seine Beantwortung der von der Akademie der Wissenschaften zu Wien gestellten Preisfrage: "Über die Echtheit und Zeitfolge der Platonischen Schriften" (Wien 1861), in welcher er unter anderm die Echtheit des Dialogs "Parmenides" bestritt, ist von jener mit dem Preis gekrönt worden. Aus seinem Nachlaß gab Brasch heraus: "Schiller als Historiker und Philosoph" (Leipz. 1884). Vgl. F. A. Lange, F. Ü. (Berl. 1871); Brasch, Die Welt- und Lebensanschauung F. Überwegs in seinen gesammelten Abhandlungen (Leipz. 1888).

Überweisung an die Landespolizeibehörde, Nebenstrafe, auf welche nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 361, Nr. 3-8, S. 362) gegen Landstreicher, Bettler u. gegen Frauenspersonen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben, neben der verwirkten Haftstrafe erkannt werden kann. Diese Überweisung kann auch gegen denjenigen ausgesprochen werden, der sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß. Auch wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten, und wer nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweites Unterkommen verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß er solches, der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet, nicht vermocht habe, kann durch Richterspruch der Landespolizeibehörde überwiesen werden. Letztere erhält dadurch die Befugnis, die verurteilte Person entweder bis zu zwei Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen, oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden.

Überwinterung der im Garten gebauten Gewächse bezweckt Schutz vor niedriger Temperatur oder auch nur vor schroffem Temperaturwechsel. Topf- und Kübelpflanzen sind im Spätherbst weniger zu gießen, zu reinigen und unter Dach (Gewächshaus, Zimmer, Keller, Schuppen u. a.) aufzustellen, der Luft wird einige Tage freier Durchzug gestattet, den Pflanzen ist aber nur dann Wasser zu geben, wenn die Oberfläche des Ballens trocken geworden ist. Ausgetopfte Pflanzen sind im September einzutopfen und einige Zeit von der Luft abgeschlossen zu halten. Frostfrei zu überwinternde Zwiebeln und Knollen werden, nachdem die oberirdischen Teile bei beginnendem Frost abgeschnitten worden, von anhängender Erde gereinigt und in trocknen Sand eingeschlagen, an trocknem, frostfreiem Ort aufbewahrt; nur wenige Arten bedürfen zur Ü. einer höhern Temperatur. Nicht ganz winterharte Gehölze werden nach begonnenem Winter mit Rohr, Fichtenreisig u. dgl. eingebunden oder durch Bedecken mit Brettern, Holzkasten oder Körben, die mit trocknem Laub oder Nadelstreu ausgefüllt werden, während die Wurzeln, nachdem der Boden gefroren, ebenso zu bedecken sind; andre Gehölze werden umgelegt, durch Haken oder kreuzweise gestellte Pflöcke festgehalten und mit Erde, Laub oder Nadelstreu bedeckt. Pflanzen der arktischen (kalten) Zonen und der Alpen müssen vor dem Temperaturwechsel mehr als andre geschützt werden, entweder nach dem Einfrieren, durch Bedecken mit Schnee, dieses mit Laub u. dgl., oder durch Ü. in einem gegen N. gelegenen, gegen Sonnenstrahlen und Temperaturwechsel überhaupt geschützten Raum. Frühblühende Obst- und andre Gehölze sind gegen zu frühes Erwachen des Wachstums zu schützen, indem durch Entfernen etwa gefallenen Schnees das Einfrieren des Bodens befördert, das Auftauen aber durch Bedecken desselben nachher mit Schnee und dieses mit trocken gehaltener Laub- und Nadelstreu verhindert wird. Spalierbäume sind mit Fichtenreisig, Weinreben mit Erde zu bedecken. Geerntetes Gemüse, Wurzeln, Kraut u. a. wird von überflüssigem Blattwerk befreit, auf ebener Erde aufgeschichtet und mit Erde bedeckt, durch deren Aufnahme rund um die Gemüseschicht ein Graben entsteht, der etwanige Niederschläge aufnimmt; nur Gemüse für den Gebrauch der nächsten Zeit dürfen im Keller überwintert werden oder im Freien noch nicht ganz entwickelter Blumenkohl, der im frostfreien Raum allmählich seine Blumenkäse austreibt. Erdbeerpflanzen schützt man durch zwischen die Reihen gelegten kurzen Mist gegen den Einfluß des Winters.

Überwinterungsknospen (Winterknospen), Knospen, die bei Schluß einer Vegetationsperiode an sonst völlig absterbenden Pflanzen, wie besonders einigen Wassergewächsen, wie Ceratophyllum, Utricularia, Aldrovandia u. a., angelegt werden und dann im nächsten Frühjahr zu neuen Sprossen aufwachsen.

Überzeichnung liegt bei der Begebung einer Anleihe oder bei der Ausgabe von Aktien und Anteilscheinen dann vor, wenn der Betrag der zum Zweck der Übernahme gezeichneten Anteile größer ist als die durch die eröffnete Subskription aufzubringende Summe. Durch entsprechende und verhältnismäßige Minderung (Reduktion) der gezeichneten Beiträge pflegt man alsdann den Interessen des Unternehmens wie denjenigen der beteiligten Kreise des Publikums Rechnung zu tragen.

Überzeugungseid, s. Glaubenseid.

Ubi (lat.), wo. Ubietät, die Eigenschaft aller Körper, einen Raum zu erfüllen.

Ubi bene, ibi patria (lat.), Sprichwort: wo es mir wohl geht, da ist mein Vaterland.

Ubicini, Abdolonyme, franz. Publizist lombardischen Ursprungs, geb. 20. Okt. 1818 zu Issoudun, war Professor der Rhetorik in Joigny, bereiste 1846 den Orient und nahm 1848 an dem Aufstand in der Walachei teil, kehrte aber beim Einrücken der türkisch-russischen Truppen nach Frankreich zurück und starb 1884 in Paris. Er schrieb: "Lettres sur la Turquie" (1851-54); "La question d'Orient devant l'Europe" (1854); "Provinces danubiennes et romaines" (mit Chopin, 1856); "La question des principautes danubiennes devant l'Europe" (1858); "Etudes histo-

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Ubier - Ückermünde.

riques sur les populations chrétiennes de la Turquie d'Europe" (1867); "Les constitutions de l'Europe orientale" (1872); "Etat present de l'Empire ottoman" (1876); "La constitution ottomane expliquée et annotée" (1877); "Les origines de l'histoire roumaine" (1887) u. a.

Ubier, german. Volk, wohnte zu Cäsars Zeit auf dem rechten Rheinufer, südlich von den Sigambern, von der Sieg bis über die Lahn hinaus und schloß sich enger als irgend ein andrer germanischer Stamm an die Römer an. Von ihren Nachbarn im Osten und Süden, den Sueven, bedrängt, ließen sich die U. unter Augustus durch Agrippa auf das linke Rheinufer versetzen. Außer ihrer Hauptstadt Colonia Agrippina gehörten ihnen noch: Bonna (Bonn), Antunnacum (Andernach), Rigomagus (Remagen) und mehrere Kastelle. Sie gingen zuletzt in den Franken auf.

Übigau, 1) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Merseburg, Kreis Liebenwerda, an der Schwarzen Elster, hat eine evang. Kirche, Torfgräberei und (1885) 1482 Einw. - 2) Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft Dresden, Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt, rechts an der Elbe, hat Albumin-, Bleizucker-, Farben- und chemische Fabriken, eine Schiffswerfte, Schiffahrt, Obst- und Weinbau und (1885) 774 Einw.

Ubiquität (lat. Ubiquitas, "Allgegenwart"), von Luther zur Bezeichnung derjenigen Eigenschaft des Leibes Christi gebraucht, vermöge welcher derselbe, weil infolge hypostatischer (persönlicher) Vereinigung der menschlichen und göttlichen Natur überall, so auch im Abendmahl in der Form des Brots gegenwärtig sein kann, daher die Lutheraner von den Reformierten, die den Leib Christi im Himmel wissen und nur eine durch den Glauben vermittelte Gegenwart annehmen, auch Ubiquisten oder Ubiquitiner genannt wurden.

Ubstadt, Dorf im bad. Kreis Karlsruhe, am Kraichbach und der Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, eine Solquelle mit Bad, Tabaks- und Hopfenbau und (1885) 1171 Einw. Hier 1849 Treffen gegen die Freischaren.

Ubuch (Ubuchen), s. Tscherkessen, S. 884.

Übungslager, s. Lager, S. 402.

Ucayali, einer der Hauptquellflüsse des Amazonenstroms, entspringt unter dem Namen Apurimac in den Andes westlich vom Nordende des Titicacasees, empfängt auf dem Hochland den von SW. kommenden Rio Mantaro oder Mayo, durchbricht die östlichen Ketten der Kordilleren und nimmt, nachdem er in seinem mit tropischem Urwald erfüllten Thal sich mit dem von SO. kommenden Urubamba (s. d.) vereinigt hat, den Namen U. an und mündet nach viel gewundenem Lauf Nauta gegenüber (114 m ü. M.) in den Maranon. Seine Länge beträgt 1960 km. Seeschiffe befahren ihn aufwärts das ganze Jahr durch bis nach Sarayacu (6° 30' südl. Br., 124 m ü. M.), kleinere Schiffe den Nebenfluß Pachitea aufwärts bis nach Maira (242 m) in der Nähe der Kolonie Pozuzu (s. d.).

Uccle (spr. ükl), Gemeinde in der belg. Provinz Brabant, Arrondissement Brüssel, 5 km von dieser Stadt an der Staatsbahnlinie Brüssel-Luttre gelegen, hat ein Irrenhaus, Gemüsebau und (1888) 12,680 Einw.

Uchard (spr. üschar), Mario, franz. Schriftsteller, geb. 28. Dez. 1824 zu Paris, war längere Zeit Börsenagent, vermählte sich 1853 mit der Schauspielerin Madeleine Brohan vom Théâtre-Francais und brachte 1857 das vieraktige Schauspiel "La Fiammina" auf dem genannten Theater zur Aufführung, zu welchem ihm seine nicht glückliche Ehe den Stoff geliefert hatte, und das bald die Runde über alle Bühnen des In- und Auslandes machte. Von seinen spätern Stücken hatte keins auch nur annähernd einen ähnlichen Erfolg; dagegen erwarb er sich ein großes Publikum und teilweise auch das Lob der Kenner mit den Romanen: "Raymond" (1861), "Le mariage de Gertrude" (1862), "J'avais une marraine" (1863), "La comtesse Diane" (1864), "Une derniere passion" (1867), "Mon oncle Barbassou" (1876), "Ines Parker" (1880), "Mademoiselle Blaisot" (1884), "Joconde Berthier" (1886).

Uchatius, Franz, Freiherr von, Artillerieoffizier, geb. 20. Okt. 1811 zu Theresienfeld in Niederösterreich, trat 1829 in die österreichische Artillerie, erhielt seine mathematisch-technische Ausbildung in der Schule des Bombardierkorps, versah in der chemisch-physikalischen Lehranstalt zwei Jahre lang die Dienste eines Laboranten, blieb dann vier Jahre Adlatus des Professors, ward 1841 Feuerwerker in der Geschützgießerei, 1842 Offizier, 1861 Major und Vorsteher der Geschützgießerei, 1871 Kommandant der Artilleriezeugfabrik, 1874 Generalmajor, 1879 Feldmarschallleutnant. Er erfand 1856 ein Stahlbereitungsverfahren, konstruierte eine Pulverprobe und ballistische Apparate, eine Vorrichtung zum Messen des Gasdrucks in Geschützen, ein Sprengpulver aus nitrifiziertem Stärkemehl, das Verfahren zur Herstellung der sogen. Stahlbronze- (Uchatiusmetall-) Geschütze und 1875 die Ringgranaten. Wegen seiner Verdienste um Neuschaffung des österreichischen Feldartilleriematerials (1875) wurde er in den Freiherrenstand erhoben und von der k. k. Akademie der Wissenschaften zum Mitglied erwählt. Mit der Herstellung von 15 u. 18 cm Kanonen aus Stahlbronze beschäftigt, erschoß er sich 4. Juni 1881.

Uchte, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Hannover, Kreis Stolzenau, 33 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei und (1885) 1270 Einw.

Üchtland ("ödes Land"), s. Freiburg (Kanton).

Üchtritz, Friedrich von, dramat. und Romanschriftsteller, geb. 12. Sept. 1800 zu Görlitz, studierte in Leipzig die Rechte, fand 1828 in Trier und 1829 in Düsseldorf amtliche Anstellung und zog sich 1863 als pensionierter Appellationsgerichtsrat in seine Vaterstadt zurück, wo er 15. Febr. 1875 starb. Von seinen Dramen: "Alexander und Darius" (Berl. 1827), "Das Ehrenschwert", "Rosamunde" (Düsseld. 1833) und "Die Babylonier in Jerusalem" (das. 1836) zeichnete sich besonders das letztere durch lyrisch glänzende Sprache und gute Charakteristik aus. Von seinen übrigen Werken sind zu nennen: "Blicke in das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben" (Düsseld. 1839-41, 2 Bde.); "Ehrenspiegel des deutschen Volkes und vermischte Gedichte" (das. 1842); die Romane: "Albrecht Holm" (Berl. 1851-53, 7 Bde.), "Der Bruder der Braut" (Stuttg. 1860, 3 Bde.), "Eleazar" (Jena 1867, 3 Bde.), in denen eine reiche Stofffülle nur teilweise poetisch belebt erscheint. Vgl. "Erinnerungen an F. v. Ü. in Briefen" (Leipz. 1884).

Ückendorf, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Arnsberg, Kreis Gelsenkirchen, Knotenpunkt der Linien Ü.-Wattenscheid, Gelsenkirchen-Wattenscheid und Ü.-Wanne der Preußischen Staatsbahn, hat Steinkohlenbergbau und (1885) 8878 meist kath. Einwohner.

Uckermark, s. Ukermark.

Ückermünde (Ukermünde), Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Stettin, an der Uker, die unweit

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Uckie - Udschidschi.

davon in das Pommersche Haff mündet, und an der Linie Jatznick-Ü. der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein altes Schloß, eine Irren-, eine Korrektions- und Landarmenanstalt, ein Amtsgericht, bedeutende Ziegeleien, Kalkbrennerei, Eisengießerei, Sägemühlen, Holzhandel, Fischerei, Schifffahrt und (1885) 5458 meist evang. Einwohner. - Ü. ist seit 1190 Stadt und war ehemals eine wichtige Festung, die 1469 vom Kurfürsten Friedrich II. von Brandenburg vergeblich belagert wurde.

Uckie, marokkan. Münze, = 1/10 Mitskal (s. d.).

Ucles, Stadt in der span. Provinz Cuenca, mit (1878) 1138 Einw.; hier 13. Jan. 1809 Sieg der Franzosen unter Victor über die Spanier unter dem Herzog von Infantado.

Udaipur, s. Mewar.

Uddevalla, Hafenstadt im schwed. Län Gotenburg und Bohus, am innersten Ende des Byfjords und an der Eisenbahn Herrljunga-U., hat eine höhere Lehranstalt, Navigationsschule, Gewerbeschule, Zoll- und Lotsenstation, ein Museum und (1885) 7354 Einw., welche Baumwollspinnerei und -Weberei, Fabrikation von Möbeln, Zündhölzern, Branntwein und Tabak, Schiffbau, Fischerei und lebhaften Handel betreiben.

Uden, Lucas van, niederl. Maler u. Radierer, geb. 18. Okt. 1595 zu Antwerpen, war Schüler seines Vaters, trat 1627 in die dortige Lukasgilde und starb 4. Nov. 1672 daselbst. Er ist vorzugsweise dadurch bekannt geworden, daß er für Rubens und D. Teniers den jüngern Landschaften malte, welche jene mit Figuren versahen. Doch hat er auch zahlreiche selbständige Landschaften nach Motiven aus Brabant und Flandern gemalt, deren Eigentümlichkeit in einer schlichten und treuen Auffassung beruht. Unter Rubens' Einfluß wurde seine Färbung wärmer und reicher. Landschaften von ihm besitzen die Galerien zu Dresden, Petersburg, Brüssel, Frankfurt a. M., München, Antwerpen, Berlin, Wien u. a. Seine landschaftlichen Radierungen (etwa 30) sind mit überaus feiner Naturbeobachtung und zarter Nadel ausgeführt.

Udine, ital. Provinz in der Landschaft Venetien (s. Karte "Italien, nördliche Hälfte"), grenzt nördlich und östlich an Österreich, südlich an das Adriatische Meer und die Provinz Venedig, westlich an die Provinzen Treviso und Belluno und hat einen Flächenraum von 6431 qkm (nach Strelbitsky 6619 qkm [120,21 QM.]) mit (1881) 501,745 Einw. Das Land wird im N. bogenförmig von den Karnischen Alpen (Paralba 2690 m hoch) durchzogen, welchen die Friauler Alpen (Premaggiore 2471 m) und östlich die Julischen Alpen (Monte Canin 2582 m) vorgelagert sind, von welchen sich zahlreiche Hügelgruppen abzweigen, die sich schließlich zu der weiten und, soweit sie nicht vom Gerölle der Flüsse überschüttet ist, fruchtbaren friaulischen Ebene herabsenken. Gegen die Küste zu geht die Ebene in lagunenartiges Land über. Die wichtigsten Flüsse sind: Tagliamento, Livenza und Stella. Das verschiedene Vegetationszonen umfassende Land erzeugt Weizen (1887: 243,300 hl), Mais (857,000 hl), Reis (10,878 hl), Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Kastanien, Hanf, Wein (64,500 hl), Seide (1,5 Mill. kg Kokons); ferner Vieh (1881 zählte man 180,523 Rinder, 81,444 Schafe und 34,966 Ziegen) und Fische. Die Einwohner suchen in großer Anzahl für einen Teil des Jahrs Beschäftigung außerhalb des Landes. Die Industrie der Provinz erstreckt sich auf Seiden- und Baumwollmanufaktur, Gerberei, Bierbrauerei, Holzschneiderei, Töpferei, Papier- und Metallwarenfabrikation. Die Provinz zerfällt in 17 Distrikte. - Die Hauptstadt U., in weinreicher Gegend an einem vom Torre ausgehenden Kanal und an der Eisenbahn Venedig-Cormons gelegen, von welcher hier die Linie nach Pontebba abzweigt, ist gut gebaut und hat stattliche Mauern und Türme. Unter den Gebäuden sind bemerkenswert: die romanische Domkirche und mehrere andre Kirchen mit guten Gemälden, das Kastell (von 1517, einst Sitz des Patriarchen, jetzt Kaserne), der erzbischöfliche Palast (mit schöner, von Giovanni da Udine gemalter Decke und Fresken von Tiepolo), der Palazzo pubblico (1457 erbaut, nach dem Brand von 1876 erneuert) und der Uhrturm (mit offener Säulenhalle), beide auf dem Viktor Emanuel-Platz, das Theater und mehrere Privatpaläste. Der Campo santo von U. gehört zu den schönsten Friedhöfen Italiens. Die Stadt hat ein technisches Institut, ein Lycealgymnasium, ein erzbischöfliches Gymnasium und Seminar, ein städtisches Museum und Bibliothek und (1881) 23,254 (als Gemeinde 32,020) Einw., welche Industrie in Seide, dann in Leder, Hüten, Metallwaren, Handschuhen etc. und Weinbau betreiben. U. ist Sitz des Präfekten, eines Erzbischofs, eines Zivil- und Korrektionstribunals, eines Hauptzollamts etc. In der Nähe liegt das Dorf Passariano mit dem Schloß des letzten Dogen von Venedig, welches Bonaparte während der Friedensverhandlungen von Campo Formio bewohnte. - U. kommt unter diesem Namen erst im 10. Jahrh. vor. Im 13. Jahrh. wählte der Patriarch Bertold U. zu seiner Residenz; 1445 kam die Stadt unter venezianische Herrschaft. Seit der Pest von 1515 und 1656 hat sie sich nicht wieder erholt. U. fiel nach dem Aufstand in Venedig 1848 von Österreich ab, zwang 23. März die Besatzung zum Abzug, mußte sich aber schon 23. April nach mehrstündiger Beschießung Österreich wieder unterwerfen. 1866 ward es mit Venetien dem Königreich Italien einverleibt.

Udine, Giovanni da, ital. Maler, geb. 1487 zu Udine, war anfangs Schüler von Giorgione in Venedig, führte daselbst mehrere dekorative Malereien aus und ging später zu Raffael, als dessen Gehilfe er die reizvollen Ornamente (sogen. Grottesken) in den Loggien des Vatikans, in der Villa Farnesina u. a. ausführte. Seit 1527 arbeitete er in Udine und Umgegend (unter anderm im Schloß Colloredo). Auch fertigte er die Entwürfe zu den Glasfenstern in der Biblioteca Laurenziana zu Florenz. Er starb 1564.

Udometer (griech.), s. Regenmesser.

Udschain (Udschaiyini), Stadt im Tributärstaat Gwalior (Britisch-Indien), am Siprafluß, Nebenfluß des Tschambal, und an einer Zweiglinie der Malwaeisenbahn, mit 4 Moscheen, vielen Hindutempeln, einem Palast des Fürsten, starker, mit Türmen gekrönter Umfassungsmauer und (1881) 32,932 Einw., welche bedeutenden Handel mit Opium treiben. Das alte, jetzt in Ruinen liegende U. war bis 1000 n. Chr. Residenz des mächtigsten Herrscherhauses in Zentralindien, dann berühmt durch seine Sternwarte, welche den ersten Meridian der Hindugeographen bezeichnete, wurde in spätern Kriegen hart mitgenommen, war aber dann wieder bis 1810 Residenz der Fürsten von Gwalior.

Udschidschi, Handelsplatz am Ostufer des Tanganjikasees in Äquatorialafrika, unter 5° südl. Br., mit 8000 Einw., den Wadschidschi, und größere Warenmagazine enthaltend. Stanley fand hier 1871 Livingstone. U. ist in neuerer Zeit der Hauptausgangs- und Operationspunkt von Forschungsexpeditionen gewesen. Ein Karawanenweg verbindet dasselbe mit Sansibar.

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Udschila - Uferbau.

Udschila, s. Audschila.

Udvard, Dorf im ungar. Komitat Komorn, Station der Österreichisch-Ungarischen Staatsbahn, mit (1881) 4035 ungar. Einwohnern.

Udvarhely (spr. -helj), ungar. Komitat in Siebenbürgen, grenzt an die Komitate Maros-Torda, Csik, Haromszek, Nagy- und Kis-Küküllö, umfaßt 3418 qkm (62 QM.), wird von den Zweigen des Hargittagebirges erfüllt und vom Großen Küküllö bewässert, hat (1881) 105,520 Einw. (Szekler) und ist nicht besonders fruchtbar; es gedeihen jedoch alle Getreidearten und in den Thälern auch Obst und Wein. Die Industrie erstreckt sich hauptsächlich auf Spinnerei, Weberei, Strohhutflechterei und die Verfertigung von Holzwaren. Im SW. durchkreuzt die Ungarische Staatsbahn das Komitat, dessen Hauptort Szekely-Udvarhely ist.

Uea, 1) (Uvea, Wallis) polynes. Inselgruppe unter französischem Protektorat, westlich von Samoa und nordwestlich von den Fidschiinseln, besteht aus zwölf kleinen Inseln, die von einem Barrierriff umgeben werden, und hat ein Areal von 96 qkm (1,7 QM.) mit 3500 Einw. Die Inseln sind meist hoch, bergig und vulkanischen Ursprungs, mit mehreren, jetzt von Seen ausgefüllten Kratern und, wo der Boden verwittert ist, sehr fruchtbar. Die Bewohner haben dieselben Sitten und Gebräuche wie die Samoaner und Tonganer; früher war U. eine Dependenz von Tonga. Die Gruppe wurde 1767 von Wallis entdeckt, 1837 kamen katholische Missionäre hierher und bekehrten die Bewohner, welche unter eignen Häuptlingen lebten, bis sie sich durch einen 19. Nov. 1886 abgeschlossenen Vertrag in den Schutz Frankreichs begaben. - 2) (Ouvea) s. Loyaltyinseln.

Ueba (Hueba), Getreidemaß in Tunis, à 4 Temen à 4 Orbah = 107,3 Liter.

Uelle (Welle), großer Fluß in Äquatorialafrika, entspringt im Lande der Monbuttu und verfolgt als Welle oder Makua, zahlreiche Zuflüsse von links (Majo-Bomokandi mit Makongo, Mbelima) u. rechts (Moruole, Werre, Mbomu mit Schinko und Mbili, Engi) aufnehmend, dem 4.° nördl. Br. erst südlich, dann nördlich parallel laufend, im allgemeinen eine westliche Richtung bis zum 19.° östl. L. v. Gr., wo er sich südostwärts wendet und als Ubangi oder Mobangi den Congo unter 17° 30' östl. L. erreicht. Dies scheint die Lösung der vielumstrittenen Uellefrage durch Kapitän van Gele zu sein, welcher auf dem Dampfer En Avant 1887 die Zongostromschnellen des Ubangi forcierte und den Oberlauf dieses Flusses unter 4-5° nördl. Br. bis gegen 22° östl. L. v. Gr. verfolgte. Der U. wurde 19. März 1870 von Schweinfurth entdeckt, der ihn nördlich von Munsa im Monbuttuland unter 3° 40' nördl. Br. und 28° 40' östl. L. v. Gr. überschritt. Schweinfurth hielt ebenso wie der später hierher gekommene Junker den U. für den Oberlauf des in den Tsadsee mündenden Schari, während Stanley in ihm den Oberlauf des Aruwimi sah, eine Ansicht, deren Falschheit seine jüngste Reise ihm gezeigt hat.

Ufa, ein Gouvernement Ostrußlands, 1865 aus dem nordwestlichen Teil des Gouvernements Orenburg gebildet und von diesem durch den Hauptrücken des südlichen Urals geschieden, umfaßt 122,006,8 qkm (nach Strelbitsky 122,015,7 qkm = 2215,92 QM.). Die Kama scheidet im NW. das Gouvernement von Wjatka und nimmt die Nebenflüsse Bjelaja und Ik auf, von welchen der erstere der schiffbare Hauptstrom des Landes ist und den Tanym, die Ufa und den Sjun empfängt. In den westlichen Teilen ist waldreiches Hügelland, das mit fruchtbaren Thälern wechselt; aber auch Steppenland und einige Moore kommen vor. Von den 290 kleinen Seen im W. sind die größten: der Airkul, Kondrakul und Karatabyk, sämtlich sehr fischreich. Die südwestliche Seite des Gouvernements wird vom Obschtschij Syrt durchschnitten. Im O. zieht sich der südliche Ural hin. Das Klima ist kontinental und in den Gebirgsgegenden unfreundlich. Vom Areal entfallen 23 Proz. auf Ackerland, 22,8 auf Wiesen und Weiden, 46,6 auf Wald und 7,6 Proz. aus Unland. Der Wald weist im N. Nadelholz, im S. Linden und Eichen auf. Im N. werden Roggen und Hafer, im S. Weizen, Gerste, Hirse und Buchweizen angebaut. Die Ernte betrug 1887: 4 1/2 Mill. hl Roggen, 3,2 Mill. hl Hafer, 835,000 hl Weizen, 1 1/2 Mill. hl Buchweizen, andre Getreidearten und Kartoffeln in geringerer Menge. Der Viehstand bezifferte sich 1883 auf 398,597 Stück Rindvieh, 630,354 Pferde, 917,352 grobwollige Schafe, 111,017 Schweine und 200,630 Ziegen. Die Bevölkerung, (1885) 1,874,154 Einw., 15 pro QKilometer, besteht hauptsächlich aus Baschkiren und Russen; außerdem wohnen hier Tataren, Tscheremissen, Tschuwaschen, Teptjären, Meschtscherjäken und Wotjaken, die zum Teil noch Heiden sind. Im übrigen übersteigt die Zahl der Mohammedaner die der Christen. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 19,989, der Gebornen 87,264, der Gestorbenen 53,545. Hauptbeschäftigungen sind: Ackerbau (betrieben von Russen und Teptjären), Viehzucht (von Baschkiren und Tataren), Bienenzucht (von Baschkiren und Meschtscherjäken), Bergbau, Holzgewinnung und Jagd. Die Wälder liefern außer dem Schiffbauholz Bast, Pottasche, Pech, Teer und Kohlen. Der Bergbau liefert Gold, Eisen, Kupfer. Hervorragend ist das Eisenwerk zu Slatoust, ansehnlich die Kupferhütte von Blagowetschenskoje im Kreis U. Der Produktionswert der Hochöfen wird (1885) auf 3,7 Mill. Rubel angegeben. Die übrige Industrie ist unbedeutend, geht in 147 Anstalten mit 2092 Arbeitern vor sich und produziert für 3 1/2 Mill. Rub. Bildungszwecken dienen 353 Elementarschulen mit 14,376 Schülern, 8 Mittelschulen mit 1326 Schülern und 7 Fachschulen mit 479 Schülern. Der Handel ist fast nur in den Händen der Tataren und vertreibt Holzarbeiten, Tierfelle, Häute, Honig und Sprit. U. zerfällt in sechs Kreise: Belebej, Birsk, Menselinsk, Slatoust, Sterlitamak, U. - Die gleichnamige Hauptstadt, am Ural und am Einfluß der Ufa in die Bjelaja, hat mehrere Kirchen und Moscheen, ein Nonnenkloster, ein Gymnasium, ein geistliches Seminar, ein tatarisches Lehrerseminar, ein Mädchengymnasium, einen großen Kaufhof, eine zehntägige Messe und (1886) 27,290 Einw. Die Stadt ist Sitz eines Erzbischofs und eines mohammedanischen Mufti. U., 1547 von dem Baschkirenhäuptling Iwan Nagin gegründet, wurde 1759 und 1816 durch Brand zerstört, hat sich aber, seit es Hauptstadt ist, sehr gehoben.

Ufenau, liebliches, dem Kloster Einsiedeln gehöriges Eiland im Zürichsee, auf welchem Ulrich v. Hutten ein Asyl fand und starb (1523).

Ufer, die äußerste Grenze des an ein Gewässer stoßenden Landes; insbesondere der einen Bach, Fluß, Teich, überhaupt ein kleineres Gewässer einfassende Erdrand (lat. ripa), wogegen das U. des Meers, auch großer Seen, gewöhnlich mit den besondern Namen Küste, Strand (lat. litus) bezeichnet wird.

Uferaas, s. Eintagsfliegen.

Uferbau, jeder Bau, welcher an oder mit einem Ufer ausgeführt wird, entweder um einen Fluß schiffbarer zu machen (s. Wasserbau), oder das an-

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Ufererdröschen - Uganda.

stoßende Land gegen Überschwemmungen (s. Deich) oder das Ufer gegen den Abbruch des Wassers zu schützen. Letzteres ist der eigentliche Gegenstand der Uferbaukunst, welche zwei Arten von Uferbauten umfaßt, je nachdem die Gewässer, deren Ufer zu schützen sind, stehende oder fließende sind. Bei stehenden Gewässern kann eine Beschädigung der Ufer entweder durch die periodische Veränderung des Wasserstandes (Ebbe und Flut) oder durch die wellenförmige (ästuarische) Bewegung des Wassers herbeigeführt werden. Hierdurch wird nur die Oberfläche des Ufers angegriffen und eine sogen. Abschälung bewirkt. Die Abschälung eines Ufers wird nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse, z. B. der Bodenbeschaffenheit und Stärke des Wellenschlags, verhütet: 1) durch Schlickfänge, d. h. Dämme oder Zäune, welche das Wasser verhindern, die Ufer anzugreifen, oder selbst nötigen, seinen Schlamm (Schlick) aus denselben abzulagern; 2) durch flache Böschungen, welche vom Wasser nicht mehr angegriffen werden; 3) durch Uferbekleidungen: aus Bohlen, wo Holz im Überfluß vorhanden ist, aus Pflaster von hinreichend großen Steinen, aus Faschinen, d. h. mit Steinen beschwerten, untereinander durch Weidenruten verbundenen langen Reisbündeln. Bei leichtem Wellenschlag lassen sich die Ufer oft schon durch Berasung oder Anpflanzung von Strauchwerk schützen; wo die Ufer zugleich als Kais oder Lagerplätze dienen sollen, sind dieselben provisorisch durch Bohlwerke oder definitiv durch Futtermauern, welche man mehr oder weniger neigt und, damit sie dem Wellenschlag besser widerstehen, an der Vorderseite oft konkav anlegt, zu stützen. Bei fließenden Gewässern kommt zum periodischen Wechsel des Wasserstandes noch eine zweite Bewegung, die strömende (progressivere), hinzu, durch welche das Ufer in der Tiefe beschädigt und ein sogen. Grundbruch, Strom- oder Uferabbruch, bewirkt werden kann. Gegen Grundbrüche schützt man die Ufer am besten: 1) durch Korrektion der Ufer, indem man dem Strom durch Parallel- oder Einbauten einen regelmäßigen Lauf anweist, wodurch der Stromstrich mehr in die Mitte des Stroms verlegt wird; 2) durch Uferschutzbauten, wie Erdüberbaue, Packwerke, Buhnen (s. d.), wodurch die Strömung vermindert wird. Wo die Ufer zugleich als Kais benutzt werden sollen, werden sie, wie im stehenden Gewässer, durch Futtermauern gestützt, welche man zur Vermeidung von Unterspülung noch durch Spundwände (s. Grundbau) schützt.

Ufererdröschen, s. Geum.

Uferfliege (Perla Geoffr.), Gattung der Afterfrühlingsfliegen (Perlidae), aus der Ordnung der Falschnetzflügler, Insekten mit sehr kleinen, häutigen Mandibeln und Kiefertastern mit dünnen Endgliedern, von denen das letzte verkürzt ist. Die zweischwänzige U. (P. bicaudata L., s. Tafel "Falschnetzflügler"), 22 mm lang, braungelb, mit zwei Schwanzborsten (Reifen), lebt am Wasser im größten Teil Europas. Das Weibchen legt die Eier klümpchenweise ins Wasser, die Larven haben große Ähnlichkeit mit der Fliege, sind aber flügellos und an den Füßen mit Wimperhaaren besetzt; sie nähren sich von Raub und leben besonders in Gebirgsbächen unter Steinen oder an Holzwerk; die Metamorphose erfolgt nach etwa einem Jahr.

Uferspecht, s. Eisvogel.

Uferspindelassel (Pycnogonum litorale O. Fr. Müll.), ein den Milben nahestehendes Tier, repräsentiert die kleine Gruppe der Pantopoden oder Pyknogoniden, welche früher zu den Krebstieren, dann zwischen Milben und Spinnen gestellt wurde, obwohl sie im männlichen Geschlecht mit dem Besitz eines accessorischen, die Eier tragenden Beinpaars eine höhere Gliedmaßenzahl ausbilden. Die sehr langen, vielgliederigen Beine enthalten schlauchförmige Magenanhänge und die Geschlechtsorgane, welche mithin in achtfacher Zahl vorhanden sind. Die Eier werden an dem accessorischen Beinpaar an der Brust des Männchens bis zum Ausschlüpfen der Larven getragen. Die U. (s. Tafel "Spinnentiere") ist 13 mm lang, gelblich und lebt an den Küsten der europäischen Meere, besonders auch der Nordsee, unter Steinen, Tangen, auch auf Fischen.

Uffelmann, Julius, Mediziner, geb. 1837 zu Zeven in Hannover, studierte zu Göttingen Theologie und Philologie, dann Medizin, praktizierte in Hameln, habilitierte sich 1876 als Privatdozent in Rostock und wurde 1879 zum außerordentlichen Professor ernannt. Er schrieb: "Die Diät in den akut fieberhaften Krankheiten" (Leipz. 1877); "Darstellung des auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege in außerdeutschen Ländern bis jetzt Geleisteten" (Berl. 1878); "Handbuch der Hygieine des Kindes" (Leipz. 1881); "Tisch für Fieberkranke" (Karlsb. 1882); "Jahresberichte über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygieine" (Berl. 1883 ff.); "Die Ernährung des gesunden und kranken Menschen. Handbuch der Diätetik" (mit Munk, Wien 1887);. "Handbuch der Hygieine" (das. 1889).

Uffenheim, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, an der Gollach und der Linie Treuchtlingen-Würzburg-Aschaffenburg der Bayrischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, eine Lateinschule, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Gerberei, Bierbrauerei, eine Dampfschneidemühle und Parkettfabrik und (1885) 2314 meist evang. Einwohner. In der Nähe die Bergschlösser Hohenlandsberg und Frankenberg.

Uffizien (Palazzo degli Uffizi), s. Florenz, S. 382.

Ufumbiro (Mfumbiro), isolierte Berggruppe im äquatorialen Ostafrika, wird von der Grenze zwischen den Landschaften Ankori und Ruanda mitten durchschnitten und hat zwei Gipfel (über 3000 m hoch).

Ugaia (Kawirondo), Landschaft am Ostufer des Victoria Nyanza, mit der großen Insel Ugingo.

Ugalachmiut, s. Ugalentsi.

Ugalentsi (Ugalenzen, Ugalachmiut), ein Stamm der Kenai (s. d.), von einigen irrtümlich den Thlinkit zugerechnet, der während des Winters an den Ufern der Bucht gegenüber der Insel Kadyak (Alaska), im Sommer an den Mündungen des Kupferflusses sich aufhält. Die Sprache der U. nimmt eine selbständige Stellung innerhalb der Kenaivölker ein.

Uganda, großes Reich in Äquatorialafrika, das sich nordwestlich und westlich vom Victoria Nyanza zwischen dem Lohugati im S., dem 3.° östl. L. v. Gr. im W., dem 1.° nördl. Br. im N. und dem Nil im O. erstreckt (s. Karte bei "Congo"). Es umfaßt die Landschaften U. im engern Sinn (zwischen Kivira und Katonga), Usoga, östlich vom Kivira, Unjoro, Ankori (Usagara) und Karagwe; die drei letzten sind dem Herrscher von U. tributpflichtig. Das Reich begreift drei Provinzen: Uddu im S., zwischen Kagera und Katonga, Singo im W. und Chagwe im O., welchen sich noch der Sesse-Archipel, eine Gruppe von 400 Inseln, am Nordostufer des Sees anschließt. Das Reich hat einen Umfang von 123,000 qkm (2234 QM.), mit den tributären Staaten über 181,706 qkm (3300 QM.); aber während Stanley die Bevölkerungszahl auf 2,755,000 Seelen schätzt, glaubt der Missionär

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Ugijar - Uhde.

Wilson 5 Mill. annehmen zu können, wobei 3,5 weibliche Bewohner auf 1 männlichen kommen, eine Folge der vielen Kriege und der Einschleppung weiblicher Gefangener. Am Nyanza und eine Strecke weit ins Land hinein ist das Land gebirgig, durchschnitten von tiefen, sumpfigen Thälern, durch welche trägfließende Flüsse ihren Lauf zum See nehmen. Die Uferabhänge bedecken herrliche Wälder, belebt von Scharen grauer Affen, von Papageien, Kolibris, Schmetterlingen. Ferner vom See folgen weitere Thäler, niedrigere Hügel, an Stelle der Waldbäume tritt die Dattelpalme, an der Nordgrenze wird das Land zur Ebene, durchschnitten von Schilfflüssen und von dichtem Wald bedeckt, in dem Löwen, Leoparden, Hyänen, Elentiere, Antilopen, Elefanten, Büffel, Flußpferde und Wildschweine sich aufhalten. Der öftliche, hügelige Teil wird von Schluchten durchzogen, über denen sich prachtvolle, von Schlingpflanzen umzogene Waldbäume wölben, ein Land von wunderbarer Schönheit. Der Küstenstrich ist äußerst fruchtbar, er gibt zwei Ernten im Jahr. Die Dörfer sind von großen Bananenwäldern umgeben. Das Klima ist außerordentlich mild und gleichmäßig, eine Folge der hohen Lage des Landes (1500-2000 m); doch herrscht das Fieber ziemlich stark. Es gibt zwei Regenzeiten (März bis Mai und September bis November). Von Mineralien werden nur Eisenerz, Talk, Porzellanerde gefunden. Die Bewohner teilen sich in mehrere Stämme: Waganda, Wahuma, Wanyambo und Wasoga, von denen die ersten in jeder Beziehung am wichtigsten sind. Sie sind mehr als mittelgroß, schlank, kräftig und von dunkelbrauner Farbe. Ungleich den umwohnenden Völkerschaften, sind die Waganda, wenn sie auf der Straße erscheinen, von Kopf bis Fuß bekleidet, auf eine Verletzung dieser Sitte steht die Todesstrafe. Sie sind fleißige Landbauer (Bananen, Durra, Mais, Bataten, Yams, Tabak, Rizinus, Sesam, Zuckerrohr, Kaffee); aus den Bananen gewinnen sie ein berauschendes Getränk (Muenge). Als Haustiere haben sie Rinder, Schafe mit Fettschwanz, Ziegen, Hühner, Hunde, Katzen. Sie sind geschickte Holzarbeiter und Schmiede, ihre Waffen sind Speer, Schild, Bogen und Pfeil; Feuergewehre werden von Sansibar importiert, der König besitzt auch vier kleine Schiffskanonen. Außerdem werden Kleiderstoffe aus Baumrinde, Töpferwaren, Körbe und Matten, Leder u. a. gefertigt. In den Handel kommen Elsenbein, Gummi, Harze, Kaffee, Myrrhen, Löwen-, Leoparden-, Ottern- und Ziegenfelle, Öchsenhäute und weiße Affenhäute. Hauptstadt ist Rubaga, nicht weit vom Nordufer des Victoria Nyanza. Von Europäern ist U. wiederholt besucht worden, so von Speke (1862), Long (1874), Stanley und Linant de Bellefonds (1875), Felkin und Wilson (1879); sie wurden sämtlich gastfreundlich vom König Mtesa aufgenommen, doch verbot der König schon 1879 den ins Land gezogenen englischen und französischen Missionären das Lehren und bedrohte seine Unterthanen, die sich von jenen unterweisen lassen würden, mit der Todesstrafe. Zugleich wurde auch die mohammedanische Religion verboten. Nach Mtesas Tod (10. Okt. 1884) begann sein Nachfolger Mwanga die Christen heftig zu verfolgen, ließ 1885 mehrere Zöglinge der englischen Mission lebendig verbrennen und 31. Okt. 1885 sogar den englischen Bischof für Zentralafrika, Hannington, in Usoga hinrichten, so daß die Lage der Missionäre eine sehr gefährdete wurde. Vgl. Wilson und Felkin, U. und der ägyptische Sudân (deutsch, Stuttg. 1883).

Ugijar (spr. ugichhar), Bezirkshauptort in der span. Provinz Granada, in den Alpujarras, den Südabhängen der Sierra Nevada, mit (1878) 2792 Einw.

Uglitsch, Kreisstadt im russ. Gouvernement Jaroslaw, an der Wolga, hat einen alten verfallenen Kreml (in welchem der junge Zarewitsch Dmitrij, Sohn Iwans des Schrecklichen, 1591 ermordet wurde), 25 Kirchen, darunter eine Kathedrale, ein geistliches Seminar, Fabrikation von Leder, Seife, Kupfer- und Zinnwaren, Papier etc., lebhaften Handel und (1885) 11,183 Einw.

Ugocsa (spr. úgotscha), ungar. Komitat am linken Theißufer, von den Komitaten Bereg, Mármaros und Szatmár begrenzt, 1191 qkm (21,62 QM.) groß, wird von der Theiß durchströmt, ist im O. gebirgig, waldreich, wenig fruchtbar und hat (1881) 65,377 Einw. Hauptprodukte sind: Getreide, Schweine, Schafe, Fische und Eisen (im Turtzer Gebirge). Sitz des Komitats ist Nagy-Szölös (s. d.).

Ugogo, Landschaft in Ostafrika, zwischen dem 6. und 7.° südl. Br., grenzt an den nordwestlichen Teil von Usagara, ein dürres, welliges Tafelland, das in seinem südlichen Teil vom Kisigo, einem Nebenfluß des Rueha, durchzogen und begrenzt wird und nur an den Ufern desselben und den über die Oberfläche verstreuten Oasen bewohnbar ist. Die Vegetation besteht in Akaziengestrüppen, Balsamsträuchern, Aloe, Euphorbien, Kapernsträuchern, hartem Gras; von Tieren finden sich Löwen, Schakale, Großohrfüchse, Elefanten, Nashörner, Büffel, Giraffen, Strauße, Perlhühner. Die Eingebornen, Wagogo, wohnen in Lehmhäusern, Tembe, mit flachem Dach. Das Gebiet zerfällt in zahlreiche unabhängige, aus mehreren Dörfern bestehende Bezirke, deren jeder seine Souveränität hauptsächlich in der Erpressung der Wegsteuer von den Reisenden ausübt. S. Karte bei "Congo".

Ugolino, s. Gherardesca.

Ugomba, Landschaft in Ostafrika, zwischen dem 3. und 4.° südl. Br., an den Quellflüssen des in den Tanganjika sich ergießenden Malagarasi.

Ugrische Völker, ein von Castrén gebrauchter Sammelname für die Ostjaken am rechten Ufer des Ob, die Wogulen am Ostabhang des nördlichen Urals und die Magyaren, die sämtlich zur gliederreichen finnischen Völkergruppe gehören. Die beiden ersten sind besonders deshalb interessant, weil sie uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie die Zustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeit beschaffen waren.

Uhde, 1) Hermann, Schriftsteller, geb. 26. Dez. 1845 zu Braunschweig, ging, nachdem er sich in Hannover längere Zeit dem Journalismus gewidmet hatte, 1870 als Spezialkorrespondent der "Hamburger Nachrichten" auf den französischen Kriegsschauplatz und übernahm hierauf das Feuilleton der genannten Zeitung. Seine Berichte veröffentlichte er in einem Sonderabdruck (Hamb. 1871). Seit 1872 lebte er in Weimar, seit 1874 aber privatisierend in Veytaux-Chillon am Genfer See, wo er 27. Mai 1879 starb. Seine Thätigkeit betraf meist die äußere Geschichte der deutschen Litteratur und vorwiegend des deutschen Theaters. Unter seinen Publikationen, die fast alle auf bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen und Briefen beruhen, sind zu nennen: "Erinnerungen und Leben der Malerin Luise Seidler" (2. Aufl., Berl. 1875); "Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirektors F. L. Schmidt" (Hamb. 1875, 2 Bde.); "Goethes Briefe an Soret" (Stuttg. 1877); "Goethe, J. G. v. Quandt und der Sächsische Kunstverein" (das. 1878); "Das Stadttheater in Hamburg 1827-77" (das. 1879). Außerdem gab er Karl Töpfers "Dra-

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Uhehe - Uhland.

matische Werke" (Leipz. 1873) und H. A. O. Reichards "Selbstbiographie" (Stuttg. 1877) heraus.

2) Fritz von, Maler, geb. 22. Mai 1848 zu Wolkenburg in Sachsen, ging 1866 auf die Kunstakademie in Dresden, wendete sich aber, weil ihn der damals auf der Akademie herrschende Geist nicht befriedigte, 1867 der militärischen Laufbahn zu und diente bis 1877, zuletzt als Rittmeister im Gardereiterregiment. Dann quittierte er seinen Dienst und begab sich nach München, um sich der Malerei zu widmen, wobei er sich besonders an das Studium der Niederländer hielt. Ein Zusammentreffen mit Munkacsy veranlaßte ihn, sich im Herbst 1879 nach Paris zu begeben, wo er einige Wochen im Atelier Munkacsys malte, im übrigen aber seine Studien nach den Niederländern fortsetzte. Unter ihrem Einfluß stehen seine ersten Bilder: die Sängerin und die gelehrten Hunde, sowie die 1881 in München gemalten: das Familienkonzert und die holländische Gaststube. Eine 1882 nach Holland unternommene Reise bestärkte ihn in seinen koloristischen Grundsätzen, in welche er inzwischen auch diejenigen der Pariser Hellmaler aufgenommen hatte. Seine nächsten Bilder: die Ankunft des Leierkastenmanns (Erinnerung aus Zandvoort) und die Trommelübung bayrischer Soldaten, waren jedoch nur die Vorbereitung zu denjenigen Aufgaben, welche er sich als das Hauptziel seiner Kunst gestellt hatte. Auf Grund seiner neuen koloristischen Anschauung und seiner naturalistischen Formenbildung wollte er die Geschichte des Neuen Testaments in enge Beziehungen zur Gegenwart setzen und mit starker Hervorhebung der untern Volksklassen zu einer neuen, tief und schlicht empfundenen Darstellung bringen. Seine zu diesem Zwecke geschaffenen Hauptbilder, welche durch ihre Neigung für das Gewöhnliche und Häßliche auf großen Widerstand stießen, wegen ihres strengen Anschlusses an die Natur und ihrer koloristischen, bisweilen an Rembrandt erinnernden Haltung aber auch zahlreiche Bewunderer fanden, sind: Christus und die Kinder (1884, im Museum zu Leipzig), Komm, Herr Jesu, sei unser Gast (1884, in der Berliner Nationalgalerie), Christus und die Jünger von Emmaus (1885), das Abendmahl (1886), die Bergpredigt (1887) und die heilige Nacht (1888). Er lebt als königlicher Professor in München. Vgl. Lücke, Fritz v. U. (Leipz. 1887).

Uhehe, Landschaft im äquatorialen Ostafrika, wird vom 9.° südl. Br. durchschnitten und vom Rueha durchflossen, wurde von Graf Pfeil und Schlüter 29. Nov. 1885 durch Vertrag für die Deutsche Ostafrikanische Gesellschaft erworben.

Uhha, Landschaft in Äquatorialafrika, am Nordostufer des Tanganjika, wird vom Malagarasi, im südlichsten Teil von einer vielbegangenen Straße durchzogen, ist sonst aber noch wenig bekannt.

Uhl, Friedrich, Schriftsteller, geb. 14. Mai 1825 zu Teschen, studierte in Wien und widmete sich nachmals der litterarischen Laufbahn, welche er mit den "Märchen aus dem Weichselthal" (Wien 1847) begann. Als Mitarbeiter und Redakteur verschiedener größerer Wiener Zeitungen erwarb er in der Wiener Publizistik eine hochgeachtete Stellung und fungiert gegenwärtig als Chefredakteur der kaiserlichen "Wiener Zeitung" und k. k. Wirklicher Regierungsrat. Seinen litterarischen Ruf erwarb U. zuerst durch die vortrefflichen farbenvollen Bücher: "Aus dem Banat; Landschaften und Staffagen" (Leipz. 1848); "An der Theiß; Stillleben" (das. 1851). Später schrieb er die Romane: "Die Theaterprinzessin" (Wien 1863, 3 Bde.), "Das Haus Fragstein" (2. Aufl., das. 1878), "Die Botschafterin" (Berl. 1880, 2 Bde.) und "Farbenrausch" (das. 1886, 2 Bde.), welche sich sämtlich durch scharfe Beobachtung moderner Zustände, lebendige Charakteristik, feine Detaillierung und klaren, künstlerisch durchgebildeten Stil auszeichnen. Auch seine theaterkritischen Aufsätze verdienen Erwähnung.

Uhland, 1) Johann Ludwig, hervorragender Dichter und Litteraturforscher, geb. 26. April 1787 zu Tübingen, besuchte Gymnasium und Universität seiner Vaterstadt und studierte 1802-1808 die Rechte, neben diesem Studium das der mittelalterlichen Litteratur, namentlich der deutschen und französischen Poesie, pflegend. Seine eignen poetischen Versuche und Regungen standen in dieser Zeit durchaus unter dem Einfluß der Romantik, von der er freilich nur diejenigen Elemente in sich aufnahm, welche einem tiefern Bedürfnis des Gemüts entsprangen und zum Humanitätsideal unsrer klassischen Dichtung eine Ergänzung, aber keinen Gegensatz bildeten. Bereits während seiner Tübinger Studienzeit begann er, einzelne Gedichte (zum Teil unter dem Pseudonym Volker) in Zeitschriften und Musenalmanachen zu veröffentlichen. 1810 unternahm er eine mehrmonatliche Reise nach dem kaiserlichen Paris, wo er auf der Bibliothek dem Studium altfranzösischer und mittelhochdeutscher Manuskripte jedenfalls eifriger oblag als dem des Code Napoléon, welches der ursprüngliche Zweck seiner Reise war. Heimgekehrt widmete er sich dann, wenn auch halb mit innerm Widerstreben, in Stuttgart der Advokatur. Sein patriotischer Sinn jauchzte den Ereignissen der Befreiungskriege, die er als rheinbündischer Württemberger nur mit Wünschen und Hoffnungen begleiten konnte, freudig entgegen ; im Vollgefühl der errungenen Befreiung veröffentlichte er die erste Ausgabe der Sammlung feiner "Gedichte" (Stuttg. 1815, 60. Aufl. 1875). Sie enthielt zwar viele Perlen seiner Lieder- und Romanzendichtung, die in den spätern Auflagen hinzukamen, noch nicht, trug aber im ganzen bereits das charakteristische Gepräge der Uhlandschen Dichtung. "Die Eigentümlichkeit seiner dichterischen Anschauung beruht wesentlich in seinem lebendigen Sinn für die Natur. Diese wurde ihm zum Symbol der sittlichen Welt, er lieh ihr das Leben seines eignen Gemüts und machte die Landschaft, dem echten Maler gleich, zum Spiegel seiner dichterischen Stimmung. Wie aber die beseelte Landschaft die menschliche Gestalt als notwendige Ergänzung fordert, so belebt und individualisiert auch U. das Bild der Natur durch den Ausdruck menschlichen Seins und Handelns. Und hier macht sich nun seine Vorliebe für die Erinnerungen deutscher Vorzeit geltend. Die Empfindungen, welche ausgesprochen werden, die Situationen, die Charaktere gehören nicht der Vergangenheit an, sie haben die ewige, jugendfrische Wahrheit aller echten Poesie; aber der Dichter sucht mit Recht diese einfachen Gestalten von allgemeiner Geltung dem gewöhnlichen Kreis der täglichen Erfahrung zu entheben und hüllt sie in den Duft mittelalterlicher Reminiszenzen. Seine Kunst, die verschiedenen Elemente der gemütlichen Stimmung, des landschaftlichen Bildes und der mittelalterlichen Staffage zum Ganzen einer künstlerischen Komposition im knappsten Rahmen mit den einfachsten Mitteln zusammenzuschließen, ist bewunderungswürdig , und auf ihr beruht wesentlich der Reiz seiner vollendetsten und beliebtesten Gedichte. Auch ist sie seinen Liedern und Balladen gleichmäßig eigen; die nahe Verwandtschaft beider ist darin begründet, nur die Mischung der Elemente ist eine

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Uhlenhorst - Uhlich.

etwas andre." (O. Jahn.) Während die "Gedichte" anfänglich langsam, dann schneller und schneller ihren Weg ins deutsche Publikum fanden, versuchte sich U. auch als Dramatiker. Seine beiden dramatischen Werke: "Ernst, Herzog von Schwaben" (Heidelb. 1818) und "Ludwig der Bayer" (Berl. 1819), denen bei allen dichterischen Vorzügen die unerläßliche Lebensfülle und die Energie spannender, vorwärts drängender Leidenschaft abgehen, errangen nur einen mäßigen Erfolg. Seit 1816 begannen die politischen Kämpfe und die ausgebreiteten wissenschaftlichen Forschungen den Dichter von größern Schöpfungen abzuziehen. U. beteiligte sich an dem Ringen um die württembergische Verfassung und gehörte später als Abgeordneter zur Ständekammer der freisinnigen Partei an. Seine Schrift über "Walther von der Vogelweide" (Stuttg. 1822) bekundete ihn als so feinsinnigen Kenner und Forscher der mittelalterlichen Litteratur, daß der Wunsch immer lebhafter erwachte, ihn auf einem Lehrstuhl für seine Lieblingswissenschaften zu erblicken. Mit seiner 1829 erfolgenden Ernennung zum Professor der deutschen Litteratur an der Universität Tübingen ward dieser Wunsch erfüllt. Uhlands Lehrthätigkeit erfreute sich der reichsten Wirkung. Aber bereits 1832, als ihm die Regierung den Urlaub zum Eintritt in die Ständekammer verweigern wollte, legte er seine Professur nieder. Vor äußern Lebenssorgen namentlich auch seit seiner sehr glücklichen Ehe mit Emilie Vischer (der "Unbekannten" seiner Gedichte) völlig gesichert, teilte er fortan seine Zeit zwischen der ständischen Wirksamkeit und seinen wissenschaftlichen Arbeiten. 1839 legte er sein Mandat als Abgeordneter nieder, und erst die Bewegungen des Jahrs 1848 rissen ihn wieder aus seiner frei erwählten Zurückgezogenheit. Als Abgeordneter zur ersten deutschen Nationalversammlung der Linken angehörig, stimmte er gegen das Erbkaisertum, hielt auf seinem Posten bis zur Auflösung der Nationalversammlung aus und begleitete noch das Rumpfparlament nach Stuttgart. Von 1850 an zog er sich wieder ganz nach Tübingen zurück, eifrig mit der Vollendung jener wissenschaftlichen sagen- und litteraturgeschichtlichen Arbeiten beschäftigt, als deren Zeugnisse zu verschiedenen Zeiten die Schriften: "Über den Mythus von Thor" (Stuttg. 1836) und "Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder" (das. 1844, 2 Bde.; 2.Aufl., das. 1881 ff.) hervorgetreten waren. Alle äußern Ehrenbezeigungen konsequent ablehnenden der schlichten Einfachheit seines Wesens und der fleckenlosen Reinheit seines Charakters von allen Parteien hochgeachtet, verlebte U. ein glückliches kräftiges Alter und starb 13. Nov. 1862 in Tübingen. Seine poetischen Werke wurden wiederholt als "Gedichte und Dramen" (Jubiläumsausgabe, Stuttg. 1886), seine wissenschaftlichen, geordnet und revidiert von Adalb. v. Keller, W. Holland und Franz Pfeiffer, als "Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage" (das. 1866 bis 1869, 8 Bde.) herausgegeben. Die letztern brachten zum erstenmal jene vorzüglichen Tübinger Vorlesungen, welche U. zwischen 1829 und 1832 über die "Geschichte der altdeutschen Poesie", die "Geschichte der deutschen Dichtung im 15. und 16. Jahrhundert" und die "Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker" gehalten hatte. Alle diese Arbeiten lassen beim höchsten wissenschaftlichen Ernste den Dichter erkennen, welcher neben der wissenschaftlichen Methode und dem Forschereifer das künstlerische Verständnis und die feinste Mitempfindung für Volks- und Kunstdichtung, für den Zusammenhang von Dichtung und Mythe besaß. Eine Statue (von G. Kietz) wurde U. 1873 in seiner Vaterstadt Tübingen errichtet. Vgl. K. Mayer, L. U., seine Freunde und Zeitgenossen (Stuttg. 1867, 2 Bde.); "Uhlands Leben", aus dessen Nachlaß und eigner Erinnerung zusammengestellt von seiner Witwe (das. 1874); die biographischen Schriften von O. Jahn (Bonn 1863), Fr. Pfeiffer (Wien 1862), Notter (Stuttg. 1863), Dederich (Gotha1886), Holland (Tübing. 1886), H. Fischer (Stuttg. 1887), Hassenstein (Leipz. 1887); Weismann, L. Uhlands dramatische Dichtungen erläutert (Frankf. 1863); Düntzer, Uhlands Balladen und Romanzen (Leipz. 1879); Keller, U. als Dramatiker, mit Benutzung seines handschriftlichen Nachlasses (Stuttg. 1877).

2) Wilhelm Heinrich, Ingenieur, geb. 11. Jan. 1840 zu Nordheim in Württemberg, begründete 1865 das Technikum Mittweida, die erste Privatlehranstalt für Maschinentechniker, und 1868 das Technikum Frankenberg bei Chemnitz. Für die Stärkefabrikation gab er wesentliche Verbesserungen an und errichtete eine Versuchsstation mit vollständig fabrikmäßigem Betrieb und Lehrkursus. Seit 1870 lebt er in Leipzig. Er lieferte mehrere technische Kalender und schrieb zahlreiche technische Werke, von denen besonders hervorzuheben sind: "Handbuch für den praktischen Maschinenkonstrukteur" (Leipz. 1883-86, 4 Bde. und Supplementband); "Die Corliß- und Ventildampfmaschinen" (das. 1879); "Skizzenbuch für den praktischen Maschinenkonstrukteur" (2. Aufl., das. 1886); auch redigiert er die von ihm begründeten Zeitschriften: "Der praktische Maschinenkonstrukteur" und "Wochenschrift für Industrie und Technik" (Leipzig).

Uhlenhorst, Vorort von Hamburg, in anmutiger Lage an der Außenalster, hat ein großes Waisenhaus, schöne Villen und Gärten, Fabrikation von Maschinen, chemischen Artikeln, Goldwaren und englischen Cakes, eine lithographische Anstalt u. (1885) 11,167 Ew.

Uhles, warmer Eierpunsch.

Uhlhorn, Gerhard, luther. Theolog, geb. 17. Febr. 1826 zu Osnabrück, wurde Repetent, 1852 Privatdozent in Göttingen, 1855 Konsistorialrat und Hofprediger in Hannover, 1866 daselbst Mitglied des Landeskonsistoriums, Oberkonsistorialrat und 1878 Abt von Lokkum. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen nennen wir, abgesehen von mehreren Predigtsammlungen: "Die Homilien und Rekognitionen des Clemens Romanus" (Götting. 1854); "Urbanus Rhegius" (Elberf. 1861); "Der Kampf des Christentums mit dem Heidentum" (5. Aufl., Stuttg. 1889); "Vermischte Vorträge über kirchliches Leben der Vergangenheit" (das. 1875); "Die christliche Liebesthätigkeit in der alten Kirche" (das. 1882-84, 2 Bde.).

Uhlich, Leberecht, freigemeindlicher Theolog, geb. 27. Febr. 1799 zu Köthen, ward 1824 Prediger in Diebzig bei Aken, 1827 zu Pömmelte bei Schönebeck und 1845 an der Katharinengemeinde in Magdeburg. Er gab die Veranlassung zu den Versammlungen der "protestantischen Freunde" (s. Freie Gemeinden) seit 1841, geriet aber, da er das apostolische Symbol bei der Taufe nicht nach Vorschrift der Agende anwendete, mit dem Konsistorium in Konflikt und ward im September 1847 suspendiert, worauf er aus der Landeskirche trat und Pfarrer der Freien Gemeinde zu Magdeburg wurde. Als solcher hat er fortwährend in Konflikt mit den Behörden und oft als Angeklagter vor Gericht gestanden; 1848 ward er in die preußische Nationalversammlung gewählt, wo er dem linken Zentrum angehörte. Er starb 23. März 1872 in Magdeburg. Sein Hauptorgan war das "Sonntagsblatt"; von seinen zahlreichen Schriften nennen wir:

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Uhr (Taschen- und Pendeluhren).

"Bekenntnisse" (4. Aufl., Leipz. 1846); "Sendschreiben an das deutsche Volk" (Dess. 1845); "Die Throne im Himmel und auf Erden" (das. 1845); "Das Büchlein vom Reiche Gottes" (ein Katechismus, Magdeb. 1845 u. öfter); "Sonntagsbuch" (Gotha 1858); "Handbüchlein der freien Religion" (7. Aufl., Berl. 1889). Sein Leben hat er selbst beschrieben (Gera 1872).

Uhr, mechan. Vorrichtung zum Messen der Zeit, speziell, da Wasser-, Sand- und Sonnenuhren (s. d.) ihre Bedeutung im wesentlichen verloren haben, ein Räderwerk, welches durch ein fallendes Gewicht oder durch eine sich entspannende Feder getrieben wird. Dieses Räderwerk, bestehend aus einer Anzahl ineinander greifender Zahnräder, zählt gewissermaßen die kleinen, aber sehr regelmäßigen Bewegungen, welche ein andrer Teil der U., der Regulator, vollbringt, und registriert sie durch den Zeiger auf dem Zifferblatt. Regulator und Räderwerk sind durch die Hemmung miteinander verbunden. Ersterer ist ein Pendel oder ein Schwungrad mit Spiralfeder, und je nach der Kombination dieser Teile unterscheidet man nun Gewichtuhren, die meist auch Pendeluhren sind, und Federuhren mit Pendel (Stutzuhren) oder Unruhe (Taschenuhren). In dem Räderwerk befindet sich ein Rad, welches sich genau in einer Stunde umdreht (das Minutenrad) und den Minutenzeiger trägt, während ein besonderes kleines Räderwerk (Zeiger- oder Vorlegewerk) mit zwölfmal langsamerer Bewegung den Stundenzeiger treibt. Bei den Gewichtuhren wirkt das fallende Gewicht, solange es überhaupt fällt, mit stets gleichbleibender Kraft, die spiralförmig aufgewundene Feder aber, welche, indem sie sich entspannt, das Räderwerk treibt, wirkt weniger gleichmäßig, und es bedarf zur Erzielung eines gleichförmigen Ganges der U. einer vollkommen konstruierten Hemmung. Man benutzt zu diesem Zweck aber auch die Kette, welche das die Feder enthaltende Federhaus mit der Schnecke, einem abgestutzten Kegel, verbindet und, wenn die U. aufgezogen ist, ganz um die Schnecke, vom dickern nach dem dünnern Ende derselben gewunden ist. Indem nun die Feder das Federhaus dreht, wickelt dieses die Kette von der Schnecke ab, und die Kompensation der Ungleichheiten in der Zugkraft der Feder erfolgt, weil die Kette zuerst an dem kleinsten und dann an immer größerm Halbmesser der Schnecke thätig ist. Diese in den ältern Taschenuhren (Spindeluhren) übliche Einrichtung findet sich jetzt nur noch in Präzisionswerken. Da die Schwingungsdauer eines Pendels nur dann konstant ist, wenn seine Länge unverändert bleibt, diese aber durch die Temperaturschwankungen sich verändert, so benutzt man für genaue Uhren Kompensationspendel, bei denen durch die verschieden große Ausdehnung zweier Metalle der Mittelpunkt der Pendellinse in gleicher Entfernung vom Aufhängepunkt erhalten wird. Sind in Fig. 1 eee drei Eisenstäbe, z z zwei Zinkstäbe, so ist bei der eigentümlichen Aufhängungsweise der Pendellinse die Aufgabe gelöst, wenn die Summe der Längen eines äußern und des mittlern Eisenstabes sich zu der eines Zinkstabes verhält wie die Ausdehnungskoeffizienten von Zink und Eisen. Die Unruhe, ein kleines Schwungrädchen mit Spiralfeder, welches um eine Gleichgewichtslage schwingt, macht Schwingungen von konstanter Dauer, solange Durchmesser, Schwingungsbogen und Spiralenlänge unverändert bleiben, ist also auch von Temperaturschwankungen abhängig und bedarf bei Chronometern wie das Pendel einer Kompensation. Die Hemmung (échappement) hat dem Pendel oder der Unruhe fort und fort mittels kleiner Impulse dasjenige an Kraft zu ersetzen, was sie durch Reibung und Luftwiderstand bei jeder Schwingung einbüßen. Bei der viel angewandten Ankerhemmung von Graham (Fig. 2) ist A ein sogen. Steigrad, welches durch Zahnräderübersetzung von der Gewichtstrommel aus bewegt wird, während der Anker B an den Schwingungen des Pendels teilnimmt u. so abwechselnd links u. rechts in die Zähne des Steigrades eingreift. In der dargestellten Lage wird im nächsten Moment der jetzt gesperrte Zahn k frei und erteilt, an der schrägen Fläche g i entlang gleitend, dem Pendel einen kleinen Impuls. Nachdem sich hierauf das Steigrad um die halbe Entfernung zweier Zähne bewegt hat, stößt rechts ein Zahn gegen den Arm m des Ankers, und das Rad bleibt so lange gesperrt, bis das Pendel zurückkehrt. Auch hier erteilt die Zahnspitze demselben einen Impuls, indem sie an der Hebefläche m p entlang gleitet. Die Hemmung heißt ruhende Hemmung, weil das Steigrad, während es gesperrt ist, vollständig unbeweglich bleibt, was bei den ältern Ankerhemmungen nicht der Fall war. Dem Anschein nach wesentlich, in Wirklichkeit aber nur wenig verschieden von dieser Hemmung ist die Cylinderhemmung der Taschenuhren, bei welcher statt vieler Zähne nur ein einziger zwischen den beiden Armen des Ankers sich befindet, der nun durch die hohle Achse der Unruhe gebildet werden kann. Bei der Ankerhemmung neuerer Taschenuhren (Fig. 3) ist A der sogen. Anker, B die Unruhachse mit der darauf sitzenden Scheibe g und C das vom Uhrwerk in der Richtung des Pfeils getriebene Steigrad; i ist der sogen. Hebestein, welcher an der Scheibe g befestigt

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Uhr (Remontoir-, selbstaufziehende Uhren etc., Schlagwerke, Kontrolluhren etc.).

ist und den doppelten Zweck hat, den Anker in den extremen Stellungen II und III zu halten, in denen das Steigrad gesperrt wird, und anderseits in dem Moment, in welchem ein Zahn des letztern an einer der beiden Hebeflächen mn oder pq entlang gleitet, durch die Hörner t und r, zwischen denen er dann liegt, den Impuls zur Erhaltung der Unruhbewegung zu empfangen. Der letztere Moment ist in der Figur, Stellung I, gezeichnet. Der Zahn k gleitet an der Hebefläche pq entlang und bewirkt dadurch eine Bewegung des obern Teils des Ankers nach links; dadurch drückt das Horn r auf den Hebestein und unterstützt die Drehung, in welcher sich die Unruhe augenblicklich befindet, bis die Stellung II eingetreten ist; in dieser sperrt der Zahn z, gegen welchen sich der Zahn v legt, das Steigrad so lange, bis die Unruhe umkehrt und den Hebestein gegen r trifft, wodurch der Anker den Zahn v freigibt, welcher nun auf die Hebefläche mn wirkt und einen Impuls nach der andern Richtung erteilt. Hierauf tritt die Stellung III ein, und das Spiel wiederholt sich. Die Unruhe ist in der Figur weggelassen, ebenso der sogen. Sicherheitsmesser, welcher verhindert, daß bei Erschütterung fehlerhaftes Arbeiten stattfindet. Bei diesen Hemmungen liegt noch ein gewisser Nachteil in dem Umstand, daß der Anker während des größten Teils der Pendelschwingung an den Zähnen des Steigrades gleitet und dabei eine von der Größe der Triebkraft abhängige Reibung erfährt, welche leicht verzögernd auf den Gang der U. einwirken kann. Aus diesem Grund hat man freie Hemmungen konstruiert, bei welchen Pendel oder Unruhe, mit Ausnahme des vom Triebwerk aus erteilten Stoßes, während der Schwingung möglichst frei von Druck und Reibung bleiben. Noch vollkommener wirken die Hemmungen mit konstanter Kraft, bei denen der Impuls dem Regulator nicht direkt durch die Triebkraft, sondern vermittelt durch eine Feder oder ein Gewicht erteilt wird, welche nach jeder Pendelschwingung regelmäßig durch die treibende Hauptkraft wieder aufgezogen werden. Dieses letztere Mittel ist in Anwendung namentlich bei den Chronometern ("Zeitmessern"), welche auf Schiffen zur Bestimmung der geographischen Länge benutzt werden (deshalb Seeuhr, Längenuhr), indem man die von ihnen angegebene Zeit mit der an Ort und Stelle sich aus Beobachtung der Sonne oder der Sterne ergebenden Zeit vergleicht. Je 4 Minuten Zeitunterschied entsprechen bekanntlich einem Grad Längenunterschied. Der Gedanke stammt bereits aus dem Jahr 1530, wo ihn Gemma Frisius kurz nach Erfindung der Taschenuhr aussprach. Huygens verfertigte eine solche U. mit gutem Erfolg bereits 1665, eine vollkommnere Lösung der Aufgabe wurde 1728 durch Harrison erreicht, alles bisher Geleistete übertraf aber Bréguet. Die Chronometer haben sehr kräftige Kompensationsunruhen, häufig mit Spiralfedern von bedeutender Länge aus stark gehämmertem Gold, um das Rosten zu verhindern. Alle Räder müssen aufs vorzüglichste gelagert und äquilibriert sein. Ein Chronometer muß auch vorsichtig gebraucht werden, frei von heftigen Erschütterungen bleiben und weder in zu trockner noch zu feuchter Atmosphäre sich befinden. Ein mathematisch sicheres Resultat ist aber selbst bei der ausgesuchtesten Behandlung nicht zu erwarten. Das Aufziehen der Taschenuhren mit besonderm Uhrschlüssel wird bei den Remontoiruhren vermieden, bei denen der äußere Griff der U., wenn man ihn dreht, auf ein kleines Zahnradsystem wirkt, welches das Aufziehen besorgt. Eine autodynamische oder selbst aufziehende Taschenuhr von Löhr ist mit einem Aufziehmechanismus versehen, der nach Art der Schrittmesser mit schwingendem Hämmerchen arbeitet. Bei geringen Erschütterungen, wie sie die U. beim Gehen, Reiten, Fahren etc. erleidet, gerät ein Gewichtshebel in Schwingungen, und diese werden auf ein Räderwerk übertragen, welches zum Aufziehen der Uhrfeder dient. Lößls autodynamische Gewichtsuhr befindet sich in einem allseitig geschlossenen Gehäuse und geht, einmal aufgezogen, ohne weiteres Zuthun von außen. Das Gehwerk wird durch ein hängendes Gewicht betrieben, und man benutzt den stets schwankenden Barometer- oder Thermometerstand, um das Gewicht stets in gleicher Höhe zu erhalten. Die Gleichmäßigkeit des Ganges ist durch ein genau adjustiertes Kompensationspendel gesichert. Eine sehr viel längere Gangbarkeit, als die gewöhnlichen Pendeluhren besitzen, erhielt Harder durch Anwendung eines rotierenden Torsionspendels. Dieses Pendel besteht aus einer wagerechten Scheibe, die in ihrem Mittelpunkt an einer dünnen, schmalen, sehr geschmeidigen, senkrecht an einem festen Punkt herabhängenden Stahlfeder befestigt ist und, ohne ihre Lage zu ändern, wie die Unruhe einer Taschenuhr abwechselnd vor- und rückwärts schwingt. Da diese Scheibe bei ihrer immer gleichbleibenden Lage keine Luft verdrängt und nicht gehoben wird, so kann sie mit demselben Kraftaufwand unter sonst ähnlichen Verhältnissen sehr viel länger im Gang erhalten werden als ein Pendel; ja, es gelingt, diese U. in der Weise zu konstruieren, daß sie im Jahr nur einmal aufgezogen zu werden braucht (daher Jahresuhr). Besondere Versuche haben ergeben, daß die Schwingungen des Torsionspendels ebenso isochron sind wie die eines gewöhnlichen Pendels, so daß der regelmäßige Gang einer mit Torsionspendel versehenen U. in dieser Hinsicht sichergestellt ist. Die Schlagwerke der Uhren werden durch eine besondere Triebkraft, Gewicht oder Feder, betrieben und in gewissen Momenten durch das Gehwerk ausgelöst. Bei der eintretenden Bewegung wirkt meist ein Windflügel, welcher schnell um seine Achse rotiert, als Regulator, und der Hammer wird so lange ausgehoben und fallen gelassen, bis die Bewegung wieder durch das Gehwerk gesperrt wird. Bei den Repetieruhren wird das Schlagwerk nicht durch das Gehwerk, sondern durch eine äußere Kraft, z. B. den Zug an einer Schnur oder den Druck an einem Knopf, ausgelöst. Für Uhren, welche eine selbst in den kleinsten Zeitteilen gleichförmige Bewegung haben müssen, namentlich bei solchen zum Bewegen astronomischer Fernröhre, die dem Lauf der Sterne folgen sollen, wendet man ein Zentrifugalpendel an, welches auch konstante Umdrehungszeiten besitzt. Eine Hemmung ist bei diesen Uhren gar nicht nötig, da direkt eine schnell gehende Achse als Pendelachse benutzt werden kann. Wächterkontrolluhren zwingen den Wächter, zu regelmäßigen Zeiten seine Rundgänge zu machen, indem sie jede Abweichung von der Vorschrift sofort verraten. Bei der U. von Bürk macht der Wächter mit verschiedenen, an den einzelnen Stationen in besondern Kästchen eingeschlossenen Schlüsseln auf einem in der U. sich bewegenden Papierstreifen Eindrücke, aus deren Ort in der Längenrichtung des Streifens auf den Moment der Einwirkung, aus deren Ort in der Breite aber auf die Station geschlossen werden kann, an welcher sie erfolgt, sofern jeder Schlüssel nur im stande ist, an einer bestimmten Stelle in der Breitendimension zu wirken. Versäumt der Wächter eine Station, so fehlt ein derselben entsprechender Punkt auf dem Streifen.

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Uhr (Geschichtliches, elektrische Uhren).

Die Zeit der Erfindung der U. ist nicht genau bekannt. Die Alten hatten nur Sonnen-, Sand- und Wasseruhren (s. d.). Der Grundgedanke der mechanischen Gewichtsuhr wurde schon von Aristoteles ausgesprochen, und im frühen Mittelalter finden sich mechanische Uhren in Deutschland. Im 12. Jahrh. benutzte man in Klöstern Schlaguhren mit Räderwerk, und auch Dante erwähnt solche. Da Sultan Saladin dem Kaiser Friedrich II. eine Räderuhr zum Geschenk machte, so hat man die Sarazenen für die Erfinder dieser Uhren gehalten, die erst durch die Kreuzzüge nach Europa gekommen seien. Der Bau der Turmuhren läßt sich bis ins 14. Jahrh. verfolgen. Die Benutzung des Pendels regte Galilei an, und unter seiner Leitung arbeitete Balcetri an einer Pendeluhr, allgemein wurde die Pendeluhr aber erst bekannt, als Huygens, der eine solche 1656 konstruierte, sein "Horologium oscillatorium" (1673) hatte erscheinen lassen. Als Erfinder der Taschenuhren gilt Peter Henlein (Hele) in Nürnberg (um 1500); die ersten hatten cylindrische Form, die eiförmigen (Nürnberger Eier) kamen um 1550 auf. Barlow erfand 1676 die Repetieruhren. Die Verfertigung der Uhren wird jetzt fast durchweg fabrikmäßig betrieben, und zwar nimmt die Schweiz hinsichtlich der Produktion und Beschaffenheit ihrer Taschenuhren den ersten Rang ein. Genf (seit 1587), Locle und Chaux de Fonds sind die Hauptsitze dieser Industrie. Hier, in Biel, Solothurn und St.-Imier bestehen Uhrmacherschulen. Die englischen Uhren besitzen zwar einen großen Ruf; doch sind ihnen wirklich gute Schweizer Uhren gleichzustellen, ja hinsichtlich der Konstruktion vorzuziehen. In Deutschland werden Taschenuhren seit 1845 in Glashütte in Sachsen (mit Uhrmacherschule) und in Silberberg (Schlesien), hier auch Wächter-, Kontroll- und Turmuhren gesertigt. Die vorzüglichsten Pendeluhren mit zahlreichen Arten von Gehäusen, mit Weckern, Schlagwerken, Spielwerken, Figuren, Kuckuck etc. liefert der Schwarzwald seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrh., besonders seit 1780. Für diese Uhren, die auch in Freiburg (Schlesien) dargestellt werden, besteht eine Uhrmacherschule in Furtwangen. Hauptsitze der Schwarzwälder Uhrenindustrie sind im frühern Seekreis: Hüfingen, Neustadt, Villingen und im frühern Oberrheinkreis: Freiburg, Hornberg, Triberg und Waldkirch. Frankreich hat bedeutende Taschenuhrenfabrikation in Besancon. Stutzuhren werden besonders in Paris, Wien, Prag, Graz, Augsburg, Berlin und Lähn in Schlesien gefertigt. Die Vereinigten Staaten haben seit 1854 Pendel- und Taschenuhrenindustrie besonders in Waltham (Massachusetts) und Elgin (Illinois); mit vortrefflichen Arbeitsmaschinen liefert man Uhren, welche bei gleichem Preis den schweizerischen mindestens gleichkommen und diesen selbst in Europa erfolgreich Konkurrenz machen. Vgl. Jürgensen, Die höhere Uhrmacherkunst (2. Aufl., Kopenh. 1842); Rösling u.Stoß, Der Turmuhrenbau (Ulm 1843); Martens, Beschreibung der Hemmungen der höhern Uhrmacherkunst (Furtwang. 1858); Saunier-Großmann, Lehrbuch der Uhrmacherei (Glash. 1879, 3 Bde.); Derselbe, Das Regulieren der U. (das. 1880); Derselbe, Taschenwörterbuch für Uhrmacher (das. 1880); Felsz, Der Uhrmacher als Kaufmann (Berl. 1884); Rüffert, Katechismus der Uhrmacherkunst (3. Aufl., Leipz. 1885); Sievert, Leitfaden für Uhrmacherlehrlinge (4. Aufl., Berl. 1886); Horrmann, Repassage einer viersteinigen Cylinderuhr (2. Aufl., Leipz. 1886); Gelcich-Barfuß, Geschichte der Uhrmacherkunst (4. Aufl., Weimar 1886); Schilling-Baumann, Über Uhren, deren Geschichte und Behandlung (Zürich 1875); Rambol, Enseignemen théorique de l'horlogerie (Genf 1889 ff.); "Die Marfelssche Uhrensammlung" (Frankf. a. M. 1889, 18 Tafeln); vier Fachzeitschriften (in Leipzig, Berlin, Romanshorn und Wien).

Elektrische und pneumatische Uhren.

(Hierzu Tafel "Elektrische Uhren".) Elektrische Uhren wurden zuerst von Steinheil 1839, von Wheatstone u. Bain 1840 konstruiert. Man unterscheidet jetzt drei Systeme: sympathische Uhren (elektrische Zeigerwerke), bei welchen die Angaben einer gewöhnlichen Normaluhr durch elektromagnetische Vorrichtungen auf eine größere Anzahl von Zifferblättern übertragen werden; elektromagnetische Stundensteller, welche mit Hilfe des elektrischen Stroms in bestimmten Zeiträumen die Richtigstellung einer Anzahl von Uhren mit selbständigen Gangwerken nach den Angaben der Normaluhr bewirken, und elektrische Pendeluhren, welche ohne ein Laufwerk nur durch den elektrischen Strom in Thätigkeit gesetzt und erhalten werden. Bei den sympathischen Uhren sendet die Normaluhr mittels einer in das Getriebe eingelegten einfachen Kontaktvorrichtung in jeder Minute in die Leitung einen Strom, welcher die Fortbewegung des Minutenzeigers der sympathischen U. um ein Feld veranlaßt. Die sympathische U. von Siemens u.Halske (Fig. 1) besteht aus dem Elektromagnet MM, der auf der Platte g und mit dieser auf der Platte PP festgeschraubt ist. Den Polen pp ganz nahe gegenüber steht fast vertikal der um h drehbare Anker aa; die Abreißfeder f zieht ihn in die Ruhelage, wenn er von den Polen pp nicht angezogen ist, bis zu dem Aufhaltestift i zurück. An seinem verlängerten Ende befindet sich ein stählerner Stößer c sowie etwas tiefer eine kleine stählerne Schneide b. R ist ein Zahnrad mit 60 eigentümlich gekrümmten Zähnen, für dessen Achse die Platte e das Lager bildet. Auf derselben Platte e ist ein kleiner stählerner und leicht federnder Sperrhaken d festgeschraubt. So oft ein galvanischer Strom

durch die Leitung LL..., also durch den Elektromagnet MM, hindurchgeht, wird der Anker aa angezogen und durch den Stößer c ein Zahn des Rades R fortgestoßen. Die Schneide b fällt dabei sofort in eine Zahnlücke ein und verhütet, daß durch den Stoß des Stößers mehr als Ein Zahn fortgestoßen werde, während zugleich der federnde Haken d über den schiefen Rücken des zu feiner Rechten liegenden Zahns hinweggleitet und in die nächste Zahnlücke einfällt, um beim Rückgang des Stößers c bei Unterbrechung des Stroms zu verhindern, daß das Rad R selbst wieder mit zurückgeschleift werde. Es folgt hieraus, daß sich bei jedem Durchgang des Stroms durch die Leitung LL das Rad R um eine Zahnbreite bewegt und daher bei 60maliger Wiederherstellung und Unterbrechung des Stroms eine volle Umdrehung erleidet. Die Achse des Rades R trägt den Minutenzeiger, und eine einfache Räderübersetzung führt zur Bewegung des Stundenzeigers. Um nun die einmalige Umdrehung des Rades R in einer Stunde zu erreichen, muß die Batterie in jeder Minute einmal geschlossen und wieder geöffnet werden. Dies geschieht durch die Normaluhr, die zu diesem Behuf ein Rad enthält welches in jeder Minute eine Umdrehung macht. Fig. 2 zeigt dieses Rad bei w. Der auf demselben festgelötete Zapfen z erreicht in jeder Minute einmal seine tiefste Stellung, in welcher er die an der Klemme a befestigte Metallfeder f

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Elektrische Uhren.

Fig. 3. Vorderansicht.

Fig. 4. Seitenansicht.

Fig. 3. u. 4. Elektrische Zeigeruhr von Grau und Wagner.

Fig. 5. Bohmeyers sympathische Wechselstromuhr.

Vorderansicht.

Vorderansicht.

Seitenansicht.

Fig. 8. Elektrische Pendeluhr nach Hipp.

Fig. 6. Elektrischer Stundensteller nach Hipp.

Fig. 7. Elektrische Pendeluhr nach Weare.

Fig. 1. Elektrische Zeigeruhr nach Siemens und Halske.

Normal-Uhr

Fig. 2. Elektrische Uhrenverbindung.

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Uhr (elektrische Uhren).

gegen einen auf die Metallfeder g gelöteten Kontaktstift andrückt und dadurch die Batterie B schließt. Bald darauf rückt z weiter, die Federn f und g trennen sich wieder, und der Strom wird unterbrochen. Bei geschlossener Batterie zirkuliert der Strom in Richtung B, a, f, g, b, L zur elektrischen U. I, von da durch L... zur U. II etc., endlich von der letzten eingeschalteten U. in die Erdplatte Pl, durch die Erde zurück zu Pl und zur Batterie. - Ausgedehnte Verbreitung haben die elektrischen Zeigerwerke von Hipp gefunden, deren Konstruktion darauf berechnet ist, alle Störungen durch atmosphärische Einflüsse, mangelhafte Kontakte und Erschütterungen möglichst auszuschließen. Grau u. Wagner haben ein Zeigerwerk für Wechselstrombetrieb mit rotierendem polarisierten Anker konstruiert (Fig. 3 u. 4). E ist der Elektromagnet mit den beiden Polschuhen l und k, ab ein kräftiger permanenter Magnet, zwischen dessen Polen der rotierende Anker auf einer Messingachse de befestigt ist. Der Anker besteht aus zwei gleichen Teilen gi und hf aus weichem Eisen, die rechts und links an die Messinghülse c angeschraubt und gegeneinander um 90° verstellt sind. Beide Teile stehen den Polen des Hufeisenmagnets ab gegenüber und werden von den Polschuhen l und k des Elektromagnets überdeckt. Geht nun durch letztern ein Strom, der den Polschuhen entgegengesetzte Polarität verleiht, so findet durch die Einwirkung derselben auf den polarisierten Anker eine Drehung des letztern um 90° statt, in welcher Lage er durch eine Fangvorrichtung festgehalten wird. Wenn nun in der nächsten Minute ein Strom von entgegengesetzter Richtung den Elektromagnet durchfließt, so erfolgt die Drehung des Ankers dennoch in gleichem Sinn, weil auch dessen Stellung zu den Polschuhen sich bei der vorigen Bewegung umgekehrt hat. Bei der sympathischen Wechselstromuhr von Bohmeyer (Fig. 5), welche sich durch große Einfachheit und geringen Kraftverbrauch auszeichnet, stehen zwei weiche Eisenkerne ab auf dem Pol c des permanenten Hufeisenmagnets d, so daß sie beständig magnetisch sind. In unmittelbarer Nähe des c entgegengesetzten Pols befindet sich der weiche Eisenanker ef, der den weichen Eisenkernen entgegengesetzt polarisiert ist, solange kein Strom durch die Spulen geht. Die aus den Spulen hervorragenden Enden sind nahezu halb gefeilt, und dicht vor den flachen Seiten bewegen sich, ohne sie zu berühren, die Ankerschenkel ef. Bei Stromschluß wird der eine Eisenkern südlich, der andre nördlich magnetisch, so daß einer anziehend, der andre abstoßend auf den Anker wirkt. In der Zeichnung ist e von a angezogen, f von b abgestoßen. Die Hebel hi sitzen drehbar auf der Minutenradwelle, in ihre obern gabelförmigen Enden greifen die Führungsstifte kl, welche in einem mit der Ankerachse verbundenen Querstück befestigt sind. Kommt der Strom in umgekehrter Richtung, so zieht b den Anker f an, und h bewegt sich nach rechts. Gleichzeitig hat sich i nach links bewegt und der an i befindliche Sperrkegel m das 30zähnige Minutenrad um einen halben Zahn vorgeschoben. In der nächsten Minute wechselt der Strom, wobei Sperrkegel n das Minutenrad um einen halben Zahn weiter schiebt. Damit sich das Rad nicht weiter bewegen kann, treten wechselseitig n und m unter die Stifte o und p. Der leichte Gang des Werkes ist dadurch erzielt, daß der polarisierte Anker genau parallel gegen die Polschuhe schwingt, und daß derselbe den Minutenzeiger vermittelst der Hebel i und h im Trägheitsmittelpunkt desselben angreift und fortschiebt. Der große Weg des Ankers bewirkt, daß der Zeiger nicht geschnellt, sondern langsam fortbewegt wird. Ein Strom atmosphärischer Elektrizität kann keine dauernde Störung hervorbringen, denn hat er dieselbe Richtung wie der Batteriestrom, so erzeugt er keine Bewegung; bei entgegengesetzter Richtung rücken allerdings die Zeiger um eine Minute weiter, der darauf folgende Batteriestrom findet nun aber seine Arbeit schon verrichtet, und die U. zeigt wieder die richtige Zeit an. Die elektrischen Stundensteller mit ihrem selbständigen Triebwerk haben den großen Vorzug vor den sympathischen Uhren, daß sie weitergehen, auch wenn aus irgend einem Grunde der Korrektionsstrom ausbleibt. Man unterscheidet zwei Systeme. Bei dem einen werden die Schwingungen eines Pendels durch einen unterhalb desselben angebrachten Elektromagnet reguliert, während bei dem andern die Richtigstellung der Uhren durch direkte Einwirkung auf die Zeiger erfolgt. In Berlin sind sechs öffentliche Normaluhren aufgestellt und in übereinstimmenden Gang mit einem Regulator der Sternwarte gebracht worden. Letzterer schließt alle zwei Sekunden mittels einer am Pendel angebrachten Kontaktvorrichtung einen Strom. Am Pendel der Normaluhren ist eine Drahtspirale so befestigt, daß ein seitlich angebrachter permanenter Magnet während der Pendelschwingungen in den Hohlraum der Spirale eintaucht. Die Achse der letztern liegt daher rechtwinkelig zur Pendelachse. Infolge der periodischen Stromwirkungen muß nun das Pendel der Normaluhren gleichen Takt mit demjenigen des Regulators halten. Die elektrischen Stundensteller von Siemens u. Halske berichtigen die Zeigerstellung stündlich. Die mittels eines Elektromagnets ausgeübte Kraft löst zunächst für einen kurzen Moment ein kleines Werk aus, welches, durch Gewichts- und Federkraft getrieben, die Zeiger faßt und richtig einstellt. Man erhält so eine beliebige und auch für die Bewegung sehr großer Zeiger ausreichende Kraftäußerung. Außerdem kann man von der Zentralstation aus durch Entsendung von Stromimpulsen mittels einer Taste unabhängig von der Normaluhr die Zeiger der abhängigen U. aus falscher Stellung auf die volle Stunde einstellen. Man kann dadurch die U. fast um eine halbe Stunde vor- oder zurückstellen. Fig. 6 zeigt das Korrektionssystem von Hipp. An der vordern Gestellwand einer Hippschen elektrischen Pendeluhr ist der kleine Elektromagnet M angebracht, dessen Anker A an einem Winkelhebel w befestigt ist. Auf der Nase r des nach unten gerichteten Hebelarms ruht ein am Hebel h sitzender Stift. Der um die Achse x drehbare Hebel h trägt ferner einen $\bigwedge$-förmigen Klotz k, welcher beim Fallen des Hebels den auf der Stirnfläche des Steigrades R sitzenden Stift v faßt und so das Steigrad auf die volle Stunde 12 oder 6 einstellt. Die Wiedereinlösung von h geschieht durch einen der zwei auf der Stirnfläche des Stundenrades Z angebrachten Stifte. Der eine oder andre derselben hebt bei der Drehung von Z den Ansatz a in die Höhe, so daß sich der Stift wieder am Auslösehaken v fängt. Die Wirkung des Stroms erfolgt alle 6 Stunden. Der Stromkreis des Elektromagnets M ist nämlich nur dann geschlossen, wenn einer der Stifte y auf den Vorsprung c der Kontaktfeder d drückt, wodurch diese mit der zweiten Kontaktfeder b in Berührung gebracht und so eine Verbindung zwischen den Teilen L1 und L2 des Stromkreises herbeigeführt wird. Von den minder einfachen elektrischen Pendeluhren zeigt Fig. 7 eine Konstruktion von Weare, welche bei Anwendung einer recht konstanten Batterie

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Uhr (pneumatische Uhren).

gleichmäßig geht. Das Pendel A greift mit einem Grahamschen Anker in das Räderwerk einer gewöhnlichen Pendeluhr. NBS ist ein permanenter Stahlmagnet, N der Nordpol, S der Südpol. Auf der Pendelstange sitzt als Linse ein Elektromagnet E, der auf einer schmalen Messingplatte mit den Vorsprüngen aa' ruht. Das eine Ende des Umwindungsdrahts ist mit dieser Messingplatte, das andre mit einem Draht hinter der Pendelstange verbunden. Letzterer ist an der Aufhängefeder des Pendels befestigt und steht daher mit dem von dieser Feder auslaufenden, außerhalb des Gehäuses bei dem Zinkpol z mündenden Verbindungsdraht h in Kontakt. Der Stahlmagnet trägt unter jedem der seitwärts vorgebogenen Polenden eine kleine goldene Spiralfeder ff', welche beide mittels des Magnets und des Drahts b mit dem +Pol K der Batterie verbunden sind. Sobald nun das Pendel dem Pol N genähert wird, kommt der Vorsprung in Berührung mit der Feder f, der Strom wird geschlossen und zirkuliert über Kb fa durch die Windungen des Elektromagnets und den hinter der Pendelstange befindlichen Draht aufwärts zur Feder g und durch h nach z. Die Windungen des Elektromagnets sind derart gewählt, daß sich bei dieser Richtung des Stroms bei a ein Nordpol, bei a' ein Südpol bildet. Es wird daher der nach der Linken gerichtete Elektromagnet, sobald man ihn frei läßt, von dem Pol N zurückgestoßen, und diese Abstoßung überwindet wegen der größern Nähe die von S nach a' gerichtete Abstoßung. Das Pendel schwingt daher nach der Rechten zurück, wobei sich a von f trennt und der Strom unterbrochen wird. Jene Abstoßung hört nun auf, das Pendel aber geht vermöge der Trägheit über die Ruhelage hinaus nach der Rechten und nähert sich dem Südpol S. Kommt nun a' mit f' in Berührung, so wird der Strom wieder geschlossen, es bildet sich wieder bei a' ein Südpol, bei a ein Nordpol, welche beide von den gleichnamigen Polen S und N abgestoßen werden. Aber nun überwiegt die Abstoßung des Südpols S, und das Pendel schwingt nach der Linken zurück etc. Die Hippsche Pendeluhr (Fig. 8) besitzt ein Pendel P, welches in dem Punkt A mittels einer Stahlfeder aufgehängt ist und die schwere Scheibe L mit dem Eisenanker e trägt, der möglichst nahe über dem Elektromagnet m schwingt. Die Pendelstange ist in halber Höhe gekröpft, und auf der Linse sitzt ein Gleitstück a aus Achat, welches mehrere von vorn nach rückwärts verlaufende Furchen besitzt. An den isolierten Metallstücken bb' sind zwei horizontale Stahlfedern ff' eingespannt, von denen die untere für gewöhnlich an dem nicht leitenden Stift s, die obere an dem leitenden Stift s' anliegt. Die untere Feder ist an ihrem freien Ende mit einer aufwärts gerichteten Kontaktspitze m versehen, außerdem trägt sie das um die Achse o leicht bewegliche Stahlplättchen p, die Palette. Die von dem +Pol der Batterie ausgehende Leitung umkreist den Elektromagnet, führt dann zu f'k' und geht, sobald der Kontakt bei m geschlossen wird, über diesen nach fbk zum -Pol zurück. Außerdem ist noch die Zweigleitung dc' vorhanden, welche mit Ausschaltung der Batterie eine Schließung der Drahtwindungen des Elektromagnets herstellt, sobald der Kontakt s' geschlossen wird. Beim Schwingen des Pendels schleift die Palette über a hinweg. ohne daß die Achse o gehoben wird. Während dieser Zeit bleibt der Strom unbenutzt, nimmt aber die Schwingungsamplitude so weit ab, daß a nicht mehr vollständig unter p weggeführt wird, so stemmt sich beim Rückgang des Pendels die Palette in eine der Furchen a, und infolgedessen wird die Achse o und die Feder f gehoben. Hierdurch wird der Kontakt m geschlossen, der Strom magnetisiert den Elektromagnet, welcher nun stark anziehend auf den Anker e wirkt, bis dieser die tiefste Lage angenommen hat. In diesem Moment ist p wieder außer Verbindung mit a gekommen und der Strom unterbrochen, das Pendel aber hat einen so starken Antrieb erhalten, daß es wieder längere Zeit mit größerer Amplitude schwingt. Die Verbindung dc' verhindert, daß bei m ein Unterbrechungsfunke entsteht, indem sich f' einen Moment auf s' legt, bevor der Kontakt m geöffnet wird. Ein Pendel oder, wie bei den Taschenuhren, eine Unruhe muß bei allen elektrischen Uhren vorhanden sein, um ihren Gang zu regulieren; da aber die direkte Einwirkung des Elektromagnetismus auf das Pendel dieses nur so lange vollkommen isochronisch schwingen macht, als die Batterie ihre ursprüngliche Stärke völlig konstant erhält, so haben einige Erfinder das Auskunftsmittel ergriffen, den Elektromagnetismus erst auf besondere Zwischenmechanismen einwirken zu lassen, die nun erst ihrerseits das Pendel in seiner Bewegung unterhalten. Dieselben bestehen entweder in einem ganz kleinen Gewicht oder in einer Feder, welche durch den Anker eines Elektromagnets bei jedem Stromschluß um ein Geringes gehoben, alsdann von dem Pendel bei seiner Schwingung losgelöst werden und in die Ruhelage zurücksinken, wobei sie jedesmal dem Pendel denselben stets ganz gleichförmigen Impuls beibringen. Der Strom mag nun stark oder schwach sein; solange die Kraft des durch ihn erzeugten Elektromagnets nur hinreicht, das Gewichtchen oder die Feder zu der vorgeschriebenen Höhe zu heben, wird das Pendel unter der gleichmäßigen Einwirkung derselben isochronisch schwingen und die U. richtig gehen. Was die menschliche Kraft bei der gewöhnlichen Gewicht- oder Federuhr alle 24 Stunden oder 8 Tage etc. nur einmal thut, das verrichtet somit der elektrische Strom hier jeden Augenblick (Sekunde oder halbe Sekunde). Daß durch diese für eine vollkommene elektrische U. notwendige Einrichtung dieselbe sehr an Einfachheit verlieren muß, ist einleuchtend. Gute Werke dieser Art sind deshalb teuer. Vgl. Schellen, Elektromagnetischer Telegraph (6. Aufl., Braunschw. 1882); Tobler, Elektrische Uhren (Wien 1883); Merling, Die elektrischen Uhren (Braunschw. 1886); Favarger, L'électricité et ses applications à la chronometrie (Basel 1886). Pneumatische Uhren, von Mayrhofer erfunden, dienen denselben Zwecken wie die elektrischen, erhalten aber ihren Impuls durch komprimierte Luft mittels einer Rohrleitung. Das ganze Gebiet einer Zentraluhrenregulierung wird nach dem pneumatischen System in zahlreiche kleinere Bezirke zerlegt, welche je einen durch Rohrleitung unter sich verbundenen Komplex von Häusern umfassen. Sämtliche an die Rohrleitung einer Unterabteilung angeschlossene Uhren werden von einer Normaluhr aus in der Weise in dauerndem und richtigem Gang erhalten, daß letztere den Zutritt zu der Rohrleitung stündlich einmal der Kompressionsluft öffnet, welche durch einen hydraulischen Apparat erzeugt und in einem Reservoir aufbewahrt wird. Durch den eintretenden Luftdruck wird bei jeder Sekundäruhr ein Blasebalg aufgeblasen und dabei mittels Hebel etc. die U. aufgezogen und reguliert. Bei derselben Gelegenheit werden auch die Normaluhren mittels Blasebalg aufgezogen. Letztere selbst aber werden wieder von einer Zentraluhr alle 24 Stunden richtig gestellt. Dies geschieht ebenfalls

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Uhrdifferenz - Ujfalvy.

durch komprimierte Luft, der Antrieb dazu aber erfolgt durch einen elektromagnetischen Apparat, der durch Herstellung eines Kontakts von der Zentraluhr ausgelöst wird. Zentraluhr und Normaluhr müssen zu diesem Zweck elektrisch verbunden werden, doch kann man dazu bereits vorhandene Leitungen von Telegraphen, Telephonen etc. ohne Beeinträchtigung ihres ursprunglichen Zwecks benutzen und, da die Reichspost- und Telegraphenverwaltung sich hinsichtlich der Benutzung der Telephonleitungen für diesen Zweck entgegenkommend gezeigt hat, so bietet sich für alle Orte mit Telephonbetrieb die Möglichkeit der einheitlichen Zeitregulierung. Statt der komprimierten Luft kann man auch das unter hinreichendem Druck stehende Wasser der Wasserleitungen benutzen. - Über elektromagnetisch registrierende Uhren s. Registrierapparate.

Uhrdifferenz, s. Zeitdifferenz.

Uhrich, Jean Jacques Alexis, franz. General, geb. 15. Febr. 1802 zu Pfalzburg, trat 1820 als Leutnant in die Armee, machte den spanischen Feldzug 1823 mit, diente seit 1834 in Algerien, ward 1848 Oberst, 1852 Brigadegeneral, befehligte 1855 vor Sebastopol eine Gardebrigade, 1859 unter dem Prinzen Napoleon eine Infanteriedivision, ward 1867 zur Reserve versetzt und 1870 Kommandant von Straßburg, das er sieben Wochen lang mit Tapferkeit, doch ohne die erforderliche Umsicht verteidigte und 28. Sept. übergab. Anfangs als Held gefeiert, erhielt er 1872 von der militärischen Untersuchungskommission einen Tadel wegen der Kapitulation von Straßburg. Er veröffentlichte darauf: "Documents relatifs au siège de Strasbourg" (Par. 1872). U. starb 9. Okt. 1886 in Passy bei Paris.

Uhu, s. Eulen, S. 906.

Ui, Fluß in Rußland, entspringt am Ural im Gouvernement Orenburg, fließt östlich und mündet an der Grenze des orenburgischen und tobolskischen Gouvernements nach einem Laufe von 400 km links in den Tobol. An seinen Ufern ist eine aus acht Festungen bestehende Festungsreihe (die Uiskajische Linie) gegen die Kirgisen angelegt.

Uiguren (Kaotsche), altes türk. Volk, welches in Hochasien (Ostturkistan) wohnte und in der Kultur sehr weit vorgeschritten war, denn es besaß bereits frühzeitig eine eigne Schrift und Litteratur, welche von den Chinesen schon 478 erwähnt werden. Später nahmen die U. von nestorianischen Missionären die syrische Schrift an. Nach den Berichten der Chinesen waren am Hof des Uigurenchans eigne Chronikenschreiber angestellt, und Buddhismus, der parsische Zoroasterglaube sowie das nestorianische Christentum fanden bei ihnen Eingang. Die U. haben sich lange Zeit hindurch als ein eigner Stamm behauptet und standen wegen ihrer Bildung und Kultur in hohem Ansehen. Später vermischten sie sich mit Mongolen, Chinesen, Arabern und mohammedanischen Tataren, wodurch sie sowohl ihre Bildung als ihre Nationalität verloren. Die einzige und zuverlässige Nachricht über die U. erhalten wir aus einer Handschrift der kaiserlichen Bibliothek in Wien, dem "Kudatku Bilik", welche von 1069 stammt und das älteste in türkischer Sprache abgefaßte Buch ist. Sie behandelt die ethischen wie sozialpolitischen Verhältnisse der U. Vgl. Vambéry, Uigurische Sprachmonumente und das Kudatku Bilik (Innsbr. 1870); Schott, Zur Uigurenfrage (Berl. 1874-76, 2 Tle.). Als entnationalisierte Nachkommen der U. werden von einigen die Dunganen (s. d.) betrachtet.

Uintah Mountains (spr. uintah mauntins), Gebirge im nordamerikan. Territorium Utah, scheidet in westöstlicher Richtung das Becken des obern Green River von dem seines untern Laufs und wird von dem Fluß in gewaltiger Schlucht durchbrochen. Sein Gipfelpunkt ist Mount Emmons, 4175 m ü. M.

Uist, zwei Inseln der äußern Hebriden, an der Westküste Schottlands, die eine nördlich, die andre südlich von Benbecula, North-U. mit (1881) 3371, South-U. mit 3810 meist kath. Einwohnern, welche Fischerei, Vogelfang, Viehzucht und etwas Ackerbau treiben. Die Inseln haben steile Küsten, zahlreiche gute Häfen und kleine Seen. Ben Eval auf North-U. ist 345 m, Ben More auf South-U. 621 m hoch.

Uistiti, s. Seidenaffe.

Uj (magyar.), s. v. w. neu, in zusammengesetzten Ortsnamen oft vorkommend.

Ujansi, Landschaft in Ostafrika, vom 6.° südl. Br. mitten durchschnitten, westlich von Ugogo und wie dieses wasserarm. Die große Karawanenstraße von Bagamoyo über Tabora zum Tanganjika geht mitten durch das Land.

Ujejski, Cornel, poln. Dichter, geb. 1823 zu Beremniany im Kreis Czortkow in Galizien, besuchte die Lemberger Universität und begründete schon früh durch seine schwungvollen und ergreifenden "Klagelieder des Jeremias" ("Skargi Jeremiego", 1847), die er aus Anlaß des blutigen galizischen Bauernaufstandes von 1846 schrieb, seinen dichterischen Ruf; aus denselben wurde der Choral "Mit dem Rauch der Feuersbrünste" ("Z dymem pozarów") zum allgemeinen Volkslied. Nachdem U. 1847 in Paris zu dem ihm gesinnungsverwandten Dichter Slowacki in nahe Beziehungen getreten, folgten seine "Biblischen Melodien" ("Melodye biblijne". Lemb. 1851), worin er in erhabener Sprache den Schmerz des polnischen Volkes zum Ausdruck bringt, die vortrefflichen Dichterworte zu Tonschöpfungen Chopins sowie mehrere minderwertige Dichtungen. Während des 1863er Aufstandes gehörte U. zu den eifrigsten Förderern der Bewegung und entzog sich der Verhaftung durch die Flucht nach der Schweiz. Seither wurde er wiederholt in den galizischen Landtag, 1876 auch in den Wiener Reichsrat gewählt, legte indessen sein Mandat bald nieder. Er lebt auf dem Gut Zubrze bei Lemberg, das ihm der dortige Magistrat als Nationalbelohnung überließ; als Dichter ist er nur noch mit "Dramatischen Bildern" (1880) aufgetreten, die ihn noch in der alten romantischen Frische zeigen.

Ujesd (russ.), s. v. w. Kreis, d. h. Unterabteilung eines Gouvernements in Rußland.

Ujest (poln. Viast), Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln, Kreis Großstrehlitz, an der Klodnitz, 208 m ü. M., hat 3 kath. Kirchen (darunter die sehr besuchte Wallfahrtskirche Maria-Brunn), eine Synagoge, ein Amtsgericht, Bierbrauerei, Gerberei, lebhafte Viehmärkte und (1885) 2518 Einw. U. erhielt 1222 deutsches Stadtrecht. Von U. führt der Fürst von Hohenlohe-Öhringen (sonst Ingelfingen) den Herzogstitel (s. Hohenlohe).

Ujfalvy, Karl Eugen U. von Mezo Kovest, Sprachforscher und Reisender, geb. 16. Mai 1842 zu Wien als Sprößling einer alten ungarischen Adelsfamilie, besuchte die Militärakademie in Wiener-Neustadt, trat 1861 als Leutnant in ein österreichisches Kavallerieregiment, verließ aber 1864 die Armee und bezog die Universität in Bonn. 1866 siedelte er nach Paris über, wo er 1873 Professor an der orientalischen Akademie wurde. Im Auftrag der Regierung machte U. 1876-82 drei Forschungsreisen durch Zentralasien, deren Ergebnisse er in dem Werk "Expé-

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Uj-Féjértó - Ukraine.

dition scientifique française en Russie, en Siberie et dans le Turkestan" (Par. 1878-80, 6 Bde.) veröffentlichte. Von seinen übrigen, vornehmlich ethnologischen und linguistischen Arbeiten sind zu nennen: "La langue magyare, son origine, etc." (1871); "La Hongrie, son histoire, etc." (1872); "Les migrations des peuples et particulierement celle des Touraniens" (1873); "L'ethnographie de l'Asie" (1874); "Mélanges altaïques" (1874); "Étude comparée des langues ougro-finnoises" (1875); "Grammaire finnoise" (mit R. Hertzberg, 1876); "Éléments de grammaire magyare" (1875); "L'art des cuivres en Cachemire" (1883); er redigierte die "Revue de philologie et ethnographie" (Par. 1874-77, 3 Bde.). Auch übersetzte er Petöfis Gedichte (1871) und mit Desbordes-Valmore eine Auswahl magyarischer Dichtungen (1872), das finnische Epos "Kalewala" (1876) ins Französische. Deutsch schrieb er: "Alfred de Musset" (Leipz. 1870) und "Aus dem westlichen Himalaja" (das. 1884). - Seine Gattin Marie, geborne Bourdon, geb. 1845 zu Chartres, seine stete Begleiterin auf allen seinen Reisen, schrieb: "De Paris à Samarkand, le Ferghanah, etc." (1880); "Voyage d'une Parisienne dans l'Himaleya occidental" (1887) u. a.

Uj-Fejértó, Markt im ungar. Komitat Szabolcs, an der Debreczin-Miskolczer Bahnlinie, mit (1881) 6998 ungar. Einwohnern.

Ujhely, s. Sátoralja-Ujhely.

Uj-Szentanna (spr. -ßént-), Markt im ungar. Komitat Arad, Station der Arad-Buttyiner Bahnlinie, mit (1881) 5193 deutschen und ungar. Einwohnern.

Uj-Verbász (spr. -wérbaß), Dorf im ungar. Komitat Bács-Bodrog, Station der Budapest-Semliner Bahn, liegt am Franzenskanal und hat (1881) 5090 deutsche Einwohner, ein Untergymnasium und eine Sparkasse.

Ukami, deutsches Schutzgebiet in Ostafrika, zwischen Usegua, Usagara und Khutu und von mehreren Zuflüssen des Rufu durchzogen, wurde für die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft von Peters und Pfeil durch Verträge im Dezember 1884 erworben und 27. Febr. 1885 unter deutschen Schutz gestellt.

Ukara, Insel im Südteil des großen afrikanischen Sees Ukerewe (s. d.).

Ukas (v. russ. ukasátj, "befehlen"), in Rußland jeder direkt vom Kaiser oder vom dirigierenden Senat ergehende legislative oder administrative Befehl oder Erlaß. Die Veröffentlichung der kaiserlichen Ukase erfolgt durch den Senat, doch hat letzterer auch das Recht, zur Ausführung bestehender Gesetze Ukase (Verordnungen) zu erlassen. Gesetze und Verordnungen, die vom Kaiser selbst ausgehen, heißen "allerhöchste Ukase". Dabei wird zwischen dem eigenhändig unterzeichneten (imennoj) und dem mündlichen U., dem vom Kaiser auf erstatteten Vortrag erteilten Befehl, unterschieden. Ministerielle Verordnungen werden nicht als U. bezeichnet. Kaiser Nikolaus ließ 1827 eine Sammlung der Ukase in 48 Bänden veranstalten, der sich die spätern von Jahr zu Jahr anschließen. Sie bildet die Grundlage des russischen Reichskodex (Swod sakonow).

Ukelei, s. Weißfisch.

Uker (Ucker, Ücker), Fluß in Preußen, bildet sich beim Marktflecken Fredewalde in der Provinz Brandenburg aus dem Abfluß mehrerer Seen, durchfließt den Oberuker-, Strelower und Unterukersee, tritt oberhalb Pasewalk nach Pommern über, empfängt hier die Randow und mündet nach 103 km langem Lauf unterhalb Ückermünde in das Kleine Haff.

Ukerewe (Victoria Nyanza), großer See in Äquatorialafrika, zwischen 0° 45' nördl. bis 2° 50' südl. Br. und von 31° 30'-35' östl. L. v. Gr., liegt nach Speke 1140, nach Stanley 1160, nach Mackay 1005 m ü. M. und hat einschließlich der zahlreichen in ihm gelegenen Inseln ein Areal von 43,900 qkm (1525 QM.), ist sonach größer als Bayern. Die Ufer des Sees werden meist begleitet von Höhenzügen, sind aber stellenweise auch auf große Ausdehnungen ganz flach; an der Westseite verlaufen dieselben ziemlich gleichmäßig, im N., O. und S. werden sie von zahlreichen Buchten zerschnitten (Ugoweh- und Kavirondobai, Spekegolf), und zahlreiche Inseln und Inselgruppen (Sessearchipel, Usuguru, Ugingo, Ukara, Ukerewe, Bumbire) sind ihnen vorgelagert. Im N. hat er im Kiviro, der später Somerset-Nil heißt, seinen Abfluß, dagegen gehen ihm von O. Guaso, Maroa, Rubuna, von S. Simiu, Isanga, Lohugaci, von W. Kiwala mit Kagera (Alexandra-Nil), Katonga u. a. zu. Der U. wurde 4. Aug. 1858 von Speke entdeckt, dann von diesem in Verein mit Grant 1861-62 weiter untersucht, namentlich seine nördliche Ausdehnung festgestellt, von Stanley vom Januar bis Mai 1875 umfahren und zuletzt von Mackay 1883 untersucht. S. Karte bei "Congo".

Ukermark (Uckermark), der nördlichste Teil der preuß. Provinz Brandenburg, zwischen der Mittelmark, Mecklenburg-Strelitz, Pommern und der Neumark, wird von der Uker (von der sie den Namen hat), Oder, Welse, Randow und vielen Seen bewässert und bildet eine nur von geringen Hügeln durchzogene fruchtbare Ebene von 3700 qkm (67 QM.) Flächeninhalt. Sie umfaßt im wesentlichen die Kreise Prenzlau, Angermünde und Templin. - Die U. wurde im 6. Jahrh. von einem wendischen Volksstamm, den Ukranern (Uchri, Wucri), dann nach kurzer Abhängigkeit vom Deutschen Reiche gegen Ende des 10. Jahrh. von den Obotriten, um 1177 aber von den pommerschen Herzögen in Besitz genommen. 1250 wurde sie von den brandenburgischen Markgrafen Johann I. und Otto III. erworben, nach dem Aussterben der Askanier aber von Pommern und Mecklenburg besetzt. Letzteres blieb nur kurze Zeit im Besitz seines Anteils; den Pommern hat jedoch erst Kurfürst Friedrich I. von Brandenburg 1415 Prenzlau, Boitzenburg und Zehdenick entrissen, und nach langwierigen Fehden hat Albrecht Achilles den Rest der U. 1472 wieder mit der Mark vereinigt.

Ukermünde, s. Ückermünde.

Ukert, Friedrich August, Gelehrter, geb. 28. Okt. 1780 zu Eutin, studierte in Halle und wurde 1807 Erzieher der nachgelassenen Söhne Schillers in Weimar, folgte aber schon im folgenden Jahr einem Ruf nach Gotha, wo er zunächst Inspektor am Gymnasium, dann Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek wurde. Er starb 18. Mai 1851. Außer Übersetzungen historischer und geographischer Werke veröffentlichte er: "Geographie der Griechen und Römer" (Weim. 1816-46, 3 Bde.), gab mit Heeren seit 1828 die "Geschichte der europäischen Staaten", mit Jacobs 1834 die "Merkwürdigkeiten der herzoglichen Bibliothek zu Gotha" (Leipz. 1835-38, 3 Bde.) heraus und schrieb: "Über Dämonen, Heroen und Genien" (das. 1850).

Ukleisee, kleiner, sagenreicher, vielbesuchter See im oldenburg. Fürstentum Lübeck, 5 km nördlich von Eutin, 26 m ü. M. An seinen von niedrigen, schön bewaldeten Hügeln umgebenen Ufern ein Wirtshaus.

Ukraine ("Grenzgebiet"), zur Zeit des alten polnischen Reichs Benennung der äußersten südöstlichen Grenzlande desselben, später eines ausgedehnten Landstrichs an beiden Ufern des mittlern Dnjepr mit

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Ula - Uleaborg.

Einschluß der Sitze der Kosaken, welcher jetzt den größten Teil Kleinrußlands (s. d.) ausmacht. Durch den Vertrag von Andrussow 1667 und den Frieden zu Moskau von 1686 trat Polen den östlich vom Dnjepr gelegenen Teil des Landes (die sogen. russische U.) an Rußland ab, während der westlich von diesem Fluß gelegene Teil (die polnische U.) vorläufig noch unter polnischer Herrschaft blieb und erst 1793 durch die zweite Teilung Polens an Rußland kam. Die vom Donez durchströmte slobodische U., in die sich zur Zeit der polnischen Herrschaft viele Kleinrussen geflüchtet hatten, bildet jetzt das Gouvernement Charkow. Über die ukrainische Sprache und Litteratur, s. Kleinrussische Sprache und Litteratur.

Ula, Rangklasse der türk. Zivilbeamten mit dem Titel Exzellenz, besteht aus zwei Graden: U. sinfi ewwel und U. sinfi sani.

Ulanen (Uhlanen), mit Lanzen bewaffnete Reiterei. Der Name U., d. h. Wackere, Tapfere, ist tatarischen Ursprungs. Die Polen legten ihn ihrer ähnlich bewaffneten Reiterei, mit der sie die Tatareneinfälle abzuwehren suchten, ebenfalls bei, so daß die polnischen U. die ersten in Europa waren und deshalb als polnische Nationalwaffe galten. Von den Polen nahmen die übrigen europäischen Heere die U. sogar mit ihrer eigentümlichen Uniform, bestehend in einer viereckigen polnischen Mütze, der Czapka, und einem kurzschößigen Rock mit zwei Reihen Knöpfen und polnischen Ärmelaufschlägen, der Ulanka, an. Die ersten Ulanenregimenter nach den polnischen errichtete 1790 und 1791 Österreich; ihm folgte Preußen, welches bereits seit 1745 ein Regiment Lanzenreiter, die Bosniaken (Towarczy, s. d.), hatte und daraus 1808 U. bildete, später Rußland und andre Staaten. Deutschland hat 25, Österreich 11, England 5, Rußland 2 (Garde-) Regimenter U. Frankreich hat keine U. Während in Österreich die U. keine Lanze, sondern gleich den übrigen Reitern nur Säbel und Karabiner führen, begann man 1888 in Deutschland auch die Kürassiere und Husaren, 1889 auch die Dragoner mit Lanzen auszurüsten.

Ulanga (Uranga), der Oberlauf des Lufidschi (s. d.) in Ostafrika.

Ulanka, s. Ulanen.

Ulbach (spr. ülback), Louis, franz. Schriftsteller, geb. 7. März 1822 zu Troyes, studierte in Paris und trat zum erstenmal 1844 mit einer Sammlung lyrischer Poesien ("Gloriana") an die Öffentlichkeit. Später nach und nach an den verschiedensten Journalen beteiligt, machte er sich durch die im "Figaro" erschienenen "Lettres de Ferragus" einen Namen als Satiriker, zog sich aber auch durch seinen Freimut, den er später noch entschiedener in dem wöchentlich erscheinenden Pamphlet "La Cloche" bethätigte, gerichtliche Verfolgung und Strafe zu. Während der Belagerung von Paris war er, obgleich der friedfertigste Mann von der Welt, Mitglied der Barrikadenkommission, und als er nach der Bewältigung des Kommuneaufstandes von einem Kriegsgericht der Teilnahme an der Insurrektion geziehen wurde, gab er in seiner "Cloche" eine so indignierte Antwort, daß er dafür zu drei Jahren und in zweiter Instanz immer noch zu drei Monaten Gefängnis und 3000 Frank Geldbuße verurteilt wurde. 1878 wurde er von seinen inzwischen zur Regierung gelangten politischen Freunden mit dem Posten eines Bibliothekars beim Arsenal entschädigt. U. hat seit 1853 eine Reihe von Romanen erscheinen lassen, welche ihn zu einem der gelesensten Schriftsteller machten. Wir nennen: "L'homme au Louis d'or" (Par. 1854); "Les roués sans le savoir" (das. 1856); "La voix de sang" (1858); "Monsieur et Madame Fernel", seine beste Arbeit, auch nicht ohne Erfolg auf die Bühne gebracht (1860); "Françoise" (1862); "Le mari d'Antoinette" (1862); "Louis Tardy" (1864); "Le parrain de Cendrillon" (1865-67, 2 Bde.); "Histoire d'une mère et de ses enfants" (1874); "La princesse Morani" (1875); "Magda" (1876); "La comtesse de Tyrnau" (1876); "Le baron américain" (1877) ; "Les mémoires d'un assassin" (1877); "Madame Gosselin" (1877); "Monsieur Paupe" (1878); "Les buveurs de prison" (1879); "Les enfants de la morte" (1879) etc. Auch im Drama hat sich U. versucht, wenn auch mit weniger Glück. Er starb 16. April 1889 in Paris.

Ulceration (lat.), Verschwärung, s. Geschwür.

Ulcus (lat.), s. v. w. Geschwür.

Ule, Otto, naturwissenschaftl. Schriftsteller, geb. 22. Jan. 1820 zu Lossow bei Frankfurt a. O., studierte seit 1840 in Halle und Berlin erst Theologie, sodann Naturwissenschaften, war 1845-48 Lehrer am Gymnasium in Frankfurt a. O., hielt daselbst im Winter 1847 und 1848 Vorträge über die Entwickelungsgeschichte des Weltalls und beteiligte sich lebhaft an den politischen Kämpfen jener Jahre. Nachdem er einige Zeit als Lehrer an der Fortbildungsschule zu Quetz bei Halle gewirkt hatte, privatisierte er in Halle und starb hier 6. Aug. 1876. Von seinen Schriften, die einerseits durch gemütvolles Eingehen auf die Vorgänge, namentlich in der unbelebten Welt, zur Naturerkenntnis zu führen, anderseits nicht bloß Verstandes-, sondern auch Humanitätshildung zu fördern suchen, sind hervorzuheben: "Das Weltall" (3. Aufl., Halle 1859, 3 Bde.); "Physikalische Bilder" (das. 1854-57, 2 Bde.); "Die neuesten Entdeckungen in Afrika" (das. 1861); "Die Wunder der Sternenwelt" (Leipz. 1861; 2. Aufl. von Klein, 1877); "Populäre Naturlehre" (das. 1865 -1867); "Warum und Weil", Fragen und Antworten physikalischen Inhalts (chemischer Teil, 3. Aufl., Berl. 1887; physikalischer Teil, 6. Aufl. 1886); "Kleine naturwissenschaftliche Schriften" (Leipz. 1865-68, 5 Bde.). Auch gab er eine Bearbeitung von Réclus' "La terre" (Leipz. 1873-76, 2 Bde.). Mit Karl Müller und Roßmäßler gründete er 1852 die Zeitschrift "Die Natur".

Uleåborg (sinn. Oulu), das nördlichste und größte Gouvernement des Großfürstentums Finnland, umfaßt das nördliche Österbotten und Lappland und hat einen Flächenraum von 165,641 qkm (3008,2 QM.) mit (1886) 228,993 Einw. Das Land ist reich bewässert durch mehrere Seen (Uleåträsk, Kitkajärvi, Kemijärvi, Kiandosee, Enare u. a.) und große Flüsse, z. B. Oulunjoki, Kemijoki, Uleåelf, Ijojoki, Torneåelf. Im innern und östlichen Teil sind noch die großen Wälder und Moräste überwiegend, und der Boden ist meist unkultiviert; in der westlichen Küstengegend aber ist der Ackerbau vorherrschend. Der Fischfang und der Holzbetrieb sind bedeutend im ganzen Land. Im N. (Lappland) wohnen noch etwa 600 nomadisierende Lappen, deren Hauptbeschäftigung die Renntierzucht ist. - Die Stadt U., am Bottnischen Meerbusen und an der Mündung des Uleåelf, brannte 1822 großenteils ab und ist seitdem freundlicher und geräumiger wieder aufgebaut worden. Sie ist Sitz des Gouverneurs und eines deutschen Konsuls, hat ein Lyceum, ein Hospital, Schiffswerften, mehrere Fabriken und (1886) 11,578 Einw., welche Handel, besonders mit Teer, Pech und Holzwaren, treiben. U. wurde 1605 gegründet. Während des Kriegs 1854 brannten die Engländer im hiesigen Hafen mehrere Schiffe nebst dem Teerhof nieder.

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Ulemas - Ulibischew.

Ulemas (arab., "Wissende "), in der Türkei die Rechts- und Gottesgelehrten, welche ihr Wissen gleichmäßig aus dem Koran ziehen, werden in den Medressen (s. d.) von den Muderris gebildet und zerfallen in Kultusdiener oder Imame (s. d.), Gottesgelehrte oder Muftis (s. d.) und Richter oder Kadis (s. d.). Auch die Gebetausrufer oder Muezzins (s. d.) gehören zu den U. Das Oberhaupt der U. ist der Scheich ul Islam.

Ulen, s. Neunauge.

Ulex L. (Stechginster, Heckensame), Gattung aus der Familie der Papilionaceen, Sträucher mit in Dornen auslaufenden, kantig gestreiften Ästen, einfachen, ebenfalls zu Dornen verhärteten, linealen Blättern, meist einzeln in den Winkeln der obern Blätter stehenden Blüten und angeschwollener, wenigsamiger Hülse, die kaum länger als der Kelch ist. Die Samen sind mit einem Wulst versehen. U. europaeus L. (Heideginster), bis 1,6 m hoher, dem Wacholder ähnlicher, aber schwach beblätterter Strauch mit gelben Blüten, wächst im westlichen Mittel- und Südeuropa, kommt auch noch auf sandigen Heiden des westlichen Norddeutschland vor und wird als Heckenpflanze kultiviert. Die zerquetschten Blätter liefern gesundes Pferdefutter, und eine Varietät in der Normandie mit nicht dornig erhärtenden Blättern wird auch als Schaffutter benutzt und nebst einigen andern Arten als Zierpflanze kultiviert. Vgl. Riepenhausen-Crengen, Stechginster (Leipz. 1889).

Ulfeldt (Uhlefeld), Korfiz (Cornifex), Graf, dän. Edelmann, geb. 10. Juni 1606, lebte lange Zeit im Ausland, erlangte 1636 durch die Heirat mit der Gräfin Leonore Christine von Schleswig-Holstein, einer Tochter König Christians IV. von Dänemark von seiner Geliebten Christine Munk, großen Einfluß, Reichtum und hohe Ämter, ward Reichshofmeister, suchte nach Christians IV. Tod 1648 Friedrichs III. Thronbesteigung zu hindern, um die Krone seinem Schwager zuzuwenden, ward dennoch von Friedrich III. in seinen Ämtern belassen, verletzte aber durch seine Anmaßung besonders die Königin Sophie Amalie und entfloh, als er eines Mordanschlags gegen den König beschuldigt wurde, 1651 erst nach Holland, dann nach Schweden, das er zum Kriege gegen Dänemark aufreizte, ward nach dem Frieden von Roeskilde 1658 in seine Würden wieder eingesetzt, entfloh nach Einführung der absoluten Monarchie in Dänemark von neuem und starb 20. Febr. 1664 bei Basel, nachdem er in Dänemark zum Tod verurteilt worden war. Seine Gemahlin wurde von Karl II. von England, bei dem sie Hilfe für U. erbat, 1663 an Dänemark ausgeliefert und von ihrer Feindin, der Königin, im blauen Turm in Kopenhagen gefangen gesetzt, in dem sie 22 Jahre bis nach dem Tode der Königin 1685 schmachtete. Sie starb 1698. Vgl. I. Ziegler, Denkwürdigkeiten der Gräfin zu Schleswig-Holstein, Leonora Christina, vermählten Gräfin U. (2. Aufl., Wien 1879); Smith, Leonora Cristina Grevinde Ulfeldts Historie (Kopenh. 1879-81, 2 Bde.).

Ulfilas (Ulfila, Wulfilas, "Wölfel"), der Apostel der Goten, geb. 310 oder 311 von christlichen Eltern, die durch die Goten aus Kappadokien in die Gefangenschaft geführt worden waren. Im J. 341 wurde er von Eusebios von Nikomedia (s. d.) zum Bischof geweiht, wirkte dann seit 348 unter den arianischen Westgoten, flüchtete aus Anlaß einer Christenverfolgung um 355 mit einem großen Teil derselben über die Donau in das römische Reich und starb in Konstantinopel, wohin ihn Kaiser Theodosius berufen hatte, 381. Von seinen schriftstellerischen Arbeiten hat sich nur ein Teil seiner gotischen Bibelübersetzung erhalten. Derselben legte er zu Grunde für das Alte Testament die Septuaginta und für das Neue auch einen griechischen Text, aber unter beständiger Zurateziehung einer lateinischen Übersetzung (Itala!). Daß er für seine Übersetzung ein gotisches Alphabet erfunden habe, berichten mehrere Schriftsteller ausdrücklich; dasselbe beruht im wesentlichen auf dem griechischen Alphabet. Jedenfalls bleibt ihm der Ruhm, zuerst die Sprache seines Volkes in zusammenhängender schriftlicher Darstellung angewandt und ihr durch die Bibelübersetzung einen festen Halt gegeben zu haben. Aus Italien kam ein um 500 geschriebener Prachtkodex der Evangelien, mit silbernen Buchstaben auf purpurfarbenes Pergament geschrieben, nach dem Kloster Werden an der Ruhr, dann nach Prag und nach der Eroberung dieser Stadt durch den schwedischen General Königsmark nach Schweden, wo er seit 1669 unter dem Namen des "Codex argenteus" (faksimiliert hrsg. von Uppström, Ups. 1854) in der Bibliothek der Universität Upsala aufbewahrt wird. Von derselben Übersetzung ward auf Palimpsesten aus dem Kloster Bobbio (jetzt in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand) 1817 durch Angelo Mai und Castiglione ein Teil des Matthäus und der Paulinischen Briefe entdeckt, nachdem schon 1758 der Wolfenbüttler Geistliche Knittel einige Stücke des Römerbriefs in einem Wolfenbüttler Palimpsest (Codex Carolinus) aufgefunden hatte. Außerdem existieren noch einige Stellen aus Esra und Nehemia. Gleichwohl reichen die genannten Bruchstücke aus, um den ganzen Bau jenes altgermanischen Dialekts zu erkennen. Nach U. und mit deutlicher Benutzung seiner Evangelienübersetzung verfaßte später ein Gote, vielleicht erst im 6. Jahrh., eine paraphrasierende Erklärung des Evangeliums Johannis, deren ebenfalls aus Bobbio stammende Bruchstücke zuerst von Maßmann herausgegeben worden sind ("Skeireins aivaggeljons thairch Johannen", Münch. 1834). Derselbe Gelehrte entzifferte (in der "Germania" 1868) einige weitere Bruchstücke von U.' Übersetzung der Paulinischen Briefe, die Reifferscheid in einem Turiner Kodex gefunden hatte. Gesamtausgaben der gotischen Sprachdenkmäler lieferten v. d. Gabelentz und Löbe (Altenb. 1843-46, 2 Bde.), auch Maßmann (Stuttg 1857), Stamm (8. Aufl. von Heyne, 1885) und Bernhardt (Halle 1875, Textausg. 1884). Vgl. Waitz, Über das Leben und die Lehre des U. (Hannov. 1840); Bessel, Über das Leben des U. (Götting. 1860); Krafft in der "Realencyklopädie der theologischen Wissenschaften" (2. Aufl., Bd. 16); Kauffmann, Untersuchungen zur Geschichte U.' ("Zeitschrift für deutsches Altertum", Bd. 27).

Uliasserinseln, s. Amboina.

Uliassutai, Hauptstadt des gleichnamigen Kreises in der nordwestlichen Mongolei, aus einer Zivil- und einer befestigten Militärstadt bestehend, ist für den sibirischen Handel wichtig und hat etwa 4000 Einw.

Ulibischew, Alexander, russ. Staatsrat und Musikschriftsteller, geb. 1795 zu Dresden von russischen Eltern, ward hier auch erzogen und erwarb sich im Violinspiel eine ungewöhnliche Fertigkeit. Später widmete er sich der Diplomatie, zog sich aber 1830 auf seine Güter bei Nishnij Nowgorod zurück, wo er sich bis zu seinem 24. Jan. 1858 (a. St.) erfolgten Tod als praktischer und theoretischer Musiker eifrig beschäftigte. U. hat sich durch seine gründliche, feinsinnige und begeistert geschriebene "Biographie de Mozart" (deutsch von Gantter, 2. Aufl., Stuttg. 1859) einen verdienten Namen gemacht; weniger Erfolg hatte ein zweites Werk: "Beethoven, ses critiques et

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Ulietea - Ulm.

ses glossateurs" (Leipz. 1857; deutsch von Bischoff, das. 1859), da hier der Autor bei seiner einseitigen Verehrung Mozarts vielfach zu schiefen und ungerechten Urteilen über Beethoven gelangt. Zur Hebung und Läuterung des Musikgeschmacks in Rußland hat U. jedenfalls viel beigetragen.

Ulietea, Insel, s. Raiatea.

Ulixes, s. Odysseus.

Ulkun, albanes. Name von Dulcigno (s. d.).

Uller, in der nord. Mythologie Sohn der Sonnengöttin Sif (s. d.) und Stiefsohn des Thor, der schnelle Bogenschütze, der mit seinem Bogen (dem Regenbogen) als Pfeile die Blitze entsendet.

Ullersdorf, Dorf und Rittergut im preuß. Regierungsbezirk Breslau, Kreis Glatz, an der Biele, hat eine kath. Kirche, ein Schloß mit Park, einen 23 m hohen eisernen Obelisken zu Ehren der Königin Luise, eine große Flachsspinnerei und (1885) 2649 Einw.

Ulleswater (spr.ölleswater), See in England, zwischen Cumberland und Westmoreland, eine Miniaturausgabe des Vierwaldstätter Sees, 14 km lang. Durch den Eamont entleert er sich in den Eden.

Ullmann, Karl, evangel. Theolog, geb. 15. März 1796 zu Epfenbach in der Pfalz, studierte zuHeidel- berg und Tübingen Theologie, habilitierte sich 1819 an ersterer Universität als Privatdozent und ward 1821 zum außerordentlichen, 1826 zum ordentlichen Professor der Theologie ernannt. 1829 folgte er einem Ruf als Professor nach Halle, kehrte aber 1836 als Professor nach Heidelberg zurück, ward 1853 zum evangelischen Prälaten und Mitglied des Oberkirchenrats von Baden berufen und 1856 zum Direktor des letztern in Karlsruhe ernannt, wo er, seit 1861 im Ruhestand, 12. Jan. 1865 starb. Seit 1828 gab er mit Umbreit die "Theologischen Studien und Kritiken" (Hamb. 1828) heraus. Von seinen Schriften, die für die sogen. Vermittelungstheologie klassisch sind, heben wir hervor: "Gregorius von Nazianz, der Theolog" (Darmst. 1825; 2. Aufl., Gotha 1867); "Johann Wessel, ein Vorgänger Luthers" (Hamb. 1834), später unter dem Titel: "Reformatoren vor der Reformation" (2. Aufl. 1866, 2 Bde.); "Historisch oder mythisch?" (das. 1838); "Über den Kultus des Genius" (das. 1840); "Über die Sündlosigkeit Jesu" (das. 1841, 7. Aufl. 1863); "Die bürgerliche und politische Gleichberechtigung aller Konfessionen" (Stuttg. l848); "Das Wesen des Christentums" (Hamb. 1849; 5. Aufl., Gotha 1865). Vgl. Beyschlag, K. Ullmann (Gotha 1867).

Ullmannia, s. Holz, fossiles.

Ullmannit, s. Nickelantimonkies.

Ulloa, Don Antonio d', einer der verdienstvollsten Spanier im 18. Jahrh., geb. 12. Jan. 1716 zu Sevilla, widmete sich dem Seedienst, ward schon 1733 Kapitän einer königlichen Fregatte, begleitete 1734 einige Mitglieder der Pariser Akademie nach Peru, um dieselben bei der Gradmessung am Äquator zu unterstützen, durchforschte dann bis 1744 die spanischen Besitzungen in Südamerika und setzte die von den Briten bedrohten Küsten in Verteidigungszustand. Nach seiner Rückkehr bereiste er noch fast alle Meere Europas und einen großen Teil des Festlandes. Er beförderte in seinem Vaterland den Aufschwung der königlichen Wollmanufakturen, vollendete die großen Kanäle und Hafenbassins von Cartagena und Ferrol und belebte die berühmten Quecksilberminen von Almaden und Huancavelica in Peru, wohin er 1755 als Geschwaderchef gegangen war. Bald darauf erhielt er den Oberbefehl über die Flotte in dem westindischen Meer, nahm 1762 Louisiana in Besitz und ward 1764 Gouverneur davon, kehrte aber schon 1767 nach Spanien zurück, worauf er zum Generalleutnant der königlichen Flotten und zum Generaldirektor der ganzen spanischen Marine ernannt wurde. 1780 in den Ruhestand versetzt, blieb er Direktor der Artillerie- und Marineschule in Cadiz. Er starb 5. Juli 1795 auf seinem Landsitz unweit Cadiz. Er schrieb: "Relacion historica del viage a la America meridional" (Madr. 1748); "Noticias americanas sobre la America meridional y la septentrional-oriental" (das. 1772; deutsch, Leipz. 178l, 2 Bde.); "Noticias secretas di America" (Lond. 1826).

Ullr., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Ullrich, Beamter in Linz. Entomolog.

Ulm, Hauptstadt des württemberg. Donaukreises, am linken Ufer der Donau, die hier die Blau und Iller aufnimmt und schiffbar wird, Knotenpunkt der Linien U.-München-Simbach und U.-Kempten der Bayrischen und Bretten-Friedrichshafen, Aalen-U. und U.-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, 590 m ü. M., ist mit der gegenüber auf bayrischem Gebiet gelegenen Stadt Neuulm (s. d.) eine Festung ersten Ranges (bis 1866 deutsche Bundesfestung). Die Werke, 1842 bis 1866 angelegt und neuerdings verstärkt, bilden einen kaum in fünf Stunden zu umschreitenden Gürtel von Mauern, Gräben, Wällen u. Türmen, um die sich wieder ein weiter Kranz von Vorwerken lagert. Die merkwürdigsten Gebäude der nach altreichsstädtischer Weise eng u. unregelmäßig gebauten Stadt sind: das Rathaus (15. Jahrh.) mit dem Marktbrunnen (sogen. "Fischkasten"), die ehemalige Komturei des Deutschen Ordens (jetzt Kaserne), das sogen. Palais (jetzt Sitz der Kreisregierung), das Zeughaus, Gouvernementsgebäude, mehrere Kasernen und unter den Kirchen besonders das protestantische Münster, ein großartiger gotischer Bau in den reinsten Verhältnissen, an dessen Restauration seit Jahrzehnten gearbeitet wird, und der demnächst seiner Vollendung entgegensieht. Er bedeckt einen Flächenraum von 5100 qm und wird hinsichtlich seines Umfangs in Deutschland nur von dem Kölner Dom übertroffen. Das fünfschiffige, von mächtigen Säulen getragene Innere ist 139 m lang, 57 m breit und durch edle Einfachheit von erhebender Wirkung; es enthält ausgezeichnete Holzschnitzereien (Chorstühle von Jörg Syrlin dem ältern), Skulpturen, Ölgemälde und Fensterglasmalereien und eine 1856 erbaute, 1888 veränderte große Orgel mit 100 Registern und 6286 Pfeifen. Das Mittelschiff erreicht eine Höhe von 41 m, die vier Seitenschiffe von je 23 m, das Chor von 29 m. Der über dem prachtvollen Hauptportal sich erhebende Turm, welcher (das hölzerne Notdach nicht gerechnet) nur bis zur Höhe von 75 m fertig gebracht war, ist seit 1885 im Ausbau begriffen und wird, nach dem Originalriß des Matthäus Böblinger ausgeführt, eine Höhe von 151 m erreichen. Der Bau des Münsters wurde 1377 begonnen und bis 1494 fortgeführt. Die beiden andern Kirchen Ulms sind die Heilige Dreifaltigkeitskirche und die katholische Kirche (mit sehenswerten Skulpturen). Von neuern Bauwerken sind noch die 1832 vollendete Donaubrücke (Wilhelm Ludwigs-Brücke), die Eisenbahnbrücke, mehrere Schulhäuser, ein Schlachthaus und der Bahnhof zu erwähnen. Die Bevölkerung betrug 1885 mit der Garnison (ein Grenadierreg. Nr. 123, ein Infanteriereg.

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Ulmaceen - Ulpianus.

Nr. 124, 3 Eskadr. Dragoner Nr. 26, ein Feldartilleriereg. Nr. 13, ein Fußartilleriebat. Nr. 13 und ein Pionierbat. Nr. 13) 33,610 Seelen, darunter 24,295 Evangelische, 8488 Katholiken und 667 Juden. U. ist einer der wichtigsten Industrie- und Handelsplätze Württembergs. Man findet hier starke Lein- und Baumwollweberei, ferner Fabriken für Leder, Asphalt, Feuerwehrrequisiten, Turmuhren, künstliche Blumen, Dachpappe, Karten, Tabak, Zement, Maschinen, Gußstahl, eiserne Möbel und Kochgeschirre, Nähmaschinen, mathematische, physikalische, optische und musikalische Instrumente, Wagen, chemische Produkte, Messing-, Korb- und Holzwaren (Ulmer Pfeifenköpfe), Hüte, Malz etc. Außerdem hat U. bedeutende Gerbereien, Bierbrauereien, Färbereien, Eisen- und Kupferhämmer, eine Glockengießerei, große Bleichen, Schiffbau etc., starken Obst- und Gemüsebau und Blumenzucht. Der lebhafte Handel, unterstützt durch eine Handels- und Gewerbekammer, durch eine Reichsbanknebenstelle und mehrere Bankinstitute, ist besonders Holz-, Produkten- und Speditionshandel. Unter den Messen und Märkten sind noch die Tuch- und Ledermesse sowie die Fruchtmärkte von Bedeutung. An Bildungs- und andern öffentlichen Anstalten befinden sich dort: ein Gymnasium, ein Realgymnasium, eine Realanstalt, eine Frauenarbeitsschule, eine landwirtschaftliche Winterschule, ein Verein für Kunst und Altertum, eine Stadtbibliothek von 30,000 Bänden, ein Theater und ein Museum; ferner ein Witwen- und Waisenhaus, ein großes Hospital, eine Badeanstalt etc. U. ist Sitz der Kreisregierung, eines Oberamtes, eines Landgerichts, eines Generalsuperintendenten, eines Hauptzollamtes, eines Festungsgouverneurs und -Kommandanten, des Stabes der 27. Division und der 53. und 54. Infanterie- wie der 27. Kavalleriebrigade. Die städtischen Behörden zählen 19 Magistratsmitglieder und 18 Stadtverordnete. Zum Landgerichtsbezirk U. gehören die 8 Amtsgerichte zu Blaubeuren, Ehingen, Geislingen, Göppingen, Kirchheim, Laupheim, Münsingen und U.

Geschichte. U., in der Karolingerzeit ein königliches Hofgut mit einer Pfalz, wird zuerst 854 erwähnt und wurde von Ludwig dem Deutschen und seinen Nachfolgern mehrfach zur Abhaltung von Reichsversammlungen benutzt. Seit 1027 ist es als Stadt nachzuweisen und wurde bald Hauptstadt des Herzogtums Schwaben. Wegen seiner Anhänglichkeit an die Hohenstaufen wurde U. 1134 von Heinrich dem Stolzen von Bayern niedergebrannt und geplündert. Doch erhob sich die Stadt seit 1140 zu neuer Blüte und erscheint schon 1155 als Reichsstadt. 1274 erhielt sie dieselben Freiheiten wie Eßlingen. Sie stand unter der Vogtei der Grafen von Dillingen, dann der von Württemberg. 1247 widerstand sie heldenmütig dem Gegenkönig Heinrich Raspe. 1331 trat sie in den Schwäbischen Städtebund und beteiligte sich auch 1376 an der Einigung der schwäbischen Städte. Eine Belagerung durch Kaiser Karl IV. in demselben Jahr blieb erfolglos. An dem Krieg von 1388 nahm U. als Vorort des Städtebundes hervorragenden Anteil. Seine Blütezeit fällt in die zweite Hälfte des 14. Jahrh., wo es jedoch nur eine Bevölkerung von 20,000 Einw. und ein Gebiet von 926 qkm (17 QM.) hatte. Die Reformation fand früh in U. Eingang; schon 1526 trat die Stadt dem Torgauer, 1530 dem Schmalkaldischen Bund bei, mußte sich aber 1546 Karl V. unterwerfen und 1548 das Augsburger Interim annehmen. Der Vertrag von U. (3. Juli 1620) stellte den Frieden zwischen der Union und Liga her; 14. März 1647 wurde daselbst ein Waffenstillstand zwischen Bayern, Frankreich und Schweden abgeschlossen. Am 26. Sept. 1796 fand hier ein Gefecht zwischen den Österreichern unter Latour und der französischen Arrieregarde unter Moreau statt. Durch den Reichsdeputationsrezeß von 1803 verlor U. die Reichsfreiheit und ward Hauptstadt des bayrischen Oberdonaukreises, 1805 aber von den Österreichern besetzt. Bald darauf wurde hier der österreichische Feldzeugmeister General Mack durch die Franzosen unter Napoleon I. eingeschlossen und mußte sich 17. Okt. mit 23,300 Mann kriegsgefangen ergeben. Infolge des Wiener Friedens 14. Okt. 1809 ward U. von Bayern an Württemberg abgetreten, 1842 zur Bundesfestung ersten Ranges bestimmt und der Bau der Befestigungen namentlich von dem preußischen General v. Prittwitz geleitet. Seit 1871 ist es deutsche Reichsfestung. Vgl. Jäger, Ulms Verfassung im Mittelalter (Heilbr. 1831); Pressel, Ulmisches Urkundenbuch (Stuttg. 1873); Derselbe, U. und sein Münster (Ulm 1878); Haßler, Ulms Kunstgeschichte im Mittelalter (Stuttg. 1872); Fischer, Geschichte der Stadt U. (das. 1863); Schultes, Chronik von U. (das. 1881); v. Löffler, Geschichte der Festung U. (das. 1881).

Ulmaceen, dikotyle Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Urticinen, Bäume und Sträucher mit wechselbständigen, einfachen, gestielten, fiedernervigen, gesägten, rauhen Blättern mit abfallenden Nebenblättern und mit zwitterigen oder durch Fehlschlagen eingeschlechtigen Blüten, welche in Büscheln stehen, die aus besondern, an der Seite der Zweige stehenden Knospen hervorkommen. Das Perigon ist krautartig oder etwas gefärbt, fast glockenförmig, mit vier- oder fünf-, bisweilen achtspaltigem Saum. Die meist in der gleichen Anzahl vorhandenen Staubgefäße sind im Grunde des Perigons, den Abschnitten desselben gegenüberstehend, inseriert. Der Fruchtknoten ist oberständig, aus zwei Karpellen gebildet, zwei- oder einfächerig, mit einer hängenden, anatropen Samenknospe in jedem Fach. Die zwei abstehenden Griffel sind an der Innenseite mit den Narbenpapillen besetzt. Die Frucht ist vom stehen bleibenden Perigon umgeben, bald eine häutige Flügelfrucht, bald ein lederartiges, glattes oder schuppiges Nüßchen, durch Fehlschlagen stets einfächerig und einsamig. Der Same hat eine häutige Schale, kein Endosperm und einen geraden Embryo mit flachen Kotyledonen und kurzem, nach oben gekehrtem Würzelchen. Vgl. Planchon, Ulmaceae, in De Candolles "Prodromus", Bd. 17. Die aus ca. 140 Arten bestehenden U. sind über die gemäßigte Zone der nördlichen Halbkugel verbreitet; Vertreter der jetzt lebenden Gattungen Ulmus und Planera kommen auch fossil in zahlreichen Blätterabdrücken in Tertiärschichten vor. Manche sind als Holzpflanzen und Zierbäume bemerkenswert

Ulme, s. Rüster.

Ulmen, im Bergbau die Seitenwände der Stollen; vgl. Bergbau, S. 723.

Ulmin, Ulminsäure, s. Humus.

Ulna (lat.), Elle, Ellbogenknochen; Arteria ulnaris, Ellenschlagader etc.

Ulothricheen, Familie der Algen aus der Ordnung der Zoosporeen (s. Algen [3], S. 342).

Ulpianus, Domitius, berühmter röm. Rechtsgelehrter, geboren um 170 n. Chr. zu Tyros, begann seine öffentliche Thätigkeit in Rom unter Septimius Severus als Assessor erst eines Prätors, dann Papinians, bekleidete unter Alexander Severus, dessen Lehrer und Vormund er gewesen war, die höchsten Ämter und ward 228 als Praefectus praetorio von

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Ulricehamn - Ulrich von Türheim.

den über seine Strenge erbitterten Prätorianern vor den Augen des Kaisers ermordet. Als Jurist nimmt U. den ersten Rang nach Papinian ein. Seine beiden Hauptwerke sind die dogmatischen Darstellungen des prätorischen Rechts ("Ad edictum", in 83 Büchern) und des Zivilrechts ("Ad Sabinum", in 51 Büchern). Sie bilden die Grundlage der Pandekten und haben den dritten Teil des in denselben angesammelten Stoffes geliefert. Wertvoll ist auch die kleine Schrift "Tituli ex corpore Ulpiani", gewöhnlich "Ulpiani fragmenta" genannt, herausgegeben von Hugo (5. Aufl., Berl. 1834), Böcking (4. Aufl., mit Faksimile der vatikanischen Handschrift, Leipz. 1855), Vahlen (Bonn 1856), Huschke (5. Aufl., Leipz. 1886) und Krüger (Berl. 1878). Ein Fragment von U.' Institutionen, welches 1835 in der Wiener Hofbibliothek gefunden wurde, gab Endlicher (Wien 1835) heraus. Vgl. Schilling, Dissertatio critica de Ulpiani fragmentis (Bresl. 1824); Heimbach, Über Ulpians Fragmente (Leipz. 1834). Der sogen. "U. de edendo" ist eine mittelalterliche Prozeßschrift aus der Zeit der Glossatoren (hrsg. von Hänel, Leipz. 1838).

Ulricehamn (früher Bogesund), Landstadt im schwed. Län Elfsborg, am See Asunden und an der Eisenbahn U.-Wartofta, hat ein Pädagogium, Gewerbeschule, Dampfsäge, Brauerei u. (1885) 1134 Ew. Hier 18. Jan. 1520 Schlacht zwischen den Schweden und Dänen, in welcher der schwedische Reichsvorsteher Sten Sture der jüngere tödlich verwundet ward.

Ulrich, Herzog von Württemberg, geb. 1487, Sohn des wahnsinnig gewordenen Grafen Heinrich IV., wurde bei seinem Vetter, dem Herzog Eberhard I., mit dem Bart, erzogen und kam schon 1498, nach der Absetzung des Herzogs Eberhard II., zur Regierung, die er 19. Juli 1503 selbständig übernahm. Er beteiligte sich 1504 am bayrisch-landshutischen Erbfolgekrieg, vollstreckte im Verein mit Hessen die Acht gegen den Pfalzgrafen Philipp und erlangte im Frieden eine bedeutende Gebietsvergrößerung. Hierauf aber ergab er sich den rauschendsten Vergnügungen, in denen er Ersatz für seine unglückliche Ehe mit der Prinzessin Sabine von Bayern, einer Schwestertochter des Kaisers Maximilian, suchte, während er die Regierung treulosen Räten überließ. Die schon zuvor beträchtlichen Schulden der Familie wuchsen bald bis zu 1 Mill. Gulden heran; schwere Abgaben und unfruchtbare Jahre machten die Unterthanen unzufrieden, und so erhob sich 1514 der Aufstand des "armen Konrad , den U. nur dadurch dämpfen konnte, daß er im Tübinger Vertrag, worin das Land die Bezahlung der fürstlichen Schulden übernahm, dem Volk außerordentliche Rechte und Freiheiten einräumte. Am 7. Mai 1515 ermordete der Herzog auf der Jagd im Böblinger Wald eigenhändig Hans v. Hutten, den er in dem Verdacht allzu großer Vertraulichkeit mit seiner Gemahlin hatte, und reizte dadurch auch den Kaiser, das bayrische Herzogshaus, bei welchem die Herzogin Sabine Zuflucht gesucht, und den Adel, an dessen Spitze sich die Huttens, vor allen Ulrich v. Hutten (s. d.), als Rächer stellten, gegen sich auf. Er wurde daher 11. Okt. 1516 und zum zweitenmal im Juli 1518 in die Acht erklärt und, nachdem er noch gegen seine Feinde grausam gewütet und die Reichsstadt Reutlingen erobert und sie zu einer Landstadt gemacht hatte, im April 1519 vom Schwäbischen Bund vertrieben und floh nach einem mißlungenen Versuch der Wiedereroberung seines Landes nach Mömpelgard. Das Land verkaufte der Schwäbische Bund 1520 für den Ersatz der Kriegskosten an Kaiser Karl V., der 1530 auf dem Reichstag zu Augsburg seinen Bruder Ferdinand damit belehnte. U. begab sich nach längerm Aufenthalt im Ausland zum Landgrafen Philipp von Hessen nach Marburg, wo er für die Reformation gewonnen wurde. Nachdem sich 1534 der Schwäbische Bund aufgelöst hatte, führte Philipp von Hessen U. an der Spitze von 20,000 Mann nach Württemberg zurück, wo der Sieg bei Lauffen am Neckar 13. Mai ihm sein Herzogtum wieder verschaffte; doch mußte U. dasselbe in dem am 29. Juni d. J. zu Kaaden in Böhmen mit Ferdinand zu stande gekommenen Vergleich als österreichisches Afterlehen anerkennen. Bald nachher führte er in seinem Lande das Reformationswerk zu Ende. Als Mitglied des Schmalkaldischen Bundes ließ er 1546 eine beträchtliche Truppenzahl zum Heer der Verbündeten an die Donau vorrücken; nach dem unglücklichen Ausgang des Kriegs mußte er nach dem Vertrag von Heilbronn eine ansehnliche Summe zahlen, dem Kaiser mehrere Schlösser einräumen und in Ulm vor diesem einen Fußfall thun. Auch dem Augsburger Interim unterwarf er sich, ward aber dennoch von einem kaiserlichen Gericht mit Absetzung bedroht, als er 6. Nov. 1550 starb. Vgl. Heyd, Herzog U. von Württemberg (Tübing. 1841-43, 3 Bde.); Kugler, U., Herzog zu Württemberg (Stuttg. 1865); Ulmann, Fünf Jahre württembergischer Geschichte unter Herzog U., 1515-19 (Leipz. 1867).

Ulrich, Pauline, Schauspielerin, geboren um 1835 zu Berlin, wo ihr Vater am Hoftheater Orchestermitglied war, machte auf dem Liebhabertheater Konkordia in großen, auf dem Hoftheater in kleinen Rollen die ersten praktischen Versuche, wurde 1856 in Stettin engagiert, aber fünf Monate später an das Hoftheater zu Hannover berufen, dem sie bis 1859 angehörte. In ebendem Jahr gastierte sie, von der Frieb-Blumauer empfohlen, am Dresdener Hoftheater und trat im Mai 1859 in den Verband dieses Instituts, dem sie noch heute angehört. Gleich bedeutend im Trauer- wie im Lustspiel, ist sie am vorzüglichsten in Darstellung weiblich-vornehmer Rollen, worin sie ihr würdevolles, dabei grazioses und anmutiges Äußere sehr wesentlich unterstützt.

Ulrich von Lichtenstein, mittelhochdeutscher Dichter, aus ritterlichem steirischen Geschlecht um 1200 geboren, starb 1276. In seinem Gedicht "Frauendienst", das zuerst Tieck teils in Bearbeitung, teils in Übersetzung (Stuttg. 1812) bekannt machte, gibt er eine Darstellung seines alle Wunderlichkeiten und Verirrungen des ritterlichen Minnedienstes offenbarenden Lebens in Strophen, welchen auch seine Lieder, ein Leich und mehrere "Büchlein" (Liebesbriefe) eingeflochten sind. Außerdem besitzen wir von ihm ein kleineres Lehrgedicht: "Frauenbuch". Beide sind herausgegeben von Lachmann, mit historischen Anmerkungen von Karajan (Berl. 1841), der "Frauendienst" allein von Bechstein (Leipz. 1888, 2 Bde.); die lyrischen Gedichte hat auch v. d. Hagen in seine "Minnesinger" (Bd. 4) aufgenommen. Vgl. Falke, Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein, Bd. 1 (Wien 1869); Knorr, Über U. v. L. (Straßb. 1875); Becker, Wahrheit und Dichtung in U. von Lichtensteins Frauendienst (Halle 1888).

Ulrich von Türheim, deutscher Dichter aus dem Thurgau, der im zweiten Viertel des 13. Jahrh. dichtete. Er setzte Wolframs von Eschenbach "Willehalm" in dem Gedicht "Der starke Rennewart" fort und dichtete einen Schluß zu Gottfrieds von Straßburg "Tristan und Isolde" (gedruckt in den Ausgaben des letztern Werkes von v. d. Hagen, Berl. 1823; Maßmann, Leipz. 1843).

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Ulrich von dem Türlein - Ultimatum.

Ulrich von dem Türlein, deutscher Dichter aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrh., wahrscheinlich aus Kärnten stammend, bearbeitete, als Ergänzung des "Willehalm" Wolframs von Eschenbach, denjenigen Teil der Sage, der dem von Wolfram behandelten Stoffe vorausgeht: die Entführung Arabeles. Die einfache und in sich wohl abgerundete Erzählung ist in verschiedenen Handschriften erhalten, aber noch nicht veröffentlicht.

Ulrich von Winterstetten, Schenk, Minnesänger, war ein schwäbischer Ritter, der seit 1241 in Urkunden vorkommt und von 1258 bis 1269 als Kanonikus in Augsburg begegnet. In seinen Liedern und Weisen, die der Mehrzahl nach aus seiner Jugendzeit stammen mögen, herrscht ausgelassene Fröhlichkeit; wie er selbst sagt, wurden sie ihrer leichten Form wegen auf den Gassen gesungen. Eine Ausgabe derselben besorgte Minor (Wien 1882).

Ulrich von Zatzikhofen, deutscher Dichter des 12. Jahrh., aus dem Thurgau (Schweiz), verfaßte um 1195 seinen "Lanzelet" nach einem französischen Original, das er durch Hug von Morville, eine der sieben von Richard Löwenherz dem Herzog Leopold von Österreich gestellten Geiseln, erhalten hatte, das aber noch nicht wieder aufgefunden ist (hrsg. von Hahn, Frankf. a. M. 1845). Vgl. Bächtold, Der Lanzelet des U. v. Z. (Frauenf. 1870).

Ulrichs, Heinrich Nikolaus, Archäolog, geb. 8. Dez. 1807 zu Bremen, studierte in Leipzig, Bonn und München, ging 1833 als begeisterter Philhellene nach Griechenland und wirkte hier ein Jahrzehnt erfolgreich lehrend und schreibend für Einführung des Lateinunterrichts in Gymnasium und Universität in Athen als Professor der lateinischen Litteratur und Altertumskunde an der letztern. Mit dem Maler K. Rottmann durchwanderte er Nordgriechenland und andre Teile des Landes und sammelte überall wertvolle Beobachtungen, welche niedergelegt sind in dem Werk "Reisen und Forschungen in Griechenland" (Bd. 1, Brem. 1840; Bd. 2, hrsg. v. A. Passow, Berl. 1863). Er starb 10. Okt. 1843 in Athen. Aus seinen Papieren veröffentlichte W. Henzen italienisch "Viaggi ed investigazioni nella Grecia" in den "Annali dell' Istituto archeologico", Bd. 18 und 20.

Ulrichstein, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, Kreis Schotten, in rauher Gegend am Vogelsberg und am Ursprung der Ohm, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht und (1885) 873 Einw.

Ulrici, Hermann, Philosoph und Ästhetiker, geb. 23. März 1806 zu Pförten in der Niederlausitz, studierte zu Halle und zu Berlin die Rechte, war anfänglich Beamter, seit 1833 Privatdozent zu Berlin, seit 1834 Professor der Philosophie zu Halle, wo er 11. Jan. 1884 starb. Als Philosoph gehört U. mit Fichte dem jüngern, Wirth, Carriere u. v. a. zu der Theistenschule, deren Organ, die "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", er seit seinem Bestehen mit redigierte; als Ästhetiker hat er sich namentlich als Shakespearekenner ausgezeichnet. Von seinen philosophisch-ästhetischen Schriften erwähnen wir: "Geschichte der hellenischen Dichtkunst" (Berl. 1835, 2 Bde.); "Das Grundprinzip der Philosophie" (Halle 1845-46, 2 Bde.); "System der Logik" (das. 1852); "Gruben und Wissen" (Leipz. 1858); "Gott und die Natur" (das. 1862, 3. Aufl. 1875); "Leib und Seele" (das. 1866; 2. Aufl. 1874, 2 Bde.); "Kompendium der Logik" (das. 1860, 2. Aufl. 1872); "Grundzüge der praktischen Philosophie" (das. 1873, Bd. 1); "Abhandlungen zur Kunstgeschichte als angewandter Ästhetik" (das. 1876). Durch seine Abhandlung "Der Spiritismus eine wissenschaftliche Frage" griff er in den durch Zöllner veranlaßten Streit über die angeblichen Thatsachen des Spiritismus ein und geriet darüber mit Wundt (s. d.) in litterarische Fehde. Früchte seiner Shakespeare-Studien sind: "Shakespeares dramatische Kunst" (Halle 1839; 3. Aufl., Leipz. 1868,. 3 Bde.), eine Ausgabe von Shakespeares "Romeo und Julia" (das. 1853) und die "Geschichte Shakespeares und seiner Dichtung" (im 1. Band der von ihm als Präsidenten der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft besorgten neuen Ausgabe der Schlegel-Tieckschen Übersetzung, 2. Aufl., Berl. 1876).

Ulrike Eleonore, Königin von Schweden, Tochter Karls XI. und der dänischen Prinzessin Ulrike Eleonore, geb. 23. Jan. 1688, stand während der Abwesenheit ihres Bruders Karl XII. 1713 und 1714 der Regierung vor, wurde 1715 mit dem Erbprinzen Friedrich, nachmaligem Landgrafen von Hessen-Kassel, vermählt, wußte nach dem Tod ihres Bruders Karl (1718) durch Intrigen mit der Adelspartei den Sohn ihrer ältern Schwester, Karl Friedrich von Holstein-Gottorp, von der Thronfolge auszuschließen, indem sie den Reichsständen das Recht der Königswahl zugestand und die von diesen entworfene neue aristokratische Regierungsform unterzeichnete. Hierauf wurde sie 21. Febr. 1719 zum "König" von Schweden erwählt und 17. März gekrönt, trat aber 29. Febr. 1720 die Krone an ihren Gemahl ab. Sie starb kinderlos an den Blattern 24. Nov. 1741 in Stockholm.

Ulrike Luise, Königin von Schweden, s. Luise 4).

Ulster (spr. öllster), die nördlichste Provinz Irlands, wird im W. und N. vom Atlantischen Ozean, im O. von dem Nordkanal und der Irischen See bespült und hat einen Flächenraum von 22,189 qkm (402,97 QM.) und (1881) 1,743,075 Einw. (1861 noch 2,386,372). Von der Oberfläche sind 26,9 Proz. Ackerland, 5,2 Wiesen, 40,3 Weiden, 42 Wald, 3,8 Proz. Wasser. An Vieh zählte man 1881: 173,206 Pferde und Maultiere, 23,672 Esel, 1,028,486 Rinder, 378,915 Schafe und 249,298 Schweine. U. ist die wohlhabendste Provinz Irlands und Hauptsitz der Leinenindustrie. Die Bevölkerung ist großenteils schottischer und englischer Abkunft; 47,8 Proz. sind Protestanten. Irisch wird nur noch in den entlegenen Teilen Donegals gesprochen. S. Karte "Großbritannien".

Ulster, linksseitiger Nebenfluß der Werra, entspringt auf der Wasserkuppe in der Rhön, fließt nach N. durch ein schönes Thal und mündet nach 45 km langem Lauf unterhalb Vacha.

ult., Abkürzung für Ultimo (s. d.).

Ultenthal, Seitenthal des Etschthals unterhalb Meran, zieht sich neun Stunden lang von den Gebirgen von Sulzberg und Martell in südwestlicher Richtung herab, wird vom Falschauer Bach durchströmt, der sich vor seiner Ausmündung durch eine gewaltige Klamm Bahn bricht. Im U. liegt das Mitterbad mit einer Quelle, welche schwefelsaures Eisen enthält, und guter Badeeinrichtung (jährlich 300 Kurgäste).

Ultima ratio regum (lat.), "das letzte (Beweis-) Mittel der Könige" , d. h. die Kanonen, ein gewöhnlich auf Ludwig XIV. zurückgeführter Ausspruch, findet sich im 1. Akt von Calderons Schauspiel "In diesem Leben ist alles wahr und alles Lüge".

Ultimatum (neulat.), bei diplomatischen Verhandlungen die Schlußerklärung des einen Teils, an welcher er unwiderruflich festzuhalten gesonnen sei. Die Verwerfung des Ultimatums hat daher in der Regel den unmittelbaren Abbruch der diplomatischen Verhandlungen und unter Umständen die Ergreifung von Gewaltmaßregeln (Kriegserklärung) zur Folge.

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Ultimo - Ulva.

Ultimo (ital., abgek. ult.), der Letzte, der Schlußtag des Monats, im Börsenverkehr der übliche Stichtag für die Abwickelung von Differenzgeschäften. Daher per U. handeln und U.-Kurse, unter welchen zuweilen auch die Liquidationskurse gemeint sind; U.-Regulierung, im Börsenverkehr die Abwickelung der Ende eines bestimmten Monats zu erfüllenden Lieferungsgeschäfte (vgl. Börse, S. 236 f.). Über U.-Wechsel s. Wechsel.

Ultimus (lat.), der Letzte (z. B. in einer Klasse).

Ultra (lat.), jenseit, darüber hinaus, bezeichnet Überschreitung des rechten Maßes, namentlich die Parteirichtung desjenigen, welcher in Gesinnung und Handlung das von der Vernunft und den Umständen gebotene Maß überschreitet. Daher nennt man Ultras die Anhänger aller politischen Extreme, wie Ultraroyalisten, Ultrademokraten, Ultrakonservative etc., und deren Richtung Ultraismus.

Ultramarin (Lasurblau, Azurblau), blauer Farbstoff, der ursprünglich durch ein rein mechanisches Verfahren aus dem Lasurstein gewonnen wurde und sehr hohen Wert besaß, jetzt aber in gleicher Schönheit aus eisenfreiem Thon, Schwefel und Soda (Sodaultramarin) oder Glaubersalz (Sulfatultramarin) und Kohle künstlich dargestellt wird und sehr billig geworden ist. Man unterscheidet kieselarmes U. von hellem, rein blauem Farbenton, leicht zersetzbar durch Alaun, und kieselreiches U. mit eigentümlich rötlichem Ton und widerstandsfähiger gegen Alaun. Zur Darstellung des Ultramarins werden die Materialien, der Thon nach dem Schlämmen und Glühen, sehr fein gepulvert und innig gemischt. Für Sulfatultramarin benutzt man ein Gemisch aus

Porzellanthon . .............................100 100

kalciniertem schwefelsauren Natron...........83-100 41

kalcinierter Soda............................ - 41

Kohle........................................ 17 17

Schwefel..................................... - 13

Dieser Satz wird im Schamottetiegel eingestampft und in einer Art Muffelofen bei möglichst gehindertem Luftzutritt anhaltend stark erhitzt. Hierbei entsteht eine gesinterte, poröse, graue, oft gelbgrüne Masse, welche gewaschen, gemahlen, abermals gewaschen, getrocknet und gesiebt wird. Das Produkt, das grüne U., wird zum Teil als solches verwertet, zum bei weitem größten Teil aber durch Erhitzen mit Schwefel bei Luftzutritt in blaues U. verwandelt. Dies geschieht in liegenden Cylindern, in welchen das U. während des Verbrennens des nach und nach zugesetzten Schwefels durch eine Flügelwelle umgerührt wird, um die Einwirkung der Luft zu befördern. Die gebildete schweflige Säure entweicht durch die Esse. Das Eintragen von Schwefel wird fortgesetzt, bis das U. rein blau erscheint, dann wird dasselbe ausgewaschen, gemahlen, geschlämmt, eventuell mit Kaolin oder Gips vermischt, getrocknet und gesiebt. Die Waschwasser vom grünen und blauen U. werden verdampft, um in ihnen enthaltene Natronsalze wiederzugewinnen. Sodaultramarin wird in ähnlicher Weise aus 100 Thon, 100 Soda, 12 Kohle und 60 Schwefel erhalten und zeichnet sich durch dunklere Färbung und größern Farbenreichtum aus. Das kieselreiche U. ist ein Sodaultramarin mit 5-10 Proz. vom Gewicht des Kaolins fein zerteilter Kieselsäure. Man erhält es in einer einzigen Operation, doch macht die Neigung, zu sintern, Schwierigkeiten. Dies Präparat wird mit steigendem Kieselsäuregehalt rötlicher und alaunfester. Auch violette, rote und gelbe Präparate hat man dargestellt, doch sind deren Beziehungen zu dem blauen U. noch wenig aufgeklärt. Selbst die chemische Konstitution des blauen Ultramarins ist bis jetzt nicht sicher erkannt. Es enthält

kieselsäurearmes U. kieselsäurreiches U.

Durch- Durch

schnitt reinstes -schnitt reinstes

Thon.... 2,36 1,87 7,64 3,61

Kieselsäurean-

hydrid ... 37,90 38,55 34,86 40,77

Thonerde ... 29,30 29,89 24,06 23,74

Kali .... - 1,21 1,01 19,58

Natron... 22,60 21,89 0,83 18,54

Schwefel... 7,86 8,27 13,25 13,58

U. ist prächtig tiefblau geruch- und geschmacklos, sehr hygroskopisch (lufttrocken 5 Proz. Feuchtigkeit), unlöslich in den gewöhnlichen Lösungsmitteln, widersteht der Luft, dem Licht und dem Wasser, auch Alkalien und dem Ammoniak, wird durch Säuren und sauer reagierende Salze unter Entwickelung von Schwefelwasserstoff zersetzt, erträgt bei Ausschluß der Luft Rotglut, wird aber in höherer Temperatur und beim Glühen an der Luft farblos. U. dient als Wasser-, Kalk- und Ölfarbe, im Buntpapier-, Tapeten- und Zeugdruck, zum Blauen von Wäsche, Papier, Zucker, Stärke, Barytweiß, Stearin , Paraffin. Grünes U. kann nur als ordinäre Tüncher- und Tapetenfarbe benutzt werden. Die gelegentliche Bildung von U. im Sodaofen beobachtete Tessaert 1814, und Vauquelin zeigte, daß die blaue Verbindung mit Lasurstein identisch sei. Gmelin stellte 1828 künstliches U. dar, doch hatte es schon 1826 Guimet in Lyon als Geheimnis fabriziert. Die ersten deutschen Ultramarinfabriken wurden 1836 in Wermelskirchen von Leverkus und 1837 in Nürnberg von Leykauf gegründet. Gegenwärtig beträgt die europäische (zum bei weitem größten Teil deutsche) Produktion jährlich 600,000 Ztr. Vgl. Lichtenberger, Ultramarinfabrikation (Weim. 1865); Vogelsang, Natürliche Ultramarinverbindungen (Bonn 1873); Heinze, Beitrag zur Ultramarinfabrikation (Dresd. 1879); Fürstenau, Das U. und seine Bereitung (Wien 1880).

Ultramaringelb, s.v.w. Chromgelb, Zinkgelb oderchromsaurer Baryt (s. Chromsäuresalze).

Ultramontanismus (lat.), diejenige Auffassung des Katholizismus, welche dessen ganzen Schwerpunkt nach Rom, also jenseit der Berge (ultra montes), verlegen möchte; ultramontan ist somit das ganze Kurial- oder Papalsystem (s. d.).

Ultra posse nemo obligatur (lat.), Unmögliches zu leisten, kann niemand verpflichtet werden.

Ultrarote und ultraviolette Strahlen, die schwächer als die roten, resp. stärker als die violetten brechbaren Strahlen, welche unsichtbar sind, aber die einen durch ihre Wärmewirkung, die andern durch ihre chemische Wirkung nachgewiesen werden. Vgl.Fluoreszenz, Licht, Wärmestrahlung.

Ulua, Fluß im zentralamerikan. Staat Honduras, im Oberlauf Humuya genannt, mündet in die Hondurasbai, ist wasserreich und bietet mit seinen Nebenflüssen ausgedehnte Wasserstraßen, wird aber an der Mündung durch eine seichte Barre geschlossen.

Ulunda, afrikan. Reich, s. Lunda.

Ulungu, afrikan. Land, s. Urungu.

Ulva L., Algengattung aus der Familie der Ulvaceen, charakterisiert durch einen häutig blattartigen, am Grund festgewachsenen Thallus, in gegen zehn Arten in den europäischen Meeren vertreten. U. lactuca L. (Meerlattich), mit 5,5-16 cm großem, lebhaft grünem, wolligem, geteiltem und zerschlitztem Thallus, wird (in England) wie Salat gegessen.

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Ulverston (spr. öllwerst'n), Hauptstadt des Bezirks Furneß in Lancashire (England), durch einen Kanal mit der Morecambebai verbunden, hat Eisenhütten, Papiermühlen und (1881) 10,001 Einw.

Ulwar, britisch-ind. Staat, s. Alwar.

Ulysses (unlatein. statt Ulixes), s. Odysseus.

Ülzen, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Lüneburg, in der Lüneburger Heide und an der Ilmenau, Knotenpunkt der Linien Lehrte-Harburg und Stendal-Langwedel der Preußischen Staatsbahn, 35 m ü. M., hat 4 Kirchen und Kapellen, ein Realprogymnasium, ein Hospital, ein Amtsgericht, eine Handelskammer,einen landwirtschaftlichen Verein,eine Zuckerfabrik, Eisengießerei, Maschinen-, Feuerspritzen-, Leder-, Tabaks- u. Zigarrenfabrikation, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, Flachsbau, Handelsgärtnereien, ansehnliche Vieh- und Flachsmärkte und (1885) mit der Garnison (eine Eskadron Dragoner Nr. 16) 7412 meist evang. Einwohner. In unmittelbarer Nähe ergiebige Mergelgruben. U. entstand im 10. Jahrh. als Löwenwolde und war im Mittelalter Hansestadt. In der Umgegend heidnische Begräbnisstätten und das ehemalige Benediktinerkloster Ullesheim. Vgl. Ringklib und Siburg, Geschichte der Stadt Ü. (Hannov. 1859); Janicke, Desgleichen (das. 1889).

Uman, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, an der Umanka (Nebenfluß des Bug), mit Schloß, 5 Kirchen, Synagoge, Kloster, mehreren Fabriken, Handel und (1885) 15,976 Einw. In der Nähe das prächtige kaiserliche Schloß Sofiowka.

Umbella (lat., "Sonnenschirm"), in der Botanik die Dolde, eine Art des Blütenstandes (s. d., S. 80).

Umbelliferen (Umbellatae, Doldengewächse), dikotyle Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Umbellifloren, einjährige und perennierende Kräuter mit wechselständigen, meist mehrfach fieder- oder handförmig eingeschnittenen oder geteilten, seltener ganzen Blättern mit am Grund verbreitertem, scheidigem Blattstiel, seltener mit blattförmig entwickeltem Stiel ohne Blattfläche. Für die ganze Familie ist der Blütenstand charakteristisch. Derselbe bildet meist eine zusammengesetzte Dolde (umbella), welche aus wenigen bis zahlreichen Döldchen (umbellula) besteht. Die Dolde ist öfters von einer aus meist getrennten, schmalen Hochblättern bestehenden Hülle (involucrum), jedes Döldchen von einem ähnlichen Hüllchen (involucellum) umgeben. Die Blüten sind zwitterig, bisweilen durch Fehlschlagen eingeschlechtig, verhältnismäßig klein, gelb oder weiß, seltener rötlich, im allgemeinen regelmäßig, jedoch die äußern jedes Döldchens bisweilen strahlend, d.h. die nach außen gekehrten Blumenblätter größer. Der Kelch bildet auf dem unterständigen Fruchtknoten einen aus fünf kleinen Zähnen bestehenden oder fast ganz undeutlichen Saum. Die fünf Blumenblätter sind außerhalb des den Scheitel des Fruchtknotens krönenden, meist stark entwickelten Diskus inseriert. Die fünf Staubgefäße stehen an derselben Stelle wie die Blumenblätter und abwechselnd mit ihnen. Der unterständige, zweifächerige Fruchtknoten hat in jedem Fach eine einzige hängende, anatrope Samenknospe; die beiden endständigen Griffel sind am Fuß in einen Griffelfuß vereinigt, oben auseinander stehend und jeder an der Spitze mit einer ungeteilten Narbe versehen. Die Frucht stellt bei allen ein Doppelachenium dar, welches in zwei einsamige Teilfrüchtchen oder Merikarpien (Fig. A, m m), den beiden Fruchtknotenfächern entsprechend, zerfällt. Zwischen den beiden Teilfrüchtchen bleibt der zentrale fadenförmige, meist zweispaltige Fruchtträger (carpophorum, Fig. A, c) stehen, an dessen beiden Schenkeln die Merikarpien aufgehängt sind. Die Fläche, mit der die beiden Teilfrüchtchen aneinander liegen, heißt Fugenfläche (Fig. B u. C, c), die ihr entgegengesetzte, nach außen gewendete die Rückenfläche. Letztere hat mehrere Längsrippen, sogen. Joche, und zwar zunächst fünf Hauptrippen (juga primaria, Fig. B, 1, 2, 3), von denen allemal eine in der Mitte, zwei an den Seiten, der Fugenfläche zunächst, und je eine zwischen diesen und der mittelsten Rippe stehen. Die Vertiefungen zwischen je zwei Hauptrippen auf der Rückenfläche heißen Thälchen (valleculae, Fig. B, t). In ihnen liegen .in der Fruchtschale von oben nach unten gerichtete Ölgänge, welche meist von außen als braune Striemen (vittae) sichtbar sind, gewöhnlich bei den einzelnen Gattungen in bestimmter Zahl vorkommen, seltener fehlen; auch in beiden Seitenhälften der Fugenfläche pflegen Striemen vorzukommen. Außer den Hauptrippen gibt es bei manchen Gattungen auf der Rückenfläche jedes Teilfrüchtchens noch 4 Nebenrippen (juga secundaria, Fig. C, 4, 5), welche zwischen jenen aus der Mitte der Thälchen sich erheben; in diesem Fall sind gewöhnlich die Hauptrippen kleiner oder fehlen. Der einzige Same füllt das Merikarpium aus, ist mit seiner Schale mit diesem verwachsen, seltener getrennt. Er enthält ein reichliches fleischiges oder etwas horniges Endosperm und im obern Teil desselben einen kurzen, geraden Embryo mit länglichen Kotyledonen und nach oben gekehrtem Würzelchen. Vgl. A. P. de Candolle, Mémoire sur la famille des Ombellifères (Par. 1829). Die U. zählen über 1300 Arten, welche zum größten Teil der gemäßigten und kältern Zone der nördlichen Halbkugel angehören. Alle enthalten ätherisches Öl oder Harz oder Gummiharz, welches in allen Teilen der Pflanze in besondern Ölgängen vorkommt, vorwiegend in den Wurzeln und Früchten. Wenige enthalten auch narkotisch-scharfe Alkaloide. Manche sind überdies in ihren Wurzeln oder den verdickten untern Stengelteilen reich an Schleim und Zucker. Daher sind viele U. Gewürzpflanzen, mehrere wichtige Arzneipflanzen; manche liefern Nahrungsmittel, andre Futterstoffe; einige gehören zu den gefährlichsten Giftpflanzen. Fossil sind nur sehr wenige Arten von U. aus den Gattungen Peucedanites Heer und Dichaenites A. Br. in den Tertiärschichten gefunden.

Umbelliflören, Ordnung im natürlichen Pflanzensystem unter den Dikotyledonen, Choripetalen, charakterisiert durch verhältnismäßig kleine, meist in Dolden stehende und meist zwitterige Blüten mit vier- oder fünfgliederigen Blütenkreisen, vier oder fünf

A Doppelachenium von Chaerophyllum; B Durchschnitt durch die beiden Teilfrüchtchen von Aethusa, C durch eins von Daucus.

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Umber - Umgeld.

Staubgefäßen, unterständigem Fruchtknoten, welcher meist aus zwei Karpellen zusammengesetzt, zweifächerig ist und in jedem Fach eine Samenknospe enthält, und durch Samen mit Endosperm und kleinem, geradem Keimling, umfaßt die Familie der Korneen, Umbelliferen und Araliaceen.

Umber,s.Schaf,S.379.

Umbérto, König von Italien, s. Humbert.

Umbilicus (lat.), Nabel.

Umbra (lat.), Schatten.

Umbra, Mineral von sehr wechselnder Zusammensetzung, im wesentlichen amorphes, undurchsichtiges, wasserhaltiges Eisensilikat mit viel Mangan und wenig Aluminium, dient als braune Öl- und Wasserfarbe in der Wachstuchfabrikation, als Vergoldergrund, zum Braunbeizen des Holzes, zu Firnissen etc. Die beste U. (türkische U.) stammt von der Insel Cypern, doch kommen an vielen Orten sehr ähnliche und gleich verwendbare Substanzen vor. Die kölnische U. (Kölner oder Kasseler, Kesselbraun)ist erdige Braunkohle, liefert durch Lösen in Kalilauge und Fällen mit Säure den braunen Karmin. Cyprische U., s. Bolus.

Umbrechen, s. Buchdruckerkunst, S. 559.

Umbreit, Friedr. Wilhelm Karl, protest. Theolog, geb. 11. April 1795 zu Sonneborn bei Gotha, studierte in Göttingen, ward daselbst 1818 Dozent der orientalischen Sprachen und 1820 außerordentlicher Professor der Theologie und Philosophie; 1823 ging er als ordentlicher Professor der letztern nach Heidelberg, wo er 1828 mit Ullmann die "Theologischen Studien und Kritiken" begründete und 1829 Ordinarius in der theologischen Fakultät wurde; starb als Geheimer Kirchenrat 26. April 1860. Er veröffentlichte unter anderm: "Lied der Liebe" (Übersetzung des Hohenliedes, 2. Aufl., Heidelb. 1828); "Übersetzung und Auslegung des Buches Hiob" (2. Aufl., das. 1832); "Kommentar über die Sprüche Salomos" (das. 1826); "Übersetzung und Erklärung auserlesener Psalmen" (2. Aufl., Hamb. 1848); "Kommentar über die Propheten des Alten Testaments" (das. 184146, 4 Bde.); "Die Sünde, Beitrag zur Theologie des Alten Testaments" (das.1853); "Der Brief an die Römer, auf dem Grunde des Alten Testaments ausgelegt" (Gotha 1856).

Ümbrer (Umbrier, Umbri), altitalisches, in früherer Zeit sehr mächtiges und verbreitetes Volk, welches in der ältesten Zeit alles Land östlich vom Apennin bis zum Vorgebirge Gargano herab und außerdem auch das später so genannte Etrurien innehatte, im Verlauf der Zeit aber aus allen übrigen Landschaften bis auf Umbria selbst verdrängt wurde und auch von diesem den an der Küste liegenden Teil (ager gallicus) an die senonischen Gallier verlor, so daß es nur noch am östlichen Ufer des Tiber und auf dem östlien Abhang des Apennin wohnen blieb. Mit den Römern kamen die U. 3(9 v. Chr. zuerst in Berührung, sie wurden 308 bei Mevania völlig geschlagen; noch einmal beteiligten sie sich 298 in Verbindung mit den Samnitern, Etruskern und Galliern an dem Kriege gegen Rom, mußten aber nach der Schlacht bei Sentinum wiederum die Waffen niederlegen; im Bundesgenossenkrieg erhielten sie 90 mit den übrigen freien Bewohnern Mittel und Unteritaliens das römische Bürgerrecht. Ihre Sprache, deren wichtigstes Denkmal die Eugubinischen Tafeln (s. d.) sind, gehört zu dem indogermanischen Sprachstamm und ist mit der lateinischen nahe verwandt. Vgl. Grotefend, Rudimenta linguae umbricae (Hannov. 183539, 8 Tle.); Aufrecht und Kirchhoff, Die umbrischen Sprachdenkmäler (Berl. 1851, 2 Bde.); Savelsberg, Umbrische Studien (das. 1873); Bücheler, Umbrica (Bonn 1883). Die Grenzen der Landschaft Umbria waren unter Augustus: im N. der Rubico (gegen das cispadanische Gallien), im W. der Tiberis (gegen Etrurien), im S. der Äsis (gegen das Sabinerland), im O. das Adriatische Meer. Das im W. durch die Apenninengebirgige und etwas rauhe, im übrigen ebene und fruchtbare Land war reich an starken Rindern und an Obst. Die Flüsse der Landschaft sind sämtlich Küstenflüsse von kurzem Laufe, von denen nur der Metaurus Erwähnung verdient, oder Nebenflüsse des Tiberis, unter denen der Nar (Nera) der bedeutendste ist. Städte waren im westlichen Teil: Iguvium, Asisium, Fulginium, Nuceria, Camers oder Camerinum, Spoletium, Tuder, Ameria, Interamna, Narnia und Ocriculi; im östlichen Teil: Sarsina, Sestinum,Urbinum Hortende, UrbinumMetaurense, Sentinum; am Meer: Ariminum, Pisaurum, Fanum Fortunae und das gaische Sena (s. Karte bei "Italia").Vgl. Abeken, Mittelitalien (Stuttg. 1843).

Umbrien (Umbria), s. Umbrer. Auch Name der italienischen Provinz Perugia (s. d.).

Umdrehung (Umwälzung, Rotation, Revolution), diejenige Bewegung eines Körpers, bei welcher alle Teile desselben um eine in Ruhe bleibende gerade Linie, die Rotations- oder Drehungsachse, Kreise beschreiben, deren Mittelpunkte in dieser Geraden liegen, und deren Ebenen senkrecht auf ihr stehen. Diese Kreise heißen Parallel kreise, die Schnittpunkte der Achse mit der Oberfläche Pole.

Umdrehzähler, s. Perambulator.

Umdruck (überdruck), s. Lithographie, S.837.

Umeå (spr. úhmeo), Hauptstadt des schwed. Läns Westerbotten, an der Mündung des Umeelf, hat eine höhere Lehranstalt, Lehrerinnenseminar, Gewerbeschule, Industrieschule, einen Hafen, ansehnlichen Handel mit Holz, Butter, Fischen, Teer, Pelzwerk etc. und (1885) 2930 Einw. U. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Der Umeelf entspringt aus einem See an der norwegischen Grenze, durchfließt, südöstlich gewendet, außer andern den großen See Stor-Umeä, nimmt links auf der untersten Strecke seines Laufs den fast ebenso langen Vindelelf auf und mündet nach 470 km langem Lauf (wovon 250 für kleinere Fahrzeuge schiffbar) in den Bosnischen Meerbusen. Etwas oberhalb der Mündung bildet er zwei der schönsten Wasserfälle, den Lina Link und Fällforsan.

Umfang bedeutet in der Logik nach einigen den Inbegriff aller derjenigen Begriffe, in deren Inhalt derjenige, um dessen U. es sich handelt, als Merkmal erscheint, nach andern die Summe derjenigen Gegenstände, auf welche ein Begriff sich bezieht. Die Angabe des Umfangs heißt Einteilung (s. d.); insofern der Subjektsbegriff eines Urteils einen gewissen U. besitzt, läßt sich auch dem Urteil ein solcher beilegen (s. Quantität). - Über U. in der Mathematik s. Peripherie.

Umgang, s. Zunftgebräuche.

Umgehung, in der Taktik jedes gegen die Flanken oder den Rücken des Feindes gerichtete Unternehmen, welches entweder einen umfassenden Angriff vorbereiten, oder die Verbindungen und Rückzugslinien des Feindes bedrohen und ihn dadurch in seinen Bewegungen stören und aufhalten oder selbst zum Rückzug veranlassen soll. Zu erfolgreicher U. gehören hinreichende Kräfte, so daß man die Fronte des Feindes gleichzeitig festzuhalten vermag.

Umgeld, s. Weinsteuer.

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Umgelt - Umlauf.

Umgelt , s.Ungelt.

Uminski, Jan Nepomucen, poln. General, geb. 1780 im Großherzogtum Posen, focht schon 1794 im Befreiungskampf Kosciuszkos mit, bildete 1806 zu Warschau eine Ehrengarde für Napoleon I, focht als Leutnant in einem poln. Ulanenregiment vor Danzig und Dirschau, fiel aber bei letzterer Stadt verwundet in die Hände der Preußen. Wieder frei, befehligte er im Kriege gegen Österreich (1809) die Vorhut des Generals Dombrowski und errichtete Ende 1809 das 10. polnische Husarenregiment, welches er 1812 als Oberst in Rußland befehligte, bildete Ende 1812,zum Brigadegeneral befördert, das Reiterregiment Krakusen und ward 1813 bei Leipzig verwundet. Wegen seiner Teilnahme an der Stiftung des patriotischen Bundes der Sensenträger (kossiniery) Anfang 1826 zu sechsjähriger Festungsstrafe in Glogau verurteilt, entfloh er beim Ausbruch der polnischen Revolution im Februar 1831 aus der Festung und ward in der Insurrektionsarmee sofort als Divisionsgeneral angestellt. In der Schlacht von Grochow 25. Febr. entriß er dem russischen Feldherrn Diebitsch den Sieg. Ebenso erwarb er sich am Narew (im März), bei Pultusk, am Liwiec (9. und 10. April), bei Kaluschin (im Mai) und beim Sturm auf Warschau (6. und 7. Sept.) hohen Ruhm. Nach dem Fall Polens von Preußen und Rußland geächtet und in Posen als Deserteur im Bild gehenkt, flüchtete er nach Frankreich. Später lebte er in London und dann zu Wiesbaden, wo er im Juni 1851 starb. Er gab außer mehreren polnischen Schriften über die Revolution ein "Recit des evenements militaires de la bataille d'Ostrolenka" (Par. 1832) heraus.

Umkehrung, eine Vertauschung des Verhältnisses von Oben und Unten derart, daß, was oben war, unten wird, und was unten war, oben. Die U. spielt in der Theorie des Tonsatzes mehrfach eine Rolle. Man spricht von einer U. der Intervalle, die nichts ist als eine Oktavversetzung des höhern Tons unter den tiefern oder des tiefern über den höhern. Die U. eines Intervalls ist immer dasjenige andre Intervall, mit welchem es sich zur Oktave ergänzt; es stehen also im Verhältnis der U.: 1) Sekunde - Septime 2) Terz - Serte 3) Quarte - Quinte und zwar ist die U. eines reinen Intervalls wieder ein reines, die eines großen ein kleines und die eines verminderten ein übermäßiges und vice versa. Unter U. der Akkorde versteht man den Wechsel des Baßtons, d.h. man nennt alle Akkorde Umkehrungen, welche nicht den natürlichen Baßton haben; der natürliche Baßton ist aber nach der üblichen Auffassung der, welcher der tiefste ist, wenn die Töne des Akkords terzenweise übereinander aufgebaut werden. Man unterscheidet daher z. B. für den Dreiklang c.e.g dreierlei Lagen, d.h. zwei Umkehrungen (Umlagerungen): a)Grundlage (Baßton c) b) 2. Lage, 1. U. (Baßton e) = Sextakkord e.g.c c) 3. Lage 2. U. (Baßton g) = Quartsextakkord g.c.e Die U. eines Motivs (Thema in der Gegenbewegung), eins der interessantesten imitatorischen Wirtungsmittel, besteht darin, daß alle Stimmschritte des Themas in umgekehrter Richtung gemacht werden (steigend statt fallend , fallend statt steigend).

Die U. kann wie jede andre Art der Imitation eine strenge oder freie sein. In der Fugenkomposition wird die U. des Themas vielfach verwendet, sei es, daß dieselbe als Antwort auftritt oder aber, daß sie selbständig durchgeführt wird (Gegenfuge). Vgl.Nachahmung. In der Logik versteht man unter U. diejenige Veränderung, welche mit einem logischen Satz vorgeht, wenn der Subjektbegriff zum Prädikatbegriff und umgekehrt gemacht (Konversion, s.d.) oder derselbe aus einem bejahenden in einen verneinenden (oder umgekehrt) verwandelt wird (Kontraposition, s.d.).

Umladuugsrecht, s. Umschlag.

Umlagen werden vielfach wegen der Form ihrer Bemessung und Veranlagung (Umlegung, Repartierung, Verteilung einer gegebenen Summe auf die Pflichtigen) Gemeinde- und Kreissteuern im Gegensatz zu Staatssteuern genannt.

Umlageverfahren, im Versicherungswesen (Gegenseitigkeitsversicherung) dasjenige Verfahren, welches die jeweilig zu zahlenden Summen (z. B. bei eingetretenen Feuersbrünsten, Hagelschäden, Sterbefäl-len etc.) auf die Gesamtheit der Versicherten als Prämien umlegt und von denselben einhebt. Den Gegensatz zu demselben bildet das Kapitaldeckungs- oder Anlageverfahren. Letzteres bemißt die Prämie nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit des Eintritts und der Höhe der Gefahr, bez. der zuzahlenden Summe und legt, wenn diese Summe im Lauf der Zeit steigt, die Prämien als Prämienreserve verzinslich an, um den erhöhten Anforderungen der spätern Zeit genügen zu können und die Lasten möglichst gleichmäßig zu verteilen. Bei der Invalidenversicherung würden alle Mitglieder der versicherten (gleichalterigen) Gesellschaft von vornherein gleichviel zahlen, trotzdem die zu zahlenden Renten im Lauf der Zeit steigen. Bei einem reinen U. würden nur die jeweilig fälligen Renten eingehoben. Die Last würde im Anfang gering sein, später aber so hoch werden, daß eine Fortsetzung der Versicherung unmöglich würde. Um letztere wirklich fortführen zu können, müßten immer wieder jüngere beitragspflichtige Mitglieder neu herangezogen werden. Bei Neueinführung einer Versicherung, welche nur die fortab eintretenden, nicht auch die schon früher vorgekommenen Fälle der Verunglückung und der Invalidität berücksichtigt, würden die zu entrichtenden Prämien im Lauf der Zeit steigen, bis endlich bei genügender Ausdehnung der Versicherung ein Beharrungszustand erreicht wird. Ist die Gefährdung für alle Versicherten immer die gleiche, so hat das Kapitaldeckungsverfahren mit Prämienanspeicherung keine Berechtigung. Demgemäß ist das U. bei der Feuer-, bei der Hagelversicherung etc. anwendbar und am Platz. Die Frage, ob U. oder Anlageverfahren, war gelegentlich der Einführung der berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung in Deutschland, dann vor Erlaß des Gesetzes über die Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter Gegenstand lebhafter Erörterungen. Für die letztere Versicherung wurde ein Mittelweg eingeschlagen, indem durch die in einem Zeitabschnitt gezahlten Beiträge die Kapitalwerte der in dieser Zeit fällig werdenden Renten gedeckt werden sollen. Vgl. Beutner, U. oder Kapitaldeckung (Berl. 1884); A. Wagner in Schönbergs "Handbuch der politischen Ökonomie", Bd. 2, S.816 (2. Aufl., Tübing. 1886).

Umlauf (Umlauff), Ignaz, Komponist, geb. 1752 zu Wien, begann seine musikalische Laufbahn als Violinist des Wiener Hofoperntheater- Orchesters und wurde 1778 von Joseph H. zum Musikdirektor der Deutschen Oper ernannt. Zur Eröffnung derselben hatte der Kaiser selbst Umlaufs Oper "Die Bergknappen" bestimmt, welche beim Publikum großen Anklang fand und als der erste Waffengang im Kampf

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Umlauf am Finger - Umtrieb.

gegen die Herrschaft der italienischen Oper in Deutschland historische Bedeutung erlangt hat. Er starb um 1799 in Wien.- Sein Sohn Michael, geb. 9. Aug. 1781 zu Wien, gest. 20. Juni 1842 daselbst, ebenfalls Musikdirektor der Deutschen Oper in Wien und fruchtbarer Komponist, machte sich besonders verdient um die Werke Beethovens, den er bei den Aufführungen des "Fidelio" (1822) und der neunten Symphonie (1825), von deren Leitung Beethoven selbst bei seiner völligen Taubheit abstehen mußte, als Dirigent aufs wirksamste unterstützte.

Umlauf am Finger, s. Fingerentzündung.

Umlaufgetriebe, s. Getriebe.

Umlaut, eine vorzugsweise den jüngern germanischen Sprachen eigentümliche Trübung derjenigen Vokale, auf die eine den Vokal i oder den Halbvokal j enthaltende Beugungs- oder Ableitungssilbe folgt oder einstmals folgte, welche Trübung aber nur die Qualität, nicht zugleich auch die Quantität derselben verändert. Der helle Vokal i übt nämlich eine assimilierende Wirkung, indem er den Vokal der vorausgehenden Silbe sich selbst ähnlich macht. Im Althochdeutschen tritt diese Wirkung nur erst beim a ein, welches durch den Einfluß eines i in der darauf folgenden Silbe zu dem hellern Vokale wird. Im Mittelhochdeutschen dagegen beeinflußt ein folgendes i alle Vokale der vorausgehenden Silbe, die nicht i-ähnlich sind. So werden die kurzen Vokale a, u, o zu e, ü, ö, die langen â, ô, û zu ae. oe, iu, die Diphthonge uo, ou zu üe, öu. Der U. bleibt, auch wenn das i oder j ausgefallen ist. So heißt es im Mittelhochdeutschen ich valle, aber du vellest (fällst), weil die zweite Person ursprünglich ein i hatte (althochd. vellis); von ruom (Ruhm) wird gebildet rüemen (rühmen), weil es im Althochdeutschen ruomjen hieß. Doch kommt es auch anderseits nicht selten vor, daß mit dem Verlust des i oder j auch seine Wirkung, der U., verschwindet, wie z.B. im Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen im Infinitiv für gotisch brannjan brennen gesagt wird, aber im Imperfekt mittelhoch-deutsch brante (jetzt brannte), obwohl die entsprechende gotische Form brannida lautet. Im Neuhochdeutschen gelten als Umlautvokale und Diphthongen in der Regel ä, ö, ü, äu; ä, äu werden im allgemeinen da geschrieben, wo ein verwandtes Wort oder eine verwandte Form mit a vorhanden oder auch ohne historische Sprachkenntnis leicht zu vermuten ist, z.B. Mann, Männer, Haus, Häuser, aber welsch von dem alten Wort walhisch, "ausländisch", greulich neben grauem Der U.ist auch für die deutsche Flexion von immer größerer Bedeutung geworden; so dient er jetzt zur Bezeichnung der Mehrzahl, z.B.in Männer, zum Ausdruck von Verkleinerungsformen, z.B. in Häuschen. Übrigens ist er keineswegs konsequent durchgeführt, und einzelne Mundarten haben ihn fast gar nicht, vgl. z.B. die bayrisch-österreichische Form "ich war" für "ich wäre". Der Name U. rührt von J. Grimm her, der auch den Ausdruck "Brechung" (s. d.) erfand. In den skandinavischen Sprachen hat auch das u die nämliche assimilierende Kraft. Auch andre Sprachen haben dem U. verwandte Erscheinungen, dahin gehört namentlich die im Griechischen u. der Zendsprache häusige Epenthese (s.d.) des i.

Ummanz, Insel dicht an der Westseite von Rügen, 6 km lang und 3 km breit; 7 Dörfer mit 360 Einw.

Ummerstadt, Stadt im sachsen-meining. Kreis Hildburghausen, an der Rodach, hat eine evang. Kirche, Töpferei, Gerberei und (1885) 825 Einw.

Umpfenbach, Karl, Nationalökonom, geb. 5. Juli 1832 zu Gießen als Sohn des Professors der Mathematik, Hermann U., studierte in Gießen, habilitierte sich daselbst 1856 als Privatdo^ent und wurde 1864 ordentlicher Professor in Würzburg und 1873 in Königsberg. Er schrieb: "Lehrbuch der Finanzwissenschaft" (Erlang. 1859-60, 2 Bde.; 2. Aufl., Stuttg. 1887); "Die Volkswirtschaftslehre" (Würzb. 1867); "Des Volkes Erbe" (Berl. 1874, Besprechung der sozialen Frage); "Das Kapital in seiner Kulturbedeutung" (Würzb. 1879); "Die Altersversorgung und der Staatssozialismus" (Stuttg. 1883).

Umpqua, Fluß im nordamerikan. Staat Oregon, entspringt am Westabhang des Kaskadengebirges, durchfließt ein fruchtbares Thal und ergießt sich nach 300 km langem Lauf in 43° 42' nördl. Br. in den Stillen Ozean.

Umriß (franz. Contour, ital. Contorno), die bloß in den äußersten Grenzlinien angedeutete Gestalt einer Figur, daher die erste Anlage einer nachher weiter auszuführenden Zeichnung.

Umsatz, der An- und Verkauf von Waren, auch die Gesamtheit dieser Waren.

Umschalter, Vorrichtung zur Herstellung, Unterbrechung oder Abzweigung einer elektrischen Leitung, findet mehrfach in der Elektrotechnik, namentlich auch bei der elektrischen Beleuchtung, Verwendung, um jede Lampe oder Lampengruppe unabhängig von den übrigen anzuzünden oder auszulöschen. Bei automatischen Umschaltern wird durch die Wirkung von Elektromagneten, resp. durch Einschaltung künstlicher Widerstände der Zweck erreicht.

Umschattige, s. v. w. Periscii, s. Amphiscii.

Umschlag, s. Bähung.

Umschlag (Umschlagsrecht, Umladungsrecht), ehemals das Recht einzelner Ortschaften (Umschlagsplätze), die zu Wasser oder auch zu Land angekommenen Waren nur durch eigne Fuhrleute oder Schiffer weiter zu spedieren (vgl. Stapelgerechtigkeit). Die heutigen Umschlagsplätze sind nicht Plätze, welche Vorrechte genießen, sondern an denselben findet ein U. statt infolge der zwischen Eisenbahn- und Schiffahrtsverkehr eingetretenen Tarifkombinationen.

Umfchreibebanken, s. v. w. Girobanken.

Umschrieben (zirkumskript), deutlich begrenzt, im Gegensatz zu verschwommen (z.B. von Geschwüren).

Umstadt, s. Großumstadt.

Umstandswort, s. Adverbium.

Umsteuerung, s. Steuerung.

Umtrieb (Umtriebszeit), in der Forstwirtschaft der Zeitraum des mit einmaliger Abnutzung des Holzvorrats verbundenen Hiebsumlaufs in einem derselben Bewirtschaftungsart überwiesenen Wald. Bei regelmäßigem Alters- und Bestockungszustand ist die Umtriebszeit gleich dem Haubarkeitsalter, d.h. dem Abtriebsalter eines hiebreifen Bestandes oder gleich dem Zeitraum von der Bestandsbegründung bis zum Bestandsabtrieb. Wichtigste Umtriebsarten: 1) Technischer U., d.h. derjenige Umtrieb, welcher Holz in einer für den technischen Gebrauch am meisten geeigneten Beschaffenheit liefert. 2) U. des größten Massenertrags, derjenige U., welcher die größte Menge an Holz liefert. Für denselben ist der zuletzt noch eingetretene Jahreszuwachs gleich dem durchschnittlichen, d.h. gleich der Holzmenge des Bestandes, dividiert durch dessen Alter. 3) U. des größten Waldreinertrags, derjenige U., bei welchem für die Flächeneinheit der durchschnittlich jährliche Überschuß der Einnahmen über die Ausgaben für Kulturen und Verwaltungen am größten ist. Bei Bestimmung desselben wird keine Rücksicht auf die Zeitunterschiede in Bezug der Einnahmen und in der Verausgabung

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Una corda - Uneheliche Kinder.

der Kosten genommen. Ein späterer Eingang wird u der gleichen Höhe verrechnet wie ein solcher, welcher früher erfolgt, es werden also keine Zinsen unter die Kosten der Wirtschaft gestellt. 4) Der finanzielle U., derjenige, für welchen die diskontierte Summe der in Aussicht stehenden Reinerträge oder der Walderwartungswert, bez. der Bodenerwartungswert am größten ist. Bei demselben ist ein Bestand dann finanziell abtriebsreif, wenn der in der nächsten Zeit zu erwartende, im Sinken begriffene Wertzuwachs gerade noch ausreicht, um die in dieser Zeit erwachsenden Kosten mit Einschluß aller Kapitalzinsen zu decken. Könnte z. B. ein 1oojähriger Bestand zu 4ooo Mk. verwertet werden, und ist das Bodenkapital zu 200 Mk. oder, bei einem Zinssatz von 3 Proz., die Bodenrente zu 6 Mk. zu veranschlagen, so müßte der Bestand, wenn er noch weiter stehen bleiben soll, im nächsten Jahr einen Zuwachs haben, welcher die lausenden Kosten, die Bodenrente mit 6 Mk. und die Zinsen des Bestandkapitals mit 120 Mk. deckt. Die Bestimmung des Unitriebs ist deswegen schwer, weil das zu erziehende Holz erst in späterer Zeit nutzbar wird, also immer mit Bedürfnissen und Preisen der Zukunft gerechnet werden muß. Im großen und ganzen wird der U. sich in den Grenzen halten müssen, innerhalb deren für die Dauer eine wirklich marktfähige Ware geliefert werden kann. Vgl. Waldwertberechnung.

Una corda (ital.), f. Corda.

Uualaschka, s. Aleuten.

Unam sanctam (lat.), Anfangsworte der von Papst Bonifacius VIII. (s. d.) im November 1302 erlassenen Bulle, in welcher er dem päpstlichen Stuhl die unumschränkte Weltherrschaft zusprach. Vgl. Berchtold, Die Bulle U. S. (Münch. 1887).

Uuanïm (lat.), einmütig, einstimmig; Unanimitat, Einstimmigkeit.

Unau, s. Faultier.

Unbefahren Volk, s. Befahren Volk.

Unbefleckte Empfängnis, s. Marienfeste.

Unbekannte Größen, in der Algebra Bezeichnung der Größen, welche aus den bekannten durch Auflösung der aus der Aufgabe sich ergebenden Gleichungen zu berechnen sind. S. Gleichung.

Unbestimmte Zahl (abstrakte Zahl), der abstrakte Begriff einer bestimmten Vielheit, ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der einzelnen diese Vielheit konstituierenden Einheiten, z. B. 6, im Gegensatz zur benannten oder konkreten Zahl, welche das Vielfache einer bestimmten Einheit ist, z. B. 6 m.

Unbestrichener Raum, s. Bestreichen.

Unbewaffnet (unbewehrt), in der Heraldik ein Wappentier ohne seine natürlichen Waffen, z. B. ein Adler ohne Krallen, ein Löwe ohne Klauen, ein Eber ohne Hauer etc.

Unbewegliche Sachen, s. Sachen.

Unbotmäßigkeit, s. Widersetzlichkeit.

Uncaria Schreb. (Gambirstrauch), Gattung aus der Familie der Rubiaceen, kletternde Sträucher mit kurzgestielten Blättern, meist einzeln achselständigen, gestielten, lockern, kugeligen Blütenständen, deren Stiel bei verkümmerten Blüten bisweilen in eine Ranke umgewandelt ist, mittelgroßen, gelblichen, rötlichen oder weißlichen Blüten und großen, verlängerten Kapseln. Etwa 30 Arten, meist im tropischen Asien und auf den Malaiischen Inseln. U. Gamir Roxb. ist ein Strauch mit 9 cm langen, ovallanzettförmigen, kurz zugespitzten, kahlen Blättern, kurzgestielten Blütenköpfen und rosenroten Blüten. Die ältern Blütenstiele sind in hakenförmige Stacheln umgewandelt, mittels welcher der Strauch hoch klettert. Er findet sich in Hinterindien und auf der indischen Inselwelt, besonders auf Sumatra, und wird namentlich auf Bintang kultiviert, wo man aus den Blättern und jüngern Trieben das Gambirkatechu bereitet. Die Sträucher werden in Plantagen gezogen und vom 3.-15. Jahr ausgenutzt, indem man die jungen beblätterten Zweige zwei bis viermal im Jahr schneidet, mit Wasser auskocht und die Flüssigkeit eindampft. Auch U. acida Roxb., mit etwas größern, eiförmigen, länger zugespitzten Blättern und weißen Blüten, in Hinterindien und auf den Malaiischen Inseln, liefert Katechu.

Uncia (lat.), der 12. Teil des As (s. d.); Apothekergewicht und Maß für Flüssigkeiten, s. Unze.

Uncialbuchstaben, meist nur zu Inschriften verwendete Charaktere, ihrer Größe wegen so genannt vom lateinischen uncia (Zoll); doch finden sie sich auch in lateinischen Manuskripten vom 3.-10. Jahrh., wo sie indes gegen Ende dieses Zeitraums schon in die kleinern Semi-Uncialen oder Litterae minutae übergehen, die sich von den eigentlichen U. (litterae majusculae) auch dadurch unterscheiden, daß sie nicht vereinzelt stehen, sondern sich aneinander anschließen. In der Buchdruckerkunst nennt man U. große Anfangsbuchstaben ohne Verzierung.

Uncle Sam (engl.), scherzhafte Bezeichnung der Nordamerikaner, entstanden aus dem offiziellen U. S. Am., Abkürzung für United States of America.

Undation(lat.), Wellenschlag, wellenförmiger Herzschlag.

Undezime (lat.), Intervall von elf Stufen, die Quarte der Oktave des Grundtons (z. B. c-f).

Undinen (Undenen, v. lat. unda, Welle), im System der Paracelsisten weibliche Elementargeister des Wassers, die sich mit Vorliebe unter den Menschen einen Gatten suchen, weil sie mit aus solcher Ehe gebornen Kindern zugleich eine Seele erhalten sollen. Die Undinensagen sind vielfach dichterisch behandelt worden, z. B. im alten Roman von der Melusine (s. d.) vom Ritter Staufenberg (neu gedichtet von Fouque), und haben in neuerer Zeit auch den Stoff zu mehreren Opern geliefert. Vgl. Nixen.

Undfee (Und ofero), See im russ. Gouvernement Olonez, Kreis Pudosh, 83 qkm (1 1/2 QM.) groß, verliert in manchen Jahren sein Wasser durch unterirdische Abflüsse fast gänzlich.

Und sie bewegt sich doch, s. Eppur si muove.

Undulation (lat.), s. v. w. Wellenbewegung (s. d.); Undulationstheorie, s. Licht.

Uudurchdringlichkeit, diejenige Eigenschaft aller physischen Körper, vermöge welcher sie einen Raum so erfüllen, daß in demselben zu gleicher Zeit kein andrer sein kann.

Undurchsichtigkeit, s. Durchsichtigkeit.

Uneheliche Kinder (natürliche Kinder, Spurii), diejenigen Kinder, die in einem Geschlechtsverhältnis, welches die Weihe der Ehe nicht empfangen hat, erzeugt sind. Sie haben juristisch keinen Vater und keine väterlichen Aszendenten, teilen Rang, Stand und Gerichtsstand der Mutter und führen deren Namen. Die neuere Gesetzgebung hat ihnen vielfach das Recht beigelegt, von dem natürlichen Vater den unentbehrlichen Unterhalt zu fordern; das französische Recht schneidet ihnen dies mit dem Satz ab: "Toute recherche de paternité est interdite" (s. Schwängerungsklage). Das deutsche Recht betrachtete die unehelichen Kinder als mit einer sogen. levis notae macula behaftet, d. h. sie unterlagen der "Anrüchigkeit" (s. d.), infolge deren sie für unfähig gehalten

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Unehrliche Gewerbe - Unfallversicherung.

wurden zum Eintritt in Zünfte, zur Ordination und zum Lehnserwerb. Doch konnte dieser Makel durch wirkliche und durch die jetzt unpraktische unvollkommene Legitimation (legitimatio ad honores) gehoben werden (s. Legitimation). Vgl. Bender, Das uneheliche Kind und seine Eltern in rechtlicher Beziehung (Kassel 1887).

Unehrliche Gewerbe, s. v. w. anrüchige Gewerbe (s. Anrüchigkeit). Vgl. Beneke, Von unehrlichen Leuten (2. Aufl., Berl. 1888).

Unendlich, Prädikat eines Dinges, das entweder in Ansehung seiner Ausdehnung (räumlich oder extensiv), oder in Ansehung seiner Dauer (zeitlich oder protensiv), oder in Ansehung seiner Wirksamkeit (dynamisch oder intensiv) keiner Begrenzung unterworfen ist. Man unterscheidet unendlich groß (^) und unendlich klein: einer Größe kommt die erstere Benennung zu, wenn sie größer ist als jede angebbare Größe, wie z. B. die Summe der unendlichen Reihe 1+1+1+... = ^; dagegen die zweite, wenn sie der Null näher kommt als jede angebbare Größe, d. h. wenn sie in Null übergeht. Die Rechnung mit solchen Größen ist Gegenstand der Differential- und Integralrechnung (s. d.).

Uufähigkeitsprotest, s. Wechsel.

Uufallversicheruug, die Versicherung gegen die Folgen persönlicher Unfälle, sowohl körperlicher Verletzungen als auch des Todes. Diese Art der Versicherung hat eine hohe Bedeutung für den Arbeiterstand gewonnen. Wie die Besonderheiten des Arbeiterlebens überhaupt zu verschiedenen Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen des privaten Versicherungswesens zwingen (Zulässigkeit, Notwendigkeit des Zwanges, Schwierigkeit allgemeiner Durchführung schon wegen der Zahlungsunfähigkeit bei Erwerbslosigkeit; Beiziehung von Arbeitgebern und zwar zum Teil schon aus dem Grund, weil der Lohn für die Prämienzahlung nicht vollständig zureicht; besondere Vorzüge der genossenschaftlichen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Kassen etc.), so sind solche Abweichungen insbesondere auch bei der U. geboten. Ursache von körperlichen Verletzungen und Tötungen, welche während der Arbeit und in Verbindung mit derselben eintraten, kann sein eine menschliche Verschuldung (eigne Schuld, Schuld Dritter, insbesondere des Arbeitgebers, eines Beamten oder Mitarbeiters), oft aber auch liegt eine solche Verschuldung nicht vor, oder sie ist wenigstens nicht nachweisbar (Naturgefahren, "Zufall", "höhere Gewalt"). Nach römischem Recht und dem gemeinen Rechte der meisten Kulturländer erwächst bei Unfällen ein Anspruch auf Entschädigung nur gegenüber demjenigen, welcher den Schaden verschuldet hat. So haftet der Arbeitgeber nur für eigne Schuld und für diejenige seiner Leute, deren er sich bei dem Betrieb bedient, nur insofern, als ihm eine Verschuldung bei Wahl oder Beibehaltung derselben zur Last fällt. Hierbei ist der Begriff der Verschuldung ganz bedingter Natur, insbesondere abhängig unter anderm auch vom Stande der Technik, vom üblichen, Herkömmlichen etc. Dem Verletzten liegt die Beweislast ob. Bei den meisten Unfällen wird er nichts erhalten und selbst dann leer ausgehen, wenn die Verschuldung eines Haftpflichtigen zwar nachgewiesen werden kann, letzterer aber nicht zahlungsfähig ist.

Strenger als in den gedachten Ländern wird die Haftpflicht in Frankreich aufgefaßt. Hier wurde die römisch rechtliche Verschuldung in der Auswahl und Überwachung der Leute schon im 18. Jahrh. dahin gedeutet, eine solche Verschuldung sei immer von vornherein zu vermuten. Denn es sei Pflicht des Herrn, sich überhaupt nur guter Arbeiter zu bedienen. Diese für den Beschädigten günstigere Rechtsauffassung fand in erweitertem Umfang in der preußischen Eisenbahngesetzgebung von 1838 Eingang. Eine weitere Besserung in der Lage vieler Arbeiter in Deutschland wurde durch das Haftpflichtgesetz von 1871 bewirkt, welches die Zahl der Fälle vermehrte, in denen dem Arbeiter ein Ersatz zugestanden wird. Bei Eisenbahnen haftet nach diesem Gesetz der Betriebsunternehmer, wenn er nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eignes Verschulden des Verletzten hervorgerufen wurde. Da ein derartiger Nachweis meist gar nicht oder nur schwer zu erbringen ist, so trugen die Eisenbahnen die Schäden selbst, oder sie bildeten unter sich einen Unfallversicherung verband mit Versicherung auf Gegenseitigkeit. Weniger günstig wurde die Lage der Geschädigten bei Bergwerken, Steinbrüchen, Gräbereien und Fabriken. Hier wurde die Haftpflicht nur in der Art erweitert, daß der Unternehmer nicht allein für eigne Schuld einstehen muß, sondern auch für diejenige seiner Bevollmächtigen oder Vertreter, wie überhaupt der Personen, welche er für Leitung und Beaufsichtigung des Betriebs oder der Arbeiter angenommen hat. Für alle übrigen Arbeiter kamen die Bestimmungen des gemeinen Rechts in Anwendung. Das genannte Haftpflichtgesetz gab den Anstoß zur Errichtung von Unfallversicherungsanstalten, welche sich ausschließlich mit der U. als Kollektivversicherung befaßten oder dieselbe neben andern Versicherungszweigen betrieben, nachdem freilich schon vorher die Einzelversicherung (insbesondere in der Form der Reiseunfallversicherung) als Ergänzung der Lebensversicherung für Fälle vorübergehender Erwerbsstörung und der Invalidität vielfach vorgekommen war. In Deutschland und der Schweiz gab es bald zwölf solcher Anstalten, darunter sechs Aktiengesellschaften und sechs Gegenseitigkeitsanstalten. Von erstern befassen sich mit der U. vorzüglich die Magdeburger Allgemeine Versicherungsgesellschaft, die Kölnische Unfallversicherungsgesellschaft und die Rhenania zu Köln, dann die Magdeburger Lebensversicherungsgesellschaft, die Schlesische zu Breslau und die Viktoria zu Berlin. An Gegenseitigkeitsgesellschaften bestehen nur noch der Allgemeine Deutsche Versicherungsverein zu Stuttgart und der Prometheus zu Berlin. Österreich hat eine Erste Allgemeine Unfallversicherungsaktiengesellschaft zu Wien, die Schweiz zwei Gesellschaften zu Zürich und Winterthur, welche neben der Baseler Lebensversicherungsgesellschaft und der Brüsseler Royale Belge ihre Wirksamkeit auch auf Deutschland erstrecken. Die U. war zum Teil eine Haftpflichtversicherung, indem sie nur solche Schäden berücksichtigte, für welche Unternehmer auf Grund des Haftpflichtgesetzes ihren Arbeitern gegenüber haftbar waren, meist aber wurde im Interesse der Vereinfachung und der Meidung von Prozessen die Ausdehnung auch auf die nicht haftpflichtigen Unfälle vorgezogen. Da kein Zwang zur Versicherung bestand und die U. eine ungleichmäßige war, so wurde das Haftpflichtgesetz, welches überdies nur für einen beschränkten Kreis von Arbeitern galt, bald als ungenügend empfunden (vgl. hierüber Haftpflicht, S. 1004). Infolge hiervon wurde die U. der Arbeiter durch Reichsgesetze einer öffentlichrechtlichen Regelung unterzogen, nachdem die Reichsregierung vorher, um brauchbare statistische Unterlagen zuschaffen, in den vier Monaten August bis November 1881 aus 93,554 gewerblichen Betrieben mit 1,615,253 63

Meyers Konv. Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Unfallversicherung (deutsche Reichsgesetze von 1884 bis 1887).

männlichen und 342,295 weiblichen Arbeitern statistische Erhebungen veranstaltet und damit den Grund zu einer umfangreichen, in Zukunft weiter auszubauenden Unfallstatistik gelegt hatte. Zunächst erschien das (industrielle) Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Dasselbe erstreckt den Versicherungszwang auf Arbeiter und Betriebsbeamte und zwar auf letztere, sofern ihr Jahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 Mk. nicht übersteigt, in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen, Gräbereien (Gruben), auf Werften und Bauhöfen, in Fabriken und Hüttenwerken, ferner in Unternehmungen, deren Gegenstand die Ausführung von Maurer, Zimmer, Dachdecker, Steinhauer und Brunnenarbeiten ist, im Schornsteinfegergewerbe sowie in allen sonstigen Unternehmungen, in welchen Dampfkessel oder durch elementare Kraft bewegliche Triebwerke zur Verwendung kommen. Durch Gesetz vom 25. Mai 1885 wurde die gesetzliche U. aus die großen Transportbetriebe des Binnenlandes sowie die Betriebe des Heers und der Marine, der Speicherei, Kellerei etc., durch Gesetz vom 15. März 1886 auf Beamte und Personen des Soldatenstandes ausgedehnt. Das Gesetz vom 5. Mai 1886 regelte hierauf U. und Krankenversicherung für die in land - und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen, das Gesetz vom 11. Juli 1887 die U. der bei Bauten beschäftigten Personen und endlich das Gesetz vom 13. Juli d. J. diejenige der Seeleute und andrer bei der Seeschiffahrt beteiligter Personen.

Nach dem Gesetz von 1884 kann durch statutarische Bestimmung die Versicherungspflicht auch auf Betriebsbeamte mit höherm Jahresarbeitsverdienst ausgedehnt werden, dann kann durch Statut bestimmt werden, daß und unter welchen Bedingungen Unternehmer der versicherungspflichtigen Betriebe berechtigt sind, sich selbst oder andre nicht versicherungspflichtige Personen gegen die Folgen von Unfällen zu versichern (fakultative Versicherung). Das Gesetz sieht von der Frage der Verschuldung zunächst ab. Es schließt einen Anspruch des Verletzten nur dann aus, wenn derselbe den Betriebsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Die Versicherung ist genossenschaftlich organisiert und zwar derart, daß Unternehmer, welche einem oder mehreren verwandten Berufen angehören, mit der räumlichen Ausdehnung über das ganze Reich oder auch nur über Teile desselben Berufsgenossenschaften bilden, welche innerhalb des gesetzlichen Rahmens ihre Angelegenheiten durch ein zu errichtendes Genossenschaftsstatut regeln und dieselben durch Generalversammlung und selbstgewählten Vorstand verwalten. Damit die Verwaltung nicht zu schwerfällig werde, können die Genossenschaften, welche sich über größere Bezirke ausdehnen, durch Statut die Einteilung in Sektionen sowie die Einsetzung von Vertrauensmännern als örtliche Genossenschaftsorgane vorschreiben, welche vorgekommene Unfälle untersuchen, insbesondere auch bei Aufstellung von Vorschriften zur Verhütung von Unfällen thätig sein sollen. Die Gesamtzahl aller versicherten Personen bezifferte sich 1886 auf 3,725,313; es gab:

Berufsgenossenschaften Reichs- und Staatsbetriebe

Zahl der Betriebe 269174 -

Zahl der versicherten Personen:

a) Unternehmer 2686 -

b) Durchschnittlich beschäftigte

Betriebsbeamte u. Arbeiter 3467619 251878

c) Sonstige 3180 -

Im J. 1887 zählte man 62 Berufsgenossenschaften und 366 Sektionen mit 319,453 Betrieben und 3,861,560 versicherten Personen; dazu kamen 47 Reichs- und Staatsbetriebe mit 259,977 Personen. An Entschädigungen wurden 1887 bezahlt von den Berufsgenossenschaften: 5,373,496 Mk., von den Kassen der Reichs und Staatsbetriebe: 559,434 Mk. Nach der Zahl der versicherten Personen waren die größten Genossenschaften mit mehr als 100,000 Personen die Zur Wahrung ihrer Interessen haben die Genossenschaften einen Verband gebildet, welcher 1887 den ersten Genossenschaftstag in Frankfurt a. M. abhielt.

Zahl der

Betriebe versichert. Pers.

Knappschafts-Berufsgenossenschaft 1658 343707

Ziegelei-Berufsgenossenschaft 10135 174995

Zucker-Berufsgenossenschaft 455 127200

Sächsische Baugewerks-Berufsgenossensch. 7272 116987

" Textil-Berufsgenossenschaft 2721 116007

Norddeutsche Textil-Berufsgenossenschaft 2096 104942

Unter 14,000 Personen hatten die

Sächsische Holz- Berufsgenossenschaft 103l 13943

Bayrische Holzindustrie-Berufsgenossensch. 1855 13420

Westdeutsche Binnenschiffahrt-B. 2839 11935

Berufsgenossenschaft der

Schornsteinfegermeister des Deutschen Reichs 3044 5452

Die Genossenschaften stehen unter staatlicher Aufsicht, und zwar wurde ein eignes Reichsversicherungsamt in Berlin errichtet, welches aus dreiständigen, vom Kaiser ernannten Beamten, vier Mitgliedern des Bundesrats und je zwei Vertretern der Unternehmer und der versicherten Arbeiter zusammengesetzt ist. Für Berufsgenossenschaften, deren Gebiet nicht über die Grenze des Landes sich erstreckt, können besondere Landesversicherungsämter errichtet werden. Von dieser Befugnis haben Sachsen und Bayern, neuerdings auch Baden, Württemberg und Mecklenburg Gebrauch gemacht.

Der gesetzliche Zwang kehrt sich nur gegen die Arbeitgeber, welche die Kosten der Versicherung zu tragen haben, und in deren Händen auch die Verwaltung liegt. Die Genossenschaften erheben alljährlich postnumerando die nach Maßgabe der Arbeiterzahl, der Lohnhöhe und der Gefahrenklasse bemessenen Beiträge auf dem Weg des Umlageverfahrens. Die Post besorgt die nötigen Zahlungen verlagsweise ohne Anrechnung von Kosten. Außer dieser Beihilfe leistet das Reich eine solche noch insofern, als leistungsunfähige Berufsgenossenschaften vom Bundesrat aufgelöst werden können und ihre Rechtsansprüche und Verpflichtungen auf das Reich übergehen, bez. auf die Bundesstaaten, welche ein eignes Landesversicherungsamt errichtet haben. Die versicherten Arbeiter haben nur Rechte auf Entschädigung im Fall eintretender Verunglückung. Solche Entschädigungen gewährt aber die Kasse der Berufsgenossenschaft erst nach Verlauf von 13 Wochen (Karenzzeit). In dieser Zeit haben die Krankenkassen einzutreten mit der Maßgabe, daß das Krankengeld von der 5. Woche ab auf Kosten des Unternehmers um 1/3 erhöht wird. Die Leistungen der Genossenschaftskasse bestehen in Gewährung einer Rente im Betrag von 3 des letzten Jahresverdienstes, welche bei nur teilweise verminderter Erwerbsfähigkeit entsprechend erniedrigt wird. Im Fall der Tötung ist Ersatz der Beerdigungskosten, dann eine Rente an die Witwe im Betrag von 20 Proz. des Jahresverdienstes, an unerwachsene Kinder (im Höchstbetrag von 60 Proz. an Witwen und Waisen zusammen), bez. auch an Aszendenten, deren einziger Ernährer der Verunglückte war, zu gewähren. Der zu leistende Schadenersatz wird von den

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Unfehlbarkeit - Ung.

Organen der Berufsgenossenschaft auf Grund vorausgegangener polizeilicher Untersuchung des Unfalls festgestellt, gegen diese Feststellung kann Berufung an ein Schiedsgericht, zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der Genossenschaft und Vertretern der versicherten Arbeiter unter Vorsitz eines öffentlichen Beamten bestehend, in schwereren Fällen noch Rekurs an das Reichsversicherungsamt ergriffen werden. 1886 wurden an Verletzte Entschädigungen gewährt:

bei Berufsgenossenschaften bei Staatsbetrieben

Erwachsene männlich 9104 814

" weiblich 332 3

Jugendliche unter 16 Jahren

" männlich 224 -

weiblich 43 -

Zusammen 9723 817

Das Haftpflichtgesetz ist zwar für die nach Maßgabe des Unfallversicherungsgesetzes versicherten Personen außer Kraft gesetzt, doch bleibt es für alle übrigen Personen bestehen, dann für Betriebsbeamte mit mehr als20o0Mk. Gehalt. Demgemäß hat denn auch die Privatversicherung ihre Bedeutung nicht ganz eingebüßt. Die U. für Arbeiter der Land- und Forst wirtschaft weicht von derjenigen für industrielle Arbeiter mehrfach ab. Durch Landesgesetzgebung kann die Versicherungspflicht auch auf Unternehmer erstreckt werden. Die als Entschädigung zu gewährende Rente wird nicht nach dem letzten Jahresverdienst des Verletzten, sondern nach dem durchschnittlichen Verdienst land u. forstwirtschaftlicher Arbeiter am Orte der Beschäftigung bemessen. Die Rente kann, wenn der Lohn herkömmlich ganz oder zum Teil in Naturalien entrichtet wurde, ebenfalls in dieser Form gewährt werden. In den ersten 13 Wochen nach Eintritt eines Unfalls hat die Gemeinde, sofern eine Krankenversicherung nicht vorliegt, für die Kosten des Heilverfahrens aufzukommen. Die Versicherung erfolgt durch Berufsgenossenschaften, welche für örtliche Bezirke zu bilden sind. - Außer in Deutschland besteht noch eine besondere Unfallgesetzgebung in England (Gesetz vom 7. Sept. 1880), in der Schweiz (Gesetz vom 25. Juni 1881, abgeändert durch Gesetz vom 26. April 1887) und in Österreich (Gesetz vom 28. Dez. 1887). Nach dem österreichischen Gesetz sind die versicherungspflichtigen Betriebe nur annähernd die gleichen wie nach dem deutschen Gesetz von 1884; im wesentlichen erstreckt es sich auf den industriellen Gewerbebetrieb. Die Versicherungsbeiträge werden nach einem von der Versicherungsanstalt aufzustellenden, staatlich zu genehmigenden Tarif bemessen. 10 Proz. derselben fallen dem Versicherten, 90 Proz. dem Unternehmer des versicherungspflichtigen Betriebs zur Last. Mit Rücksicht auf die Beitragsleistung der Arbeiter wurde die Karenzzeit auf nur vier Wochen festgesetzt. Die Versicherung erfolgt durch territoriale, auf Gegenseitigkeit beruhende Anstalten (Territorialsystem), neben welchen bei Erfüllung bestimmter Bedingungen als gleichberechtigt auch Privatanstalten und Berufsgenossenschaften zugelassen sind. Auf die Verwaltung übt der Staat einen weiter gehenden Einfluß aus als in Deutschland.

Vgl. Mucke, Die tödlichen Verunglückungen im Königreich Preußen (Berl. 1880); Woedtke, Kommentar zum Unfallversicherungsgesetz (3. Aufl., das. 1888); Derselbe, Die U. der in land und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen (2. Aufl., das. 1888); Just, Desgleichen (das. 1888); Nienhold, Die U. (Leipz. 1886); Döhl, Die U. (das. 1886); Hahn, Haftpflicht und U. (das. 1882); Schloßmacher, Die öffentlichrechtliche U. im Zusammenhang mit der Sozialreform (Mind. 1886); Ertl, Das österreichische Unfallversicherungsgesetz (Leipz. 1887); Becker, Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nach Verletzungen (Berl. 1887); Stupp, Handbuch zur U. (Sammlung der Verordnungen, Entscheidungen etc., 3. Jahrg., Münch. 1888); Schmitz, Sammlung der Bescheide, Beschlüsse und Rekursentscheidungen des Reichsversicherungsamtes (Berl. 1888); Lutscher, Die Unfall-Statistik der Berufsgenossenschaften und ihr Einfluß auf die Beiträge der Mitglieder (Düffeld. 1889); Platz, Die Unfallverhütungsvorschriften (Berl. 1889). Zeitschrift: "Die Arbeiterversorgung" (hrsg. von Schmitz, das., seit 1884), in welcher auch die Entscheidungen der Landesversicherungsämter veröffentlicht werden.

Unfehlbarkeit, s. Infallibilität.

Unform, Pflanzen, s. Amorpha.

Unfruchtbarkeit (Sterilität), die beim Weib vorkommende Unfähigkeit, Kinder zu gebären. Die Ursachen sind entweder in mangelhafter Bildung der Eier infolge fehlerhafter Anlage, hohen Alters oder Erkrankung der Eierstöcke zu suchen, oder in krankhafter Beschaffenheit der Eileiter, oder vor allem in chronisch entzündlichen Veränderungen, Verlagerung oder Knickungen der Gebärmutter (s. Zeugungsvermögen). Die erste Gruppe von Fällen ist unheilbar, was besonders von gerichtlichmedizinischer Bedeutung ist, die zweite Gruppe ist das wesentliche Feld der Thätigkeit für die Frauenärzte und bietet namentlich bei chirurgischer Behandlung oft glänzende Erfolge. Vgl. Beigel, Pathologische Anatomie der weiblichen U. (Braunschw. 1878); May rhofer, Sterilität etc. (Stuttg. 187882); Duncan, Sterilität bei Frauen (deutsch von Hahn, Berl. 1884); P. Müller, Die U. der Ehe (Stuttg. 1885); Kisch, Die Sterilität des Weibes (Wien 1886).

Unfug, Störung der öffentlichen Ordnung; ungebührliche Belästigung des Publikums. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 360, Ziff. 11) bedroht groben U. mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Haft bis zu sechs Wochen. Die Praxis der Gerichte faßt den Begriff dieser Übertretung sehr weit und beschränkt ihn keineswegs nur auf eigentliche Ruhestörungen. Beschimpfender U., an Zeichen der öffentlichen Autorität, in Kirchen oder andern zu religiösen Versammlungen bestimmten Orten oder an Gräbern verübt, ist mit besondern Strafen bedroht. Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, 103a, 135, 166, 168.

Unfundiert, Gegensatz zu fundiert (s. Fundieren). Unfundierte Schuld, s. v. w. schwebende Schuld, s. Staatsschulden, S. 203.

Uug (Ungh), ungar. Komitat am rechten Theißufer, zwischen Galizien und den Komitaten Zemplin, Szabolcs und Bereg, umfaßt 3053 qkm (55,4 QM.), ist im N. und O. gebirgig (Vihorlatgebirge und Ostbieskiden) und teilweise (ein Drittel) wildreiches Waldland, im S. dagegen eben und zum Teil auch sumpfig. U., das von der Latorcza, der Laborcza, dem in letztere mündenden Fluß U. und vielen Nebenflüssen desselben bewässert wird, ist nur im S. und zum Teil auch in den Thälern fruchtbar (Roggen, Hafer, Hanf und auch Wein) und hat (1881) 126,707 meist ruthenische, ungarische und slowak. Einwohner (griechischer, unierter und kath. Konfession). Sitz des Komitats ist die Stadt Ungvár (ehemals Festung), Station der Ungarischen Nordostbahn (Nyiregyhaza Ungvár), am Fluß U., Sitz desunkacser griechisch-uniert-ruthenischen Bischofs- und Domkapitels, mit prächtiger Hauptkirche, Nonnen-

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Ungamabai - Ungarische Litteratur.

kloster, (1881) 11,373 Einw., Seminar, Lehrerpräparandie, kath. Obergymnasium, Bibliothek, Waiseninstitut, Bezirksgericht, Oberforstamt, Mineralquelle und Porzellanerdegruben.

Ungamabai (Formosabai), weite, offene Bucht an der Küste Ostafrikas, am Nordende des Sansibar zugehörigen Küstenstrichs, im N. von Witu begrenzt, in der Tiefe derselben mündet der Tanafluß. Die U. bietet selbst für größere Seeschiffe bis nahe am Land guten Ankergrund und ist ein Stationspunkt der britischen gegen den Sklavenhandel in Ostafrika kreuzenden Fahrzeuge; 1867 wurden die an ihr liegenden Ortschaften von den Galla zerstört.

Uugarisch-Alteuburg (Magyar-Óvar), Markt im ungar. Komitat Wieselburg, an der Leitha und der Kleinen Donau, Sitz des Komitats und Hauptort einer Domäne des Erzherzogs Albrecht, hat 2 Klöster, (1881) 3427 Einw. (meist Deutsche), eine landwirtschaftliche Akademie, Musterlandwirtschaft, Bierbrauerei, Dampfmühle und Bezirksgericht.

Uugarisch-Brod, Stadt in Mähren, an der Eisenbahn Brünn-Vlarapaß, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, an der Ölsawa, mit Mauern und Graben umgeben, hat einen Dominikanerkonvent, ein fürstlich Kaunitzsches Schloß, eine Zuckerfabrik und (1880) 4435 Einw. (646 Juden).

Ungarische Litteratur. Die Litteratur der Ungarn ist eine verhältnismäßig sehr junge. Ihre ununterbrochene Existenz und Entwickelung erstreckt sich kaum über einen Zeitraum von 110 Jahren; sie datiert eigentlich erst vom Jahr 1772, und ihre Geschichte bis zu diesem Jahr läßt sich in wenige Bemerkungen zusammenfassen. Als die Magyaren um 894 aus der südrussischen Ebene in Ungarn einbrachen, waren sie ein barbarisches Nomadenvolk ohne jegliche Litteratur, mit Ausnahme jener Lieder und Heldensagen, deren auch der wildeste Stamm nicht völlig entbehrt. Allein auch als sie in Ungarn seßhaft geworden waren, sich zum Christentum bekehrt und aus Deutschland, Byzanz und Italien eine ziemlich ansehnliche Kultur erhalten hatten, regte sich in ihnen noch wenig schöpferische litterarische Neigung. Alles, was von dem magyarischen Schrifttum bis zum 16. Jahrh., also binnen sieben Jahrhunderten des europäischen Daseins der Magyaren, auf uns gekommen ist, beschränkt sich auf eine "Grabrede" ("Halotti beszed", das älteste Sprachdenkmal der Magyaren, aus dem Ende des l2. oder dem Anfang des 13. Jahrh.), auf ein Marienlied, auf ein Gebet aus dem 13. Jahrh., ein "Leben der heil. Margarete" (Tochter des Arpadenkönigs Bela IV.), eine verifizierte Biographie der heil. Katharina von Alexandria (mutmaßlich eine Übersetzung) und einige fragmentarische Bibelübersetzungen und Schriften theologischen Inhalts. Aus dem Ende des 14. oder dem Anfang des l5. Jahrh. stammt das älteste historische Lied über die "Geschichte der Eroberung Pannoniens durch die Magyaren". Einen blühenden Aufschwung nahm die magyarische Litteratur während der Reformationszeit. Im 16. Jahrh. treten uns auch zum erstenmal zwei etwas deutlicher individualisierte Poetenphysiognomien entgegen: die des Sebastian Tinody (Geburtsjahr unsicher, starb um 1559), eines fahrenden Sängers, dessen Lieder Reimchroniken der Kämpfe Ungarns gegen die Türken bilden, und des Barons Valent in Balassa (1551-94), der über den Verfall Ungarns klagte, und dessen Gedichte, namentlich die jüngst entdeckten lyrischen "Blumengedichte, Feuer und Leidenschaft, Reichtum an Phantasie und Gewandtheit der Sprache bekunden. In demselben Jahrhundert gelangte die romantische Dichtung, die im Westen bereits ausgelebt hatte und gerade durch die unsterbliche Satire des Cervantes für ewige Zeiten eingesargt worden war, nach Ungarn, das so spät eine ganze Reihe von Romanen und Gedichten entstehen sah, in welchen die alten Ritter und Abenteuergeschichten des frühen Mittelalters zu einem wunderlich anachronistischen verspäteten Dasein wiedererwachten. Diese Litteratur, teils Nachahmung, teils Übersetzung ohne jeden Wert, ohne jede Originalität und ohne das geringste nationale Eigengepräge, war quantitativ nicht unansehnlich ("Geschichte der Gismunda", von Georg Enyedi; "König Voltér und Griseldis" von Peter Iftvánfi; "König Argirus und die Feenjungfrau" von Albert Gergei; "Schöne Geschichte von der Freundschaft zweier edler Jünglinge", von Kaspar Veres; "Die schöne Magellone" und "Fortunatus", beide von Heltai [?] und zahlreiche andre), und ihre einzelnen Werke erhielten sich zum Teil bis in die Gegenwart als Volksbücher, die in schlechten, billigen Drucken auf allen Jahrmärkten feilgeboten werden. Bemerkenswert ist endlich die Originaldichtung des Peter Ilosway über den halbhistorischen magyarischen Riesen und Volkhelden "Niklas Toldi" (1574) und die "Geschichte von Szilagyi und Hajmasi" (1571), der ebenfalls ein historisches Faktum zu Grunde liegt. Das 17. Jahrh. produzierte den ersten namhaften Kunstdichter Ungarns, den Grafen Nikolaus Zrinyi (161664), den Enkel des heldenmütigen Verteidigers von Szigetva, dessen Hauptwerk, ein Epos in 15 Gesängen, "Obsidio Szigetiana" betitelt, die Verherrlichung der Waffenthat seines Ahns zum Gegenstand hat. Das Gedicht, das sich bemüht, Tassos "Befreites Jerusalem" nachzuahmen, zeigt trotz seiner rohen, keiner Nüancierung fähigen Sprache dennoch an vielen Stellen Kraft und Schwung. Zeitgenossen Zrinyis waren Baron Ladislaus Liszti (geboren um 1630, Todesjahr unbekannt), der ein Epos: "Cladis Mohachina", und Stephan Gyöngyösi (1620-1700), der das Gedicht "Die Venus von Murany" schrieb, beides Werke, welche (wie das ihnen zum Muster dienende Heldengedicht Zrinyis) Episoden aus der ungarischen Geschichte jener Zeit in oft banaler und handwerksmäßiger Weise behandeln. Neben diesen Dichtungen brachte das 17. Jahrh. zahlreiche theologische Streitschriften hervor, unter welchen die Werke des Gegenreformators Pazmany (s. d.) die weitaus bedeutendsten sind. So gelangen wir ins 18.Jahrh. Damals war es um das Geistesleben des magyarischen Stammes traurig bestellt; die Türkenherrschaft, erst 1699 endgültig beseitigt, hatte das Land als Einöde und in tiefster Barbarei zurückgelassen. Die wenigen Schulen, die diesen Namen verdienten, waren ausschließlich in den Händen der Geistlichkeit. Die Sprache der Verwaltung, der Rechtspflege, des Unterrichts war die lateinische, die Umgangssprache der höhern und mittlern Klassen die deutsche oder französische. Das magyarische Idiom besaß weder eine wissenschaftliche noch eine schöngeistige Litteratur; dennoch gab es auch in dieser Zeit einige nennenswerte Dichter und Schriftsteller in ungarischer Sprache. So den namhaften Lyriker Franz Faludi (1704-79), den Kirchenliederdichter Paul v. Raday (1677-1733), den Sänger weltlicher Lieder Baron Ladislaus Amade (1703-64) u. a. Auch blühte in dieser Zeit das magyarische Schuldrama. Allerdings übten diese litterarischen Erzeugnisse nur geringen Einfluß auf die breitern Schichten der Gesellschaft. Da erfolgte von andrer Seite ein kräftiger Reformversuch. Die Kaiserin Maria Theresia gründete (1760) die ungarische adlige Leibgarde, be-

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Ungarische Litteratur (Belletristik).

gabte junge Magyaren kamen als Gardisten nach Wien und mit einer höhern Kultur in Berührung, sie lernten die Bildung und die Literaturen des Westens kennen und empfanden erst angesichts dieser glänzenden Beispiele die tiefe geistige Erniedrigung, in die ihr Volksstamm gesunken war. Sie schämten sich ihrer Barbarei und beschlossen, die Regeneratoren ihres Volkes zu werden. Die Gardisten thaten sich zusammen und schufen in klarer, bestimmter Absicht eine magyarische Schriftsprache und eine magyarische Nationallitteratur. Allerdings gab es unter diesen Gardisten keine wahren poetischen Talente; sie schrieben nicht, um einem dichterischen, sondern um einem patriotischpolitischen Drang zu genügen, und sie beschränkten sich der Mehrzahl nach darauf, die berühmtern Werke alter und neuerer fremder Schriftsteller in magyarischer Sprache mehr oder minder glücklich nachzuahmen. Die nennenswertesten unter diesen verdienstvollen Gardisten, welche die Gründer der modernen magyarischen Litteratur wurden, sind Georg Bessenyei (1752-1811), Abraham Barcsay (1742-1806), Alexander Baróczy (1737-1809) u. a. Früh teilten sich die Gardisten und ihre Gesinnungsgenossen außer der Garde in drei Schulen. Die französische (Bessenyei, Barcsay, Anyos, Graf Joseph Teleki, Jos. Péczeli, Baróczy) ahmte Voltaire, Racine, Wieland etc. nach; die klassische (David Baróti Szabo, Nikolaus Révai, Joseph Rajnis, Ben. Virág) hielt sich an das Muster der Alten, und nur die volkstümliche (A. Dugonics, A. Paloci Horváth, Graf I. Gvadányi) machte den schüchternen Versuch, national und selbständig zu sein. Den ersten Bahnbrechern folgte eine Schriftstellergeneration, deren Hervorbringungen bereits wesentlich höher stehen. Joseph Kármán (1771-98) schrieb seinen sentimentalen Roman "Fannys Hinterlassenschaft", der Aufsehen erregte; Michael Csokonai (1773-1805) dichtete das komische Epos "Dorothea", die Satire "Froschmäusekrieg", einige Lustspiele, die Anlauf zur Selbständigkeit nahmen, besonders aber lyrische Verse, welche im Munde des Volkes noch heute leben; endlich trat Alexander Kisfaludy (1772-1844) auf, dessen Sammlung lyrischer Gedichte : "Himfys Liebe", für Ungarn epochemachend wurde, insofern hier zum erstenmal die pedantische konventionelle Schulpoesie verlassen und neben vielem Schwulst und Unnatürlichkeit manchmal doch der Ton wahren Gefühls angeschlagen wird. Von großem Einfluß auf die weitere Entwickelung der ungarischen Litteratur war Franz Kazinczy (1759-1831) und sein Kreis. Kazinczy, wenig bedeutend als Poet, that sich als Reformator der noch wenig ausgebildeten magyarischen Sprache hervor. Die gleiche Richtung (Entwickelung, Veredelung und Bereicherung des magyarischen Idioms) befolgten der Ödendichter Daniel Berzsenyi (1776-1836), der Lyriker M. Vitkovics (1778-1829), der Dramenübersetzer G. Döbrentei (1786-1851), der Dramendichter Karl Kisfaludy (1788-1830), der eigentliche Begründer des magyarischen Kunstdramas, und der Ependichter Andreas Horváth (1778-1839). Was diese Schriftstellergruppe (den sogen. Kazinczyschen Kreis) sowie deren Zeitgenossen Kölcsey, Andr. Fáy, Joseph Katona u.a. charakterisiert, das ist der nahezu ausschließlich patriotische Inhalt ihrer Werke; der einzige Stoff, den sie in allen Dichtungsarten behandeln, ist ihr Vaterland, dessen glorreiche Vergangenheit, dessen betrübende Gegenwart und herrliche Zukunft. Noch heute hat sich die magyarische Litteratur von diesem durch die politischen Verhältnisse der Zeit erklärten und gerechtfertigten engen Stoffkreis nicht gänzlich loszuringen vermocht, und noch immer selten sind bis zu diesem Tag die magyarischen Werke geblieben, die sich von beschränktem Nationalismus zu freier allgemeiner Menschlichkeit emporheben.

Im 19. Jahrh. nimmt die u. L. einen kräftigen Aufschwung. Zu den bedeutendsten Leistungen derselben gehört die Tragödie "Bánk Bán" von Joseph Katona (1792-180), welche bis heute noch als das hervorragendste dramatische Kunstwerk der Magyaren gilt. Großen Ruhm erwarb sich ferner Michael Vörösmarty (1800-1855), den manche den größten Dichter Ungarns nennen, mit dem Epos "Zaláns Flucht" (1824), während von seinen zahlreichen Dramen, poetischen Erzählungen und lyrischen Gedichten nur die letztern höhern Wert besitzen. Im allgemeinen ist Vörösmarty mehr Rhetor als Dichter, seine Stärke ist die Deklamation. Gregor Czuczor, Joseph Bajza, Johann Garay, Alex. Vachott (1818-61) sind andere Epiker und Lyriker dieser Periode, deren bedeutendster Dichter indes Alexander Petöfi ist (1823-l849). Petöfi, dessen poetische Erzählung "Held János", eine vortreffliche volkstümlich humoristische Dichtung, dessen Roman "Der Strick des Henkers" und dessen Drama "Tiger und Hyäne" wertlose, unreife Produkte sind, erhebt sich als Lyriker weit über seine Vorgänger und ist der erste, dessen Gedichte wahr, natürlich, einfach und menschlich sind. Er ist neben Joseph Katona die erste Erscheinung in der magyarischen Litteratur, die mit dem Maßstab der Weltlitteraturen gemessen werden kann, und die neben den großen Namen der letztern einen Platz beanspruchen darf. Noch bedeutender als Petöfi ist Johann Arany (1817-82), der bedeutendste ungarische Balladen und Ependichter dieses Jahrhunderts. Vortreffliche Balladen dichteten auch P. Gyulai, Joseph Kiß (geb. 1843) und Ludwig Tolnai (geb. 1837). Als Lyriker verdienen Michael Tompa, Franz Csaszar, Paul Jambor (Pseudonym Hiador), Kol. Lisznyay (1823-63), Johann Vajda (geb. 1827), Joseph Levay (geb. 1825), Karl Szasz, Emil Abrányi (geb. 1851), Alex. Endrödy (geb. 1850) hervorgehoben zu werden; als Dramatiker sind Szigligeti, Czakó, Obernyik, Ludwig Dobsa (geb. 1824), Karl Hugo (Hugo Bernstein, 1817-77), Kol. Tóth, Aloys Degre (geb. 1820), Joseph Szigeti (geb. 1822), Eduard Tóth, Gregor Csiky), Eugen Rákosi (geb. 1842), L. v. Dóczy, Ludwig Bartók (geb. 1851) zu erwähnen. Auf dem Gebiet des Romans thaten sich hervor: Freiherr Nik. Jósika (17941865), der "ungarische Walter Scott" genannt, dessen Romane auch in Deutschland viel gelesen wurden, ferner Ludwig Kuthy (1813-64; "Die Geheimnisse des Vaterlands"), Baron Joseph Eötvös (1813-71; "Der Kartäuser", unter dem Einfluß der Chateaubriandschen christlich-romantischen Sentimentalität geschrieben; "Dorfgeschichten", realistisch und voll Humor; "Der Dorfnotar" und "Ungarn im Jahr 1514", satte, fleißige Gemälde ungarischen Lebens zu bestimmten Perioden), Baron Siegmund Kemény (1816-75), Moritz Jókai (geb. 1825), Paul Gyulai (geb. 1826), Zoltan Beöthy (geb. 1848). Die letzten zwei Jahrzehnte haben außer einigen bedeutenden Werken Johann Aranys, einigen Dramen, die einen gewissen Tageserfolg errangen, und einigen Romanen Jokais nur weniges hervorgebracht, was besonderer Erwähnung verdiente und hoffen könnte, außerhalb Ungarns zu interessieren. Hierher gehört vor allem das philosophische Drama "Die Tragodie des Menschen" von Emerich v. Madách (1823-1864), eine Dichtung, reich an erhabenen Gedanken und

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Ungarische Litteratur (wissenschaftliche).

poetischen Schönheiten. Ein hervorragendes Talent der Gegenwart ist Koloman Mikszáth (geb. 1849), dessen nordungarische Dorfgeschichten auch außerhalb Ungarns großen Beifall gefunden haben. Die lebende Schriftstellergeneration widmet sich fast ausschließlich der Journalistik, und die Folge davon ist tiefer Verfall auf allen Gebieten der schönwissenschaftlichen Litteratur. Diese hat bisher nicht gehalten, was sie in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts zu versprechen schien; den Namen Eötvös, Petösi, Arany, Jokai haben sich keine neuern von nur annähernd gleichem Klang angefügt.

Die wissenschaftliche Litteratur Ungarns war bis ins 18.Jahrh.fast ausschließlich lateinisch, ja noch in der ersten Halste unsers Jahrhunderts bedienten sich die Gelehrten in der Litteratur wie in der Schule mit Vorliebe der Sprache Roms. Die ersten magyarischen Geschichtswerke sind die chronikartigen Aufzeichnungen aus dem 16. Jahrh. von Anton Verancsics, Franz Zay, Valentin Homonnai, Franz Wathai und die Chroniken von Stephan Szekely und Kaspar Heltai. Im 17. Jahrh. schrieb Emmerich Tököly Memoiren über mehrere seiner Feldzüge; Fürst Johann Kemeny und Niklas Bethlen verfaßten Autobiographien; zahlreiche andre politische Persönlichkeiten von bedeutenderer Stellung zeichneten die Ereignisse auf, deren Zeugen sie waren; die Chronik von Gregor Petheö, später von Nachfolgern fortgesetzt, blieb lange das einzige geschichtliche Handbuch des ungarischen Publikums. Im 18. Jahrh. ragen hervor: "Historie Siebenbürgens" von Mich. Cserey und "Metamorphose Siebenbürgens", ein sittengeschichtliches Werk von Peter Apor; "Briefe aus der Türkei" von Cl. Zagoni-Mikes, Sekretär Franz Rakoczys II.; ferner Esaias Budais "Geschichte von Ungarn" (erschienen 1805); Franz Budais "Bürgerliches Lexikon", die Biographien ausgezeichneter Ungarn enthaltend. Unter dem Einfluß der Göttinger historischen Schule, dann der Arbeiten der ungarischen Historiker Georg Pray und Steph. Katona sowie der Arbeiten von Gebhardi, Feßler und Engel erwachte im ersten Viertel des 19. Jahrh. in der Geschichtschreibung ein neuer Geist. Man begann mit großem Fleiß Daten zu sammeln, Kritik und Quellenstudium wurden leitende Grundsätze. Georg Feher, Nikolaus v. Jankovics, Baron Aloys Mednyanszky, Johann Czech, Benedikt Virag, Stephan Horvath wirkten als Forscher oder eröffneten durch ihre Schriften neue Gesichtskreise. Später thaten sich hervor: Paul Jaszay, Graf Joseph Teleki (Geschichte der Hunyadys), Ladislaus v.Szalay und Michael Horvath mit bedeutenden Werken über die ganze Geschichte Ungarns und Spezialwerken über einzelne Partien und Persönlichkeiten; Arnold Ipolyi (früher Stummer), Anton Csengery, Karl Szabo, Alexander Szilagyi, Franz Salamon (Geschichte Ungarns zur Zeit der Türkenherrschaft u. a.), Koloman Thaly (Geschichte F. Rakoczys und seiner Zeit), Wilhelm Fraknoi (früher Frankl; Biographie Peter Pazmanys, Geschichte der ungarischen Landtage u. a.), Julius Pauler, Wolfgang Deak, Max Falk (Biographien Szechenyis und Ladislaus Szalays) u. a. Einen bedeutenden Aufschwung hat die ungarische Einzel-Geschichtsforschung seit 1867 genommen, insbesondere durch die Wirksamkeit der Ungarischen Historischen Gesellschaft, deren Organ: "Századok" ("Jahrhunderte") eine Fundgrube zahlreicher Spezialarbeiten und Daten ist. Die Literaturgeschichte ist hauptsächlich durch Franz Toldy (früher Schedel) und Zoltán Beöthy, die Ästhetik durch A. Greguß, P. Gyulai, Z. Beöthy, Eugen Péterffy, Friedr. Riedl u. a. vertreten. Der Beginn der rechts-, der staatswissenschaftlichen und politischen Litteratur fällt gleichfalls ins 16.Jahrh. Das Tripartitum Verböczys erschien, von B. Veres ins Ungarische übersetzt, zuerst 1565. Aus dem 17. Jahrh. sind zu verzeichnen: P. Kitonich ("Leitfaden der Prozeßordnung"), Paul Medgyesi (Werke über Kirchenverwaltung), I. Fésüs ("Spiegel der Könige"), M. Teleki ("Fürstenseele"); im 18. Jahrh. erregten Sam. Balia und Georg Aranka in Siebenbürgen mit ihren staatsrechtlichen Versuchen Aufsehen; Elias Georch war der erste, der sämtliche ungarische Gesetze in ungarischer Sprache bearbeitete. Im 19. Jahrh. gaben die Reformbewegung und die staatsrechtlichen Bestrebungen, die erst zur Gesetzgebung von 1848, dann zum Ausgleich von 1867 führten, der rechts- und staatswissenschaftlichen Litteratur bedeutende Impulse. Zu nennen sind: Alexander Kövy, Paul Szlemenics, Ignaz Frank, Johann Fogarassy, Theodor Pauler, Ignaz Udvardy, Stephan Szokolay, Franz Deak, Aurel und Emil Dessewffy, Joseph Eötvös u. a. Deak, die Brüder Dessewffy und Eötvös sind zugleich Größen auf dem Felde der politischen Litteratur, deren epochemachender Schöpfer Stephan Szechenyi ("Kredit", "Licht", "Stadium", "Ein Volk des Ostens" u. a.) war. In dessen Fußstapfen trat Nikolaus Wesselenyi. Der Schöpfer der ungarischen politischen Journalistik ist Ludw. Kossuth. Auf diesem Feld sind zu nennen: Graf Aurel Dessewffy, Siegmund Kemeny, Anton Csengery, Joseph Eötvös, Johann Török. Als politische Redner ersten Ranges glänzen: Stephan Szechenyi, Kossuth, Wesselenyi, Kölcsey, Franz Deak, Joseph Lonovics, Aurel Dessewffy, Barth. Szemere, Gabriel Kazinczy, Eötvös, Koloman Ghyczy, Paul Somssich, Balthasar Horvath, Desidor Szilagyi, Graf Albert Apponyi u. a. Der erste, der eine philosophische Doktrin in ungarischer Sprache bearbeitete, war Johann Apáczai Cseri("Ungarische Logik", 1659). Vom Ende des 18. Jahrh. an ist eine große Zahl ungarischer Lehrbücher über Philosophie und Geschichte der Philosophie zu verzeichnen, die jedoch meist Kompilationen deutscher und französischer Werke sind. Die Naturwissenschaft gelangte in Ungarn erst in neuester Zeit, unterstützt durch die Mittel, welche die Regierung unmittelbar und mittelbar diesem Zweig der Wissenschaft zuwendet, zu bedeutenderer Pflege. Die geologische Landesanstalt, das meteorologische, das chemische, das physiologische und hygieinische Landesinstitut, die neue chirurgische Klinik (sämtlich in Budapest), die Naturwissenschaftliche und die Geologische Gesellschaft sind ebenso viele Stätten wissenschaftlicher Thätigkeit. Die Hervorragendsten, von denen zahlreiche Arbeiten vorliegen, sind: Joseph Szabo, Joseph Krenner, Max v. Hantken (Geologie); A. Jedlik, Roland Eötvös, Koloman Szily (Physik); Karl Than (Chemie); Petzval, Veß, Hunyady (Mathematik); Konkoly (Astronomie); Abt Krueß, Guido Schenzl (Meteorologie); Lenhossek (Anatomie); Jendrassik (Physiologie); Semmelweis (Geburtshilfe); Balafsa und Joseph Kovacs (Chirurgie) u. a. Die Naturwissenschaftliche Gesellschaft gibt eine reichhaltige Zeitschrift und die bedeutendsten naturwissenschaftlichen Werke der europäischen Litteratur in Übersetzungen heraus. Ein gleicher Aufschwung ist auf dem Felde der Nationalökonomie (I. Kautz, M. Lonyay, A. György u. a.), der Statistik (A. Konek, Keleti, I. Körösi, Johann Hunfalvy), der Geographie und Reiselitteratur (Johann und Paul Hunfalvy, Ladislaus Magyar, Joh. Xantus u. a.), der Altertums-

LÄNDER DER

UNGARISCHEN KRONE,

(UNGÄRN-SlEBENBÜRGEN U. KROATIEN-SLOWENIEN)

GALIZIEN UND BUKOWINA.

Maßstab1:3,300,000.

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Ungarisches Erzgebirge - Ungarn.

kunde (E. Henßlmann, A. Ipolyi, F. Romer, Eugen Nyáry, Franz Pulszky u. a.) zu verzeichnen. Überhaupt hat die geistige Arbeit Ungarns seit den letzten zehn Jahren sich vielfach der wissenschaftlichen Thätigkeit zugewendet, wenn auch die ungarischen Männer der exakten Wissenschaften sich bisher hauptsächlich auf Übersetzung oder Bearbeitung ausländischer Werke verlegten und mit Ausnahme der um die Erforschung ihres Landes sehr verdienten Geologen und Archäologen noch keine selbständigen Entdeckungen aufzuweisen haben, welche ihnen einen Platz in der Geschichte des Fortschritts der Wissenschaft sichern würden. Vgl. Toldy, Geschichte der ungarischen Dichtung (deutsch, Pest 1863); Dux, Aus Ungarn (Leipz. 1880); Schwicker, Geschichte der ungarischen Litteratur (das. 1889); Beöthy, Handbuch der ungarischen Literaturgeschichte (in ungar. Sprache, 4. Aufl., Budap. 1884); "Ungarische Revue" (seit 1881 hrsg. von Hunfalvy und Heinrich, Budapest).

Ungarisches Erzgebirge, s. Karpathen, S. 557.

Ungarische Sprache. Die Sprache der Magyaren gehört zu der finnisch-ugrischen Abteilung der großen uralaltaischen Sprachenfamilie (s. d.). Die Verwandtschaft derselben mit dem Ostjakischen und Wogulischen am Uralgebirge sowie auch mit der zweitbedeutendsten Sprache dieser ganzen Gruppe, dem Finnischen, ist so unverkennbar, daß sie schon vor dem Aufblühen der modernen Sprachwissenschaft in frühern Jahrhunderten von einzelnen Gelehrten bemerkt wurde; wissenschaftlich nachgewiesen ward aber dieser Zusammenhang und die entferntere Verwandtschaft des Ungarischen oder Magyarischen mit dem Türkischen und den übrigen Gruppen des uralaltaischen Sprachstammes erst in den letzten Dezennien. Die wichtigsten Eigentümlichkeiten, die das Ungarische mit den uralaltaischen und speziell mit den finnisch-ugrischen Sprachen teilt, sind die Vokalharmonie (s. d.) und das Prinzip der Agglutination. Die Agglutination, d. h. die lose Anfügung einer beliebig großen Menge von Beugungssilben an den Wortstamm, der unverändert an der Spitze des Wortes stehen bleibt, bewirkt, daß die magyarische Sprache wie das Finnische, Türkische etc. einen ungeheuern Reichtum an grammatischen Formen besitzt. Weit geringer ist dagegen ihr Wortreichtum, teils deshalb, weil neben ihr noch zu viele andre Sprachen im Land sich geltend machen, teils und vorzüglich, weil sie viele Jahrhunderte hindurch aus den Geschäftsverhandlungen der Behörden, aus Kirche und Schule durch das Lateinische, aus der gebildeten Konversation durch das Französische und Deutsche verdrängt war. Erst seit dem Tod Josephs II. nahm sie einen höhern Aufschwung, auch ist sie seit Wiederherstellung der selbständigen ungarischen Regierung (1867) mit der Terminologie für sämtliche Zweige des modernen Kulturlebens ausgestattet. Die Schrift ist die lateinische. Lange Vokale werden durch Accente (á, é etc.) bezeichnet. Für die konsonantischen Laute reichen die Buchstaben des lateinischen Alphabets nicht aus, weshalb man zu Zusammensetzungen seine Zuflucht genommen hat. q, w und x hat man überhaupt nicht mit verwendet und auch c und y nur in Zusammensetzungen mit andern zur Bezeichnung der Laute, für welche dem lateinischen Alphabet eigne Buchstaben fehlen; doch vertritt y in ältern Familiennamen häufig die Stelle des i. Im ganzen hat die Sprache 24 konsonantische Laute, welche in folgender Weise bezeichnet werden: b, cs, cz, d, f, g, gy, h. j, k, l, ly, m, n, ny, p, r, s (spr. sch), sz (spr. ss), t. ty, v, z (spr. s), zs (weiches sch, wie franz. j). In den Lauten gy, ny, ly, ty ist das y keineswegs mit i identisch, sondern wird als ein mit dem vorhergehenden Konsonanten innig verschmolzenes j gehört; gy ist ungefähr wie dj zu sprechen. Im Anfang einer Silbe verträgt die u. S. in der Regel nie mehr als einen Konsonanten; in Wörtern mit zwei Anfangskonsonanten, die sie aus fremden Sprachen aufgenommen hat, hilft sie sich daher durch Vorsetzung oder Einschiebung eines Vokals, z. B. astal (slaw. stol), der Tisch, kiraly (slaw. kral), der König. Die älteste ungarische Grammatik ist die von Joannes Silvester Pannonius (Sarvár-Ujszigeth 1539). Neuere Werke für den ersten Unterricht sind die (deutsch verfaßten) Grammatiken von Mailath (2. Aufl., Pest 1832), Kis (Wien 1834), Töpler (7. Aufl., Budap. 1882), M. Ballagi (magyarisierte Namensform) oder Bloch (8. Aufl., das. 1871), Franz Ney (24. Aufl., das. 1888); eine wissenschaftliche Grammatik, obgleich im einzelnen bereits veraltet, ist diejenige von M. Riedl (Wien 1858). Wörterbücher lieferten Richter (Wien 1836, 2 Bde.), Fogarassy (Pest 1836, 2 Bde.), I. T. Schuster (Wien 1838), Ballagi (5. Aufl., das. 1882; Supplement zum deutsch ungar. Teil 1874). Den ganzen ungarischen Wortschatz streng wissenschaftlich darzustellen, ist das unablässige Bestreben der Ungarischen Gelehrten Gesellschaft, deren großes ungarisches Wörterbuch, von G. Czuczor und I. Fogarassy redigiert (186274, 6 Bde.), nun vollendet vorliegt. Außerdem ist die Ausarbeitung eines sprachgeschichtlichen Wörterbuchs unter Aufsicht der linguistischen Kommission der Akademie im Gang. Die Hauptstützen der sprachvergleichenden Durchforschung des Magyarischen sind Paul Hunfalvy (s. d.) und Joseph Budenz (s. d.) mit ihren zahlreichen durch die ungarische Akademie veröffentlichten Studien über die mit dem Magyarischen verwandten Sprachen.

Ungarisch-Hradisch, s. Hradisch.

Ungarisch-Ostra, s. Ostra.

Ungarn (ungar. Magyarország, türk. Magyaristan, slawon.V engria, lat. Hungaria, franz. Hongrie, engl. Hungary), Königreich, die östliche Hälfte der österreichisch ungarischen Monarchie, erstreckt sich von 44°9'-49°33' nördl. Br. und von 14°24'-26°36', östl. L. v. Gr., besteht aus dem eigentlichen U., dem ehemaligen Siebenbürgen, Fiume samt Gebiet, Kroatien, Slawonien und der frühern Militärgrenze und grenzt im N. an Mähren, Österreichisch-Schlesien und Galizien, im O. an die Bukowina und Rumänien, im S. an letzteres, Serbien, Bosnien und Dalmatien und im W. an Istrien, Krain, Kärnten, Steiermark, Niederösterreich und Mähren. Vgl. beifolgende Karte "Länder der ungarischen Krone".

Physische Beschaffenheit.

Die Gebirge gehören den Karpathen und den Alpen an, zwischen denen die Donau mit den von ihr durchschnittenen weiten Ebenen die natürliche Grenze bildet. Die Karpathen (s. d.), das Hauptgebirge des Landes, beginnen an der Donau neben der Marchmündung und umgeben das Land von NW. nach SO. in einem mächtigen Halbbogen, dessen Wölbung gegen NO. fällt; die Ausläufer der Norischen und Karnischen Alpen hingegen schließen das an dem rechten Donauufer gelegene westliche Berg und Hügelland ein und treffen mit ihren Vorbergen an der Donau bei Hainburg (Leithagebirge) und Gran (Vértesgebirge) mit den Karpathen zusammen. Am südöstlichen Ende, bei Orsova, wird die Donau abermals von den Ausläufern der siebenbürgischen Karpathen und des Balkangebirges eingeengt (die berühmte Klissura mit dem Eisernen Thor). Die weite Tief-

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Ungarn (Bodenbeschreibung, Bewässerung, Klima, Areal).

ebene des Landes wird durch die Alpenausläufer in zwei Hälften geteilt, deren kleinere sich gegen W., die größere gegen O. erstreckt. Die kleine oder oberungarische Tiefebene (Preßburger Becken), zu beiden Seiten der Donau zwischen Preßburg und Komorn, etwa 12,000 qkm (220 QM.) groß, breitet sich in Eiform aus, liegt 130 m ü. M., ist meist von Bergen umschlossen und sehr fruchtbar, besonders der nördliche Teil und die Donauinsel Schutt (s. d.). Im N. und S. breiten sich auf bald flachem, bald hügeligem Boden die gesegnetsten Gefilde aus mit Ackern, Gärten, Wald, Obsthainen und Weinpflanzungen und dringen zungenförmig an den Flußthälern in die Vorkarpathen, Voralpen und den Bakonyer Wald ein. Die östliche große oder niederungarische Tiefebene (Alföld oder Pester Becken) wird im N. und O. von den Karpathen, im W. von den Voralpen, im S. von den alpinen Vorhöhen und dem Balkan umsäumt, erstreckt sich an der Donau von Budapest und an der Theiß von Szatmar bis zum Strompaß von Orsova und nimmt, einununterbrochenes Flachland bildend, im ganzen 96,910 qkm (1760 QM.) ein. Ausgedehnte Sumpfstrecken, Torf und Moorgründe an der Donau und Theiß, unabsehbare Sandflächen, hier und da mit niedrigen Flugsandhügeln, wasser-, baum- und schattenlose Heideflächen, unterbrochen von Grasangern und fruchtbarem Ackerboden, weit auseinander liegende Meierhöfe auf den Pußten (s. d.), wenige, aber weitläufige und volkreiche Ortschaften bilden den Charakter der eigentlichen Heidelandschaft. Der nördliche Landstrich wischen Donau und Theiß führt den Namen Kecskemeter Heide; südlich davon, in der sogen. Bacska, liegt das 169 m hohe Plateau von Telecska und südöstlich an der Theißmündung das Titler Plateau; ferner im NO. unterhalb des Theißbogens der Nyir und südlich hiervon die Debrecziner Heide oder Hortobagyer Pußta. Über 600 Flüsse und Bäche durchkreuzen U. nach allen Richtungen und gehören mit Ausnahme von Poprad und Dunajec, welche der Weichsel zufließen, sämtlich zum Gebiet der Donau, die bei Theben das Land betritt, sich bei Waitzen südwärts bis zur slawonischen Grenze wendet und das ungarische Gebiet bei Orsova verläßt. Sie nimmt rechts die Leitha, Raab, den Sárviz, die Drau mit der Mur und die Save, links die March, Waag, Neutra, Gran, Eipel, die mächtige Theiß, die Temes und die Aluta auf. In die Theiß münden rechts der Bodrog, Sajó mit dem Hernád und die Zagyva, links die Szamos, die dreifache Körös und die Maros. Alle Flüsse, insbesondere aber die Theiß mit ihren Nebenflüssen, verursachen durch Überschwemmungen fast jährlich bedeutenden Schaden; um diesen zu verhindern und zur Erleichterung der Schiffahrt wurden seit 1771, besonders aber seit 1845, umfassende Regulierungen vorgenommen und zahlreiche Kanäle erbaut, unter denen der Franzenskanal (zwischen der Donau und Theiß), der Begakanal (zwischen der Bega und Theiß), der Sarviz- oder Palatinkanal (zwischen Stuhlweißenburg und Szegszard), der Albrechtskanal zur Entsumpfung des Bodens im Baranyaer Komitat, der Kapos oder Zichykanal im Tolnaer Komitat und der Siokanal (zwischen Plattensee und Donau) die bedeutendsten sind. In den Karpathen finden sich viele kleine Seen (Meeraugen), darunter in der Hohen Tatra allein 58 meist sehr romantisch 1260-1990 m ü. M. gelegene Seen. Größere Seen in der Ebene sind der Plattensee, der größte Südeuropas, und der Neusiedler See. Von den zahlreichen Morästen und Sümpfen sind zu nennen: der mit dem Neusiedler See in Verbindung stehende Hanság, der Ecseder Sumpf bei Szatmár, der Sárrét am Berettyó, der Alibunarer, Hoßzuréter Sumpf etc. Die Sümpfe an der Theiß und Donau sind durch Abzugskanäle meist trocken gelegt worden. Überhaupt ist sowohl von seiten der Regierung als der einzelnen sehr vieles zur Trockenlegung oder doch Einschränkung der Sümpfe geschehen. Für die Theißregulierung allein, um welche sich Graf Szechenyi große Verdienste erworben hat, wurden seit 1845 mehr als 26 Mill. Guld. verwendet. Das Ackerland der großen ungarischen Tiefebene besteht zumeist aus schwarzem Thonboden mit mehr oder weniger Humus und ist in manchen Gegenden auch ohne Dünger ebenso fruchtbar wie die zwischen hohen Bergen liegenden lieblichen Thäler (z. B. das äußerst romantische Waagthal). Dagegen gibt es aber auch große unfruchtbare Sandflächen; in der westlichen Ebene erstrecken sie sich nur von Raab und Komorn bis zum Komitat Zala; in der östlichen Ebene jedoch bilden sie, von Waitzen ausgehend, zwischen der Donau und Theiß bis nahe an den Franzenskanal ein wahres Sandmeer.

[Klima.] Schon die geographische Lage Ungarns, noch mehr aber die Gestalt seiner Oberfläche machen es zu einem klimatisch milden Land. Mit Ausnahme des nach N. geöffneten Poprader Thals ist es vor rauhen Nordwinden durch hohe Gebirge geschützt; im S. aber öffnet es sich den warmen Südwinden, deren oft heftigen Andrang die zahlreichen Gewässer mäßigen. Am Fuß der hohen Karpathen und des Königsbergs (in Gömör), in der Ärva, Liptau und Zips reift selbst die Pflaume kaum, und oft bedeckt schon im September Schnee den noch stehenden Hafer, während 60 km südlicher der edelste Wein gedeiht. Mitten im ehemaligen Pannonien, das einem fortlaufenden Obst- und Weingarten gleicht, reift in der rauhen Bakony auch die Traube nicht. In Syrmien blüht oft schon im Februar der Haselstrauch, im April überall das Obst, Anfang Mai Roggen und Gerste, in den ersten Junitagen der Weinstock, und frisches Grün schmückt acht Monate lang die Wälder, während weiter nach S. zu wieder die rauhe Karpathengegend auftritt. Charakteristisch ist der starke Temperaturwechsel, namentlich der Unterschied zwischen Tages und Nachtwärme, so im Alföld, wo die Temperatur im Sommer des Morgens nur 45° C. beträgt und mittags auf mehr als 30° steigt; noch größer aber ist der Unterschied der von den Sonnenstrahlen erzeugten Bodenwärme; daher treten dort auch häufig Wechselfieber und andre Krankheiten auf. Im allgemeinen ist aber das Klima in U. gesund. Die mittlere Jahrestemperatur bewegt sich zwischen +5,9° und +14° C. und beträgt in Schemnitz 6°, Preßburg 9,6°, Budapest 11°, Klausenburg 9,12°, Semlin 11,6°, Fiume 14,1°. Eine gewöhnliche Erscheinung ist im Alföld die Fata Morgana, hier Delibab ("Mittagszauber") genannt.

Areal und Bevölkerung.

Das Areal von U. samt Nebenländern beträgt 322,940 qkm (5865 QM.), wovon auf das eigentlich U. samt Siebenbürgen 280,387 qkm (5092 QM.), auf Fiume samt Gebiet 20 qkm (0,36 QM.) und auf Kroatien und Slawonien 42,533 qkm (772 QM.) entfallen. Das eigentliche U. wurde früher in administrativer Beziehung in vier Kreise eingeteilt und zwar in den Kreis a) diesseit und b) jenseit der Donau, c) diesseit und d) jenseit der Theiß. Seit der 1876 erfolgten Einverleibung Siebenbürgens und der Regelung der Munizipalgebiete jedoch teilt man U. in nachstehende sieben Gebiete ein: