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Tiergarten - Tierische Wärme.

mit Tierköpfen versehen dar, pflegten die betreffenden Tiere in Tempeln (z. B. die in den Küstenländern wohnenden Semiten gewisse heilige Fische, die Ägypter Katzen, Ibisse u. a., die Inder Schlangen, Krokodile und Affen), erließen Gesetze zu ihrem Schutz, setzten sie nach ihrem Tod feierlich einbalsamiert bei etc. Aus diesen Inkarnationsvorstellungen gingen in den spätern Religionssystemen die als Attribute der Gottheiten namentlich von der bildenden Kunst verwerteten heiligen Tiere, wie der Adler des Jupiter und Johannes, der Löwe der Rhea und des heil. Markus, der Specht des Mars (Picus) etc., hervor, und ebenso schließen sich daran gewisse Stammsagen (Drache der Chinesen, Wölfin der Römer). Vgl. De Gubernatis, Die Tiere in der indogermanischen Mythologie (deutsch, Leipz. 1874, 2 Bde.).

Tiergarten, s. Wildgärten und Zoologische Gärten.

Tiergeographie, die Lehre von der geographischen Verbreitung der Tiere, s. Tier, S. 699 f.

Tierheilkunde, s. Veterinärwesen.

Tierischer Magnetismus, s. Magnetische Kuren.

Tierische Wärme. Thermometrische Messungen haben dargethan, daß zahlreiche Tiere eine ihnen eigne, nur geringen Schwankungen ausgesetzte und von der Temperatur der Außenwelt ganz unabhängige Körpertemperatur oder Eigenwärme besitzen. Dieselbe ist im hohen Norden nicht geringer als unter den Tropen, und man bezeichnet derartige Tiere als warmblütige oder homöotherme (konstant temperierte) Tiere. Andre Organismen besitzen eine schwankende, wesentlich von der Temperatur des sie umgebenden Mediums abhängige Temperatur, man nennt sie kaltblütige oder richtiger poikilotherme (variabel temperierte) Organismen. Bei ihnen ist die Energie der Oxydationsprozesse so gering, daß die Eigenwärme nur wenige Grade höher als die Temperatur der Umgebung ist. Ein ganz eigentümliches Verhalten bieten einige Säugetiere (Fledermaus, Igel, Murmeltier, Hamster etc.), welche man als Winterschläfer bezeichnet hat; diese sind während der wärmern Jahreszeit homöotherm, verfallen aber in der kältern Jahreszeit in einen eigentümlichen Erstarrungszustand, in welchem der ganze Stoffwechsel auf ein äußerst geringes Maß beschränkt ist, und in welchem sie sich ganz wie die Kaltblüter verhalten. Die Temperatur des Murmeltiers sinkt dann auf 1,6°. Beim Menschen und den Warmblütern ist die Körperwärme eine der unerläßlichsten Bedingungen für den geregelten Ablauf der wichtigsten Lebensprozesse. Das Experiment hat gezeigt, daß mit einem Absinken der Körperwärme die Energie aller Lebensprozesse ganz wie bei den Winterschläfern erlahmt, und daß auf der andern Seite schon geringe Erhöhungen der Eigenwärme bedeutende Gefahren im Gefolge haben, daß beim Menschen und den Säugetieren sogar der Tod eintritt, sobald die Körperwärme 42-43° C. übersteigt. Die t. W. wird nun in den Geweben des Organismus gebildet, und zwar resultiert sie aus dem ganzen Cyklus von Veränderungen, den man als Stoffwechsel bezeichnet. Ganz besonders müssen wir die Drüsen und die Muskeln als Hauptquellen der Wärme bezeichnen. Es ist möglich, die durch eine einzige Muskelkontraktion bewirkte Temperatursteigerung nachzuweisen. Trotz der sehr ungleichen Wärmemengen, welche in den verschiedenen Organen gebildet werden, verteilt sich die gebildete Wärme ziemlich gleichmäßig über den ganzen Organismus; dieses wird bewirkt durch direkte Berührung der verschiedenen Organe, weit mehr aber noch mittels einer durch den Blutstrom hergestellten wärmeleitenden Verbindung. Auf diese Weise erreichen die in den einzelnen Organen gebildeten Wärmemengen selbst solche Körperteile, welche für sich gar keine Wärme erzeugen. Das Resultat dieser Ausgleichung ist eine annähernd konstante Temperatur des ganzen Organismus. Oxydationen sind nun die verbreiterten, durchaus aber nicht die ausschließlichen Erzeuger der Wärme; Wärme wird vielmehr bei allen chemischen Prozessen frei, bei denen der Vorrat an Spannkraft sich mindert. Dieser Punkt ist deshalb von Bedeutung, weil im tierischen Körper neben Oxydationsprozessen komplizierte Spaltungsvorgänge eine wichtige Rolle spielen. Die eigne Natur der im Tierkörper verlaufenden Prozesse ist daher von keinem Einfluß auf die Verbrennungswärme; die gebildete Wärme ist vielmehr durch die Anfangs- und Endzustände der Körper gegeben und hängt durchaus nicht von den Zwischenstufen ab, welche die Körper durchlaufen. Das Prinzip von der Erhaltung der Kraft fordert ja, daß bei einem Prozeß, der aus mehreren getrennten Akten zusammengesetzt ist, eine Wärmemenge entsteht, die derjenigen völlig gleich ist, welche beim Ablaufen des Prozesses in einem Akt gebildet wird. Folgende Tabelle enthält die Verbrennungswärme einiger für den Organismus bedeutungsvoller Substanzen:

Wärmeeinheiten

1 Gramm

bei vollständiger Verbrennung bei Verbrennung im Organismus

Eiweiß ....... 4998 4263

Rindfleisch (frisch) . . . 1567 1427

Rinderfett ...... 9069 9069

Milch .......662 628

Traubenzucker. .... 3277 3277

Kartoffeln ......1013 997

Erbsenmehl .....3936 3941

Weizenmehl ..... 3541 3846

Reis ........ 3813 3761

Gegenüber den durch den Stoffwechsel bewirkten Wärmeeinnahmen des Organismus der Warmblüter stehen die Abgaben von Wärme an die kalte Umgebung. Letztere finden statt: 1) durch Strahlung von der freien Körperoberfläche. Das Quantum dieser Wärme wird unter sonst gleichen Verhältnissen um so größer sein, je erheblicher die Temperaturdifferenz zwischen dem Körper und der umgebenden Luft sich gestaltet. 2) Durch Leitung, und zwar leitet der Körper Wärme a) an kältere Gegenstände, die seine Oberfläche berühren, Luft, Kleidung etc.; b) an die in die Lungen gelangende Luft; c) an die in den Verdauungsapparat gelangenden Substanzen; d) an das in den Lungen und an der Körperoberfläche verdunstende Wasser. Um zu einer ungefähren Vorstellung von der Verteilung der Wärmeabgabe auf die verschiedenen Posten zu gelangen, sei angegeben, daß Helmholtz den durch Erwärmung der Nahrung entstandenen Verlust auf 2,6 Proz., den Verlust durch Erwärmung der Atmungsluft auf 5,2, denjenigen durch Wasserverdunstung auf 14,7 Proz. schätzt, während er den ganzen Rest durch die Körperoberfläche zur Verausgabung gelangen läßt.

Da sowohl Wärmebildung als Wärmeabgabe großen Schwankungen ausgesetzt ist, die Eigenwärme aber stets konstant bleibt, so muß der Organismus über Vorrichtungen verfügen, welche seine Temperatur regulieren. Bei der Betrachtung dieser regulatorischen Einrichtungen haben wir zu unterscheiden zwischen solchen, welche auf die Wärme erzeu-

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Tierkämpfe - Tierkreis.

gung, und solchen, welche auf die Wärmeabgabe einwirken. Von den Einflüssen der ersten Art ist in erster Linie die Nahrungszufuhr zu nennen. In der Kälte ist das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme größer als in der Wärme. Ein zweites Mittel dieser Art ist die Muskelarbeit. In der Kälte suchen die Organismen durch vermehrte Muskelkontraktionen Wärme zu bilden, in der Wärme vermeiden sie Muskelarbeit am liebsten ganz. Unter den regulatorischen Vorrichtungen, welche auf die Wärmeausgabe einwirken, kommt in erster Linie der die äußere Haut und die Lungen passierende Blutstrom in Betracht. Diese Vorrichtung basiert auf der Veränderlichkeit in der Weite der Arterien (s. Blutbewegung), und sie ist entschieden der wichtigste Regulator der Eigenwärme. Durch eine Erweiterung der Gefäße in der äußern Haut und den Lungen wird der Wärmezufluß vom Innern des Körpers her vermehrt, durch eine Verengerung verringert. Nun sichert eine nervöse Verbindung einen ursachlichen Zusammenhang in der Weite dieser Gefäße und der Körpertemperatur und macht sich derartig geltend, daß die Gefäße sich erweitern, sobald die Körperwärme steigt, daß sie sich aber verengern, sobald diese sinkt. Ein andres Prinzip, welches bei der Wärmeregulation Anwendung findet, ist die Wärmeabgabe bei der Veränderung des Aggregatzustandes von Körperbestandteilen. Der Organismus macht hiervon beim Übertritt von Flüssigkeiten in den gasförmigen Zustand, also bei der Verdunstung, Gebrauch. Diese findet besonders umfangreich in zwei Organen statt, nämlich in den Lungen und in der äußern Haut. Wie bedeutend die Verdunstung durch die Lungen ist, kann man schon aus der Beobachtung der ausgeatmeten Luft bei kalter Witterung schließen. Was die Verdunstung durch die äußere Hnut betrifft, so ist die dichte Bekleidung derselben mit Epidermiszellen der Verdunstung nicht günstig, und der Mechanismus ist hier der, daß bei gesteigerter Körperwärme ein Reiz auf die Schweiß-Zentren (s. Schweiß) ausgeübt wird, daß infolgedessen die Schweißdrüsen durch ihre Thätigkeit die Hautoberfläche mit einer Flüssigkeitsschicht überziehen, zu deren Verdunstung Wärme vom Körper abgegeben wird. Als dritte die Wärmeabgabe betreffende Regulationsvorrichtung benutzt der Organismus die Lungenatmung. Diese Vorrichtung basiert auf dem Prinzip des Fächers, also darauf, daß ein bewegter Luftstrom die Wärmeabgabe eines Körpers begünstigt, indem er diesen fortwährend mit neuen kältern Luftmassen in Berührung bringt. Steigt die Körperwärme, so vermehren sich die Atemzüge, und die außerordentlich große Oberfläche der Lungenbläschen wird jetzt mit einem in beständiger Bewegung begriffenen großen Quantum kühlerer Luft in Berührung gebracht. Es ist übrigens ersichtlich, daß auf diese Weise nicht allein die direkte Wärmeabgabe, sondern auch die Verdunstung außerordentlich begünstigt wird. Die Regulierung der Körperwärme mittels der beschriebenen Kompensationsvorrichtungen vollzieht sich zum allergrößten Teil, vielleicht ganz, durch Vermittelung des Nervensystems. Wie die betreffenden Nervenmechanismen gestaltet sind, kann einstweilen nur vermutet werden. Die Existenz eines die Thätigkeit der verschiedenen Regulationsvorrichtungen regelnden Wärmezentrums ist bis jetzt nicht genügend bewiesen.

Die mittlere Körperwärme schwankt beim Menschen zwischen 36,5 und 38° C. Ähnlichen Temperaturen begegnet man bei den Säugetieren; beim Pferd beträgt sie 37,5-38,5°, beim Rind 37,5-39,5°, bei Schafen 38-41°, bei Schweinen 38,5-40° und bei Hunden 37,5-39,5° C. Etwas höher liegt die Eigenwärme der Vögel, sie beträgt 39,4-43,9° C. Bei den übrigen Tieren ist die Temperatur variabel und in der Regel um wenige Grade höher als die des umgebenden Mediums. Bei den Warmblütern werden regelmäßige, von der Lebensweise abhängige Temperaturschwankungen um 1-1,5° C. wahrgenommen. So zeigen sich von der Nahrungsaufnahme abhängige Schwankungen derart, daß ein Minimum der Temperatur etwa gegen Mitternacht beginnt und bis 7 Uhr morgens andauert, diesem folgt eine etwa bis 4 Uhr nachmittags anhaltende Periode der steigenden Temperatur, dann kommt ein bis etwa 9 Uhr abends dauerndes Maximum und endlich eine Periode der absinkenden Temperatur. Diese Schwankungen kommen beim Hunger in Fortfall. Weitere Schwankungen der Eigenwärme innerhalb physiologischer Grenzen hängen von der Muskelthätigkeit ab; durch energische Muskelarbeit wird die Temperatur nicht selten bis um 1,5° C. vermehrt. Von medikamentösen Mitteln bewirken Herabsetzung der tierischen Wärmebildung: Chinin, Salicylsäure, Alkohol, Chloroform, Chloral u. a., eine Erhöhung derselben Digitalin. Eine erhöhte Körpertemperatur ist eins der wichtigsten Zeichen des Fiebers (s. d.). Beim Menschen bedient man sich zu Bestimmungen der Körperwärme gewöhnlich der Achselhöhle oder auch, wie bei den Tieren, des Mastdarms. Ein Thermometer läßt man hier so lange liegen, bis kein Steigen der Quecksilbersäule mehr wahrgenommen wird, was in der Regel nach zehn Minuten erreicht ist. Regelmäßige, zu bestimmten Tageszeiten wiederholte Temperaturmessungen sind in der neuern Medizin eins der wichtigsten diagnostischen Mittel.

Tierkämpfe (lat. Venationes), Kämpfe von Tieren untereinander oder von Menschen mit Tieren, gehörten bei den alten Römern zu den beliebtesten Volksbelustigungen. Sie fanden zumeist im Zirkus statt und wurden zuerst bei den Spielen des M. Fulvius Nobilior 186 v. Chr. erwähnt. Die Tierkämpfer (bestiarii) waren teils Verurteilte und Kriegsgefangene, die den durch Hunger, Feuerbrände und Stacheln rasend gemachten Tieren schlecht bewaffnet oder ganz waffenlos entgegengestellt wurden, teils Mietlinge, die wie die Gladiatoren in besondern Schulen geübt und ausreichend bewaffnet waren. Für die Herbeischaffung zahlreicher und seltener Tiere, oft aus den entferntesten Weltgegenden, und die sonstige Ausstattung der Tierhetzen wurde besonders in der Kaiserzeit ein unglaublicher Aufwand gemacht. So veranstaltete Pompejus einen Tierkampf von 500 Löwen, 18 Elefanten und 410 andern afrikanischen Bestien, und Caltgula ließ 400 Bären und ebensoviel reißende Tiere aus Afrika sich gegenseitig zerfleischen. Bisweilen wurde dabei durch geeignete Dekoration und Kostümierung ein historischer oder mythologischer Vorfall (z. B. wie Orpheus von Bären zerrissen wird) szenisch dargestellt. Erhalten haben sich die T. bis ins 6. Jahrh. - Bei den Griechen waren besonders Wachtel- und Hahnenkämpfe (s. Huhn, S. 779) beliebt, wobei von den Zuschauern Wetten oft bis zu bedeutender Höhe angestellt wurden. Als T. der neuern Zeit sind die Stiergefechte (s. d.) der Spanier zu bezeichnen.

Tierkohle, durch Verkohlung tierischer Substanzen erhaltene Kohle, besonders Knochenkohle.

Tierkreis (Zodiakus), s. Ekliptik. Über den T. in Dendrah s. d. In der christlichen Symbolik ist der T. das Sinnbild der Weisheit Gottes, so namentlich auf Bildern der Weltschöpfung, z. B. im Campo santo

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Tierkreislicht - Tierreich.

zu Pisa (um 1390) und nach Raffaels Zeichnungen in Santa Maria del Popolo zu Rom, auch häufig an kirchlichen Fassaden des 12. und 13. Jahrh.; in neuerer Zeit von A. v. Heyden dargestellt (in der Kuppel der Nationalgalerie in Berlin).

Tierkreislicht, s. Zodiakallicht.

Tiermalerei, ein Zweig der Malerei, welcher sich mit der Darstellung einzelner oder zu Gruppen vereinigter lebender Tiere in der Freiheit und in Gefangenschaft, in Ruhe und Bewegung beschäftigt. Isolierte Darstellungen einzelner Tiere und Tierstücke kommen bereits auf Kupferstichen und Holzschnitten von M. Schongauer und A. Dürer vor. Ihre Ausbildung als selbständige Gattung der Malerei erhielt die T. aber erst durch die niederländischen Künstler des 17. Jahrh. Jan Brueghel der ältere malte Landschaften mit Tieren jeglicher Art (sogen. Paradiese). Rubens, Snyders und Jan Wildens malten Jagden und wilde Tiere im Kampf mit den Menschen oder unter sich. Andre hervorragende Tiermaler des 17. Jahrh. sind M. Hondecoeter (Geflügel), Wouwerman (Pferde), Berchem (Rindvieh und Schafe in Landschaften), Paul Potter (Rindvieh und Pferde), A. Cuyp (Pferde und Hunde), Rosa di Tivoli (Schafe, Rinder und Ziegen). Im 18. Jahrh. zeichnete sich vornehmlich J. E. Ridinger in der Darstellung von Hirschen, Wildschweinen, Jagden etc. als Maler und Radierer aus. Im 19. Jahrh. nahm die T. einen neuen Aufschwung durch den Engländer E. Landseer (Pferde, Hunde u. a. m.), die Franzosen Troyon, Rosa Bonheur und Jacque und die Belgier Verboeckhoven und Verlat. Die bedeutendsten deutschen Tiermaler der neuern Zeit sind die Berliner Steffeck (Pferde und Hunde), P. Meyerheim (Raubtiere, Affen, exotische Vögel), Brendel (Schafe), Friese (Raubtiere und jagdbares Wild), Hallatz (Pferde), die Düsseldorfer Kröner (jagdbares Wild), Deiker und Jutz (zahmes Geflügel), die Münchener Mali (Schafe und Rindvieh), Voltz (Weidevieh), Gebler (Schafe und Hunde), Braith (Rindvieh) und Zügel (Schafe) und der Schweizer Koller. Vgl. auch Idyllenmalerei.

Tiermasken, s. Maske, S. 314.

Tieröl (Hirschhornöl, Knochenöl, Franzosenöl) entsteht bei trockner Destillation stickstoffhaltiger tierischer Substanzen, besonders der Knochen, ist dunkelbraun bis schwarz, dicklich, riecht durchdringend widerwärtig, empyreumatisch, ist leichter als Wasser, löslich in Alkohol, reagiert alkalisch, gibt an Alkalien Blausäure und Phenol, an Säuren organische Basen (die Pyridinbasen, auch Äthylamin etc.) ab und liefert bei wiederholter Rektifikation ein farbloses Öl (Dippels Öl), welches bald wieder gelblich oder braun wird. Dies war als Oleum animale aethereum offizinell; man benutzte es früher gegen Typhus, als Wurmmittel und zu Einreibungen. Mit 3 Teilen Terpentinöl bildet es das Oleum contra Taeniam Chaberti, ein altes Bandwurmmittel.

Tierpflanzen, s. Zoophyten.

Tierpsychologie, s. Tierseelenkunde.

Tierquälerei, s. Tierschutz.

Tierreich, die Gesamtheit der Tiere. Es läßt sich, weil eine scharfe Grenze zwischen diesen und den Pflanzen nicht vorhanden ist, in seinen niedersten Formen von denen des Pflanzenreichs nicht trennen, falls man nicht, wie es seitens einiger Forscher geschieht, die zweifelhaften Wesen zu einem besondern Reich, demjenigen der Protisten, vereinigt und so für Tier- und Pflanzenreich eine bessere, allerdings rein künstliche Abgrenzung ermöglicht (vgl. Protozoen und Tier). Das T. selbst zerfällt in eine Anzahl großer Abteilungen (Typen, Klassen, Stämme), über deren Anzahl und Umfang man jedoch in Fachkreisen von jeher der verschiedensten Ansicht gewesen ist. Die erste derartige Einteilung rührt von Aristoteles her, welcher blutführende und blutlose Tiere unterschied; diese beiden Gruppen entsprechen den heutigen Wirbeltieren und Wirbellosen (Vertebraten und Evertebraten) und zerfielen jede wieder in vier Klassen, die zum Teil auch jetzt noch als gut begrenzt angesehen werden, nämlich: lebendig gebärende Vierfüßer (mit Einschluß der Wale), Vögel, Eier legende Vierfüßer, Fische; Weichtiere (die heutigen Tintenschnecken), Weichschaltiere (Krebse), Kerftiere, Schaltiere (Schnecken, Muscheln, Echinodermen). Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde nach 2000jährigem Bestehen diese Klassifikation durch Linné beseitigt und durch sein System von sechs Klassen: Säugetiere, Vögel, Amphibien, Fische, Insekten, Würmer, ersetzt. Natürlich erfuhren hierbei die kleinern Formen der niedern Tiere, da man sie nicht oder nicht genügend kannte, keine Berücksichtigung, und so bildete namentlich die Wurmgruppe ein buntes Allerlei, eine "Rumpelkammer" für alle Tiere, welche sonst nicht unterzubringen waren. Bereits nach wenigen Jahrzehnten erlangte daher die von Cuvier 1812 versuchte neue Einteilung der Tiere nach ihrer Gesamtorganisation allgemeinen Beifall; sie schuf vier große Typen oder Kreise, nämlich die Wirbel-, Weich-, Glieder- und Strahltiere, die ganz unabhängig voneinander nach vier verschiedenen "Bauplanen" gebildet sein sollten. Indessen auch hier vereinigte der unterste Kreis ganz heterogene Elemente in sich (Echinodermen, Cölenteraten, Eingeweidewürmer, Rädertiere und Infusorien), die zum großen Teil sogar nichts weniger denn strahlig gebaut waren. Es wurde daher nach u. nach die Anzahl der "Kreise" von vier auf sieben erhöht, indem man die Glieder- und Strahltiere besser sonderte. Nachdem sodann in den 60er Jahren die darwinistischen Prinzipien allgemeinen Eingang zu finden begonnen hatten, verließ man den Begriff, welcher dem Typus zu Grunde liegt, und spricht in der modernen Zoologie nur noch von "Tierstämmen", welche, aus gemeinsamer Wurzel hervorgegangen, in ihrer Gesamtheit den Baum des Tierreichs darstellen. Als solche Stämme faßt man in der Ordnung von unten nach oben auf: die Protozoen (auch häufig als besonderes Reich abgetrennt, s. Protozoen), die Cölenteraten (Schwämme, Korallen, Polypen, Quallen etc.), die Würmer, die Echinodermen (Seesterne, Seeigel etc.), die Gliederfüßler oder Arthropoden (Krebse, Insekten etc.), die Weichtiere (Muscheln, Schnecken etc.), die Wirbeltiere. Doch verhehlt man sich dabei nicht, daß manche isoliert dastehende Gruppen, welche man heute noch einem der genannten Stämme zurechnet, bei genauerer Erforschung ihrer Organisation vielleicht einen besondern Stamm bilden werden, wie man auf der andern Seite eifrig nach den lebenden oder ausgestorbenen Bindegliedern zwischen den Stämmen sucht. Dieser Auffassung zufolge lassen sich also die Tiere in ihrer natürlichen (d. h. auf Blutsverwandtschaft oder auf Abstammung voneinander beruhenden) Anordnung nicht in eine einfache Reihe, die vom niedersten zum höchsten Tiere reichen würde, bringen, sondern bilden die Äste, Zweige und Zweiglein eines mächtigen Baums, dessen Krone die noch lebenden Tiere ausmachen, während die näher der Wurzel befindlichen Zweige von der Ausdehnung des Baums in frühern Zeiträumen berichten. Wie sich die genannten Stämme im einzelnen verhalten, ist in den betreffenden Artikeln nachzulesen.

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Tiersage - Tierschutz.

Tiersage, eine Gattung der Sage (s. d.), welche von dem Leben und Treiben der Tiere und zwar vorzugsweise der ungezählten Tiere des Waldes handelt, die man sich mit Sprache und Vernunft ausgestattet denkt. Die Wurzeln der T. liegen in der Natureinfalt der ältesten Geschlechter, die noch in unbefangenem, sei's freundlichem oder feindlichem, immer nahem Verkehr mit den Tieren standen: aus der harmlosen Freude des Naturmenschen an dem Treiben der Tiere, seiner Beobachtung ihrer besondern Art und "Heimlichkeit" entsprang die einfache Erzählung dessen, was er an und mit den Tieren erfuhr und erlebte, und sie eben bildet das charakteristische Merkmal dieser Art Naturpoesie, die teils in einzelnen konkret gewordenen Erscheinungen als Tiermärchen, teils in Verknüpfung und Verschmelzung derselben zu einem dichterischen Ganzen als Tierepos auftritt. Wohl zu unterscheiden ist dieses Tierepos von der gewöhnlichen (Äsopischen oder Lessingschen) Tierfabel, die rein didaktischer Natur ist, indem sie nach kurzer Erzählung des Tatsächlichen eine nüchterne Verstandeslehre mit epigrammatischer Schärfe ausspricht (s. Fabel). Das Tierepos ist dagegen von aller lehrhaften und satirischen Tendenz frei; sein Wesen beruht auf der poetischen Auffassung und naturgetreuen Darstellung des Tierlebens als eines in seiner geheimnisvollen Eigentümlichkeit abgeschlossenen, aber zugleich in den Bereich des Menschlichen erhobenen Daseins. Die Tiere, welche diese Dichtung vorführt, sind nicht nackte, außer aller psychischen Gemeinschaft mit dem Menschen stehende Tiere, noch weniger allegorische Figuren oder in Tiergestalt verkleidete Menschen: es sind die Tiere in ihrem wirklichen Leben, jedoch mit Gedanken und Sprache ausgestattet und von Trieben geleitet, denen Absicht und Bedeutung geliehen sind. In dieser Verschmelzung des menschlichen und tierischen Elements liegt die Bedingung und zugleich der höchste Reiz der T. Daß bei solcher Schilderung der Tierwelt zugleich das gewöhnliche Treiben der Menschen abgespiegelt wird, ist unleugbar, aber keineswegs die beabsichtigte Wirkung der Dichtung, die vielmehr, wie das Heldenepos, in ruhiger Breite dahinfließt, ohne weitere Tendenz, als in ungestörter Gemütlichkeit sich auszusprechen. Gelegenheit freilich, satirische Nebenbeziehungen auf bestimmte menschliche Zustände anzubringen, bietet die T. nur allzu reichlich, und sie wurde auch schon frühzeitig von den Bearbeitern benutzt. Spuren der T. sind schon bei den ältesten Völkern nachzuweisen, aber diese ließen sie frühzeitig wieder fallen oder wandten sich der didaktischen Tierfabel (s. oben) zu; eine vollständige epische Durchbildung erhielt die T. nur bei den mit hervorragendem Natursinn ausgestatteten Deutschen und zwar vorzugsweise bei den Franken. Mit diesen wanderte sie im 5. Jahrh. über den Rhein, wo sie in Flandern und Nordfrankreich Wurzel faßte und gepflegt wurde, bis sie später nach Deutschland zurückkehrte, um hier im 15. Jahrh. in der niederdeutschen Dichtung "Reineke Vos" ihre endgültige Gestalt zu erhalten (s. Reineke Fuchs). Die älteste und echteste T. kennt nur einheimische Tierhelden (mit treffenden, echt deutschen Namen), und der Bär, der König der deutschen Wälder, war auch im Gedicht der König der Tiere; erst später (im 12. Jahrh.) trat statt seiner der orientalische Löwe an die Spitze des Tierstaats, in den nun auch Affen und andre fremdländische Geschöpfe eingeführt wurden. Die besten, vollkommen befriedigenden Aufschlüsse über den Charakter der T. gab J. Grimm in einer Einleitung zu "Reinhart Fuchs" (1843).

Tiers-argent (franz., spr. tjähr-sarschang), s. Aluminiumlegierungen und Drittel-Silber.

Tiersch, Otto, Musiktheoretiker, geb. 1. Sept. 1838 zu Kalbsrieth bei Artern in Thüringen, ward Schüler von J. G. Töpfer in Weimar, später Heinrich Bellermanns, Marx' und L. Erks in Berlin, war mehrere Jahre als Lehrer am Sternschen Konservatorium daselbst thätig und ist jetzt städtischer Lehrer (für Gesang) in Berlin. T. ist als Musiktheoretiker eine interessante Erscheinung, da er den Versuch macht, die neuesten Errungenschaften der Akustik und Physiologie des Hörens für die Harmonielehre zu verwerten, und demgemäß ein eignes Harmoniesystem aufstellt. Seine Schriften sind: "System und Methode der Harmonielehre" (Leipz. 1868); "Elementarbuch der musikalischen Harmonie- und Modulationslehre" (2. Aufl., Berl. 1888; "Praktische Generalbaß-, Harmonie- und Modulationslehre" (Leipz. 1876); "Praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung" (das. 1879); "Lehrbuch für Klaviersatz und Akkompugnement" (das. 1881); "Allgemeine Musiklehre" (mit Erk, das. 1885); "Rhythmik, Dynamik und Phrasierungslehre der homophonen Musik" (das. 1886) u. a.

Tierschutz, der Inbegriff aller Anordnungen und Bestrebungen, welche zum Zweck haben, den Tieren unnötige Quälereien zu ersparen. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich bedroht (§ 360, Ziff. 13) "mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Haft denjenigen, welcher öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise Tiere boshaft quält oder roh mißhandelt". Zur Verhütung einzelner Arten von Mißhandlungen der Tiere bestehen auch vielfach besondere Polizeivorschriften, wie z. B. bezüglich des Transports kleinerer Haustiere, des Bindens der Füße derselben, bezüglich der Hundefuhrwerke etc. In vielen Fällen ist es schwer zu erkennen, wann eine Handlung wirklich als eine strafbare Tierquälerei zu erachten ist; denn der Charakter, das Benehmen u. die Benutzungsweise der verschiedenen Tiere weichen wesentlich voneinander ab u. machen deshalb eine verschiedene Art in der Behandlung derselben, zumal bei Arbeitstieren, nötig. Um den Tieren eine humane Behandlung zu sichern, haben sich allenthalben Tierschutzvereine gebildet, wozu der verstorbene Hofrat Perner in München zuerst die Anregung gegeben hatte. Diese Vereine suchen Mitglieder in allen Schichten der Bevölkerung zu gewinnen und verpflichten dieselben, nicht nur selbst keinerlei Tierquälerei zu begehen und von ihren Angehörigen zu dulden, sondern auch andre davon abzumahnen und nötigen Falls polizeiliche Abhilfe zu veranlassen. Da in erster Linie schon bei der Erziehung der Kinder darauf hingewirkt werden muß, Mitgefühl für die Leiden der Tiere und Abscheu vor allen Handlungen zu erwecken, welche Tieren jeder Art unnötige Schmerzen verursachen, suchen diese Vereine durch Schriften und bildliche Darstellung auf die Jugend einzuwirken. Durch diese Tierschutzvereine sind schon manche tierquälerische Mißbräuche bei der Benutzung und Behandlung von Tieren abgestellt worden; ihren Bemühungen ist es unter anderm zuzuschreiben, daß mit Fußleiden und andern Gebrechen behaftete Pferde, anstatt noch länger herumgeplagt zu werden, zum Zweck des Fleischgenusses in Pferdeschlächtereien eine nutzbringende Verwendung finden, daß ferner unzweckmäßige Zuggeräte, wie das Doppeljoch, immer mehr außer Gebrauch kommen, bessere Schlachtmethoden angewendet werden, nutzlose und unsinnige Operationen, wie Stechen und Brennen des Gaumens sowie Nagelschneiden bei Pferden, Ohrenschneiden bei Hunden etc., immer seltener werden. Es bleibt für

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Tiers-consolidé - Tierseelenkunde.

den T. übrigens noch ein großes Feld der Thätigkeit, wenn er seine Aufmerksamkeit auch fernerhin auf entsprechendere Einrichtungen bei dem Transport der Tiere auf den Eisenbahnen, auf Verbesserungen der häufig noch unbeschreiblich schlechten Ställe sowie des unzweckmäßigen, zu schmerzhaften Fußleiden führenden Hufbeschlags etc. richtet. In Deutschland richtete sich die Agitation der Tierschutzvereine in letzter Zeit namentlich gegen die Vivisektion (s. d.). Auch wird eine Abänderung des deutschen Strafgesetzbuchs in dem Sinn angestrebt, daß zu dem Begriff der Tierquälerei nicht mehr das Requisit der Öffentlichkeit oder das Erregen von Ärgernis gehören soll. Der T. darf jedoch nicht in übertriebene Sentimentalität ausarten, die für zuweilen unvermeidliche Leiden der Tiere Ausdrücke des tiefsten Bedauerns findet und alles mögliche aufbietet, vermeintliche Tierquälereien abzustellen, während sie für Leiden der Menschen weniger empfindlich ist. Insbesondere kann der (bei Verleihung von Medaillen etc.) übertriebene Diensteifer niederer Polizeiorgane, in vielen an und für sich unschuldigen Handlungen Tierquälereien zu erblicken, zuweilen unangenehm werden und zu lästigen Plackereien führen. Im weitern Sinn erstreckt sich der T. auch auf die Verhinderung der Ausrottung oder der zu starken Verminderung gewisser Arten von Tieren, besonders nützlicher Vogelarten, der Fische etc., zu welchem Zweck besondere Polizeivorschriften zu erlassen sind. Dem T. gewidmete Zeitschriften erscheinen gegenwärtig in Berlin ("Ibis", seit 1872), Darmstadt (seit 1874), Stuttgart (seit 1875), Köln (seit 1877), Guben (seit 1881), Riga (seit 1885), Aarau (seit 1887).

Tiers-consolidé (franz., spr. tjähr-kongsso-), die 30. Sept. 1797 anerkannte 5proz. französische Rente, welche 1802 als "Cinq pour Cent" bezeichnet und 1862 auf Grund der Gesetze vom 1. Mai 1825 und 14. März 1852 in 3, bez. 4½ pour cent de 1852 umgewandelt wurde.

Tierseelenkunde (Tierpsychologie), die Wissenschast von den geistigen Fähigkeiten der Tiere, welche eigentlich nur einen Teil der allgemeinen Psychologie (s. d.) zu bilden hätte. Die ältern heidnischen Philosophen, wie Parmenides, Empedokles, Demokrit, Anaxagoras u. a., waren auch vollkommen überzeugt, daß die Tiere in ganz ähnlicher Weise wie der Mensch Schlüsse ziehen und Erfahrungen einsammeln; Plutarch schrieb eine Abhandlung über die Frage, ob die Land- oder Wassertiere klüger seien, und Porphyrios betonte mit strenger Folgerichtigkeit, daß wie im körperlichen Bau auch im geistigen Leben kein prinzipieller, sondern nur gradweise Unterschiede zwischen Tier und Mensch vorhanden seien. Einige alte Philosophen übertrieben diese Erkenntnis sogar, indem Celsus z. B. den Tieren selbst Religion, Sprache und Prophetengabe zuschrieb, worauf Origines sehr richtig bemerkte, daß sich ihre scheinbare Voraussicht nur auf Erhaltung ihrer eignen Brut erstrecke. Die unter den Einfluß der Kirche geratene Philosophie gewöhnte sich sodann seit Descartes, den Tieren Überlegung und geistiges Leben ganz abzuerkennen und sie für eine Art von Automaten zu erklären, deren Handlungen sich nur nach bestimmten, für jede Art ein für allemal festgestellten Normen bewegen, die den sogen. Instinkt (s. d.) der Art ausmachen. Bei dieser Annahme war das Studium der geistigen Fähigkeiten der Tiere überflüssig, und obwohl sie nicht unwidersprochen blieb und Rorarius, der Nunzius Papst Clemens' VII., sogar 1654 ein Buch unter dem Titel: "Die wilden Tiere brauchen ihren Verstand besser als der Mensch" veröffentlichte, so bewegten sich doch die zum Teil überaus genauen Beobachtungen der Kunsttriebe niederer Tiere, welche Swammerdam, Réaumur, Rösel von Rosenhof, Bonnet, Trembley u. a. im 17. und 18. Jahrh. anstellten, lediglich in der Richtung, das von Gott geordnete wunderbare "Maschinenwerk" darin zu bewundern. Es ist unerhört, was in dieser Richtung beispielsweise über den mathematischen Instinkt der Bienen bei ihrem Wabenbau oder über die angeborne Wissenschaft gewisser Trichterwickler noch in neuerer Zeit zusammenphantasiert worden ist, obwohl solche Kunstwerke, wie Müllenhof gezeigt hat, zum Teil einfach genug entstehen. Eine Richtung zum Bessern zeigten zuerst die "Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Tiere" (1760) des Hamburger Populärphilosophen Hermann Reimarus, sofern hier die fest determinierten Triebe von den freiern geistigen Handlungen unterschieden werden; aber erst die eingehenden Beobachtungen des Tierlebens durch Forscher und Liebhaber, wie sie Brehm Vater und Sohn, Scheitlin, die Gebrüder Müller und zahlreiche andre Tierfreunde angestellt haben, brachen das alte Vorurteil und bahnten der Ausdehnung einer wissenschaftlichen Psychologie auf die Tierwelt, wie sie in Deutschland namentlich Wundt anstrebte, Bahn. Doch eröffnete erst das Auftreten Darwins diesen Bestrebungen die rechten Gesichtspunkte, sofern er auf das Werden und Wachsen der geistigen Fähigkeiten unter den Tieren so gut wie der körperlichen Formen hinwies und auch hierbei die Wirksamkeit der natürlichen Auslese betonte (s. Darwinismus, S. 570). Seitdem haben sich viele Forscher mit dem größten Erfolg der vergleichenden und experimentellen T. gewidmet, und es ist unvergessen, was in dieser Richtung Lubbock, Hermann Müller, Plateau, Forel, Preyer und viele andre Forscher über die geistigen Fähigkeiten der Insekten und andrer niedern Tiere ermittelt haben, indem sie sie teils in ihre gewohnten und teils in neue Bedingungen versetzten. Es hat sich dabei ergeben, daß man ihre geistigen Fähigkeiten zum Teil über- und zum Teil unterschätzt hat. Das sogen. Totstellen der niedern Tiere hat sich z. B. als eine nützliche Schrecklähmung (s. Kataplexie), die Selbstamputation der Seesterne, Krebse, Spinnen und Eidechsen, die man früher als Ausfluß eines starken und heroischen Willens ansah, als bloßer unbewußter Reflexakt erwiesen, anderseits haben aber viele Beobachtungen, z. B. diejenigen Preyers an gefesselten Seesternen, gezeigt, daß die Fähigkeit, sich in neuen und schwierigen Lagen zweckmäßig zu benehmen, selbst bei niedern Tieren nicht gering ist. Ebenso ist das Gedächtnis früh entwickelt, und selbst kopflose Tiere, wie die Muscheln, lernen schnell Gefahren vermeiden, wie die Messerscheide (Solen), die sich nach Forbes nur einmal durch aufgestreutes Salz aus ihrer Sandröhre hervorlocken läßt, nicht aber zum zweitenmal. Neuere im Sinn der Entwicklungslehre angestellte Untersuchungen haben wahrscheinlich gemacht, daß bei den niedern Tieren nur die chemischen Sinne (Geruch und Geschmack) neben dem körperlichen Gefühlssinn feiner entwickelt sind, und daß die höhern Sinne (Gehör und Gesicht) erst auf viel höhern Organisationsstufen ihre Ausbildung erfahren. Das Vorwiegen der chemischen Sinne bis in die Kreise der niedern Wirbeltiere hinauf lehrt auch die vergleichende Gehirnkunde, welche die vorherrschende Entwickelung der sogen. Riechlappen bei allen niedern Wirbeltieren, ja bis zu den untern Klassen der Säuger hin zeigt. Hierzu hat die Paläontologie ferner den Beweis erbracht, daß der vom Gehirn ausgefüllte Hohlraum

Meyers Konv. -Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tiers-état - Tiflis.

des Schädels selbst in derselben Familie, z. B. bei dem bis zum Eocän zurückverfolgbaren Geschlecht der pferdeartigen Tiere (Equiden), ein beständiges Wachstum in der Zeit aufweist, wie denn die Tiere mit sehr unausgebildetem Hirn, z. B. die Faultiere, unter den Säugern auch ein sehr unentwickeltes Seelenleben und große Stumpfheit zeigen. In den höhern Abteilungen, z. B. bei den Affen, ist es namentlich das Großhirn, dessen beide Hemisphären eine erhebliche Zunahme zeigen, bis sie (beim Menschen) alle übrigen Gehirnteile bedecken. Den einzigen wesentlichen Unterschied der tierischen von der menschlichen Intelligenz sucht Vignoli in dem Mangel des Selbstbewußtseins bei der erstern, doch ist eine bestimmte Grenze auch hierin nicht zu ziehen, und man kann nur ein stufenweises Wachstum der Fähigkeiten bei den höhern Tieren nachweisen. Vgl. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (3. Aufl., Leipz. 1887); Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich (das. 1885); Vignolt, Über das Fundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreich (das. 1879); Büchner, Aus dem Geistesleben der Tiere (3. Aufl., Berl. 1880); über die geistigen Fähigkeiten der Insekten: Fabre, Souvenirs entomologiques (3 Tle., Par. 1879, 1882 u. 1886); Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen (deutsch, Leipz. 1883); Derselbe, Die Sinne und das geistige Leben der Tiere (das. 1889); über höhere Tiere: Scheitlin, Versuch einer vollständigen T. (Stuttg. 1840, 2 Bde.); Rennie, Fähigkeiten und Kräfte der Vögel (Leipz. 1839); Derselbe, Baukunst der Vögel (Stuttg. 1847).

Tiers-état (franz., spr. tjähr-setá, der "dritte Stand"), in Frankreich in der Zeit vor 1789 die Masse des Volkes im Gegensatz zum Adel und Klerus als den beiden privilegierten Ständen.

Tiers-parti (franz., spr. tjähr-, die "dritte Partei"), Fraktion in der franz. Deputiertenkammer, welche während der Kammersitzung von 1832 bis 1833 entstand und die Herrschaft des Mittelstandes bezweckte.

Tiersymbolik, s. Symbolik.

Tierwolf, s. Luchs.

Tierzucht, s. Viehzucht.

Tieté, Nebenfluß des Paraná, in der brasil. Provinz São Paulo, bildet 56 Katarakte, von denen der unterste 16 km oberhalb der Mündung liegt und 22 m tief ist.

Tietjens, Therese, Opernsängerin, geb. 18. Juli 1831 zu Hamburg von ungarischen Eltern, betrat 1847 das St. Pauli-Aktientheater und wurde im folgenden Jahr am Altonaer Stadttheater engagiert, ging 1850 nach Frankfurt a. M., 1851 nach Brünn und wurde 1853 Mitglied des Kärntnerthor-Theaters in Wien. 1858 kam sie als Primadonna der Italienischen Oper nach London, wo sie bis zum Frühjahr 1877 als Opern, Konzert- und Kirchensängerin eine rege Thätigkeit entfaltete und doch noch Zeit fand, in Italien, Spanien, Paris und Deutschland (Berlin, Köln, Hamburg) zu singen. Sie starb 3. Okt. 1877 in London. Eine Vertreterin des echt musikalisch-dramatischen Stils, besaß sie ein Organ von wunderbarer Weichheit, andauernder Frische und Mächtigkeit; sie schuf edle, große, klassische Gestalten u. fesselte namentlich durch meisterhafte Deklamation des Recitativs.

Tieuté (spr. tjö-), s. Pfeilgift.

Tiférnum, s. Cittá di Castello.

Tiffin, Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, Grafschaft Seneca, 64 km südöstlich von Toledo, in reicher Weizengegend, mit (188^) 7879 Einw.

Tiflis, Gouvernement der russ. Statthalterschaft Kaukasien, 40,417 qkm (734 QM.) groß mit (1885) 785,313 Einw. (darunter 24 Proz. Mohammedaner, erstreckt sich zu beiden Seiten des Kuraflusses, im N. bis an den Hauptkamm des Kaukasusgebirges, im S. bis an das armenische Hochland reichend, hat nur in der Mitte Ebenen, auch Steppen, ist aber im ganzen ein fruchtbares Gebirgsland mit vielem Weinbau, zahlreichen ergiebigen Naphthabrunnen und Mineralquellen. Die gewerbliche Thätigkeit der Bewohner ist nicht unbedeutend, man fabriziert besonders schöne Teppiche und Shawls. Der Handel wird besonders gefördert durch die das Gouvernement mitten durchschneidende Poti-Baku-Eisenbahn sowie durch die über den Kaukasus durch den Engpaß Dariel nach Wladikawkas führende Tiflisstraße. Deutsche Kolonien befinden sich in Alexandershilf, Elisabeththal, Marienfeld, Katharinenfeld mit zusammen 5000 Einw., zahlreiche Deutsche wohnen außerdem in der Stadt T. und in Neutiflis.

Die gleichnamige Stadt, in einem engen, von kahlen Felsen eingeschlossenen, durch Weinpflanzungen, Gebüsch und Gartenanlagen verschönerten Kesselthal, zieht sich an beiden Ufern der wilden Kura hin, 460 m ü. M., hat (1886) 104,024 Einw., meist Armenier, Georgier, Russen, über 2000 Deutsche, ferner Tataren, Perser, Polen, Juden. u. a. Nach Brugsch werden hier 70 Sprachen gesprochen. Die Stadt ist in Bauart und Lebensweise eine interessante Mischung asiatischen und europäischen Wesens. Sie zerfällt in vier Teile. Am rechten Flußufer liegen die Altstadt und Seid Abbad mit ganz asiatischem Charakter, Karawanseraien, Bazaren, vielen Kirchen, warmen Quellen, und der nördlich davon außerhalb der alten Stadtmauer von den Russen angelegte Teil, dann das an schönen Plätzen, Kaufläden, Palästen reiche Quartier Sololaki, am linken Ufer das aus einer schwäbischen Ansiedelung entstandene Kuki, der Vergnügungsort der Tifliser und Wohnsitz der meisten Europäer. Daran schließen sich mehrere Vorstädie, worunter das nach den Naphthaquellen an der Kura benannte Nawtlug. T. ist Sitz des Statthalters von Kaukasien, des Zivilgouverneurs für das Gouvernement T., der obersten Militär- und Regierungsbehörden, eines georgischen Patriarchen und Metropoliten, eines armenischen Erzbischofs und eines deutschen Berufskonsuls; es besitzt 76 Kirchen, darunter 36 griechisch-russische, 26 armenische, je 2 protestantische und römisch-katholische, 2 Klöster, 2 Moscheen, verschiedene höhere russische Schulen (Gymnasium nebst 2 Progymnasien, Militärschule, Handelsschule, 2 Lehrerseminare u. a.), 2 deutsche Schulen, öffentliche Bibliothek, Naturalienkabinett, botanischen Garten, astronomisches und magnetisches Observatorium, Theater, Münze. Von den Industrien der Stadt sind erwähnenswert die Fabrikation von Woll-, Baumwoll- und Halbseidenstoffen, Tapeten, Leder, Salzraffinerie, die Arbeiten in Silberfiligran, Büchsenmacherei und Schwertfegerei. Dem Handelsverkehr dienen die Tiflisstraße und die Poti-Baku-Eisenbahn (s. oben), doch hat der Transitverkehr nach Persien durch die seit 1883 eingeführten Zollerhöhungen aufgehört. Europäer und Armenier vertreiben als Großkaufleute die europäischen Waren. - Die Stadt, 455 n. Chr. gegründet, geraume Zeit Residenz der Könige von Georgien, erlitt öfters Verheerungen infolge der vorderasiatischen Völkerbewegungen. Zu Anfang des 17. Jahrh. fiel sie zwar unter türkische Herrschaft, ward aber von dem georgischen König Rustum (1636-58) wiedererobert und befestigt. Zu Anfang des 18. Jahrh. bemächtigten sich die Türken abermals der Stadt, wurden aber 1735 von Schah

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Tigellinus - Tigeraugenstein.

Nadir wieder vertrieben, der den georgischen König Theimuras wiederum einsetzte. Dessen Sohn Irakli (Heraklius) hob die Stadt zu hoher Blüte; aber 1795 vertrieb der Perser Aga Mohammed Chan Irakli, legte die Stadt abermals in Asche und schleppte 30,000 Menschen in die Sklaverei. Im November 1799 nahm der russische Generalmajor Lasarus von der Stadt Besitz. 1801 wurde Grusien zu einem russischen Gouvernement und T. zur Gouvernementsstadt erhoben.

Tigellinus, Sophonius, aus Agrigent gebürtig, niedern Standes, ward 39 n. Chr. von Caligula wegen unerlaubten Umgangs mit Agrippina und Julia verbannt, von Claudius zurückgerufen, erwarb sich durch die Zucht von Pferden für Wettkämpfe das Wohlwollen Neros, an dessen Lastern und Ausschweifungen er teilnahm, und den er zu den größten Grausamkeiten antrieb, wurde nach Burrus' Tod 62 Praefectus praetorio, diente Nero namentlich bei seiner grausamen Verfolgung der Teilnehmer an der Pisonischen Verschwörung, verriet Nero, als Galba sich gegen denselben erhob, rettete unter Galba sein Leben durch die Gunst des Vinius, ward aber von Otho zum Tod verurteilt und tötete sich in Sinuessa.

Tiger (Königstiger, Felis Tigris L., s. Tafel "Raubtiere III"), Raubtier aus der Gattung und der Familie der Katzen, gewöhnlich 1,6 m lang mit 80 cm langem, quastenlosem Schwanz und am Widerrist etwa ebenso hoch. Alte Männchen erreichen eine Gesamtlänge von 2,9 m. Das Weibchen ist kleiner. Der T. ist gestreckter, leichter und höher gebaut als der Löwe, der Kopf ist runder. Die Behaarung ist kurz und glatt und nur an den Wangen bartartig verlängert. Auf dem Rücken ist die rostgelbe Grundfarbe dunkler, an den Seiten lichter, auf der Unterseite, den Innenseiten der Gliedmaßen, dem Hinterleib, den Lippen und dem untern Teil der Wangen weiß. Vom Rücken aus ziehen sich unregelmäßige, zum Teil doppelte, schwarze Querftreifen in schiefer Richtung nach der Brust und dem Bauch herab. Der Schwanz ist lichter als der Oberkörper, dunkel geringelt; die Schnurren sind weiß, die rundsternigen Augen gelblichbraun. Der T. findet sich in Asien vom 8.° südl. Br. bis zum 53.° nördl. Br., also bis in das südliche Sibirien und vom Kaukasus bis zum untern Amur. Von seinem Hauptsitz, Vorder- und Hinterindien, aus verbreitet er sich durch Tibet, Persien und die weite Steppe zwischen Indien, China und Sibirien bis zum Ararat im W. von Armenien, nach N. bis in die Bucharei und Dsungarei, nach O. vom Baikalsee durch die Mandschurei bis nach Korea an die Meeresküste. In China findet er sich fast überall, und nur in den höhern Gegenden der Mongolei und in den waldlosen Ebenen von Afghanistan trifft man ihn nicht. Ebenso scheint er auch auf den Inseln des Indischen Archipels, mit Ausnahme Javas und Sumatras, zu fehlen. Sein Aufenthalt sind ebensowohl Dschangeln oder Rohrdickichte mit Gesträuch wie hochstämmige Wälder, aber immer nur bis zu einer gewissen Höhe über dem Meer. Auch kommt er dicht an Dörfer und Städte heran. Er zeigt die Gewohnheiten der Katzen. Seine Bewegungen sind ungemein rasch und ausdauernd; er schleicht unhörbar dahin, macht gewaltige Sätze, klettert gewandt an Bäumen empor und schwimmt über breite Ströme. Er streift zu jeder Tageszeit umher, am liebsten in den Stunden vor und nach Sonnenuntergang. Der T. ist ein weit gefährlicheres Raubtier als der Löwe. Seine Beute schlangenartig beschleichend, stürzt er sich pfeilschnell mit einigen Sätzen auf dieselbe und schlägt mit seinen Krallen furchtbare, fast immer tödliche Wunden. Eine verfehlte Beute verfolgt er als echte Katze nicht weiter. Wild und verwegen, zeigt er doch in der Gefahr wenig Mut, und wenn er sich verfolgt sieht, ergreift er fast feig die Flucht. Beim Fortschaffen der Beute bekundet er sehr viel Klugheit und List. Er besitzt außerordentliche Kraft, trägt einen Menschen und selbst ein Pferd oder einen Büffel im Rachen fort, und nur die stärksten Säugetiere, wie Elefant, Nashorn, Wildbüffel, sind vor ihm sicher. In Ostindien sind einzelne Engpässe und Schluchten durch seine Räubereien berüchtigt, und aus manchen Ortschaften hat er die Bewohner völlig vertrieben. Durch große Treibjagden ist er in einzelnen Gegenden, z. B. auf Ceylon, fast ganz ausgerottet worden; in andern findet er sich aber noch sehr zahlreich vor, namentlich würde in Gudscharat, wo man nur des Nachts reisen kann, ohne Aufbieten von Lanzenträgern, Trommlern und Fackelträgern kaum ein Verkehr möglich sein, und manche Lokalitäten sind durch den T. völlig ungangbar geworden. Hat ein T. einmal Menschenfleisch gekostet, so zieht er dasselbe jedem andern vor. Er schwimmt dreist auf Kähne zu und dringt in Ortschaften und von Wachtfeuern umgebene Lager ein, um Menschen zu rauben. Auf Singapur, wohin der T. nur durch die Meerenge schwimmend gelangen kann, werden jährlich an 400 Chinesen von Tigern zerrissen, und auf Java beträgt die Zahl der Opfer etwa 300. Die Tigerin trägt 105 Tage und wirft 2-3 Junge. In Indien betrachtet man den T. mit abergläubischer Furcht und sieht in ihm eine Art von strafendem Gott. Auch in Ostsibirien herrschen ähnliche Vorstellungen, und auf Sumatra erblickt man im T. nur die Hülle eines verstorbenen Menschen und wagt nicht, ihn zu töten. In Indien verbieten einige Fürsten die Tigerjagd, welche sie für sich selbst reservieren. Dagegen thut die englische Regierung sehr viel, um den T. auszurotten. Den alten Griechen war der T. wenig bekannt, selbst Aristoteles wußte von ihm soviel wie nichts. Auch die Römer wurden erst seit Varros Zeit mit dem T. bekannt, und Scaurus zeigte zuerst im J. 743 der Stadt einen gezähmten T. im Käfig; später kamen T. häufig nach Rom. Der Kaiser Heliogabalus soll sogar gezähmte T. vor seinen Wagen gespannt haben. Nach dem Bericht von Marco Polo benutzte der Chan der Tatarei gezähmte T. zur Jagd. Noch heute lassen indische Fürsten gefangene T. mit andern starken Tieren kämpfen, auf Java auch mit Lanzenträgern. Der T. ist zähmbar, bleibt aber stets gefährlich. Er hält sich gut in der Gefangenschaft und pflanzt sich auch fort. Man hat auch Bastarde von Löwen und Tigern erhalten. Die Tigerfelle, welche über England und Rußland häufig in den Handel kommen, werden hauptsächlich zu Pferde- und Schlittendecken benutzt. Die Kirgisen benutzen sie zur Verzierung der Köcher und schätzen sie sehr hoch. Das Fleisch soll wohlschmeckend sein, und die Tungusen glauben, daß es Mut und Kraft verleihe; in China dient es als Arzneimittel. In andern Ländern schätzt man mehr Zähne, Klauen, Fett und Leber. Vgl. Brandt, Untersuchungen über die Verbreitung des Tigers (Petersb. 1856); Fayrer, The royal t. of Bengal (Lond. 1875).

Tigeraugenstein, gelbbraunes, faseriges Mineral, ein Umwandlungsprodukt des Krokydoliths, zwischen dessen Fasern Quarz eingedrungen ist, während das Eisen des ursprünglichen Minerals in Eisenhydroxyd verhandelt wurde. T. findet sich in den Doorn- und Griquastadbergen in Südafrika und wird wegen seiner Härte und seines schönen wogenden Lichtscheins zu Schmucksachen mit ebenen Flächen verarbeitet.

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Tigerfink - Tigris.

Tigerfink, s. Astrilds.

Tigerkatze, s. v. w. Ozelot, s. Pantherkatzen, S. 659.

Tigerpferd, s. v. w. Zebra.

Tigerschlangen (Pythonidae Dum. et Bibr.), Familie aus der Ordnung der Schlangen und der Unterordnung der nicht giftigen Schlangen, große Tiere mit sehr gestrecktem Körper, mäßig langem, rundem Schwanz, langschnauzigem Kopf, weitem Rachen mit derben Zähnen und rudimentären Hinterextremitäten neben dem After. Die Tigerschlange (Python molurus (Gray. s. Tafel "Schlangen II"), 7-8 m lang, an der vordern Hälfte des Oberkopfs mit regelmäßigen Schildern, an der hintern mit Schuppen bedeckt, ist am Kopf grau fleischfarben, auf Scheitel und Stirn hell olivenbraun, auf dem Kopf mit ölbraunen Flecken und Streifen, auf dem Rücken hellbraun, auf der Unterseite weißlich, außerdem auf dem Rücken mit großen, vierseitigen, braunen, dunkler gerandeten Flecken versehen. Sie bewohnt Asien von der Küste des Arabischen Meers bis Südchina und nördlich bis zum Himalaja, auch die Sundainseln. Ebenso groß ist die Gitter- oder Netzschlange (P. reticulatus Gray), auf der Malaiischen Halbinsel und allen Inseln des Indischen Meers. Beide sind so ungefährlich wie die amerikanische Riesenschlange, leben besonders in der Nähe des Wassers, nähren sich von kleinen Säugetieren, und nur alte, große Exemplare wagen sich an Ferkel und die Kälber der kleinen Hirscharten. Sie legen eine größere Anzahl Eier und bebrüten dieselben mehrere Monate. Auch in der Gefangenschaft hat sich die Tigerschlange fortgepflanzt. Man hält sie hier und da gern als Rattenfängerinnen; anderwärts werden sie sehr gefürchtet.

Tigerwolf, s. Hyäne.

Tiglat Pilesar (Tuklat-habalasur), Name zweier assyrischer Könige: 1) T. I., 1130-1100 v. Chr., unternahm Eroberungszüge nach Armenien und Syrien. -

2) T. II., 745-727, Sohn Assurnirars II., der Begründer der assyrischen Weltmacht, dehnte die Grenzen des Reichs über Iran bis zum Persischen Golf und nach Arabien aus, unterjochte Babylonien sowie den westlichen Teil des Hochlandes von Iran und vollendete in zahlreichen Feldzügen die Unterwerfung Syriens, setzte nach der Ermordung Pekahs Hosea als König von Israel ein, führte viele angesehene Einwohner als Gefangene ab und eroberte 732 Damaskus, dessen König Rezin er hinrichten ließ. Die Thaten, welche die Bücher des Alten Testaments einem König Phul (s. d.) zuschreiben, kommen thatsächlich T. zu.

Tigranes, der Große, König von Armenien, geb. 121 v. Chr., aus dem Geschlecht der Arsakiden, bestieg 95 den Thron, eroberte Atropatene, Mesopotamien, das nördliche Syrien und Kappadokien, gründete die neue großartige Königsresidenz Tigranokerta am Nikephorios und nannte sich König der Könige. Als er den Römern die Auslieferung seines zu ihm geflüchteten Schwiegervaters Mithridates verweigerte, wurde er 69 von Lucullus bei Tigranokerta besiegt und bis Artaxata verfolgt, wo 68 Lucullus durch eine Meuterei in seinem Heer zur Umkehr gezwungen wurde. Nach der zweiten Niederlage des Mithridates durch Pompejus unterwarf er sich 66 diesem und empfing Armenien unter römischer Oberhoheit zurück, mußte aber alle Eroberungen abtreten und 6000 Talente zahlen. Er starb 36.

Tigre (franz., spr. tihgr), kleiner Reitknecht, Groom.

Tigré (Tigrié), der nördliche Teil Abessiniens, welcher zeitweilig ein eignes Reich bildete und aus den Landschaften Hamasên, Saraë, Adiabo, Schiré, Agamé, Enderta und dem eigentlichen T. besteht. Die hauptsächlichsten Flüsse des Landes sind der Mareb und Takazzé; in Bezug auf seine Bodengestaltung und Produkte s. Abessinien. Die Bewohner des Landes, dem äthiopischen Stamm angehörig, unterscheiden sich von ihren südlichen Nachbarn, den Amhara, in mancher Beziehung, namentlich auch durch die Sprache. Dieselbe (Tigrinja; Grammati von. Prätorius, Halle 1872, und von Schreiber, Wien 1886) ist eine Tochtersprache des Altäthiopischen (Geez), wird aber nicht geschrieben; dagegen wird das ebenfalls dem Geez verwandte Tigrié oder Baose in der Samhara und von den Beni Amer an der Seeküste unter 16-18° nördl. Br. gesprochen. Hauptstadt von T. ist Adua. Das selbständige Reich T. ging 9. Febr. 1855 in der Schlacht von Debela (in Semién) zu Grunde, wo sein letzter Herrscher, Ubié, von Theodoros II. besiegt und um sein Land gebracht wurde. Auch in der Folge blieb T. mit dem Zentralstaat (Amhara) vereinigt. S. Karte "Ägypten etc."

Tigri, Giuseppe, ital. Schriftsteller, geb. 22. Nov. 1806 zu Pistoja, widmete sich aus äußern Anlaß dem geistlichen Stand, lebte aber als Abbate ganz den Wissenschaften und gründete in den 30er Jahren ein Lehrinstitut, welches bis 1850 bestand. 1861 machte er eine Reise durch die Schweiz, Deutschland, Holland, Belgien, England und Frankreich, wirkte dann als Inspektor der Schulen von Pistoja und San Miniato und als Studienprovisor in Caltanissetta, endlich als Bibliothekar der Biblioteca Forteguerri in Pistoja, wo er 9. März 1882 starb. Er schrieb: "Le selve" (1844, 2. Aufl. 1868), ein ausgezeichnetes Lehrgedicht über die Pflege des Kastanienbaums, in welchem sich mit dem Lehrhaften fesselnde Naturschilderungen und historische Exkurse verbinden, und veröffentlichte die "Canti popolari toscani", sein Hauptwerk, das in mehreren Auflagen (am besten, Flor. 1856) verbreitet ist. Nicht geringern Beifall fand sein durch pittoreske Schilderungen ausgezeichneter Roman "La selvaggia de' Vergiolesi" (1870, 2. Aufl. 1876). Sein Lleblingsthema, das Leben der Gebirgsbewohner, behandelte er teilweise auch in den Schriften: "Il montanino toscano volontario alla guerra dell' indipendenza italiana 1859" (1860), "Volontario e soldato" (1872), "Celestina, bozzetto montanino" (1880) u. "Matilde", denen eine historische Novelle in Versen (1881) folgte. Aus Tigris Feder stammt ferner die gekrönte Preisschrift "Contro i pregiudizii popolari etc." (1870); die Reisebeschreibung "Da Firenze a Costantinopoli e Mosca" (1877) u. a.

Tigris, Tiger.

Tigris (v. altpers. tigra, "Pfeil", assyr. Chiddekel, armen. Deklath, arab. Didschle), einer der Hauptströme von Vorderasien, nächst dem Euphrat, mit dem er das altberühmte Kulturland Mesopotamien umschließt, der größte Fluß in der asiatischen Türkei, entspringt in mehreren Quellflüssen am Südrand der armenischen Taurusketten in Kurdistan. Der westliche, vorzugsweise Didschle oder Schatt genannt, entspringt südlich von Charput unweit der großen Biegung des Euphrat, fließt bei Diarbekr vorüber, wendet sich östlich und nimmt in enger Gebirgsschlucht bei Til den östlichen Arm, Bohtântschai genannt, auf, der südlich von Wan entspringt, und in den der dritte Quellfluß, Bitlistschai, mündet. Von nun an behält der T. im allgemeinen südöstliche Richtung bei. Er fließt zunächst mit bedeutenden Windungen durch die assyrische Ebene an Mosul und Bagdad vorüber, nähert sich dort dem Euphrat, durch zahlreiche, zum großen Teil trockne Kanäle mit ihm

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Tiguriner - Tilgner.

verbunden, bis auf ca. 30 km, nimmt in seinem untern Lauf den Namen Amara an und vereinigt sich nach einem Laufe von ungefähr 1500 km bei Korna mit dem Euphrat zu einem einzigen Strom, dem Schatt el Arab (s. d.). Bei der Vereinigung beider Ströme ist der T. weit wasserreicher und reißender als der Euphrat. Von den zahlreichen Nebenflüssen des T. sind die bedeutendsten: Chabur, die beiden Zab und Diala. Der vereinigte Strom nimmt noch die Kercha und den Kârûn auf. Der T. ist von Mosul an schiffbar (für Kellek, d. h. Flöße aus aufgeblasenen Tierhäuten, von Diarbekr an), hat eine ansehnliche Breite und Tiefe, aber auch viele Felsenklippen; der vereinigte Strom ist auch für große Schiffe fahrbar, doch wird die Einfahrt an der Mündung durch Sandbänke sehr erschwert. Die Ufer des T., einst Sitze hoher Kultur und Zivilisation, sind jetzt verödet und, mit Ausnahme der Orte Diarbekr, Mosul und Bagdad, fast nur von nomadischen Kurden- und Araberstämmen bewohnt.

Tiguriner, kelt. Volk, welches den helvetischen Pagus Tigurinus bewohnte. Die T. erscheinen zuerst in Verbindung mit den Cimbern, mit denen sie das südliche Gallien verwüsteten; 107 v. Chr. schlugen sie am Lemanischen See den Konsul L. Cassius; dann folgten sie 102 den Cimbern nach Osten, drangen aber nicht in Italien ein, sondern kehrten in ihre Heimat zurück, nahmen 58 an dem Zug der Helvetier nach dem südlichen Gallien teil, wurden von Cäsar an der Saône geschlagen und zur Rückkehr nach der Schweiz gezwungen.

Tikal (Bat), 1) siames. Silbermünze, 15,228 g schwer, 0,928 fein, im Wert von 2,544 Mk.;

2) Gewicht in Siam (= 4 Salung à 2 Fuang = 15,292 g) und in Birma (= 1/100 Pehtha = 16,556 g).

Tikei, Insel, s. Romanzow.

Tiki-Tiki, Zwergvolk, s. Akka.

Tikmehl, s. Arrow-root.

Tikotschin (Tikoczyn), Stadt im russisch-poln. Gouvernement Lomsha, am Narew, mit 3 Kirchen, lebhaftem Grenzverkehr und (1882) 6008 Einw.

Tikuna, Indianerstamm im Innern von Brasilien, welcher mit vielen andern größern und kleinern Völkern (Miranha am obern Yapure, Catauaxi am Coury, Botokuden im O. des São Francisco u. a.) innerhalb des Gebiets der Tupi-Guarani und der Omagua wohnt. Wahrscheinlich hängen die T. nicht mit jenen zusammen, bilden vielmehr die zersprengten Überreste eines oder mehrerer größerer Stämme. S. Tafel "Amerikanische Völker", Fig. 22 u. 23.

Tikunagift, s. Pfeilgift.

Tilborch, Gillis, niederländ. Maler, geboren um 1625 zu Brüssel, Schüler von D. Teniers, wurde 1654 Meister daselbst und starb um 1678. Er hat in der Art seines Meisters und Craesbeecks Genrebilder aus dem Bauernleben (Hochzeiten, Wirtshausszenen, Schlägereien u. dgl. m.) gemalt. Hauptwerk: Bauernhochzeit (in Dresden).

Tilburg, Stadt in der niederländ. Provinz Nordbrabant, durch Eisenbahnen mit Breda, Nimwegen, Boxtel und Turnhout verbunden, hat ein Kantonalgericht, eine höhere Bürgerschule, einen erzbischöflichen Palast, 4 römisch-katholische und eine reform. Kirche, eine Synagoge, starke Tuch- und Wollzeugfabrikation, Gerberei etc. (im ganzen über 300 Fabriken) und (1887) 32,016 Einw.

Tilbury (engl., spr. tillberi), Art Kabriolett, ein leichter zweiräderiger Gabelwagen.

Tilbury (spr. tillberi). Dorf in der engl. Grafschaft Essex, an der Themse, Gravesend gegenüber; dabei das Fort T., ursprünglich von Heinrich VIII. erbaut. Hier hielt die Königin Elisabeth Heerschau über die englische Armee, als die spanische Armada England bedrohte. Oberhalb sind seit 1882 großartige Docks mit 168 Hektar Wasserfläche und 11 m Tiefe gebaut worden.

Tilde (span.), "Strichlein", insbesondere das Zeichen auf dem (spanischen) ñ, z. B. señor (spr. ssénjor).

Tilden, Samuel Jones, amerikan. Staatsmann, geb. 9. Febr. 1814 zu New Lebanon im Staat New York, studierte Jura und ward 1841 Advokat in New York. Frühzeitig widmete er sich der Politik, wurde bald ein hervorragender Führer der demokratischen Partei und war viele Jahre Präsident des demokratischen Komitees, eine Stellung, die ihm großen Einfluß gab. Er that sich besonders 1871 durch Sprengung des "Tammany-Rings" (s. d.) hervor. 1874 ward er zum Gouverneur des Staats New York gewählt und 1876 von den Demokraten als Gegenkandidat für die Präsidentschaft gegen den Republikaner Hayes aufgestellt. T. siegte zwar, doch kassierte die republikanische Majorität des zur Prüfung der Wahlstimmen berufenen Kongreßausschusses mehrere für ihn abgegebene Stimmen und proklamierte Hayes als Präsidenten. Auch zum Gouverneur von New York wurde T. 1880 nicht wieder gewählt, zog sich ganz vom politischen Leben zurück und starb 4. Aug. 1886. Seine "Writings and speeches" wurden von Bigelow herausgegeben (New York 1885, 2 Bde.).

Tile Kolup, s. Holzschuh.

Tilguer, Viktor, Bildhauer, geb. 25. Okt. 1844 zu Preßburg, bildete sich auf der Akademie zu Wien und bei den Professoren Bauer, Gasser und Schönthaler und erhielt noch während seiner Studienzeit den Auftrag, die Büste des Komponisten Bellini für das Opernhaus und die Statue des Herzogs Leopold VI. für das Arsenal auszuführen. Durch den Einfluß des französischen Bildhauers Deloye, welcher 1873 eine Zeitlang in Wien thätig war, und an den sich T. anschloß, wurde dieser auf den naturalistischen Stil der Barock- und Rokokoplastik geführt, in dessen Formensprache er sich, ähnlich wie R. Begas in Berlin, fortan bewegte. Seine ersten hervorragenden Schöpfungen waren Porträtbüsten, unter denen die von Charlotte Wolter (1873, s. Tafel "Bildhauerkunst X", Fig. 12) seinen Namen zuerst bekannt machte. Nachdem er 1874 eine Reise nach Italien unternommen, entfaltete er in Wien eine umfangreiche Thätigkeit auf dem Gebiet der Porträt- und dekorativen Plastik. Von seinen durch höchste Lebendigkeit, feinste Individualisierung und originelle Komposition ausgezeichneten Porträtstatuen und -Büsten sind die hervorragendsten: Kaiser Franz Joseph, Kronprinz Rudolf, die Maler Führich, Schönn und Leopold Müller, H. Laube, Bauernfeld, Rubens (für das Künstlerhaus in Wien), von seinen dekorativen Arbeiten: die Figuren der Phädra und des Falstaff für das neue Opernhaus, Triton und Najade (Brunnengruppe in Erz im Volksgarten zu Wien), Brunnen- und Bassinsgruppen für die kaiserlichen Villen in Ischl und im Tiergarten bei Wien, für den Hochstrahlbrunnen beim Palais Schwarzenberg in Wien (1887) und für Preßburg (1888). In diesen Figuren, Gruppen und Zieraten für Brunnen hat T. eine reiche Phantasie entfaltet, welche auch dem Ausdruck des Monumentalen gerecht wird. Für Preßburg hat T. ein Denkmal des Komponisten Hummel geschaffen. In neuerer Zeit hat er an Porträtbüsten und Genrestatuetten glückliche Versuche in der Polychromie gemacht. Er ist Professor an der Wiener Kunstakademie, in welcher Stellung er zahlreiche

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Tilgungsfonds - Tilly.

Schüler gebildet hat, Mitglied der Berliner Kunstakademie und besitzt die große goldene Medaille der Berliner Kunstausstellung.

Tilgungsfonds (Tilgestamm, engl. Sinking fund), ein Kapitalfonds, welcher früher in mehreren Staaten zu dem Zweck gebildet worden war, die allmähliche Tilgung der Staatsschulden zu erleichtern. Anfänglich durch eine Ausstattung der Staatskasse gegründet und auch durch Überweisung gewisser Überschüsse vermehrt, sollten diesem Stock alljährlich die ersparten Zinsen abgetragener Schuldposten so lange zufließen, bis er, um Zins und Zinseszins anwachsend, die ganze Schuld in sich aufnehmen und so die völlige Abtragung bewirken müßte. Ein solcher T. (Sinking fund) wurde 1716 in England durch Rob. Walpole eingerichtet. Alle getilgten Schuldbriefe sollten als ein Vermögen der Anstalt betrachtet und derselben fortwährend aus der Staatskasse verzinst werden. Doch wurde dieses Ziel nicht erreicht und endlich nach mehreren Wandlungen 1828 der Grundsatz angenommen, daß künftig nur so viel in jedem Jahr getilgt werden solle, als von den Einkünften nach Bestreitung des Staatsaufwandes wirklich übrigbleibe. Diesen Grundsatz der freiern Tilgungsweise hat man heute fast in allen Staaten aufgestellt, in welchen überhaupt Schulden abgetragen werden. Insbesondere wurde man hierzu durch die Thatsache gezwungen, daß häufig neue Anleihen unter ungünstigern Bedingungen als denen aufgenommen werden mußten, unter welchen man tilgte. So wurden in England 1793-1813 für 14 Mill. Pfd. Sterl. weniger Obligationen eingelöst, als man nach dem Emissionskurs der kontrahierten Anleihen für den gleichen Betrag zu vertreiben genötigt war. In Frankreich entstand ein Verlust von 105 Mill. Fr. am Schuldstamm daraus, daß man im Durchschnitt jeden Frank Rente für 18¾ Fr. zurückkaufte und zugleich bei den neuen Rentenverkäufen nur 15¾ Fr. dafür erhielt.

Tilgungsrenten, die zur Amortisation von Hypothekenschulden an landwirtschaftliche Kreditkassen gezahlten Beiträge.

Tilgungsschein, s. Modifikation.

Tilia, Pflanzengattung, s. Linde.

Tiliaceen (lindenartige Gewächse), dikotyle Familie aus der Ordnung der Kolumniferen, Bäume und Sträucher, wenige Kräuter, mit meist wechselständigen Blättern mit freien, meist abfallenden Nebenblättern. Die Blüten sind gewöhnlich zwitterig, achsel-, seltener endständig. Die 4 oder 5 Kelchblätter haben klappige Knospenlage und sind hinfällig. Die Blumenblätter stehen in derselben Anzahl abwechselnd mit den Kelchblättern am Grunde des flachen oder stielförmigen Blütenbodens, sind genagelt, ganz oder an der Spitze zerschlitzt, in der Knospenlage dachig, ebenfalls abfallend, bisweilen ganz fehlend. Die meist zahlreichen, durch Spaltung aus 5 oder 10 Grundanlagen hervorgehenden Staubgefäße stehen auf dem Blütenboden, sind alle fruchtbar, bisweilen die äußern steril oder auch die innern; in manchen Fällen sind sie gruppenweise miteinander verwachsen. Der oberständige Fruchtknoten besteht aus 2-10 quirlständigen Fruchtblättern und hat demgemäß 2-10 Fächer, welche bisweilen durch eine sekundäre Scheidewand zwei-, seltener durch Querscheidewände mehrfächerig sind. Die Frucht ist entweder eine meist fachspaltige Kapsel oder nicht aufspringend, leder- oder holzartig, oder eine Steinbeere. Die Samen haben ein meist fleischiges Endosperm und in der Achse desselben einen geraden Keimling mit flachen, blattartigen Kotyledonen. Vgl. Bocquillon, Mémoire sur le groupe des Tiliacées. Adansonia VII. Die Familie zählt gegen 300 Arten, von denen die meisten in den Tropen, wenige, wie die Gattung Tilia, in der nördlichen gemäßigten Zone einheimisch sind. Von einigen sind die saftigen Früchte und die ölreichen Samen genießbar. Andre, wie die Linde und Corchorus olitorius, liefern Bastfasern (Jute) und Nutzholz. Fossil sind Arten der Gattungen Tilia L., Grewia Juss., Apeibopsis Heer u. a. aus Tertiärschichten bekannt.

Tilla, die in Mittelasien kursierende Goldmünze; die kleine T., in Chiwa und Chokand, hat 12 Tenga, die große T., in Bochara, 20 Tenga.

Tillandsia L. (Haarananas), Gattung aus der Familie der Bromeliaceen, meist kleine Kräuter im heißen Amerika, mit dünnen Stengeln, als Schmarotzer auf Bäumen wachsend. T. usneoides L., besonders in Guayana, hängt mit den fadenförmigen ellenlangen und untereinander verschlungenen Luftwurzeln von den Ästen der Bäume herunter, wie Flechten. Die von der Rinde entblößten Luftwurzeln kommen als braune oder schwarze, bis 22 cm lange Faser (Baumhaar, Caragate, Crin végétal) in den Handel und bilden ein treffliches Surrogat des Roßhaars für Polsterungen.

Tillemont (spr. tilmóng), Sébastien le Nain de, Kirchenhistoriker, geb. 30. Nov. 1637 zu Paris, ward bei den jansenistischen Theologen zu Port Royal gebildet, wo er auch bis zu dessen Aufhebung 1679 lebte; dann zog er sich auf sein zwischen Vincennes und Montreuil gelegenes Gut T. zurück, wo er 10. Jan,. 1698 starb. Seine Hauptwerke sind die "Mémoiren pour servir à l'histoire ecclésiastique des six primiers siècles" (Par. 1693-1712, 16 Bde.) und "Histoire des empereurs et des audres princes, qui ont regné durant les six premiers siècles de l'église" (1691-1738, 6 Bde., unvollendet). Von seiner "Vie de saint Louis" erschien eine neue Ausgabe 1846-51, 6 Bde.

Tilletía Tul., Pilzgattung, s. Brandpilze.

Tillicoultry (spr. tillikúhtri), Stadt in Clackmannanshire (Schottland), im Thal des Devon, hat bedeutende Wollwarenfabrik und (1881) 3732 Einw.

Tillodoutier, s. Zahnlücker.

Tilly, Johann Tserklaes, Graf von, berühmter Feldherr des Dreißigjährigen Kriegs, geb. 1559 auf dem Schloß Tilly in Brabant, ward in einem Jesuitenkloster erzogen, trat zuerst in spanische Kriegsdienste, in denen er unter Alexander von Parma seine militärische Schule durchmachte, dann in lothringische, 1598 in kaiserliche Dienste, focht 1600 als Oberstleutnant in Ungarn gegen die Insurgenten und Türken, stieg 1601 zum Obersten eines Wallonenregiments und nach und nach zum Artilleriegeneral auf und erhielt 1610 von Maximilian I. von Bayern die Reorganisation des bayrischen Kriegswesens übertragen. Beim Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs zum Feldmarschall der katholischen Liga ernannt, gewann er 8. Nov. 1620 die Schlacht am Weißen Berg, brach 1621 gegen den Grafen Ernst von Mansfeld auf und verfolgte ihn bis in die Oberpfalz, dann in die Rheinpfalz, wurde 27. April 1622 von dem Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach und Mansfeld bei Wiesloch geschlagen, besiegte aber dann den erstern 6. Mai bei Wimpfen am Neckar, hierauf den Herzog Christian von Braunschweig 20. Juni bei Höchst a. M. und eroberte Heidelberg, Mannheim und Frankenthal. Infolge des entscheidenden Siegs 5. und 6. Aug. 1623 bei Stadtlohn im Münsterschen

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Tilos - Timäos.

über den Herzog von Braunschweig ward T. vom Kaiser in den Grafenstand erhoben. Er blieb zunächst in Niedersachsen stehen, wo er die gewaltsame Restitution der protestantischen Bistümer und Klöster an die katholische Kirche und die Jesuiten ins Werk setzte und den niedersächsischen Kreis zum Kampf zwang, schlug 27. Aug. 1626 den Dänenkönig Christian IV. bei Lutter am Barenberg, eroberte mit den Kaiserlichen unter Wallenstein Schleswig-Holstein und Jütland und zwang den König 12. Mai 1629 zum Abschluß des Friedens von Lübeck. 1630 an Wallensteins Stelle zum Generalissimus der ligistischen und kaiserlichen Truppen ernannt, übernahm er die Durchführung des Restitutionsedikts in Norddeutschland und begann zu diesem Zweck die Belagerung von Magdeburg. Zwar gelang es ihm nicht, Gustav Adolfs Vordringen in Pommern zu hindern; aber Magdeburg eroberte er 20. Mai 1631. Doch war die Eroberung für ihn nutzlos, da der Brand die Stadt in einen Trümmerhaufen verwandelte. Er konnte sich daher an der Niederelbe gegen den Schwedenkönig nicht behaupten und fiel in Sachsen ein, das er plünderte und verwüstete. Hierdurch trieb er den sächsischen Kurfürsten zum Bündnis mit Gustav Adolf, deren vereinigtem Heer er 17. Sept. 1631 in der Schlacht bei Breitenfeld, in welcher der König seine überlegene Kriegskunst entwickelte, erlag; T. selbst wurde verwundet, sein Heer löste sich auf. Er eilte hierauf nach Halberstadt, wo er Verstärkungen an sich zog, und brach dann nach dem von den Schweden bedrohten Bayern auf. Bei Verteidigung des Lechübergangs bei Rain 5. April 1632 ward ihm durch eine Falkonettkugel der rechte Schenkel zerschmettert, und er starb infolge davon 20. April d. J. in Ingolstadt. T. war von mittlerer Statur und hager. Scharfe Gesichtszüge und große, unter buschigen grauen Wimpern hervorblickende, feurige Augen verrieten die eiserne Härte seines Charakters. Er haßte Aufwand und äußere Ehrenbezeigungen, verschmähte es, sich an der Kriegsbeute zu bereichern, und hielt auch in seinem Heer strenge Mannszucht. Vor allem war er von kirchlichem Eifer beseelt, die Ausrottung der Ketzerei in Deutschland war ihm Gewissenssache, und er hat dem Kampf den fanatisch-religiösen Charakter mit aufdrücken helfen. Dagegen war er kein roher Wüterich, wie ihn die protestantische Geschichtschreibung darzustellen pflegte. Die neuern katholischen Schriftsteller (O. Klopp, T. im Dreißigjährigen Krieg, Stuttg. 1861, 2 Bde., und Villermont, T., Tournai 1859, 2 Bde.; deutsch, Schaffh. 1860) haben T. mit Erfolg von diesem Vorwurf gereinigt, gehen aber in ihrer sonstigen Rettung zu weit. Von dem Vorwurf, T. habe die Zerstörung Magdeburgs gewollt, reinigten ihn die Protestanten Heising ("Magdeburg nicht durch T. zerstört", 2. Aufl., Berl. 1855) und Wittich ("Magdeburg, Gustav Adolf und T.", das. 1874). Im J. 1843 ward ihm in der Feldherrenhalle zu München eine Statue (Modell von Schwanthaler) errichtet.

Tilos (Episkopi, Piskopi, das alte Telos), türk. Felseninsel im Ägeischen Meer, nordwestlich von Rhodos, mit gutem Hafen, Resten der alten Stadt Telos und 800-1000 griech. Einwohnern.

Tilsit, Kreisstadtim preuß. Regierungsbezirk Gumbinnen, am Einfluß der Tilse in die Memel und an der Linie Insterburg-Memel der Preußischen Staatsbahn, 10 m ü. M., hat 4 evangelische (darunter eine runde litauische) und eine kath. Kirche, eine Synagoge, 3 Bethäuser, ein schönes Rathaus, 2 neue große Kasernen und (1885) mit der Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 41 und ein Dragonerregiment Nr. 1) 22,422 Einw. darunter 21,064 Evangelische, 557 Katholiken, 285 sonstige Christen und 514 Juden. Die Industrie ist besonders wichtig in Eisengießerei und Maschinenbau, Hefen- und Spiritus-, Gips-, Kunstwolle-, Chemikalien-, Knochenkohlen-, Seifen-, Kunststein-, Käse-, Schnupftabaks- und Möbelfabrikation, auch befinden sich dort 4 Dampfmahl- und 8 Dampfschneidemühlen, 2 Ölmühlen, 4 Bierbrauereien, eine Schaumweinfabrik, eine Holzimprägnieranstalt, eine Kalkbrennerei etc. Der Handel, unterstützt durch eine Korporation der Kaufmannschaft, eine Reichsbankstelle (Umsatz 1887: 45 1/3 Mill. Mk.) und neben der Eisenbahn durch die Schiffahrt auf der Memel, ist besonders bedeutend in Tabak, Holz, Getreide, Steinkohlen, Flachs, Öl, in Schuhwaren etc., auch hat T. besuchte Pferdemärkte. Die Stadt ist Sitz eines Landgerichts und eines Hauptzollamtes und hat ein Gymnasium, ein Realgymnasium, einen Kunstverein, ein Waisenhaus etc. Zum Landgerichtsbezirk T. gehören die neun Amtsgerichte zu Heinrichswalde, Heydekrug, Kaukehmen, Memel, Prökuls, Ragnit, Ruß, Skaisgirren und T. 4 km westwärts von T. fängt die Tilsiter Niederung an, ein fruchtbarer Landstrich im Bereich der Mündungsarme der Memel, der sich von N. nach S. 80, von O. nach W. 53 km weit ausdehnt und am Kurischen Haff auch den Forst von Ibenhorst (mit Elentieren) umschließt. Geschichtlich merkwürdig ist T. durch den am 7. und 9. Juli 1807 von Napoleon I. daselbst abgeschlossenen Frieden zwischen Frankreich und Rußland, bez. Preußen, welch letzteres die Hälfte seines Gebiets verlor. Vgl. "Aus Tilsits Vergangenheit" (2. Aust., Tilsit 1888, 2 Tle.).

Tim, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, am Fluß T. (Nebenfluß der Sosna), mit 2 Kirchen, Obst-und Gartenbau und (1885) 4543 Einw.

Timan (Timansche Tundra), Landstrich im Mesenschen Kreis des russ. Gouvernements Archangel, beginnt am linken Ufer der Petschora, reicht im W. bis zur Halbinsel Kanin, im N. bis zum Eismeer und wird im S. von der Zylma und Pesa begrenzt. In der Mitte zieht sich der Timansche Höhenzug, eine bis zu 63 m relativer Höhe sich erhebende Wasserscheide zwischen der Petschora und Dwina, vom obern Lauf der Wytschegda im Gouvernement Wologda bis zum Eismeer. Die Tundra ist Moosweide. von Flüssen durchschnitten, voll fischreicher Seen und gehört den Samojeden.

Timanthes, griech. Maler, gebürtig von der Insel Kydnos, Zeitgenosse des Zeuxis und Parrhasios, berühmt durch sein Gemälde der am Altar stehenden Iphigenia, mit welchem er seinen Nebenbuhler Kolotes von Teos besiegte. Tiefe und Bedeutsamkeit der geistigen Auffassung seiner Stoffe zeichneten ihn aus.

Timäos, 1) Pythagoreischer Philosoph aus Lokri, von welchem der die Naturphilosophie behandelnde Dialog Platons den Namen führt, lebte gegen 400 v. Chr. und bekleidete in seiner Vaterstadt die höchsten Ehrenstellen. Die ihm beigelegte, aber unechte Schrift "Von der Weltseele" wurde (außer in den Ausgaben des Platon von Bekker, Hermann etc.) von Gelder (Leid. 1836) herausgegeben, übersetzt von C. C. G. Schmidt (Leipz. 1835). Vgl. Anton, De origine libelli etc. (Erfurt 1883).

[Wappen von Tilsit.]

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Timavo - Timoleon.

2) Griech. Geschichtschreiber aus Tauromenium, um 290 v. Chr., wurde vom Tyrannen Agathokles aus Syrakus verbannt. Die Fragmente seiner Geschichte Siziliens sowie der Geschichte des Kriegs der Römer mit Pyrrhos sammelte Müller in "Historicorum graecorum fragmenta" (Bd. 1, Par. 1841).

3) Griech. Grammatiker und Sophist, lebte wahrscheinlich im 3. Jahrh. n. Chr. und schrieb ein Platonisches Wörterbuch, wovon noch ein Teil vorhanden ist (hrsg. von Ruhnken, Leid. 1754 u. 1789; wiederholt von Koch, 2. Aufl., Leipz. 1833).

Timavo (der Timavus der Römer), Fluß im öfterreich. Küstenland, verliert sich als Rekka bei St. Kanzian in den Grotten des Karstes, kommt nach 37 km unterirdischen Laufs bei San Giovanni unfern Duino wieder zu Tage und ergießt sich 4 km tiefer in den Golf von Triest.

Timbalan, Inseln, s. Tambilan.

Timbale (franz., spr. tängbáll), Pauke; in der Kochkunst eine runde, schlichte Form von Teig, welche mit Ragout, Farce, Maccaroni etc. gefüllt wird.

Timbo, Hauptstadt von Futa Dschallon in Westafrika, in der Nähe der Quellen des Bafing, 758 m ü. M., mit 2500 Einw. Nur die Nachkommen der ersten Gründer des Reichs dürfen hier wohnen.

Timbre (spr. tängbr'), nach gewöhnlichem Sprachgebrauch s. v. w. Klangfarbe; im engern Sinn die durch die Verschiedenartigkeit des resonierenden Materials bedingte Färbung des Klanges im Gegensatz zu der durch die Zusammensetzung des Klanges aus Partialtönen bedingten; auch s. v. w. Stempel, Stempelzeichen, daher T.-poste, Postbriefmarke.

Timbuktu (Tumbutu), altberühmte Handelsstadt am Südrand der Sahara, unter 3° 5' westl. Br. v. Gr., 245 m ü. M., nominell zum Fulbestaat Massina gehörig, aber unter dem Einfluß der Tuareg stehend, 15 km nördlich vom Niger, hat über 1 Stunde im Umfang und gegen 1000 einstöckige, flach bedachte Thonwohnungen nebst einigen hundert runden Mattenhütten. Die einzigen öffentlichen Gebäude von T. sind die drei Moscheen, darunter die 1325 von Manssa Musa angefangene Dschingereber ("große Moschee") im SW. der Stadt, ein stattliches Gebäude von 80 m Länge und 59 m Breite mit 12 Schiffen und einem hohen viereckigen Turm. Die ansässige Bevölkerung, die etwa 20,000 Seelen (mohammedanische Neger und Araber) zählt, besteht aus Sonrhai, Arabern, Tuareg, Fulbe, dann Bambarra- und Mandinkanegern. Industrie ist in T. wenig; von einiger Bedeutung ist dagegen der Handel, welcher infolge der großen nördlichen Biegung des Niger sich hier konzentriert. Der Hafen der Stadt ist das von 2000 Sonrhai bewohnte Kabaraam Nordufer des Niger. Früher erstreckte sich ein Arm des Flusses bis an T. heran. Haupthandelsartikel sind: Gold (namentlich von Bambuk und Bure gebracht), Kolanüsse, Salz, Elfenbein, Gummi, Straußfedern, Sklaven, von europäischen Manufakturen rotes Tuch, Matratzen, Leibbinden, Spiegel, Messer, Zucker, Mehl, Thee, Korallen etc., von arabischen Waren besonders Tabak, aus Tuat Datteln. Die Stadt T. war seit Jahrhunderten ein Rätsel, mit dessen Lösung sich die europäischen Geographen und Reisenden beschäftigten, ohne ihr Ziel zu erreichen. Der Brite Mungo Park drang 1805 bloß bis zum Hafenort Kabara vor. Laing gelangte zwar 1826 von Tripolis aus nach T., wurde jedoch wenige Tage darauf ausgewiesen und auf der Rückkehr ermordet. Glücklicher war der Franzose Caillié, welcher von Sierra Leone aus das Innere von Afrika bereiste und 20. April bis 3. Mai 1828 in T. verweilte, aber, weil er sich seiner Sicherheit wegen verborgen halten mußte, an umfassendern Beobachtungen verhindert wurde. Der erste Europäer, welcher von O. aus bis T. vordrang, war Heinrich Barth, welcher 7. Sept. 1853 daselbst anlangte und, vom Scheich El Bakay freundlich aufgenommen, bis 9. Juli 1854 in der Stadt und Umgegend verweilte. 1880 wurde T. von Lenz, der nur noch einen Schatten von seiner einstmaligen Größe und Bedeutung fand, 1886 dessen Hafenstadt Kabara von einem französischen Kanonenboot besucht.

Die Stadt T. wurde um 1100 n. Chr. von den Tuareg gegründet. Manssa Musa, König des islamitischen Reichs Melli (1311-31), eroberte 1326 auch T., welches sich nun als Teil eines mächtigen Reichs schnell vergrößerte und bald ein Handelsplatz ersten Ranges wurde. Gegen Ende der Regierung Manssa Musas (1329) ward es zwar von dem heidnischen König des Negerstaats von Mossi großenteils zerstört, jedoch schon von Manssa Sliman von 1335 an wiederhergestellt. Seit seiner Wiederherstellung gelangte T., begünstigt durch seine Lage am Nordpunkt des Hauptstroms vom Sudân, auf der Grenze zwischen dem dicht bevölkerten Süden und dem Karawanenhandel treibenden Norden, dazu als eine der heiligen Städte des Islam rasch zu hoher Blüte. 1591 fiel es mit den Nigerlandschaften in die Hände der Marokkaner, bis die Auelimmiden, ein mächtiger Zweig der Tuareg, 1780 das große Reich Haussa am Nordufer des Niger gründeten, welchem auch T. unterworfen wurde. Zu Anfang des 19. Jahrh. wanderten die Fulbe in die Nigerlandschaften ein und bemächtigten sich nach dem Zerfallen der Reiche im Sudân 1810 auch der Stadt T., die, ohne einem Herrscher zu unterstehen, von den Fulbe und Tuareg unaufhörlich bedroht wird. Vgl. Barth, Reisen in Zentralafrika, Bd. 4 (Gotha 1857); Lenz, Timbuktu (Leipz. 1884, 2 Bde.).

Timeo Danaos etc. (lat.), s. Danaer.

Times (engl., spr. teims, "die Zeiten"), die größte engl. Zeitung, wurde 13. Jan. 1788 von John Walter in London gegründet und nimmt seit geraumer Zeit die Stellung des einflußreichsten Weltblattes ein. Sie erscheint täglich am Morgen, seit 1877 auch auszugsweise in einer Wochenausgabe.

Timid (lat.), schüchtern, zaghaft.

Timmene, Negerstamm in Afrika, s. Temne.

Timok, Fluß der Balkanhalbinsel, bildet sich aus dem östlichen Trgovischki-T., der auf der Stara Planina, und dem westlichen Svrlyitschki-T., der auf der Babina Glava entspringt. Beide vereinigen sich bei Knjaschewatz in Serbien zum T., der nördlich zur Donau fließt, bei Saitschar den Mali-T. aufnimmt und in seinem Unterlauf die Grenze (auch die sprachliche) zwischen Serbien und Bulgarien bildet.

Timokratie (griech.), Staatsverfassung, welche die politischen Rechte und Pflichten der Bürger nach Maßgabe des Vermögens festsetzt, wie z. B. die Solonische Verfassung in Athen, die Servianische in Rom.

Timoleon, Korinther, geboren um 411 v. Chr., edel und mild, aber von unauslöschlichem Haß gegen alle Tyrannei beseelt, ließ sogar 366 seinen Bruder Timophanes, der sich an der Spitze von 1100 Söldnern der Alleinherrschaft bemächtigen wollte, töten und lebte dann 20 Jahre in Zurückgezogenheit. Auf den Hilferuf der Syrakusier 347 mit einem kleinen Heer geworbener Krieger nach Sizilien geschickt, bemächtigte er sich erst der Stadt, 343 auch der Burg von Syrakus, die er zerstören ließ, stellte dann die demokratische Verfassung wieder her und leitete die

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Timomachos - Timur.

Stadt mit Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit. Er zwang auch die Karthager durch die Schlacht am Krimissos (340) zur Räumung Siziliens, stellte hierauf in den übrigen griechischen Städten Siziliens die republikanische Verfassung wieder her und vereinigte sie mit Syrakus zu einem Bund. Er starb 337. Seine Lebensbeschreibung gaben Plutarch u. Cornelius Nepos heraus. Vgl. Arnoldt, Timoleon (Gumb. 1850).

Timomachos, griech. Maler, aus Byzanz gebürtig, der Diadochenzeit angehörig, berühmt durch eine Reihe von Bildern aus dem Heroenkreis, wie Medea, Ares, Iphigenia in Tauris, Orestes. Cäsar als Diktator bezahlte für die ersten beiden Gemälde den hohen Preis von 80 Talenten, um sie für Rom zu erwerben.

Timon, 1) ein durch seinen Menschenhaß bekannt gewordener Athener, war ein Zeitgenosse des Sokrates und bekämpfte mit beißendem Spotte die damals in Athen einreißende Sittenlosigkeit, allen Umgang mit den Menschen vermeidend. Lukian machte ihn zum Gegenstand eines Dialogs, der noch erhalten ist. Auch Shakespeare hat von ihm die Charakterperson seines Stücks "T. von Athen" entlehnt. Vgl. Binder, Über T., den Misanthropen (Ulm 1856).

2) Griech. Dichter, um 280 v. Chr. zu Phlius geboren, der sogen. Sillograph (s. Sillen).

Timor, die östlichste und bedeutendste der Kleinen Sundainseln im Indischen Ozean (s. Karte "Hinterindien"), mißt mit den Nebeninseln (Rotti, Landu, Samao, Kambing) 32,586 qkm (592 QM.), ist von Korallenbänken umgeben und hat meist steile und schwer zugängliche Küsten. Das Innere ist der ganzen Länge nach von einer bewaldeten Bergkette (mit Gipfeln bis 3604 m) durchzogen, von welcher zahlreiche Bäche herabstürzen. Das Klima ist heiß und an der Küste ungesund. Während des Ostmonsuns herrscht oft anhaltende Dürre, die Regenzeit dauert von November bis April. Die Tierwelt begreift Beuteltiere, fliegende Hunde, Papageien, Krokodile, Schlangen u. a. Wichtigste Ausfuhrartikel sind Mais, Sandelholz, Wachs, Schildkröten, Trepang; Gold, Kupfer und Eisen werden gefunden. Die Einwohner, deren Zahl auf 600,000 geschätzt wird, sind Papua, zum Teil vermischt mit Malaien, Chinesen, Portugiesen, Holländern. Der südwestliche größere Teil der Insel gehört den Niederlanden und bildet mit den Inseln Floris, Sumba, Savu, den Solor- und Allorinseln und Rotti die Residentschaft T., 57,409 qkm (1042,6 QM.) groß mit 350,000 Einw., worunter 250 Europäer, 1112 Chinesen und 33,015 eingeborne Christen. Hauptort ist Kupang am Südufer der Bai von Kupang mit einem durch das Fort Concordia geschützten Hafen (Freihafen) und 7000 Einw. Der portugiesische Teil umfaßt 16,300 qkm (296 QM.) mit 250,000 Einw. und der Hauptstadt Dili (Dehli) an der Nordküste, wo der unter dem Generalgouverneur zu Goa stehende Statthalter residiert. Die ersten portugiesischen Missionäre kamen 1610 nach T. und sicherten Portugal den Besitz, doch setzten sich schon 1688 die Holländer im südwestlichen Teil fest. Den Bekehrungsversuchen der Missionäre tritt hier wie auch sonst in diesen Meeren der sich immer mehr ausbreitende Islam entgegen. Vgl. Bastian, Indonesien, Bd. 2 (Berl. 1885).

Timorlaut, Insel, s. Tenimberinseln.

Timotheos, 1) berühmter griech. Dithyrambendichter aus Milet, jüngerer Zeitgenosse des Philoxenos, gest. 357 v. Chr. Sammlung der Fragmente in Bergks "Poetae lyrici graeci" und mit Übersetzung in Hartungs "Griechischen Lyrikern" (Bd. 6, Leipz. 1857).

2) Athen. Feldherr, Sohn Konons, mit dem er 393 v. Chr. nach Athen zurückkehrte, zeichnete sich im Kriege gegen Sparta, in welchem er Korkyra eroberte und 375 bei Leukas die spartanische Flotte vernichtete, aus, ging 364 nach Kleinasien, um den aufständischen Satrapen Ariobarzanes zu unterstützen, eroberte Samos, Sestos und andre Städte, befehligte mit Iphikrates im Bundesgenossenkrieg und ward, als er nebst diesem des Sturms wegen eine Schlacht vermieden hatte, 355 der Bestechung und des Verrats angeklagt. Zu 100 Talenten Strafe verurteilt, ging er freiwillig in die Verbannung nach Chalkis, wo er starb. Seine Biographie hat Cornelius Nepos gegeben. Vgl. Rehdantz, Vitae Iphicratis, Chabriae, Timothei (Berl. 1845).

3) Gehilfe und Begleiter des Paulus, aus Lykaonien gebürtig, ward von seiner Mutter, einer Judenchristln, fromm erzogen und von Paulus zum Christentum bekehrt, worauf er teils mit diesem, teils in dessen Auftrag Makedonien und Griechenland bereiste. Später erscheint er in Ephesos und dann in Rom während des Paulus Gefangenschaft daselbst. Die Tradition macht ihn zum ersten Bischof von Ephesos, wo er auch den Märtyrertod erlitten haben soll. Über die beiden an T. gerichteten Briefe des Apostels Paulus s. Pastoralbriefe.

Timothygras, s. Phleum.

Timpani (ital.), Pauken.

Timsahsee ("Krokodilsee"), ein vom Suezkanal (s. d.) durchzogener See in Unterägypten, zwischen dem Ballahsee und den Bitterseen, vor dem Bau des Kanals eine sumpfige Lagune mit brackigem Wasser, jetzt von schön hellblauer Farbe. Am Nordwestende liegt Ismailia (s. d.).

Timur ("Eisen"), auch Timur-Lenk, der "lahme T.", wegen seines Hinkens infolge einer Verwundung genannt, auch mit dem aus Timur-Lenk verstümmelten Namen Tamerlan benannt, geb. 1333 zu Kesch unweit Samarkand, wurde von seinem Vater Turgai, Oberhaupt des Stammes Berlas, 1356 zum Emir Kasgan geschickt; mit diesem focht er gegen Husein Kert von Chorasan (1355). Nach der Ermordung Kasgans und dem Tod seines Vaters begab sich T. an den Hof der Tschagataiden und wurde von diesen als Lehnsherr der Provinz Kesch bestätigt. Später lebte er am Hof Ilias Chodschas von Samarkand, führte dann ein Abenteurerleben in der Wüste, bis er endlich die zu seiner Verfolgung ausgeschickten Truppen Ilias' mit seiner kleinen Schar schlug. Nach Ernennung eines Schattenkönigs, den Kriegen gegen die Tscheten, der Besiegung seines Rivalen und frühern Waffen genossen Husein ließ er sich schließlich 8. April 1369 zum Emir Transoxaniens ausrufen. Samarkand wurde seine Residenz. Seine Aufmerksamkeit richtete sich zuerst auf Herstellung der Ruhe im Innern, auf die politische Administration und militärische Organisation. Erweiterung der Grenzen seines Landes war dann sein Hauptstreben. Von 1380 an unternahm er 35 Feldzüge nach den verschiedensten Richtungen. Zuerst unterwarf er ganz Persien, 1386 Georgien; 1394 drang er bis Moskau vor, warf nach und nach alle Reiche Mittelasiens in Trümmer und eroberte 1398 Hindostan vom Indus bis zur Mündung des Ganges. Vom griechischen Kaiser und mehreren Fürsten Kleinasiens gegen den Sultan Bajesid I. zu Hilfe gerufen, brach er 1400 in das türkische Gebiet ein, eroberte Sebaste und schlug bei Cäsarea ein türkisches Heer, wandte sich aber plötzlich gegen den Sultan von Ägypten, eroberte 1401 Damaskus, zerstörte Bagdad und unterjochte ganz Syrien. Endlich (20. Juli 1402) kam es zwischen ihm und

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Tinca - Tinktur.

Bajesid zu einer entscheidenden Schlacht auf der Ebene von Angora in Natolien, in der 800,000 Mongolen den Sieg über 400,000 Türken davontrugen. T. starb, auf einem Zug nach China begriffen, 17. Febr. 1405. Grausam und blutdürstig auf seinen gewaltigen Kriegszügen, war er im Frieden ein frommer Herrscher, weiser Gesetzgeber, gerechter Richter, Beschützer der Künste und Wissenschaften. Obwohl er seinen ältesten Enkel zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, zerfiel sein Reich doch bald nach seinem Tod. Einer seiner Nachkommen, Babur, eroberte von 1498 bis 1519 Hindostan und stiftete das Reich des Großmoguls. Vgl. Langlès, Instituts politiques et militaires de Tamerlan (Par. 1787); Sherif Edin, Histoire de Timur-Bei (übersetzt von Petis de la Croix, das. 1722, 3 Bde.).

Tinca, Schleihe.

Tinchebrai (spr. tängschbrä), Stadt im franz. Departement Orne, Arrondissement Domfront, an der Bahnlinie Montsecret-Sourdeval, mit Handelsgericht, Fabrikation von Stahl- und Schlosserwaren, Papier, Woll- und Baumwollstoffen etc. und (1881) 2429 Einw.

Tindal, Matthew, engl. Freidenker (s. d.), geb. 1657 zu Bear-Ferris in Devonshire, studierte zu Oxford die Rechte, trat zur katholischen Religion über und erwarb sich dadurch König Jakobs II. Gunst, kehrte aber unter Wilhelm III. zur protestantischen Kirche zurück. Gleichzeitig begann er die Grundsätze des Deismus (s. d.) zu verbreiten. Die Heilige Schrift nannte er eine Urkunde der natürlichen Religion; das Christentum, behauptete er, sei so alt wie die Schöpfung, die Kirche eine Institution des Staats. Seine Hauptschrift: "Christianity as old as the creation, or the Gospel a republication of the religion of nature" (Lond. 1730; deutsch von Lorenz Schmidt, Frankf. a. M. 1741), wurde sehr oft abgedruckt, das Erscheinen eines zweiten Teils (der 1750 erschienene ist unecht) aber durch den Bischof von London, Gibson, verhindert. T. starb 1733 in Oxford als Senior von All Souls' College. Vgl. Lechler, Geschichte des englischen Deismus (Stuttg. 1841).

Tinea, Motte; Tineïna (Motten), Familie aus der Ordnung der Schmetterlinge, s. Motten. T. favosa, s. v. w. Erbgrind.

Ting, chines. Lusthäuschen, Gartenhäuschen.

Tingel-Tangel, Berliner Ausdruck für Singhallen niedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen und Vorstellungen. Sie erhielten ihren Namen nach dem Gesangskomiker Tange, der im Triangelgebäude sein lange populär gebliebenes Triangellied zum besten gab.

Tinghai, chines. Stadt, s. Tschouschan.

Tingieren (lat.), eintauchen, färben, mit einem Anstrich von etwas versehen.

Tingis, röm. Kolonie, s. Tanger.

Tinkal, s. Borax.

Tinkana, s. Borax.

Tinktur (lat. Tinctura), weingeistiger oder ätherischer Auszug von Pflanzenteilen oder tierischen Stoffen. Man bereitet ihn, indem man die zerschnittenen oder zerstoßenen Substanzen in einer Flasche mit Weingeist oder ätherhaltigem Weingeist übergießt und unter Umschütteln etwa 8 Tage, gewöhnlich bei 15°, in einer mit durchstochener Blase verschlossenen Flasche stehen läßt, dann auspreßt und filtriert. Tinkturen dienen als Arzneimittel, zu Likören und Parfümen. Die wichtigsten Tinkturen sind: Wermuttinktur (Tinctura Absinthii), aus 1 Teil Wermutkraut mit 5 Teilen verdünntem Spiritus; Eisenhuttinktur (T. Aconiti), aus 1 Teil Aconitknollen mit 10 Teilen verdünntem Spiritus; Aloetinktur (T. Aloës), 1 Teil Aloe mit 5 Teilen Spiritus; zusammengesetzte Aloetinktur (T. Aloës composita, Elixirium ad longam vitam), 6 Teile Aloe, je 1 Teil Enzian, Rhabarber, Zitwerwurzel, Safran mit 200 Teilen verdünntem Spiritus; bittere T. (T. amara), 2 Teile unreife Pomeranzen, je 3 Teile Tausendgüldenkraut und Enzian, je 1 Teil Zitwerwurzel und unreife Pomeranzenschalen mit 50 Teilen verdünntem Spiritus; Arnikatinktur (T. Arnicae), aus Arnikablüten wie T. Aconiti zu bereiten; aromatische T. (T. aromatica), je 1 Teil Kardamom, Gewürznelken, Galgant, 2 Teile Ingwer und 5 Teile Zimt mit 50 Teilen verdünntem Spiritus; Stinkasanttinktur (T. Asae foetidae), aus Asa foetida wie T. aloës zu bereiten; Pomeranzenschalentinktur (T. Aurantii), aus Pomeranzenschalen wie T. Absinthii zu bereiten; Benzoetinktur (T. Benzoes), aus Benzoe wie T. Aloës zu bereiten; Kalmustinktur (T. Calami), aus Kalmus wie T. Absinthii zu bereiten; Indischhanftinktur (T. Cannabis indicae), 1 Teil Extractum cannabis indicae in 19 Teilen Spiritus gelöst; Spanischfliegentinktur (T. Cantharidum), 1 Teil Spanische Fliegen mit 10 Teilen Spiritus maceriert; Spanischpfeffertinktur (T. Capsici), aus Spanischem Pfeffer wie die vorige zu bereiten; Bibergeiltinktur (T. Castorei canadensis und sibirici), aus Bibergeil wie T. Cantharidum zu bereiten; Katechutinktur (T. Catechu), aus Katechu wie T. Absinthii zu bereiten; Chinatinktur (T. Chinae), aus brauner Chinarinde wie T. Absinthii zu bereiten; zusammengesetzte Chinatinktur (T. Chinae composita, Elixirium roborans Whyttii), 6 Teile braune Chinarinde, je 2 Teile Pomeranzenschalen und Enzianwurzel, 1 Teil Zimtkassienrinde mit 50 Teilen verdünntem Spiritus digeriert; Chinoidintinktur (T. Chinoidini), Lösung von 10 Teilen Chinoidin in 85 Teilen Spiritus und 5 Teilen Salzsäure; Zimttinktur (T. Cinnamomi), aus Zimtkassie wie T. Absinthii zu bereiten; Zeitlosentinktur (T. Colchici), aus Colchicumsamen; Koloquintentinktur (T. Colocynthidis), aus Koloquinten wie T. Cantharidum zu bereiten; Safrantinktur (T. Croci), aus Safran wie T. Aconiti zu bereiten; Fingerhuttinktur (T. Digitalis), aus 1 Teil Digitalisblättern wie T. Aconiti zu bereiten; T. Ferri ..., s. Eisenpräparate; Galläpfeltinktur (T. Gallarum), 1 Teil Galläpfel mit 5 Teilen verdünntem Spiritus; Enziantinktur (T. Gentianae), aus Enzian wie T. Absinthii zu bereiten; Jodtinktur, s. d.; Ipekakuanhatinktur (T. Ipecacuanhae), aus Ipekakuanhawurzel wie T. Aconiti zu bereiten; Lobeliatinktur, aus Lobeliakraut wie T. Aconiti zu bereiten; Moschustinktur (T. Moschi), 1 Teil Moschus mit 25 Teilen Wasser und 25 Teilen verdünntem Spiritus; Myrrhentinktur (T. Myrrhae), aus Myrrhe wie Aloetinktur zu bereiten; Opiumtinktur, s. Opium, S. 407; Pimpinelltinktur (T. Pimpinellae), aus Pimpinellwurzel wie T. Absinthii zu bereiten; Ratanhatinktur (T. Ratanhae), aus Ratanhawurzel wie T. Absinthii zu bereiten wässerige Rhabarbertinktur (T. Rhei aquosa), 100 Teile Rhabarber, je 10 Teile Borax und kohlensaures Kali mit 900 Teilen siedendem Wasser übergossen, nach einer Viertelstunde 90 Teile Spiritus hinzugefügt, nach fünf Viertelstunden koliert und mit 150 Teilen Zimtwasser gemischt; weinige Rhabarbertinktur (T. Rhei vinosa), 8 Teile Rhabarber, 2 Teile Pomeranzenschalen, 1 Teil Kardamom mit 100 Teilen Jereswein, dann hinzugefügt 12 Teile Zucker; Meerzwiebel-

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Tinkturen - Tinte.

tinktur (T. Scillae), aus Meerzwiebelwurzel wie T. Absinthii bereitet; Paratinktur, s. Paraguay-Roux; Krähenaugentinktur (Strychnostinktur, T. Strychni, T. Nucum vomicarum), aus Krähenaugen wie T. Aconiti bereitet; Baldriantinktur (T. Valerianae), aus Baldrianwurzeln wie T. Absinthii bereitet; ätherische Baldriantinktur (T. Valerianae aetherea), 1 Teil Baldrianwurzel mit 5 Teilen Spiritus aethereus bereitet; Ingwertinktur (T. Zingiberis), aus Ingwer wie T. Absinthii bereitet.

Tinkturen, s. Heraldische Farben.

Tinné, Alexine, Afrikareisende, geb. 17. Okt. 1839 im Haag, Tochter eines reichen, in England naturalisierten Holländers, begleitete schon 1856 und 1858 ihre Mutter nach Ägypten, die 1861 ganz dahin übersiedelte, unternahm mit ihr und einer Tante 1862 ihre erste große Reise nach dem obern Nil bis Gondokoro, wobei auch der Sobat verfolgt ward, im Februar 1863 von Chartum aus ihre zweite, von Heuglin und Steudner begleitet, nach dem Gazellenfluß und Dschur, auf der die Mutter und bald auch die Tante dem Klima zum Opfer fielen, begab sich im Juli 1864 von Chartum über Suakin nach Kairo, besuchte 1868 Algerien und Tunis, trat im Januar 1869 von Tripolis aus eine neue Reise nach Innerafrika an, um über Bornu nach dem obern Nil vorzudringen, wurde aber auf dem Weg von Mursuk nach Ghat im Sommer 1869 von räuberischen Tuareg ermordet. Ihre zweite größere Reise nach dem Gazellenfluß ist von wissenschaftlicher Bedeutung gewesen und beschrieben in den "Transactions of the Historical Society of Lancashire etc.". Bd. 16 (Liverp. 1864). Vgl. Heuglin, Die Tinnésche Expedition im westlichen Nilgebiet 1863-64 (Gotha 1865); Derselbe, Reise in das Gebiet des Weißen Nil etc. (Leipz. 1869).

Tinnevelli (Tirunelweli), Distrikt der britisch-ind. Präsidentschaft Madras, 13,936 qkm (253 QM.) groß mit (1881) 1,699,747 Einw., darunter 81,805 protestantische und 57,129 katholische Christen. Hauptort ist Palamkotta, wichtigster Hafen Tutikorin. Die Stadt T. mit 23,221 Einw. ist Sitz der sehr thätigen protestantischen Mission in Südindien.

Tinnum, Dorf in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Tondern, auf der Insel Sylt, hat ein Amtsgericht und (1885) 320 Einw.

Tinnunculus, Rötelfalke, s. Falken, S. 10.

Tinogasta, Stadt in der Argentinischen Republik, Provinz Catamarca, an der Straße von Catamarca nach Copiapo in Chile, hat bedeutende Ausfuhr von lebendem Vieh und 6000 Einw.

Tinos (Tenos), Insel im Griech. Archipelagus, zum Nomos der Kykladen gehörig, südöstlich von Andros, 204 qkm (3,70 QM.) groß mit (1879) 12,565 Einw., ist ihrer ganzen Länge nach von einer bis 713 m hohen Gebirgskette durchzogen und zwar nicht besonders fruchtbar, aber sehr gut in Terrassen angebaut. Sie enthält Lager von weißem und schwarz geädertem Marmor, Serpentin, Verde antico, Asbest und Chromeisenerz. Die Einwohner treiben Wein- und Seidenbau, Seidenweberei, Steinmetzarbeit und Viehzucht. Sehr stark betrieben wird die Taubenzucht, sowohl wegen des Fleisches als auch wegen des Düngers. In dem fruchtbarsten Teil der Insel ist die Frankochora, eine Anzahl römisch-katholischer Ortschaften, zu bemerken. Die Hauptstadt T., auf der Südküste, ist Sitz eines römisch-katholischen Bischofs, hat 2 kath. Kirchen, einen kleinen Hafen und (1879) 2083 Einw. Nördlich davon liegt die berühmte Kirche der Panagia Evangelistria, wohin drei Wochen vor Ostern von weither gewallfahrt wird. - Die Insel T. hieß früher Ophlussa, dann Tenos. Als Bundesgenossen der Athener kämpften die Tenier bei Platää gegen die Perser. 1207 kam T. unter die Herrschaft der Ghizi, dann 1390 der Venezianer, denen es aber 1537 von dem türkischen Piraten Chaireddin Barbarossa vorübergehend abgenommen wurde. 1718 kam sie von neuem unter türkische Oberhoheit, durch den griechischen Befreiungskampf aber an Hellas.

Tinte (Dinte), jede zum Schreiben mit der Feder bereitete Mischung. Die gewöhnliche Schreibtinte muß dünnflüssig sein, ohne jedoch zu leicht aus der Feder zu fließen oder zu tropfen, sie darf bei längerm Stehen keinen Bodensatz bilden und nicht dickflüssig, gallertartig werden. Auf der Feder muß sie zu einem firnisartigen Überzug, nicht zu einer bröckeligen Masse eintrocknen. Sie darf das Papier nicht mürbe machen, mit dem Alter nicht vergilben, auch die Feder nicht angreifen und daher weder sehr sauer noch kupferhaltig sein. Das Schimmeln läßt sich durch eine Spur von Karbolsäure leicht verhindern. Da T. nur unter dem Einfluß der Luft verdirbt, so verdienen Tintenfässer den Vorzug, welche die Berührung der T. mit der Luft möglichst beschränken, wie die artesischen. Diese enthalten einen eingesenkten Trichter, in den immer nur eine sehr geringe Menge T. eintritt, während der Vorrat von der Luft fast vollständig abgeschlossen ist. Auch die Tintenfässer mit vom Boden seitlich emporsteigendem Halse sind empfehlenswert.

Die alte schwarze Galläpfeltinte besteht aus einer mit Eisenvitriol versetzten Abkochung von Galläpfeln und enthält gerbsaures und gallussaures Eisenoxydul und Eisenoxyd. Sie bildet keine vollkommne Lösung, vielmehr sind die Eisenoxydsalze nur in der T. suspendiert, und wenn die Eisenoxydulsalze an der Luft vollständig in Oxydsalze verwandelt sind und sich zu Boden gesetzt haben, so ist die T. unbrauchbar geworden. Das Nachdunkeln beruht auf der Umwandlung der Eisenoxydulsalze in schwarze Eisenoxydsalze. Mit der Zeit aber wird die Gerb- und Gallussäure der letztern durch den Sauerstoff der Luft ebenfalls oxydiert, und die Schrift vergilbt, indem nur Eisenoxyd zurückbleibt. Man bereitet die Galläpfeltinte durch Ausziehen chinesischer Galläpfel und Versetzen des Auszugs, welcher 5-6 Proz. Gerbsäure enthalten soll, mit so viel Eisenvitriol, daß von letzterm 9 Teile auf 10 Teile Gerbsäure kommen. Frische Galläpfeltinte, welche fast nur gerb- und gallussaures Eisenoxydul enthält, ist sehr blaß und wird vorteilhaft mit Blauholz gefärbt. Alizarintinte (welche mit Alizarin nichts zu thun hat) ist eine mit Indigo gefärbte Galläpfeltinte, zu deren Darstellung man in einer klaren verdünnten Lösung von Indigo in rauchender Schwefelsäure Eisen löst, um Eisenvitriol zu bilden, worauf die noch vorhandene freie Säure mit kohlensaurem Kalk fast vollständig neutralisiert wird. Die vom ausgeschiedenen schwefelsauren Kalk abgegossene Flüssigkeit wird schließlich mit Galläpfelabkochung versetzt. Diese T. ist völlig klar, seegrün, liefert schön schwarze, fest haftende Schrift, welche tief in das Papier eindringt, wird aber allmählich auch im Tintenfaß schwarz und bildet zuletzt auch einen Bodensatz. Ihre Säure greift die Stahlfedern ziemlich stark an. Sehr gute Tinten werden mit Blauholz dargestellt. Eine klare Abkochung des Holzes oder eine Lösung von Blauholzextrakt mit wenig Soda, dann mit chromsaurem Kali versetzt, gibt eine schön blauschwarze, gut fließende T., welche schnell trocknet, die Federn nicht angreift und sich tief

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Tinten - Tintenschnecken.

ins Papier zieht. Eine sehr gute Blauholztinte, die unter vielen Namen im Handel ist, erhält man durch Versetzen einer klaren Lösung von Blauholzextrakt mit Ammoniakalaun, Kupfervitriol und wenig Schwefelsäure. Diese T. schreibt anfangs gelbrot, wird aber schnell schön samtschwarz und gibt sofort schwarze Schriftzüge, wenn man sie mit Chromtinte mischt. Auch einfache Lösungen von Nigrosin oder Indulin in Wasser geben gute schwarze Tinten, die nach dem Eintrocknen durch Zusatz von Wasser sofort wieder verwendbar gemacht werden können. Alle diese Tinten, namentlich die Galläpfeltinten, versetzt man, um ihnen mehr Konsistenz zu geben, mit etwas Gummi. Zu Kopiertinten eignen sich am besten die Galläpfel-, Alizarin- und eigentlichen Blauholztinten. Man macht sie aber konzentrierter und versetzt sie mit mehr Gummi und etwas Glycerin.

Das Problem, völlig unauslöschliche Tinten zu bereiten, ist noch nicht vollkommen gelöst; wenn man aber auf einem mit Ultramarin gebläuten Papier schreibt, dessen Farbe durch Betupfen mit Säure zerstört wird, so genügen schon viele unsrer gewöhnlichen Tinten, und auf Papier, welches mit Ultramarin und Chromgelb grün gefärbt ist, genügt jede T., da man die Schriftzüge auf keine Weise entfernen kann, ohne einen der Farbstoffe zu zerstören. Ausgezeichnet ist die T., mit welcher die Nummern in die preußischen Staatspapiere eingeschrieben werden. Dieselbe ist schwach angesäuerte Galläpfeltinte und enthält noch salpetersaures Silberoxyd und chinesische Tusche. Es ist unmöglich, auf dem oben genannten grünen Papier mit dieser T. Geschriebenes unbemerkbar zu vertilgen. Ist auf weißem Papier Geschriebenes ausgelöscht worden, so gelingt es oft, die Schriftzüge wieder hervorzurufen, wenn man das Papier in ganz schwache Salzsäure taucht und dann in eine konzentrierte Lösung von gelbem Blutlaugensalz legt. Enthielt die T. auch nur wenig Eisen, so erscheinen die Schriftzüge blau.

Als rote T. benutzt man Lösungen von Teerfarbstoffen, eine mit Gummi versetzte Lösung von Karmin in Ammoniak oder einen mit Sodalösung bereiteten, dann mit Weinstein und Alaun versetzten Kochenilleauszug, welchem noch etwas Gummi und Alkohol zugesetzt wird. Die rote T. der Alten bestand aus einer Mischung von Zinnober mit Gummilösung. Als blaue T. dient eine mit Gummi versetzte Lösung von Anilinblau oder Indigkarmin. Auch eine Lösung von Berliner Blau hält sich sehr gut und greift die Stahlfedern nicht an, was die durch Auflösen von Berliner Blau in Oxalsäure bereitete T. in hohem Grade thut. Violette T., unter verschiedenen Namen im Handel, ist eine Lösung von Blauviolettanilin in Wasser; grüne T. erhält man durch Lösen von Jodgrün in Wasser, sie ist leuchtend blaugrün und kann durch Pikrinsäure nüanciert werden. Gold- und Silbertinte ist eine Mischung von Gummilösung (die etwas Wasserglas enthalten kann) mit Blattgold oder Blattsilber, welches auf einer Porphyrplatte mit Honig zerrieben, ausgewaschen und getrocknet wurde. Sympathetische Tinten sind Spielereien, da alle mit denselben ausgeführten Schriftzüge sichtbar werden, wenn man das Papier stark erhitzt oder mit Kohlenpulver reibt oder mit verschiedenen Reagenzien prüft. Verdünnte Kobaltchlorürlösung gibt unsichtbare Schriftzüge, welche beim Erwärmen blau werden und beim Erkalten wieder verschwinden. Enthält die Lösung auch Nickelsalz, so werden die Schriftzüge grün. Bleisalz- und Ouecksilbersalzlösungen geben unsichtbare Schriftzüge, die durch Schwefelwasserstoff braun oder schwarz werden. Kupfervitriolschriftzüge werden durch Ammoniak schön blau. Verdünnte Blutlaugensalzlösung eignet sich sehr gut als sympathetische T. auf eisenfreiem Papier. Die Schriftzüge werden durch Eisenoxydsalze blau. Beachtung verdienen solche Tinten für den brieflichen Verkehr mit Postkarten. T. zum Zeichnen der Wäsche muß der wiederholten Einwirkung von Seife, Alkalien, Chlor und Säuren widerstehen. Am häufigsten wendet man Silbermischungen an, die recht dauerhafte Schriftzüge liefern, zuletzt aber auch braun werden und verblassen. Man mischt eine Lösung von Höllenstein (salpetersaures Silberoxyd) in Ammoniak mit einer Lösung von Soda und Gummi in destilliertem Wasser und erwärmt die Schriftzüge mit einem Plätteisen, bis sie vollständig schwarz geworden sind. Man extrahiert auch die Schalen der Elefantenläuse (Anakardien) mit einem Gemisch von Äther und Weingeist und läßt das Filtrat verdunsten, bis es die zum Schreiben geeignete Konsistenz hat. Die Schriftzüge werden nach dem Trocknen mit Kalkwasser befeuchtet und erscheinen dann tief braunschwarz. Sehr praktisch ist Anilinschwarz, zu dessen Herstellung man ein grünlichgraues Pulver kauft, welches, feucht auf die Wäsche aufgetragen, beim Erwärmen über kochendem Wasser den sehr echten Farbstoff liefert. Rote Schriftzüge erhält man, wenn man die Wäsche mit einer Lösung von kohlensaurem Natron und Gummiarabikum in destilliertem Wasser befeuchtet, auf der getrockneten und geplätteten Stelle mit einer Lösung von Platinchlorid in destilliertem Wasser schreibt und die getrockneten Schriftzüge mit einer Lösung von Zinnchlorür in destilliertem Wasser sorgfältig nachzieht. Waren, welche der chemischen Bleiche unterworfen werden sollen, stempelt man mit einer innigen Mischung von Eisenvitriol, Zinnober und Leinölfirnis. Auf Weißblech schreibt man mit einer Lösung von Kupfer in Salpetersäure und Wasser. Pflanzenetiketten schreibt man auf blank gescheuertes Zinkblech mit einer Lösung von gleichen Teilen essigsaurem Kupferoxyd und Salmiak in destilliertem Wasser. Die Schriftzüge werden bald tiefschwarz und haften sehr fest. T. zur Bezeichnung kupferner und silberner Geräte bereitet man durch Kochen von Schwefelantimon (Spießglanz) mit starker Ätzkalilauge. Über lithographische Zeichen- oder Schreibtinte s. Lithographie. Vgl. Andreae, Vollständiges Tintenbuch (5. Aufl. v. Freyer, Weim. 1876); Lehner, Tintenfabrikation (3. Aufl., Wien 1885).

Tinten, in der Malerei die Abtönungen einer Farbe nach der hellern oder dunklern Seite.

Tintenbaum, s. Semecarpus.

Tintenbeerstrauch, s. Ligustrum.

Tintenfisch, s. Tintenschnecken und Sepie.

Tintenschnecken (Kopffüßer, Cephalopoda Cuv., fälschlich Tintenfische, hierzu Tafel "Tintenschnecken"), die am höchsten entwickelte Klasse der Mollusken (s. d.) oder Weichtiere, verdanken ihren deutschen Namen der Eigenschaft, als Verteidigungmittel eine tintenartige Flüssigkeit auszuspritzen, welche das Wasser trübt und die Tiere den Blicken ihrer Feinde entzieht; wissenschaftlich heißen sie Kopffüßer, weil man die Arme, welche rund um den Kopf angebracht sind, früher für den umgewandelten und vierteiligen Fuß der Schnecken und Muscheln ansah. Zum Verständnis des Baues der T. kann man sich das Tier als eine Schnecke vorstellen, welche im Verhältnis zur Länge außerordentlich hoch und in normaler Lage mit dem Kopf nach unten gerichtet ist.

Tintenschnecken.

Gemeiner Vielfuß (Octopus vulgaris). 1/30.

Zum Artikel »Tintenschnecken«.

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Tintenschnecken.

Infolge davon ist die Bauchseite sehr schmal, der Rücken hingegen sehr umfangreich; von letzterm ist aber bei manchen Formen der hintere Teil heller als der vordere und erscheint so, zumal wenn das betreffende Tier auf ihm ruht, leicht als Bauchseite, was er in Wirklichkeit nicht ist. Der Kopf mit den Armen ist vom Rumpf mehr oder weniger deutlich abgesetzt; bei den Oktopoden ist er wegen der mächtigen Arme so groß, daß der Rumpf, welcher alle Eingeweide birgt, mehr als Anhängsel erscheint. Die Arme stehen im Kranz um die Mundöffnung, sind außerordentlich muskulös und mit zahlreichen Saugnäpfen oder auch Haken versehen. Sie dienen zum Kriechen und Schwimmen sowie zum Ergreifen der Beute. Bisweilen ist zwischen ihrer Basis eine Haut ausgespannt, welche die Bewegungen begünstigt; im übrigen sind zum Schwimmen vielfach noch zwei Flossen an den Seiten des Körpers vorhanden. Auf der hintern, in der natürlichen Lage des Tiers untern Fläche befindet sich als eine Hautfalte der sogen. Mantel, welcher eine geräumige Höhle abschließt; in diese münden Darm, Niere und Genitalien aus, auch liegen in ihr die Kiemen. Das für die letztern nötige Atemwasser wird in die Mantelhöhle durch einen weiten Spalt aufgenommen, dagegen nach dessen Verschluß durch eine enge Röhre wieder ausgestoßen. Diese, der sogen. Trichter, entspricht dem vordern Teil des Fußes der Schnecken und veranlaßt, wenn das Wasser plötzlich durch sie entleert wird, mittels des Rückstoßes die Bewegung des Tiers mit dem Rücken voran durch das Wasser. Viele T. sind vollkommen nackt, andre bergen in einer besondern Tasche des Mantels eine flache, feder- oder lanzettförmige Platte ("Schale") aus Chitin, die bei der Sepie ziemlich umfangreich und durch Kalkablagerungen hart ist (daher im gewöhnlichen Leben "Sepienknochen", os sepiae); noch andre haben eine äußere Schale, welche nur ausnahmsweise dünn und einfach kahnförmig (Argonauta), in der Regel spiralig gewunden und durch Querscheidewände in eine Anzahl hintereinander liegender Kammern geteilt ist. Das Tier bewohnt nur die vordere größte Kammer; die übrigen sind mit Luft gefüllt, werden aber von einem Fortsatz des Tierkörpers durchzogen (s. Ammoniten). In der glatten, schlüpfrigen Haut liegen mit Pigment gefüllte kontraktile Zellen (Chromatophoren, s. d.), welche, von dem Nervensystem und dem Willen der Tiere abhängig, ein lebhaftes Farbenspiel bedingen. Zur Stütze der Muskulatur und zum Schutz des Nervenzentrums und der Sinnesorgane dient ein inneres Knorpelskelett im Kopf (dieses besteht aus den für die Mollusken typischen, hier aber häufig ganz miteinander verschmolzenen drei Ganglienpaaren). An den Seiten des Kopfes befinden sich zwei mächtige Augen, die fast so kompliziert gebaut sind wie die der Wirbeltiere. Gehör- und Geruchorgane sind gleichfalls vorhanden. Der Mund ist mit hornigem Ober- und Unterkiefer in Gestalt eines Papageienschnabels und mit einer Zunge (Radula), welche zahnartige Platten und Haken zum Einziehen der Nahrung trägt, bewaffnet. Der Darm ist ziemlich kurz, Speicheldrüsen und Leber sind sehr groß. Als Atmungsorgane dienen ein oder zwei Paare federförmiger Kiemen. Das Gefäßsystem ist sehr entwickelt und besteht aus einem muskulösen Herzen nebst Arterien, Venen und Kapillaren. Die Gefäße, welche das Blut zu den Kiemen führen, sind gewöhnlich ebenfalls kontraktil (Kiemenherzen). Das Blut enthält kristallisierbares Hämocyanin, welches gleich dem Hämoglobin der Wirbeltiere die Aufnahme des Sauerstoffs besorgt. Doch findet sich in ihm nicht wie bei dem letztgenannten Eisen, sondern Kupfer vor, welches auch die bläuliche Farbe des Bluts veranlaßt. Als Nieren fungieren traubige Anhänge der Kiemenarterien. Ein andres Exkretionsorgan ist der oben erwähnte Tintenbeutel, welcher in den Darm ganz dicht am After ausmündet; sein Produkt bei der Sepie dient als Malerfarbe. Die Geschlechter sind bei den T. getrennt. Männchen und Weibchen unterscheiden sich zuweilen in ihrer Gestalt wesentlich (Argonauta. s. Papiernautilus). Ersteres erzeugt für feine Samenfäden in einem besondern Abschnitt der Geschlechtswerkzeuge komplizierte, über 1 cm lange Patronen (sogen. Needhamsche Maschinen), welche im Wasser platzen. Die Eier werden in einem unpaaren Ovarium produziert und dann nach Umhüllung mit Eiweiß und Kapseln entweder einzeln oder in Trauben und Schläuchen an allerlei Gegenstände angeheftet. Die Begattung erfolgt vielfach in der Art, daß ein dazu besonders eingerichteter Arm des Männchens die Samenpatronen in die weibliche Geschlechtsöffnung überträgt. Bei einigen Arten löst sich dieser Arm nach seiner Füllung mit Samen vom Körper los und schwimmt einige Zeit im Meer umher, um schließlich auch in die Mantelhöhle des Weibchens zu geraten. Bei seiner Entdeckung wurde er für einen Eingeweidewurm (Hectocotylus octopodis Cuv.), später sogar für das ganze Männchen der Tintenschnecke gehalten; jetzt weiß man, daß es ein abgelöster, sogen. hektokotylisierter Arm ist. Die Entwickelung der T. erfolgt direkt, so daß das junge Tier, wenn es das Ei verläßt, schon bis auf die Größe den Alten gleich ist.

Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner des Meers, und zwar leben sie sowohl an den Küsten als in großen Tiefen und auf der offenen See. Sie kriechen und schwimmen sehr behende und entfalten namentlich in einigen Formen eine im Verhältnis zur Größe ungeheure Körperkraft. Von den Wirbellosen sind es wohl die gewaltigsten und klügsten Raubtiere. Im allgemeinen bleiben sie ziemlich klein, jedoch erreichen die Formen der Tiefsee, von denen sich freilich nur selten Exemplare an die Oberfläche verirren und so gefangen werden, enorme Dimensionen (s. Kraken). Viele T. werden gegessen, auch wird der Farbstoff des Tintenbeutels sowie der "Sepienknochen" (s. oben) technisch benutzt. Nach der Anzahl der Kiemen teilt man die T. in Tetrabranchiata (Vierkiemer) und Dibranchiata (Zweikiemer), letztere wieder in Octopoda (Achtarmer) und Decapoda (Zehnarmer) ein. Die Oktopoden, mit acht Armen, die an ihrer Basis durch eine Haut verbunden sind, mit kurzem, rundlichem Körper, ohne innere Schale und meist auch ohne Flossenanhänge, zerfallen in zwei Familien: Philonexidae d'Orb., mit dem Argonauten oder Papiernautilus (s. d.) und Octopodidae d'Orb., zu welcher unter andern der Pulpe oder Vielfuß (Octopus, s. Tafel) und die Moschuseledone (Eledone Leach) gehören. Die Dekapoden besitzen außer den 8 Armen noch 2 lange, tentakelnartlge Fangarme, ferner 2 Flossen und eine innere Schale. Hierher gehören die Gattungen Loligo (Kalmar), Sepia (Sepie), Spirula (Posthorn), die fossilen Belemniten etc. Die Vierkiemer besitzen vier Kiemen in der Mantelhöhle, zahlreiche zurückziehbare Tentakeln am Kopf und eine vielkammerige Schale; sie sind in der Gegenwart durch die einzige Gattung Nautilus L. vertreten. Zu derselben Familie (Nautilidae Ow.) gehören auch die Gattungen O1thoceras Breyn., Lituites Breyn. (s. Tafel "Silurische Formation")

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Tintenstifte - Tipperary.

und Clymenia Münst. (s. Tafel "Devonische Formation"), während die Familie Ammonitidae Ow. die Gattungen Goniatites de Haan (s. Tafeln "Devonische Formation" und "Steinkohlenformation I"), Ceratites de Haan (s. Tafel "Triasformation I") und Ammonites Breyn. (s. Tafel "Juraformation I") umfaßt (s. Ammoniten). - Die T. sind sowohl wegen der großen Mannigfaltigkeit der Formen als auch wegen der Häufigkeit des Vorkommens für die Erkenntnis versteinerungsführender Schichten wesentlich. Die Vierkiemer traten schon im Silur mit Nautilen und Geradhörnern, im Devon auch mit Goniatiten auf; von allen diesen Formen überlebten nur die echten Geradhörner, Goniatiten und Nautilen das paläozoische Zeitalter, doch starben Orthoceras und Goniatites in der Trias aus. Dafür aber erscheinen nun außer den bereits in der Trias wieder aussterbenden Ceratiten die Ammoniten, die sich schon in genannter Formation, mehr noch im Jura und ebenso noch in hohem Grad in der Kreide (hier außer durch normale Formen auch durch Nebenformen: Baculites, Ancyloceras, Toxoceras, Crioceras, s. Tafel "Kreideformation") entwickeln, aber mit dem Schluß der Kreide (des mesozoischen Alters) ihr Ende erreichen; es bleibt also für Tertiär- und Jetztzeit nur Nautilus. Die Zweikiemer beginnen in der Trias mit belemnitenartigen Tieren, echte Belemniten und ihre Nebengenera sind äußerst häufig in Jura und Kreide (Bejemnites, Rhynchoteuthis, s. Tafeln "Juraformation I" und "Kreideformation"); die ganze Familie aber stirbt mit der Kreide aus, während die ebenfalls im Jura auftretenden Kalmare und Sepien bis jetzt zugenommen haben. Spirula, Octopus haben keine, Argonauta hat nur tertiäre fossile Repräsentanten. Vgl. Ferussac und d'Orbigny, Histoire naturelle des Céphalopodes (Par. 1835-45); Verany, Mollusques méditerranéens. Bd. 1: Céphalopodes (Genf 1847-51); Bronn-Keferstein, Klassen und Ordnungen des Tierreichs; Bd. 3: Cephalopoden (Leipz. 1869).

Tintenstifte, s. Bleistifte, S. 24.

Tintern Abbey (spr. äbbi). Abteiruine in Monmouthshire (England), im malerischen Thal des Wye, im 13. Jahrh. erbaut.

Tintillo (spr. -tilljo), s. Spanische Weine.

Tinto, Küstenfluß in Spanien, s. Rio Tinto.

Tinto (vino tinto), dunkler span. Wein, wie der T. von Alicante, der T. di Rota, der Inselburgunder (s. Madeirawein) etc.

Tintoretto, eigentlich Jacopo Robusti, genannt il T. ("das Färberlein", nach dem Handwerk seines Vaters), ital. Maler, geb. 1519 zu Venedig, war anfangs Schüler Tizians, schlug jedoch bald eine eigne Richtung ein, welche durch seinen Wahlspruch: "Von Michelangelo die Zeichnung, von Tizian die Farbe" deutlich bezeichnet ist, wie in der That auch eine Anzahl seiner Werke das Streben zeigt, die Größe des florentinischen Stils mit den Vorzügen seiner heimatlichen Schule zu verbinden. T. ist der Chorführer der zweiten Generation der venezianischen Malerschule, welche sich in äußerlicher Bravourmalerei, in prunkhafter und massenhafter Komposition und schwierigen Perspektiven gefiel. T. überlud seine Kompositionen oft mit nicht zur Sache gehörigen, theatralisch gespreizten Figuren und wandte gern glänzende Beleuchtungsgegensätze an. Sein Kolorit ist wirkungsvoll, warm und tief, wenn er sich die Zeit zu sorgsamer Arbeit ließ, aber roh und grob, wo er durch schnelle Improvisationen und zum Staunen redende Bewältigung großer Flächen wirken wollte. Viele seiner Gemälde, insbesondere die Bildnisse, in welchen er Tizian am nächsten kam, haben übrigens durch Nachdunkeln viel von ihrer ursprünglichen Farbenpracht eingebüßt. Er starb 31. Mai 1594 in Venedig. Von den Werken seiner frühern Zeit, in welchen er Tizian nahestand, sind der Sündenfall und der Tod Abels (in der Akademie zu Venedig), Venus, Mars und Amor (im Palast Pitti zu Florenz), die Anbetung des Kalbes und das Jüngste Gericht (in Santa Maria dell' Orto in Venedig), das Wunder des heil. Markus (in der Akademie daselbst, eins seiner vollendetsten Werke), die Hochzeit zu Kana (in Santa Maria della Salute) und die große Kreuzigung (in der Scuola di San Rocco daselbst) hervorzuheben, welches Gebäude überhaupt 56 Gemälde von Tintorettos Hand aufzuweisen hat. Seine sinkende Meisterschaft bezeugen die Bilder im Dogenpalast, insbesondere das kolossale Paradies. Zahlreiche Gemälde von ihm befinden sich in den Galerien zu Paris, London, Dresden, Berlin, Wien, Madrid, Florenz und Venedig. - Sein Sohn Domenico, ebenfalls il Tintoretto genannt (1562-1637), leistete im Porträtfach Tüchtiges, malte aber auch Mythologisches und Historisches, unter anderm das Seegefecht zwischen den Venezianern und Kaiser Otto (im großen Ratssaal zu Venedig). Vgl. Janitschek in Dohmes "Kunst und Künstler" (Leipz. 1876).

Tione, Marktflecken in Südtirol, an der Sarca, im Thal Giudicarien, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit (1880) 1876 Einw., welche Seidenzucht und Gerberei betreiben.

Tippecanoe (spr. tippekanu), Fluß im nordamerikan. Staat Indiana, ergießt sich oberhalb Lafayette in den Wabash. An seinen Ufern schlug General Harrison 5. Nov. 1811 die von Elskwatawa, dem "Propheten", geführten Indianer.

Tippen (Dreiblatt, Zwicken), ein in Deutschland sehr verbreitetes Kartenglücksspiel. Man spielt es unter 3-6 Personen mit 32, bei noch mehr Teilnehmern mit 52 Blättern. Der Kartengeber setzt 3 Marken Stamm, gibt jedem Spieler 3 Blätter zu 1 und wirft dann ein Trumpfblatt auf. Steht nur der Stamm, so müssen alle Spieler "mitgehen", und wer keinen Stich bekommt, zahlt Bête (was im Pot steht). Sobald Bête steht, darf der Spieler, welcher auf einen Stich nicht rechnet, passen; hat jemand aber gute Karten, so sagt er: "ich gehe mit" oder "tippt" mit dem Finger auf den Tisch. Für jeden Stich erhält man den dritten Teil des stehenden Satzes. Man muß Farbe bedienen oder trumpfen.

Tippera, fruchtbarer und dicht bevölkerter Distrikt in der britisch-ind. Provinz Bengalen, an der Mündung des Megnaarmes des Brahmaputra, 6451 qkm (117 QM.) groß mit (1881) 1,519,338 Einw. und dem Hauptort Comillah. Östlich davon liegt das unter britischer Oberhoheit stehende T.-Hügelland (Hill T.), welches auf 10,582 qkm (192 QM.) nur 95,637 Einw. (größtenteils halbe Wilde) zählt.

Tipperáry, 1) Binnengrafschaft in der irischen Provinz Munster, umfaßt 4297 qkm (78 QM.) mit (1881) 199,612 Einw., von denen 95 Proz. römisch-katholisch sind. Der Fluß Suir durchfließt den Hauptteil der Grafschaft, den die Silvermine Mountains (694 m) von dem an den Shannon grenzenden Teil trennen. Der Südwesten ist gebirgig (Galtymore 919 m, Knockmealdown 795 m), aber das Innere nimmt eine Ebene ein, die wegen ihrer Fruchtbarkeit als Goldene Aue (Golden Vale) bezeichnet wird. Von der Oberfläche sind (1888) 16 Proz. Ackerland, 67 Wiesen und Weiden, 2,6 Proz. Wald. An Vieh zählte man

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Tippu Sahib - Tirard.

1881: 28,987 Pferde, 244,029 Rinder, 205,850 Schafe und 74,540 Schweine. Steinkohlen werden gewonnen; Kupfer, Zink und Blei kommen vor. Die Industrie ist ohne Bedeutung. Die Grafschaft zerfällt in zwei Ridings mit den Hauptstädten Nenagh und Clonmel. -

2) Stadt in der Goldenen Aue der irischen Grafschaft gleiches Namens, an einem Nebenfluß des Suir, hat eine Lateinschule und (1881) 7274 Einw.

Tippu Sahib, Sultan von Maissur, geb. 1751, folgte seinem Vater Haider Ali (s. d.) 10. Dez. 1782 in der Regierung, focht mit Glück gegen die in Südindien sich befestigenden Engländer und schloß mit ihnen im März 1784 einen Vertrag, wonach sie sein Reich räumen mußten. Er legte sich hierauf den Titel eines Padischahs bei, durch welchen er eine Souveränität über alle Fürsten Hindostans beanspruchte, und seine Hofhaltung wurde eine der glänzendsten in Indien. Im Dezember 1789 verbündeten sich die Engländer mit seinen Nachbarn, eroberten 1790 und 1791 mehrere feste Plätze in Maissur, schlossen T. im Februar 1792 in seiner Hauptstadt Seringapatam ein und zwangen ihn zu einem für ihn höchst nachteiligen Friedensschluß. T. schloß hierauf einen geheimen Bund mit Frankreich gegen England. Dieses aber kam ihm im Februar 1799 mit der Kriegserklärung zuvor, und T. fiel 4. Mai d. J. bei der Erstürmung von Seringapatam durch die Engländer. Seiner Familie ward die Festung Vellor, später Kalkutta zum Wohnort und eine jährliche hohe Pension angewiesen, die 1860 abgelöst wurde; jetzt ist die Familie in der Bevölkerung aufgegangen. Vgl. "The history of Tippoo Sultan, written by Mir Hussain Ali Khan" (übersetzt von Miles, Lond. 1844).

Tippu-Tipp (Tippo-Tib), eigentlich Hamed bin Mohammed, arab. Großkaufmann und Pflanzer, früher auch Sklavenhändler am obern Congo, welcher an diesem Fluß oberhalb der Stanleyfälle die Stationen Kibonge, Riba Riba und Kasongo (die letzte, etwas abseits vom Congo oberhalb Njangwe gelegen, ist die Hauptstation) nebst zahlreichen andern kleinen Handelsposten besitzt, gegenwärtig auch als Gouverneur der Station Stanley Falls im Dienste des Congostaats steht. T. wurde uns zuerst durch Cameron bekannt, dem er 1874 bei seiner Durchquerung Afrikas über den Lualaba bis nach Utotera (5° südl. Br. und 25° 54' östl. L. v. Gr.) das Geleit gab. Als Stanley 1876 seine denkwürdige Entdeckungsreise den Congo abwärts machte, lieh ihm T. seinen wertvollen Beistand, namentlich zur Überwindung der Stanleyfälle. Schon zu jener Zeit war T. ein höchst einflußreicher Mann, seitdem wuchs sein Einfluß noch mehr, wiewohl ihn seine Handelsunternehmungen in große Abhängigkeit von den indischen Händlern an der ostafrikanischen Küste brachten, die ihn das Anerbieten Stanleys bei dessen Zug zu Emin Pascha, in die Dienste des Congostaats zu treten und Stanley bei seinem Unternehmen zu unterstützen, bereitwilligst annehmen ließ. Nach einem Anfang 1887 abgeschlossenen Vertrag nahm T. die Würde eines Gouverneurs des Congostaats am obern Congo gegen einen Monatsgehalt von 30 Pfd. Sterl. an, mit der Verpflichtung, das ihm unterstellte Gebiet gegen alle Angriffe von Arabern und Eingebornen zu schützen, unterhalb Stanley Falls selbst keinen Sklavenhandel zu betreiben, auch diesen Handel von andrer Seite in aller Weise zu verhindern. Ein Beamter des Congostaats wurde ihm als Resident beigegeben, um T. zu überwachen. T. verpflichtete sich ferner, für Stanleys Expedition zu Emin Pascha von den Stanleyfällen und zurück 600 Träger gegen eine Zahlung von 6 Pfd. Sterl. für den Mann zu beschaffen. Mit diesen Trägern beabsichtigte Stanley, die von Emin Pascha aufgespeicherten 75 Ton. Elfenbein im Wert von 60,000 Pfd. Sterl. zur Küste zu bringen und damit die von der ägyptischen Regierung ihm für sein Unternehmen vorgestreckte Summe zurückzuzahlen. Stanley schloß diesen Vertrag mit T. in Sansibar ab und nahm diesen mit 40 seiner Leute von dort zur Congomündung und dann mit der Expedition den Congo aufwärts bis zur Aruwimimündung mit, T. ging darauf zu den Stanley Falls, um diese 26. Aug. 1886 von den Arabern zerstörte Station wieder einzurichten; indessen erfüllte er sein Versprechen, Träger für Stanley zu stellen, erst nach dessen Rückkehr von Emin Pascha zum Lager Bunalya am Aruwimi, und auch da sandte er nur 100 Mann.

Tipton (spr. tippton), Stadt in Staffordshire (England), bei Dudley, hat Kohlen- und Eisengruben, Gießereien, Kettenschmieden, Maschinenbau und (1881) 30,013 Einw.

Tipuani, Bergdorf im Departement La Paz der Republik Bolivia, am Ostabhang der Binnenkordillere, 580 m ü. M., bekannt durch seine Goldwäscherei.

Tipula, Schnake, Bachmücke; Tipulariae (Mücken), Familie aus der Ordnung der Zweiflügler, s. Mücken.

Tiraboschi (spr. -ski), Girolamo, ital. Litterarhistoriker, geb. 28. Dez. 1731 zu Bergamo, bei den Jesuiten in Monza gebildet, nahm die geistlichen Weihen und lehrte in Mailand und Novara an niedern Schulen, bis er die Professur der Rhetorik an der Brera zu Mailand erhielt; 1770 wurde er Abt und Oberbibliothekar beim Herzog Franz II. von Modena. Hier benutzte er die ansehnlichen litterarischen Hilfsmittel, die ihm zu Gebote standen, zur Ausarbeitung seiner berühmten "Storia della letteratura italiana" (Modena 1772-82, 14 Bde.; 2. Ausg. 1787-93, 16 Bde.; Flor. 1805-12, 20 Bde.; am besten Mail. 1822-26, 16 Bde.; deutsch im Auszug von Jagemann, Leipz. 1777-81, 6 Bde.), eines Werkes von erstaunlicher Gelehrsamkeit, Genauigkeit und Vollständigkeit, das von den ersten Anfängen wissenschaftlicher Bildung in Italien bis zum Beginn des 18. Jahrh. reicht und den gesamten Schriftschatz in allen seinen Zweigen behandelt. T. starb als Ritter (cavaliere) und herzoglicher Rat 3. Juni 1794 auf seinem Landgut bei Modena. Von seinen übrigen Schriften sind die "Biblioteca Modenese" (Modena 1781-1786, 5 Bde.) und die "Memorie storiche Modenesi^ (das. 1793, 6 Bde.) namhaft zu machen.

Tirade (franz.), ein längerer deklamationsartiger Worterguß, weitschweifiger Wortschwall; in der Musik eine Verzierungsmanier, bestehend aus einer Anzahl stufenmäßig aufeinander folgender schneller Noten, die ein größeres Intervall ausfüllen.

Tirailleure (franz., spr. -ra[l]jöhre), in aufgelöster Ordnung kämpfende Mannschaften der Infanterie (Plänkler, Schützen); vgl. Schwärmen.

Tirailleurfeuer, s. Schießen.

Tirana, 120 m hoch und sehr schön gelegene Stadt im türk. Wilajet Skutari, westlich von Durazzo, um 1600 n. Chr. gegründet, hat einen großen Bazar, viele Moscheen und Gärten, eine kath. Kirche und 22,000 meist mohammedan. Einwohner.

Tirano, Flecken in der ital. Provinz Sondrio, im Veltlin, an der Adda, mit einigen Palästen aus dem 16. Jahrh., besuchten Märkten, Weinbau und (1881) 3036 Einw. Unweit am Eingang in das Thal Poschiavo (Puschlav) die berühmte Wallfahrtskirche Madonna di T. aus weißem Marmor.

Tirard (spr. -rár), Pierre Emmanuel, franz. Mi-

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Tiraspol - Tiro.

nister, geb. 27. Sept. 1827 zu Genf von französischen Eltern, lernte die Goldarbeiterkunst, begab sich 1846 nach Paris und erhielt hier eine Anstellung in der Verwaltung der Straßen und Brücken. Doch nahm er 1851 wieder seine Entlassung und begründete ein Exportgeschäft für Bijouterie- und Goldschmiedewaren, das einen guten Fortgang hatte. An der Politik nahm er regen Anteil und schloß sich der radikalen Partei an. Nach dem Sturz des Kaiserreichs 4. Sept. 1870 ward er Maire des sechsten Arrondissement von Paris. Bei dem Ausbruch des Aufstandes vom 18. März 1871 wurde er zum Mitglied der Kommune erwählt, sagte sich aber bald von ihr los und ging nach Versailles, um zwischen der Nationalversammlung und der Kommune eine friedliche Vermittelung zu versuchen, was jedoch erfolglos blieb. Seit 8. Febr. 1871 Mitglied der Nationalversammlung und seit 1876 Deputierter, schloß er sich den radikalen Republikanern an. Er war vom März 1879 bis November 1881 und vom Januar bis August 1882 Minister für Handel und Ackerbau, vom August 1882 bis März 1885 Finanzminister und vom Dezember 1887 bis April 1888 und wieder seit 21. Febr. 1889 Ministerpräsident. Auch ist er Senator.

Tiraspol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Cherson, am Dnjestr und an der Eisenbahn von Odessa nach Jassy, hat eine in der Nähe befindliche Festung, 4 Kirchen (darunter eine der Altgläubigen), 2 Synagogen und (1887) 24,898 Einw. Die Industrie besteht in Getreidemüllerei (Dampfmühle), Gartenbau, Talgsiederei, Lichte- und Tabaksfabrikation.

Tiraß, Decknetz zum Fang von Wildgeflügel.

Tiratelli, Aurelio, ital. Maler, geb. 1842 zu Rom, war seit 1856 Schüler der St. Lukas-Akademie und widmete sich anfangs der Plastik. Nachdem er unter andern das Denkmal des mexikanischen Gesandten Baron Guerra auf dem Campo santo zu Rom geschaffen, wandte er sich seit 1873 der Landschafts-, Genre- und Tiermalerei zu. Von seinen durch sorgfältige Detailbehandlung und Lebendigkeit der Darstellung ausgezeichneten Gemälden, deren Motive er ausschließlich Rom und seiner Umgebung entnimmt, sind hervorzuheben: Viehmarkt in der römischen Campagna, ein Eisenbahnunglück, Landleute auf einem von Büffeln gezogenen Wagen (Museum zu Triest), Ernte in der Campagna, Erntewagen in der römischen Campagna, eine Ochsenherde auf der Landstraße, Büffelkampf in der Campagna und eine Büffelversammlung an einem Sumpf.

Tire, Stadt im asiatisch-türk. Wilajet Aidin, am Kütschük Menderes, 55 km südöstlich von Smyrna, mit welchem es durch Eisenbahn verbunden ist, mit etwa 13,000 Einw.

Tireboli, Stadt im asiatisch-türk. Wilajet Tarabozon (Trapezunt), 82 km westlich von Trapezunt am Schwarzen Meer gelegen, mit 2-3000 meist türk. Einwohnern, Post, Telegraph und einer verfallenen Festung. T. ist das antike, von Griechen aus Milet im 8. Jahrh. v. Chr. gegründete Tripolis.

Tiree (Tyree, spr. tirrih), Insel der innern Hebriden, zur schott. Grafschaft Argyll gehörig, 70 qkm groß mit 2730 Einw. Ben Haynish (132 m) ist der höchste Punkt; etwa der dritte Teil der Insel ist angebaut. Vorzüglicher Marmor wird gebrochen.

Tire-haut! (franz., spr. tir-oh), Zuruf, um bei der Jagd auf vorbeistreichendes Federwild aufmerksam zu machen.

Tires (engl., spr. teirs), eiserne oder stählerne Radkränze für Lokomotiven- u. Eisenbahnwagenräder etc.

Tiresias, s. Teiresias.

Tiret (franz., spr. tirä), Bindestrich, Gedankenstrich.

Tirguschu (rumän. Tirgu-Jiu, Targulu-Jiuliu), Hauptstadt des rumän. Kreises Gorschi, am Schiul (Jiu), Sitz des Präfekten und eines Tribunals, hat 5 Kirchen, eine Normalschule und 3712 Einw.

Tirhaka (ägypt. Talhaka), dritter äthiop. König von Ägypten, schlug 701 v. Chr. den assyrischen König Sanherib bei Altaku, wodurch er das Reich Juda von den Assyrern befreite, wurde aber 672 von dem König von Assyrien, Assarhaddon, vertrieben und versuchte vergeblich, Ägypten wiederzuerobern.

Tirhala, Stadt, s. Trikkala.

Tirlemont (spr. tirl'mong, vläm. Thienen), Stadt in der belg. Provinz Brabant, Arrondissement Löwen, an der Großen Geete, Knotenpunkt an der Eisenbahn Brüssel-Lüttich, früher befestigt, seit dem Mittelalter sehr zurückgegangen, hat eine schöne gotische Liebfrauenkirche (1298 gegründet), die Kirche St.-Germain (12. Jahrh.), eine Bibliothek, ein Kommunalcollège, Fabrikation von Dampfmaschinen, Flanell, wollenen Strümpfen, Leder, Zucker, Öl etc., Getreide- und Wollhandel und (1888) 15,315 Einw. Hier 16. März 1793 Sieg der Franzosen unter Dumouriez über die Österreicher.

Tirmentau, westlicher Gebirgszug des Urals im Gouvernement Ufa, Kreis Sterlitamak; 3 km vom Dorf Chasina ist in einem der Felsen eine große Höhle, welche Lepechin beschrieben hat.

Tirnau (ungar. Nagyszombat), königliche Freistadt im ungar. Komitat Preßburg, an der Waagthalbahn, mit 9 römisch-kath. Kirchen (darunter der 1389 erbaute Dom), mehreren Klöstern, einer evang. Kirche und (1881) 10,830 deutschen, slowakischen und ungar. Einwohnern, die Gewerbe, Handel und Weinbau treiben. T. hat eine Zuckerfabrik, eine kath. Lehrerpräparandie, ein kath. Obergymnasium, ein kath. Seminar, ein Bezirksgericht, ein großes Militärinvalidenhaus mit Spital und Irrenanstalt, ein Komitatsspital, ein Theater und ein Denkmal zur Erinnerung an die 14. Dez. 1848 gefallenen Honvéds. Bis 1773 bestand hier eine Universität.

Tirnowa (d. h. Dornburg), Kreishauptstadt in Bulgarien, an der Jantra, zwischen höchst abenteuerlich geformten Kalkfelsen erbaut, ehemals die Hauptstadt des Landes, Ausgangspunkt mehrerer Straßen über den Balkan, hat Moscheen, mehrere byzantin. Kirchen, Bäder, bedeutenden Zwischenhandel und (1887) 11,314 Einw. (meist Bulgaren). Von der früher lebhaften Webindustrie hat sich nur die Fabrikation groben Tuches, ferner Färberei sowie Seidenzucht erhalten.

Tiro (lat.), junger Soldat, Rekrut; überhaupt Anfänger, Neuling; daher Tirocinium, der erste Feldzug eines Soldaten; die erste Probe in einer Sache; auch Titel von Lehrbüchern für Anfänger.

Tiro, Marcus Tullius, röm. Gelehrter, geboren um 94 v. Chr., anfänglich Sklave, seit 54 Freigelassener des Cicero, dem er durch besondere Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit ein geschätzter Begleiter und Gehilfe wurde. Nach Ciceros Tod zog er sich auf ein kleines Landgut bei Puteoli zurück, wo er, fast hundertjährig, 5 n. Chr. starb. Von seinen Schriften sind uns nur einzelne Bruchstücke erhalten. Er gab die Werke Ciceros heraus, sammelte und veröffentlichte dessen Witzworte und schrieb eine Biographie desselben, welche Plutarch im "Leben Ciceros" benutzt hat. Außerdem verfaßte er eine Schrift über den lateinischen Sprachgebrauch und eine große Encyklopädie unter dem Titel: "De variis atque promiscuis quaestionibus". Am bekanntesten aber ist T.

TIROL

Maßstab 1: 1.100,000

Die Sitze der Bezirkshauptmannschaften sind unterstrichen.

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Tirol (Bodenbeschreibung, Bewässerung, Klima).

wegen der Erfindung der altrömischen Kurzschrift, die man seitdem 16. Jahrh. als die Tironischen Noten bezeichnet. Das Alphabet der Tironischen Stenographie ist gebildet durch Verkürzung und Vereinfachung der römischen Majuskelzeichen. In der Verbindung miteinander erfahren die Tironischen Buchstaben mancherlei Modifikationen und Verschmelzungen, für einige Vokale besteht eine einfache symbolische Bezeichnung an dem vorangehenden Konsonantenzeichen. Als Abkürzungen benutzt, stehen die Tironischen Buchstabenzeichen für häufig vorkommende Wörter, und zwar werden durch Benutzung kleiner diakritischer Merkmale, durch Ansetzen von Endungszeichen u. dgl. aus einem einzigen alphabetischen Zeichen oft viele Abkürzungen dieser Art gebildet. Bei der Mehrzahl der nicht auf solche Weise gekürzten Wörter geschieht die notwendige Vereinfachung durch Buchstabenauslassen, in dessen Vornahme eine systematische Regelmäßigkeit nicht erkannt werden kann. Das geschickte Verwerten des Punktes und der verkleinerten Buchstaben als Nebenzeichen liefert weitere Mittel zur Kürzung, die auch im zusammenhängenden Satz ihre Anwendung findet (Schriftprobe s. auf Tafel "Stenographie"). Aus zahlreichen Stellen der alten Autoren wissen wir, daß Geschwindschreiber (notarii) mit den Tironischen Noten öffentliche Reden und Verhandlungen wörtlich aufnahmen. Unter den Kaisern ward das Tironische Notensystem als Lehrgegenstand in den Schulen vorgetragen. Mit dem Sinken des römischen Reichs schwand auch die Kenntnis der Tironischen Noten, doch erlebten diese unter den Karolingern noch eine Nachblüte, ehe sie ganz der Geschichte anheimfielen. Unsre Kenntnis der Tironischen Noten beruht teils auf ganzen Werken oder einzelnen Abschnitten in Tironischen Zügen, die sich erhalten haben, teils auf lexikonähnlichen Lehrbüchern. Die ältesten Handschriften dieser Art stammen aus dem 8. Jahrh. n. Chr. Vgl. Engelbronner, De M. T. Tirone (Amsterd. 1804); Mitzschke, M. T. Tiro (Berl. 1875); Egger, Latini sermonis vetustioris reliquiae selectae (Par. 1843); Kopp, Palaeographia critica (Mannh. 1817); Schmitz im "Panstenographikon" Leipz. (1869-74); Lehmann, Quaestiones de notis Tironis et Senecae (das. 1869); Mitzschke, Quaestiones Tironianae (Berl. 1875); Rueß, Über die Tachygraphie der Römer (Münch. 1879); Zeibig, Geschichte und Litteratur der Geschwindschreibkunst (2. Aufl., Dresd. 1878); Lehmann, Das Tironische Psalterium der Wolfenbüttler Bibliothek (Leipz. 1885).

Tirol (hierzu Karte "Tirol"), österreich. Kronland, gefürstete Grafschaft, grenzt mit Einschluß von Vorarlberg (s. d.) westlich an die Schweiz und Liechtenstein, nördlich an Bayern, östlich an die österreichischen Kronländer Salzburg und Kärnten, südlich an Italien und umfaßt ohne Vorarlberg 26,690 qkm (484,73 QM.), mit Vorarlberg aber 29,293 qkm (531,99 QM.). T. ist das gebirgigste Land Österreichs und hat Anteil an dem nördlichen, mittlern und südlichen Zug der Alpen. Die nördliche Gebirgsmasse beginnt mit den Vorarlberger (Algäuer) Alpen und dem Bregenzer Wald, welche sich vom Bodensee bis zum Lech hinziehen (Rote Wand 2705 m, Hochvogel 2589 m, Arlberg mit Paß 1797 m) und in den Nordtiroler Alpen mit dem Wettersteingebirge (Zugspitze 2960 m), dem Karwändelgebirge (2736 m) und dem Solstein (2655 m) ihre Fortsetzung finden. Den nordöstlichsten Teil Tirols, jenseit des Inn, erfüllen die Kitzbühler Alpen (Breithorn 2496 m) und das denselben nördlich vorlagernde Kaisergebirge (2375 m). Die Zentralzone der Alpen beginnt in T. mit dem Rätikon (Scesaplana 2963 m) und den nördlichen Ausläufern der Rätischen Alpen (Albuinkopf 3313m), setzt sich in dem gletscherreichen Massiv der Ötzthaler Alpen (Wildspitze 3776 m), in der Stubaier Gruppe (Zuckerhütl 3508 m) und den Sarnthaler Alpen (Hirzer 2781 m) fort. Der Brennerpaß scheidet diesen westlichen Teil von dem östlichen Zug der Zentralalpen, dem Zillerthaler Gebirgsstock (Hochseiler 3506 m) und den Hohen Tauern (s. d.), von welchen sich an der Tiroler Grenze noch die Dreiherrnspitze und der Großvenediger erheben. Dem südlichen Alpenzug gehören in T. an die Gruppen des Ortler (s. d.), des höchsten Bergs des Landes und der Monarchie (3905 m), des Adamello und der Presanella (3547 m), die Brentagruppe (3179 m), die westlichen Trientiner Alpen; dann östlich vom Etschthal die Lessinischen Alpen (Cima Dodici 2331 m), die Südtiroler Dolomitalpen (Vedretta Marmolata 3494 m), die Fassaner und Ampezzaner Alpen, endlich an der Grenze gegen Kärnten die Karnischen Alpen. Die wichtigsten Alpenpässe in T. sind: das Reschenscheideck, der Brenner, der Arlberg, das Stilfser Joch, Finstermünz, Tonale, die Ehrenberger Klause, der Scharnitz- und Achenpaß (diese drei nach Bayern), der Strub-, Thurn- und Gerlospaß (diese drei nach Salzburg). Die Hauptthäler sind: das Ober- und Unterinnthal, das Etsch- und Eisack- und das Pusterthal. Unter den Nebenthälern sind besonders das Ötz-, Wipp- und Zillerthal, Fleimser, Fassa- und Grödner Thal, Sulzberg und Nonsberg, Giudicarien und Valsugana hervorzuheben. Das nördliche T. gehört zu dem Flußgebiet des Rheins und der Donau, zu letzterm auch der östliche Teil des Pusterthals, aus welchem die Drau nach Kärnten übertritt. Alles übrige gehört zum Gebiet des Adriatischen Meers. Der Rhein empfängt aus Vorarlberg die Ill, während die Bregenzer Ache in den Bodensee direkt mündet. Der Inn betritt das Land bei Finstermünz und verläßt es unterhalb Kufstein, nachdem er die Rosana, den Ötzbach, Sill und Ziller aufgenommen. Ganz im N. Tirols entspringen der Lech und die Isar, die aber bald nach Bayern übergehen. Der Hauptfluß des südlichen T. ist die Etsch (Adige), die links die Passer, den Eisack und den Avisio, rechts den Noce aufnimmt und bei Borghetto in das Venezianische übertritt. Außerdem sind von Flüssen zu nennen: im SW. die Sarca, im SO. die Brenta. Unter den Seen sind der Boden- und der Gardasee, deren Spiegel nur zum Teil zu T. gehören, die größten; außer diesen beiden gibt es nur kleinere Seen, z. B. der Achensee, der Brennersee, der See von Caldonazzo, der Loppiosee. Die berühmtesten der zahlreichen (123) Mineralquellen sind die von Rabbi, Prags, Maistatt, Innichen, das Brennerbad und das Mitterbad im Thal Ulten. Das Klima Tirols ist sehr verschieden, indem die zentrale Gebirgskette eine Klimascheide bildet. Nördlich von derselben ist die Temperatur vorherrschend rauh und kalt; südlich von der Zentralkette, namentlich im Etschthal, erreicht die Sommerwärme oft eine unerträgliche Höhe. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt in Innsbruck +8° C., in Bludenz +8½° C., in Lienz +7½° C., in Trient dagegen +12,6° C. Im nördlichen T. beträgt der Regenniederschlag gewöhnlich 88-122 cm im Jahr, in Südtirol etwa 94 cm. Die niedrigern Striche des Innthals, wie das Zillerthal, haben ergiebiges Ackerland; im Etschthal erinnert schon die ganze Natur an Italien, und hier ist der Boden überaus fruchtbar.

Die Bevölkerung von T. betrug mit Einschluß

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Tirol (Bevölkerung, Naturprodukte, Bergbau, Industrie).

von Vorarlberg 1869: 885,789, 1880: 912,549, ohne dasselbe 1869: 782,753, 1880: 805,176 Seelen und zeigt eine sehr geringe Zunahme (jährlich etwas über ¼ Proz.); für Ende 1887 wird die Zivilbevölkerung von T. mit 805,728 (hierzu Militär ca. 8140 Mann), für Vorarlberg mit 110,525 (Militär ca. 130 Mann), zusammen mit 916,253 Bewohnern (hierzu Militär ca. 8270 Mann) berechnet. Auf 1 qkm kommen im Durchschnitt 31 Einw. (in Vorarlberg 41). Von der Bevölkerung gehören 60 Proz. der deutschen, 40 Proz. der italienischen Nation an. Am weitesten zieht sich die deutsche Bevölkerung an der Etsch hinab. Die herrschende Religion ist die katholische, die Protestanten bilden bis jetzt nur wenige kleine Gemeinden; ihre Zahl betrug 1880: 2190, die der Juden 542. Die geistige Bildung des Tirolers ist infolge klerikaler Einflüsse weit hinter seiner Bildungsfähigkeit zurückgeblieben. Ein gemeinsamer Charakterzug des Volkes ist Anhänglichkeit an das Vaterland und kirchlicher Sinn. Infolge der geringen Produktivität des Bodens sucht eine bedeutende Anzahl der Bewohner (etwa 33,000) ihr Fortkommen zeitweilig oder dauernd in der Fremde; in den letzten Jahren hat die Auswanderung auch nach überseeischen Ländern, namentlich in Welschtirol, größere Ausdehnung gewonnen.

Die Bodenproduktion Tirols ist wegen der gebirgigen Beschaffenheit vorwiegend auf Waldwirtschaft und Viehzucht beschränkt; doch wird, wo nur möglich, auch Körnerbau betrieben. Die produktive Bodenfläche beträgt 81,69 Proz. des Gesamtareals. Nach Kulturgattungen verteilt sich die produktive Bodenfläche folgendermaßen: Ackerland 6,23 Proz., Weinland 0,54, Wiesenland 8,21, Gärten 0,21, Weiden 5,83, Alpen 32,51, Wald 46,18, Seen, Teiche 0,29 Proz. Was zunächst das Grasland betrifft, so läßt die Kultur der Wiesen an Düngung und Bewässerung zu wünschen übrig, dagegen ist die Art der Heugewinnung und Auftrocknung ausgezeichnet. Überwiegend sind die Alpenweiden, auf welchen das Vieh den Sommer über gehalten wird. Der gesamte Ertrag an Grasheu beläuft sich auf etwa 11 Mill. metr. Ztr. In der Bewirtschaftung der Äcker herrschen große Verschiedenheiten. In Nordtirol überwiegt die Eggartenwirtschaft mit langjähriger Grasnutzung, in Vorarlberg die freie Wirtschaft. Eigentümlich ist die Feldwirtschaft in Südtirol, wo es für Feldprodukte nur schmale Ackerbeete zwischen den Reben- oder auch Maulbeerbaumpflanzungen gibt, welche meist einem sehr bunten Zwischenfruchtbau gewidmet sind. Die Produkte des Ackerbaues in T. sind: Weizen (250,000 h.), Roggen (435,000), Gerste (185,000), Hafer (140,000), Mais (420,000 hl), letzterer in Südtirol Hauptfrucht, aber auch in Nordtirol, z. B. im obern Inn- und Lechthal, vertreten; ferner Hülsenfrüchte (37,000 hl), Buchweizen (125,000 hl), Kartoffeln (1,120,000 hl), besonders in Vorarlberg, Futterrüben (340,000 metr. Ztr.), Klee (180,000 metr. Ztr. Heu), Flachs (10,000 metr. Ztr.), insbesondere im Ötzthal, Hanf (2000 metr. Ztr.) in Vorarlberg, Tabak (8000) metr. Ztr.) um Roveredo, Zichorie (2200 metr. Ztr.) in Vorarlberg, etwas Mohn, Kürbisse etc. Die Obstkultur ist in Nordtirol meist auf die nicht großen Gärten beschränkt; das Kernobst wird zu Obstwein (Cider) und das Steinobst zur Branntweinerzeugung verwendet. In Südtirol ermöglichen die Lage und Temperatur die Kultivierung edler Obstsorten, von denen neben der Traube auch Pfirsiche, Aprikosen, Mandeln, Zitronen (am Gardasee), Orangen, edlere Apfelsorten, besonders bei Bozen (Hauptsorte der weiße Rosmarinapfel), feine Birnen, Kirschen, Granatäpfel etc. gezogen werden. Das Erträgnis an Obst beläuft sich durchschnittlich in T. auf 90,000 metr. Ztr. Kernobst, 40,000 metr. Ztr. Steinobst, 14,000 metr. Ztr. Nüsse und Mandeln und 14,500 metr. Ztr. Kastanien. Der Ölbaum wird in T. mit Erfolg nur in den südlichsten Teilen um Arco und Riva gezogen; auch die Kultur der Maulbeerbäume ist auf Südtirol beschränkt. Der Weinbau ist ebenfalls auf Südtirol und kleine Teile des Pusterthals und Vorarlbergs beschränkt. Die Weine sind in Deutschtirol vorwiegend weiß und schiller, in Welschtirol rot, würzig und bei guter Behandlung wertvoll. Als die vorzüglichsten Sorten gelten die von Isera bei Roveredo und der Traminer. Durchschnittlich beträgt die Weinernte 260,000 hl. Den größten Teil der produktiven Bodenfläche Tirols nehmen die Waldungen ein, von denen über 10 Proz. auf Staatsforsten kommen. Eine der Haupterwerbsquellen ist für T. ferner die Viehzucht. Nach der Zählung von 1880 gab es:

in Tirol in Vorarlberg

Pferde 14307 2680

Esel, Maulesel und Maultiere 4844 25

Rinder 420169 61115

Schafe 246436 12312

Ziegen 102017 12090

Schweine 45961 9684

Bienenstöcke 38962 5927

Der Stand der Pferde ist ein sehr geringer und nur im Pusterthal von größerer Bedeutung; dagegen ist das Rindvieh sehr reich und durch mehrere vorzügliche Rassen vertreten. Der Ertrag an Milch beläuft sich auf 4,3 Mill. hl, jener an Butter auf 85,000 metr. Ztr., an Käse auf 211,000 metr. Ztr. Zu besserer Verwertung der Milchprodukte tragen Molkereigenossenschaften bei. Die Seidenraupenzucht wird in Südtirol stark betrieben, hat aber durch Raupenkrankheit und durch den Druck der italienischen Konkurrenz sehr gelitten (jährlicher Kokonsertrag ca. 14,000 metr. Ztr.). Die Jagd, eine Lieblingsbeschäftigung der Tiroler, ist nicht mehr so ergiebig wie früher. Steinböcke, Wildschweine und Hirsche sind fast ausgerottet, Gemsen und Rehe selten, nur Hasen und Geflügel noch in größerer Menge vorhanden.

Der Bergbau und Hüttenbetrieb, ehemals in Nordtirol von hoher Bedeutung, hat fast seine ganze Wichtigkeit verloren. Für Eisen bestehen 3 Bergwerke und 2 Hochöfen (zu Jenbach und Pillersee), für Kupfer eine ärarische Schmelzhütte zu Brixlegg und ein Privatwerk zu Prettau. Die Hüttenproduktion belief sich 1887 auf 80 kg Silber, 2717 metr. Ztr. Kupfer und 13,425 metr. Ztr. Roheisen. Außerdem wird Bleierz (7881 metr. Ztr.), Zinkerz (22,152 metr. Ztr.), Schwefelkies (18,000 metr. Ztr.) und Braunkohle (zu Häring, dann zu Wirtatobel in Vorarlberg, zusammen 254,230 metr. Ztr.) gefördert. Der Wert aller Verkaufsprodukte des Berg- und Hüttenbetriebs war 592,500 Gulden. Hierzu kommt der Betrieb der Saline zu Hall mit einer Produktion von 140,500 metr. Ztr. Salz im Wert von 1,114,000 Guld. Sonstige Produkte des Bodens sind: Asphalt, Farberde, Gips, Kreide, Quarz, Marmor (bei Laas und Predazzo), Serpentin, Amethyste, Granate (Ötzthal und Zillerthal) u. a. In industrieller Beziehung zeichnet sich vor allem Vorarlberg (s. d.) durch regen Gewerbfleiß aus; Südtirol hat mit vorwiegender Seidenindustrie auch in dieser Richtung den Charakter einer italienischen Landschaft; im übrigen Land bilden Innsbruck und Bozen hervorragende Mittelpunkte industriellen Betriebs. Die Metallindustrie ist durch die Werke zu Jenbach und Piller-

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Tirol (Handel, Verkehrswesen etc.; Geschichte).

see vertreten, welche Gußwaren und Stahl erzeugen. Außerdem werden Maschinen (Innsbruck und Jenbach), Kleineisenwaren (im Stubaier Thal), Sensen und Sicheln, Nägel und Drahtstifte, Nadeln (Fügen), Kupfertiefwaren und Bleche (Brixlegg), Messing (Achenrain), leonische Waren (Stans) in größerer Menge erzeugt. Ferner gibt es Fabriken für Steingut (Schwaz), für Zement (Kirchbichel u. a.), für Marmorarbeiten, dann Glashütten, Fabriken für Schießpulver, Dynamit, Bleiweiß, Seife und Kerzen, Bierbrauereien, Branntweinbrennereien, Fabriken für konservierte Früchte u. Gemüse (Bozen), für Kaffeesurrogate, Teigwaren, Tabaksfabriken (Sacco und Schwaz). Der Textilindustrie dienen, abgesehen von der bedeutenden Vorarlberger Baumwollindustrie, mehrere Baumwollspinnereien und -Webereien, dann Fabriken für Schafwollwaren, Filz, Zwirn und Bänder in Nordtirol. Hierzu kommt die Seidenindustrie von Südtirol mit den zahlreichen Seidenfilanden und Spinnereien (50,000 Spindeln) und mehreren Seidensamtfabriken (Ala). Andre in T. vertretene Industriezweige sind: die Gerberei (namentlich in Roveredo), die Sumachbereitung, die Fabrikation von Papier, Holzstoff und Cellulose, die Holzschnitzerei als Hausindustrie (besonders im Grödner Thal), die Glasmalerei (Innsbruck), die Stickerei, Spitzenklöppelei, Handschuhfabrikation u. a. Die Lage Tirols zwischen Deutschland und Italien und die Vorteile wohlerhaltener Kunststraßen und Eisenbahnen begünstigen den Handel mit dem In- und Ausland wie auch den Transithandel. Das Land wird von der Linie Kufstein-Ala (Brennerbahn) mit der durch das Pusterthal führenden Seitenlinie Franzensfeste-Lienz-Marburg, dann von den Staatsbahnlinien Salzburg-Wörgl und Innsbruck-Lindau (Arlbergbahn) durchzogen. Die Gesamtlänge der Eisenbahnen beläuft sich in T. und Vorarlberg auf 745 km. Wasserverkehrswege bilden: der Inn von Hall bis zur Grenze (86 km), der Rhein von Geißau bis zur Einmündung in den Bodensee (5 km), die Etsch von Branzoll bis zur Grenze (105 km). Außerdem werden der Boden-, der Garda- und der Achensee mit Dampfschiffen befahren.

Für den Unterricht sorgen: die Universität zu Innsbruck, 16 theologische Lehranstalten, 9 Obergymnasien, ein Realgymnasium, 2 Oberrealschulen, 2 Unterrealschulen, 4 Lehrer- und 3 Lehrerinnenbildungsanstalten; ferner 5 Handelslehranstalten, 31 Gewerbeschulen, 3 landwirtschaftliche Lehranstalten, eine Hebammenlehranstalt, 16 weibliche Arbeitsschulen und 28 sonstige Lehr- und Erziehungsanstalten (meist in geistlichen Händen); endlich 3 Bürger-, 1705 öffentliche und 59 private Volksschulen. Der für T. bestehende Landtag (Vorarlberg besitzt seine eigne Landesvertretung) besteht aus dem Fürsterzbischof von Salzburg, den Fürstbischöfen von Trient und Brixen, 4 Abgeordneten der Äbte und Pröpste, dem Rektor der Innsbrucker Universität, 10 Abgeordneten des Großgrundbesitzes, 13 der Städte, Märkte und Industrialorte, 3 der Handels- und Gewerbekammern (zu Innsbruck, Bozen und Roveredo) und 34 Vertretern der Landgemeinden, zusammen aus 68 Landtagsmitgliedern. In den Reichsrat entsendet T. 18 Abgeordnete. In kirchlicher Beziehung ist das Land unter das Erzbistum Salzburg (bis zur Ziller) und die Bistümer Brixen und Trient verteilt. Das Wappen von T. (s. Tafel "Österreichisch-Ungarische Länderwappen") bildet im silbernen Feld ein aufrechter roter Adler mit gekröntem, nach rechts gewandtem Kopf, der von einem Lorbeerkranz umgeben ist, und mit silbernen Kleestengeln auf den ausgebreiteten Flügeln (vgl. Busson, Der Tiroler Adler, Innsbr. 1879). Administrativ ist das Land in 4 Städte mit selbständigem Statut und 24 Bezirkshauptmannschaften eingeteilt, wovon ^3[?] auf Vorarlberg entfallen. Sitz der Statthalterei ist Innsbruck. Für die Rechtspflege bestehen: ein Oberlandesgericht zu Innsbruck, 5 Gerichtshöfe erster Instanz und 67 Bezirksgerichte. Die politische Einteilung von T. (jene von Vorarlberg s. d.) zeigt folgende Tabelle:

Bezirke

Areal Bevölkerung 1880

in QKil. in QM

Städte:

Innsbruck 0,3 - 20537

Bozen 0,7 - 10641

Roveredo 8 0,1 8864

Trient 18 0,3 19585

Bezirkshauptmannschaften:

Ampezzo 369 6,7 6340

Borgo 729 13,2 43139

Bozen 1734 31,5 65812

Brixen 1203 21,8 26547

Brunek 1835 33,3 35509

Cavalese 765 13,9 23297

Cles 1166 21,2 49594

Imst 1705 31,0 23334

Innsbruck 2101 38,1 54970

Kitzbühel 1164 21,1 23138

Kufstein 1042 18,9 29953

Landeck 1918 34,8 24772

Lienz 2150 39,5 30846

Meran 2398 43,5 58209

Primiero 415 7,5 10983

Reutte 1096 19,9 16137

Riva 350 6,2 24495

Roveredo 708 12,9 52007

Schwaz 1654 30,0 26742

Tione 1230 22,3 36368

Trient 931 16,9 83357

Zusammen: 26690 484,7 805176

Vgl. Beda Weber, Das Land T. (Innsbr. 1837-1838, 3 Bde.; 2. Aufl. als "Handbuch für Reisende in T.", 1853); Staffler, T. und Vorarlberg, statistisch und topographisch (das. 1839-46, 2 Bde.); Schneller, Landeskunde von T. (das. 1872); Schaubach, Die deutschen Alpen, Bd. 2, 4 u. 5 (2. Aufl., Jena 1866-67); Zingerle, Sitten, Bräuche etc. des Tiroler Volks (2. Aufl., Innsbr. 1871); Hörmann, Tiroler Volkstypen (Wien 1877); Jüttner, Die gefürstete Grafschaft T. und Vorarlberg (das. 1880); Egger, Die Tiroler und Vorarlberger (Teschen 1882); Bidermann, Die Nationalitäten in T. (Stuttg. 1886); "Spezial-Ortsrepertorium von T." (hrsg. von der statistischen Zentralkommission, Wien 1885); Grohmann, Tyrol and the Tyrolese (2. Aufl., Lond. 1877); Schilderungen von Steub, Noë u. a.; Reisehandbücher von Meyer ("Deutsche Alpen"), Bädeker, Trautwein, Amthor, Meurer etc.

Geschichte.

T. wurde ursprünglich von rätischen, den Etruskern oder Rasenna verwandten Stämmen bewohnt, zu welchen auch Kelten hinzutraten. Vom Bodensee und den Lechquellen nordwärts hausten die keltischen Vindelizier. Unter Kaiser Augustus eroberten es die Römer und öffneten es dem Verkehr. Mit dem 2. Jahrh. begannen die Einfälle germanischer Stämme, insbesondere der Alemannen. Schon im 4. Jahrh. fand hier das Christentum Eingang, für welches das Bistum Trient und wenig später das in Seben errichtet wurde; letzteres wurde im 11. Jahrh. nach Brixen verlegt. Nach dem Sturz des abendländischen

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Tirol (Geschichte).

Kaisertums kam T. unter die Herrschaft der Ostgoten, nach deren Zertrümmerung der nördliche Teil des Landes von den Bojoaren (Bayern), der südliche von den Langobarden besetzt ward. Dann ward T. fränkische Provinz, in Gaue geteilt, deren Namen sich erhalten haben, wie Vintschgau (Finsgowe), Thal Passeyer (Passir), Zillerthal (Cillarestal), Pusterthal (Pustrissa), Innthal, Norithal (das innere T. um den Brenner herum) mit der Grafschaft Bozen, und von Grafen verwaltet. Nach dem Aussterben des karolingischen Hauses nahmen es die wieder emporgekommenen bayrischen Herzöge zum Teil in Besitz. Außer den geistlichen Fürsten von Brixen und Trient bewahrten ihre Unabhängigkeit die Grafen von T., welchen der Vintschgau und ein Teil des Engadin gehörte. Ihre Stammburg war Schloß T. oberhalb Meran (früher Maias). Schon seit 1001 werden Grafen von T. erwähnt, doch beginnt eine regelmäßige Succession erst seit Albrecht I. um 1110. Einer seiner Nachfolger, Albrecht IV. (1202-53), erwarb 1248 die Grafschaft Andechs im Oberinnthal bei dem Aussterben der Herzöge von Meran, welche diesen Titel als Markgrafen des am Meer liegenden Istrien führten und sich von Friedrich I. von Dießen (gest. 1020) ableiteten. Die übrigen Besitzungen dieses Geschlechts in Oberbayern, wo Andechs am Starnberger See lag, im Norithal (um Brixen) und Pusterthal wurden von den Herzögen von Bayern und den Bischöfen von Brixen okkupiert. Das Gebiet einer dritten Familie, nämlich der Herren von Eppan, welche angeblich zum Geschlecht der Welfen gehörten, erwarben in 12. Jahrh. die Bischöfe von Trient, wie z. B. die Grafschaft Bozen. Diesem Stift war auch die Grafschaft Matrei zugefallen, während das Zillerthal schon seit dem 11. Jahrh. zum Erzstift Salzburg gehörte. Ein viertes Geschlecht, die Grafen von Heimföls-Lurenfeld, seit dem 12. Jahrh. Grafen von Görz genannt, war im tirolisch-kärntnischen Pusterthal reich begütert. Als Albrecht IV. von T. 1253 starb, teilten seine Schwiegersöhne, die Grafen Meinhard I. von Görz und Gebhard von Hirschberg, die kaum vereinigte Erbschaft; jener erhielt die Besitzungen der Grafen von T., dieser die der Grafen von Andechs. Doch fiel die Erbschaft Gebhards durch Kauf wieder an Meinhard II., Enkel des letzten Grafen von T., welcher 1282 von Kaiser Rudolf I. die Reichsunmittelbarkeit des nun in seinen Besitzverhältnissen geschlossenen Landes zuerkannt erhielt, das nunmehr den Namen T. (Etschland und Innthal) zu führen begann. Meinhards II. Enkel Heinrich, Herzog von Kärnten und Graf von T., hinterließ eine Erbtochter, Margarete Maultasch, welche zuerst mit Johann von Luxemburg und dann mit dem Markgrafen Ludwig von Brandenburg, Kaiser Ludwigs ältestem Sohn, vermählt war und nach dem Tod ihres Sohns Meinhard 1363 das Land an die Herzöge von Österreich abtrat. 1364 bestätigte der Kaiser diese Gebietsveränderung im Vertrag zu Brünn, und 1369 erkannten sie auch die bayrischen Herzöge im Schärdinger Vergleich an. Bei der Teilung der habsburgischen Brüder Albrecht III. u. Leopold III. (1379) fiel T. an Herzog Leopold, der 1386 bei Sempach fiel. Bei der Teilung von 1406 überkam sein jüngster Sohn, Herzog Friedrich IV. (mit der leeren Tasche), das Land samt den schwäbischen Vorlanden in ziemlicher Verwirrung, die sich durch den Konflikt, in den Friedrich mit dem Konstanzer Konzil und dem Kaiser Siegmund 1415 geriet, noch steigerte. Während Friedrich im Gebirge umherirrte, suchte sich sein Bruder Ernst von Steiermark des Landes zu bemächtigen; doch kam 1416 eine Versöhnung zwischen den Brüdern zu stande, und die Grafschaft T. erhielt der Herzog Friedrich zurück, der nun mit Hilfe des Landvolks den widerspenstigen Adel demütigte. Von nun an erhielten die Städte und das Landvolk gleiche politische Rechte mit den zwei vornehmen Ständen (Landtag zu Meran 1433). Unter seinem Sohn Siegmund, dem "münzreichen", aber durch verschwenderische Freigebigkeit stets geldbedürftigen Herrscher, blühte der Bergbau in T. auf, zumal die Silbergruben von Schwaz ergaben unermeßliche Ausbeute. Dieser Fürst ist besonders bekannt durch den Kirchenstreit, der 1455 zwischen ihm und dem Bischof von Brixen, Nikolaus von Cusa, wegen der Vogtei über das Nonnenkloster Sonnenburg im Pusterthal sich entspann und 1464 resultatlos endete. Da Siegmund kinderlos war, übergab er die Grafschaft 1490 seinem Neffen, dem König Maximilian I., der sie 1504 durch das Zillerthal, Kufstein, Kitzbühel, Rattenberg, das kärntnische Pusterthal zwischen Ober-Drauburg und Lienz, ferner gegen Italien durch die Reichsvikariate Ala, Avia, Mori, Brentonico, das Grenzgebiet von Covolo (Kofel) und Pudestagno (Peutelstein), ferner Riva und Roveredo vergrößerte und ihr den Titel gefürstete Grafschaft beilegte. Ferdinand I. trat der Reformation entgegen, die seit 1522 im Land Eingang gefunden hatte, unterdrückte zwar 1525 den Bauernaufstand, den in Brixen Michael Geißmayer angestiftet hatte, mußte aber die freie Predigt nach dem Wort Gottes gestatten. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. ward durch das Zusammenwirken des katholischen Adels und der Regierung in Innsbruck bewirkt, daß T. von den Protestanten verlassen wurde. Nach Ferdinands I. Tod (1564) übernahm sein zweiter Sohn, Erzherzog Ferdinand, der Gemahl der schönen Philippine Welser von Augsburg, die Regierung; da Ferdinand keine erbberechtigten Söhne hinterließ, so fiel nach seinem Tod (1594) das Land wieder an die kaiserliche Familie, bis 1602 Rudolf II. seinen Bruder Maximilian zum Regenten bestellte. Nach dessen Tode trat (1618) Erzherzog Leopold aus der steirischen Linie ein, der Gatte Claudias von Medici, welche nach seinem Ableben als Vormund des Sohns die Grafschaft verwaltete (1632-46). Auf Claudia folgten noch ihre beiden Söhne, zuerst Ferdinand Karl, dann Franz Siegmund, der 1665 starb. Mit ihm erlosch die steirische Nebenlinie in T., und dieses wurde jetzt wieder von Wien aus regiert. Kaiser Leopold I. stiftete 1673 die Universität zu Innsbruck. Im spanischen Erbfolgekrieg (1703) unternahm Max Emanuel von Bayern eine Expedition nach T., die anfangs gelang, bald aber durch die Tapferkeit des Landsturms den Bayern ebenso verderblich ward wie den Franzosen, die unter Vendôme von Italien her bis Trient vorgedrungen waren. Durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 erhielt Kaiser Franz II. die geistlichen Fürstentümer Brixen und Trient. Im Frieden zu Preßburg fiel T. an Bayern; 11. Febr. 1806 erfolgte die Übergabe. Die Einmischung der neuen Regierung in viele Dinge, welche die Wiener Hofräte bisher klüglich unberührt gelassen, die bedeutenden Geldverluste, welche die Entwertung der das Land überschwemmenden Bankozettel verursachte, die Störung des altgewohnten Absatzes in den Erbländern, die Einführung neuer Steuern und die Konskription, die Auflösung der Tiroler Landschaft, die Beseitigung selbst des Namens "T.", namentlich aber die Verminderung der Feiertage und Klöster: dies alles erzeugte im Land eine

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Tiroler Grün - Tisch.

den Bayern sehr feindliche Stimmung und bereitete den heimlichen Aufforderungen Erzherzog Johanns und Hormayrs in Wien zum Aufstand einen günstigen Boden. So entzündete sich im April 1809 jener Volkskrieg unter den Helden Andreas Hofer (s.d.), Speckbacher u. a., nach dessen unglücklichem Ende im Wiener Frieden von 1809 T. in drei Teile zerrissen ward: Welschtirol mit Bozen fiel an das Königreich Italien, Oberpusterthal an Illyrien, und das übrige blieb bei Bayern. Nach dem Fall des französischen Kaiserreichs 1814 wurde das ganze Land wieder mit Österreich vereinigt. Durch das Patent vom 24. März 1816 stellte Kaiser Franz die Verfassung in etwas veränderter Gestalt wieder her. T. fügte sich weniger gern als die andern deutschen Kronländer in den durch das Februarpatent von 1861 (s. Österreich, S. 521) in Österreich geschaffenen Zustand; eine Adresse der alttiroler Partei vom 15. Febr. 1861 hatte geradezu die Aufrechterhaltung der alten ständischen Gliederung verlangt. Dazu weigerte sich der italienische Süden, den Landtag zu beschicken, und verlangte eine Abtrennung der italienischen Bezirke von den deutschen. Die Abneigung der Massen, namentlich auf dem Land, gegen die neue Ordnung der Dinge wuchs noch, als das Patent vom 8. April im Prinzip die Gleichstellung der Protestanten aussprach. Doch hatte die Adresse des allein aus Vertretern von Deutschtirol zusammengesetzten Landtags, welcher auf Antrag des Fürstbischofs von Brixen an den Kaiser die Bitte richtete, die Ausübung des öffentlichen Gottesdienstes, die Bildung kirchlicher Gemeinden, den Erwerb von Realbesitz den Protestanten in T. nicht zu gestatten, keinen Erfolg. Die Sistierung der Verfassung nach Schmerlings Sturz 1865 rief in T. keine oppositionelle Kundgebung hervor, weil die Regierung T. in Absicht auf das Protestantenpatent bedeutende Zugeständnisse machte. So wurde durch das Gesetz vom 7. April 1866 die Bildung protestantischer Gemeinden von der Einwilligung des Landtags abhängig gemacht. Daher gab sich für die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Zustände 1867 in dem Landtag Tirols geringe Sympathie zu erkennen; indessen erfolgte doch der Beschluß, den Reichsrat zu beschicken. Die liberalen österreichischen Gesetze über Kirche und Schule stießen in T. natürlich auf große Abneigung und im Landtag auf Opposition. Alle Versuche des verfassungstreuen Ministeriums, eine liberale Mehrheit durch Neuwahlen zum Landtag zu erreichen, waren vergeblich. Auch nach dem Eintritt der Welschtiroler in den Landtag (1875) blieb die Mehrheit ultramontan und protestierte ebenso wie die Bischöfe immer wieder gegen die konfessionslose Schule und für die Glaubenseinheit. Vgl. v. Hormayr, Geschichte der gefürsteten Grafschaft T. (Tübing. 1806-1808, 2 Bde.); Egger, Geschichte Tirols (Innsbr. 1872-80, 3 Bde.); über einzelne Perioden: A. Huber, Geschichte der Vereinigung Tirols mit Österreich (das. 1864); v. Hormayr, T. und der Tiroler Krieg von 1809 (2. Aufl., Leipz. 1845); A. Jäger, Zur Vorgeschichte des Jahrs 1809 in T. (Wien 1852); "T. unter der bayrischen Regierung" (Aarau 1816); A. Jäger, Geschichte der landständischen Verfassung Tirols (Innsbr. 1880-1885, 2 Bde.) und andre Werke des Verfassers; Streiter, Studien eines Tirolers (für die neuere Zeit, Leipz. 1862); "Archiv für Geschichte und Altertumskunde Tirols" (Innsbr. 1864-68); "Acta Tirolensia" (das. 1886 ff.); "Zeitschrift des Ferdinandeums für T." (das., seit 1825).

Tiroler Grün, s. Berggrün.

Tiroler Weine, im allgemeinen eher leichte als geistige, wenig saure Weine, denen es an Parfüm, häufig an Körper, meist an Haltbarkeit fehlt. Man gewinnt Rot- und Weißweine, erstere besonders im Etschthal, letztere in der Umgegend von Trient und Roveredo, wo auch vorzügliche Likörweine bereitet werden. Man unterscheidet Leiten- oder Collinenweine von den Anhöhen und den Buchten der Berge, reich an Alkohol und Körper, von angenehmem Geschmack und stärkendem Weingeruch, und Bodenweine aus der Tiefebene, ohne Boukett, dick und nicht haltbar. Die vorzüglichsten Weine Tirols sind: der Isera, weiß und rot, voll Geist und Feuer, der braune Vin santo oder Pasqualino, der köstliche weiße Terlaner, voll Feuer und Süße, der dunkelrote Natalino, ein Strohwein von Roveredo, der dunkelbraune, lieblich süße Muscato bianco, der dunkel rubinrote Traminer und der Marziminer von Ala und Tramin, letzterer feingeistig und körperreich, dem Veltliner ähnlich, der Seeburger von Brixen, die Weine von Glanig und Leitach, wo der von Vergil besungene Lieblingswein des Kaisers Augustus wuchs, der Kalterer Seewein, Maddalena etc.

Tironische Noten, s. Tiro.

Tirschenreuth, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberpfalz, an der Waldnab und an der Linie Wiesau-T. der Bayrischen Staatsbahn, 500 m ü. M., hat 4 Kirchen, ein Schloß, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, ein Forstamt, Porzellan-, Tuch- und Zementziegelfabrikation, eine Dampfschneidemühle und (1885) 2829 meist kath. Einwohner. T. ist Geburtsort des Germanisten Schmeller.

Tirschtiegel, zwei Städte im preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis Meseritz, durch die Obra getrennt: Alt-T., mit kath. Kirche und (1885) 965 meist kath. Einwohnern; Neu-T., mit evangelischer und altluther. Kirche und Synagoge und (1885) 1502 meist evang. Einwohnern. T. hat ein Amtsgericht, ein Johanniterkrankenhaus u. starken Hopfenbau. Nahebei das Schloß T.

Tirso (im Altertum Torsus), der bedeutendste Fluß der Insel Sardinien, entspringt im nordöstlichen Teil derselben, fließt südwestlich und mündet in den Golf von Oristano; 135 km lang.

Tirso de Molina, Dichter, s. Tellez.

Tiryns, sehr alte Stadt in Argolis, südöstlich von Argos, der Sage nach Sitz des Perseus und Herakles und von lykischen Kyklopen mit riesigen (Steine von 3 m Länge und 1 m Dicke), zum Teil noch erhaltenen Mauern, in welchen Kammern und überdeckte Gänge ausgespart sind, befestigt, was auf orientalische Einflüsse deutet. In T. erhielt sich die alte achäische Bevölkerung im Gegensatz zur dorischen in Argos. Darum stete Feindschaft, welche 465 v. Chr. mit der Zerstörung der Stadt durch die Argiver endete. Die Ruinen, durch die Ausgrabungen Schliemanns 1884 bis 1885 bekannt, welche die Fundamente einer Fürstenburg aus Homerischer Zeit bloßgelegt haben, heißen heute Paläa Nauplia. Vgl. Schliemann und Dörpfeld, Tiryns (Leipz. 1885).

Tisane (franz.), s. Ptisane.

Tisch, in der Turnkunst (s. d.) ein zu Übungen des gemischten Sprunges verwendetes, nur auf wenigen Turnplätzen eingeführtes, hier aber sehr beliebtes Turngerät, etwa 2 m lang, 1 m breit, die Platte mit dichter Polsterung versehen, die Füße mit Ständern in Röhren zum Stellen in verschiedene Höhe (zwischem 1¼ und 1¾ m). Wegen seiner Größe springt man an ihm gern mit dem stark federnden Schwungbrett (Tremplin). Vgl. J. K. Lion, Die Turnübungen des

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Tischbein - Tischreden.

gemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876). Eine Abart des Tisches ist der weit kleinere Kasten (Springkasten), den die preußische Militärgymnastik zu den Übungen des Voltigierens an Stelle des Pferdes (s. d.) eingeführt, aber wieder abgeschafft hat.

Tischbein, deutsche Künstlerfamilie: Johann Valentin, geb. 1715 zu Haina in Kurhessen, malte Landschaften und Dekorationen und starb 1767 als Hofmaler in Hildburghausen. Johann Heinrich, der ältere, Bruder des vorigen, geb. 3. Okt. 1722 zu Haina, ging 1743 nach Paris, wo er sich bei Vanloo bildete, 1748 nach Venedig, dann nach Rom und ward 1752 Kabinettsmaler des Landgrafen von Hessen-Kassel, später Professor an der Kunstakademie zu Kassel, wo er 22. Aug. 1789 starb. Er entlehnte seine Stoffe meist der Mythologie. Seine Zeichnung ist im ganzen korrekt; das Nackte verrät das Studium der Antike, die Gewänder sind im großen Stil behandelt. Viele seiner vom Geiste des Rokokostils erfüllten Arbeiten finden sich im Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel. Auch seine Brüder Johann Jakob, gest. 1791 in Lübeck, und Anton Wilhelm, gest. 1804 als Hofmaler in Hanau, erwarben sich einen Namen, jener durch Tierstücke, dieser durch historische Darstellungen und Genrebilder. Johann Heinrich, der jüngere, Neffe der vorigen, geb. 1742 zu Haina, gest. 1808 als Inspektor der Galerie zu Kassel, stach vieles nach Joh. Heinr. T., dem ältern, und schrieb eine "Abhandlung über die Ätzkunst" (Kassel 1808).

Sein Bruder Johann Heinrich Wilhelm, der Neapolitaner genannt, geb. 15. Febr. 1751 zu Haina, der bedeutendste der Familie, bildete sich unter Leitung seiner Oheime Joh. Heinr. und Joh. Jakob T. und war dann zu Hamburg, in den Niederlanden, in der Schweiz, seit 1782 zu Rom und seit 1787 in Neapel thätig, wo er 1790 als Direktor der Malerakademie angestellt ward; doch kehrte er bald darauf nach Deutschland zurück und lebte abwechselnd in Hamburg und Eutin, wo er 26. Juli 1829 starb. Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: Konradin von Schwaben und Friedrich von Österreich wird beim Schachspiel das Todesurteil verkündigt; Christus und die Kindlein, für die Ansgariikirche zu Bremen; der wütende Ajax, die Kassandra von der Statue der Pallas wegreißend. Unter den von ihm herausgegebenen und zum Teil mit Radierungen ausgestatteten artistischen Werken sind zu erwähnen: "Têtes de différents animaux, dessinées d'après nature" (Neap. 1796, 2 Bde.), "Sir Will. Hamilton's collection of engravings from antiques vases" (das. 1791-1809, 4 Bde.) und sein berühmtestes Werk: "Homer, nach Antiken gezeichnet", mit Erläuterungen von Heyne (Heft 1-6, Götting. 1801-1804) und Schorn (Heft 7-11, Stuttg. 1821-23). Seine Selbstbiographie wurde von Schiller ("Aus meinem Leben", Braunschw. 1861, 2 Bde.) herausgegeben. Vgl. Alten, Aus Tischbeins Leben (Leipz. 1872).

Johann Friedrich August, Sohn Joh. Valentin Tischbeins, geb. 1750 zu Maastricht, als Familienporträtmaler ausgezeichnet, bereiste Frankreich und Italien, ward dann Hofmaler in Arolsen und lebte hierauf einige Zeit in Holland, seit 1795 aber zu Dessau und ward 1800 Ösers Nachfolger als Direktor der Akademie zu Leipzig. Er starb 1812 in Heidelberg. Sein Sohn Karl Ludwig, geb. 1797 zu Dessau, wurde in Dresden gebildet, ging 1819 nach Italien, ward 1825 Professor der Zeichenkunst an der Universität Bonn und 1828 Vorsteher einer Zeichenschule und Aufseher über die fürstlichen Sammlungen zu Bückeburg, wo er 13. Febr. 1855 starb. Beifall fand sein Besuch Egmonts bei Klärchen sowie seine Ansichten von Städten, z. B. Bonn, Frankfurt, Leipzig. Vgl. Michel, Étude biographique sur les T. (Lyon 1881).

Tischendorf, Lobegott Friedrich Konstantin von, bekannt durch seine Arbeiten für Kritik des Bibeltextes, geb. 18. Jan. 1815 zu Lengenfeld im Vogtland, studierte zu Leipzig Theologie und Philologie und habilitierte sich 1839 daselbst, bereiste, um Materialien zu einer Textreform des Neuen Testaments zu sammeln, einen großen Teil Europas und den Orient. Nach seiner Rückkehr erhielt er 1845 eine außerordentliche, 1859 eine ordentliche Professur der Theologie zu Leipzig. 1853 und 1859 unternahm er zwei neue Reisen nach dem Orient, besonders nach Ägypten und dem Sinai, von welcher er viele wertvolle Handschriften, insonderheit eine griechische Bibel aus dem 4. Jahrh., mit zurückbrachte (vgl. seine beiden Reisewerke: "Reise in den Orient", Leipz. 1845-1846, 2 Bde., und "Aus dem Heiligen Lande", das. 1862). Er starb 7. Dez. 1874. Seine Arbeiten betreffen hauptsächlich die neutestamentliche Textreform, so: die Ausgabe des "Codex Ephraemi Syri" (Leipz. 1843 u. 1845) und des "Codex Friderico-Augustanus" (das. 1846); die "Monumenta sacra inedita" (das. 1846; nova collectio 1855-71, 6 Bde.); "Evangelium Palatinum ineditum" (das. 1847); "Codex Amiatinus" (das. 1850 u. 1854); "Codex Claromontanus" (das. 1852); "Fragmenta sacra palimpsesta" (das. 1854); "Codex Sinaïticus" (Petersb. 1862, 4 Bde.; Handausgabe, Leipz. 1863, faksimiliert); das "Novum Testamentum Vaticanum" (das. 1867). Nach seinem Tod setzten O. v. Gebhardt und R. Gregory seine neutestamentlichen Arbeiten fort. Auch lieferte T. mit der Zeit 20 Ausgaben des neutestamentlichen Textes (8. größere Ausg., Leipz. 1869-1872, 2 Bde.; hiernach eine kleinere 1873), eine kritische Ausgabe der Septuaginta (7. Aufl., das. 1887, 2 Bde.) sowie Ausgaben der "Acta apostolorum apocrypha" (das. 1851), der "Evangelia apocrypha" (das. 1853, 2. Aufl. 1877) und der "Apocalypses apocryphae" (das. 1866). Seine Lösung der Frage: "Wann wurden unsre Evangelien verfaßt?" (Leipz. 1865, 4. Aufl. 1866) wurde von der Kritik fast einstimmig für einen verunglückten Versuch erklärt. Vgl. Volbeding, Konstantin T. (Leipz. 1862).

Tischgelder werden im deutschen Heer den am gemeinsamen Mittagstisch teilnehmenden Leutnants gezahlt; auch Portepeefähnriche, Offizieraspiranten im Besitz des Reifezeugnisses zum Fähnrich können T. erhalten, jedoch nicht im Feld.

Tischnowitz, Stadt in der mähr. Bezirkshauptmannschaft Brünn, an der Schwarzawa und der Eisenbahn Brünn-T., mit Bezirksgericht, Schloß, Tuchweberei, Gerberei und (1880) 2589 Einw. Dabei T.-Vorkloster, mit einer Basilika (von 1238), Zucker- und Papierfabrik und 1205 Einw.

Tischreden, Unterhaltungen oder Äußerungen berühmter Männer bei Tisch über Gegenstände der Kunst, der Wissenschaft, des Lebens etc. Schon aus dem Altertum finden sich T. in Xenophons und Plutarchs Symposien; am bekanntesten aber sind die Luthers: "Colloquia, so er in vielen Jahren gegen gelahrten Leuten, auch fremden Gästen und seinen Tischgesellen geführet" (zuerst hrsg. von Rebenstock, 1571; am besten von Förstemann, Leipz. 1844-48, 4 Tle.; Auszug, das. 1876). Es finden sich in diesen T. neben sinnreichen Bemerkungen, namentlich über einzelne Punkte der Glaubens- und Sittenlehre, auch zahlreiche kernhafte Späße. Auch

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Tischri - Tissiérographie.

die T. ("Table-talk") des englischen Dichters S. T. Coleridge (s. d.) verdienen Erwähnung.

Tischri (Tisri, hebr.), der erste Monat des bürgerlichen und der siebente des Festjahrs der Juden, hat 30 Tage und fällt meist in den September unsers Jahrs. Der 1. und 2. T. ist jüdisches Neujahr, der 10. Versöhnungstag, 15. bis 22. Laubhüttenfest.

Tischrücken und Tischklopfen. Mit ersterm Wort bezeichnet man die drehende und fortrückende Bewegung, in welche ein Tisch versetzt wird, wenn mehrere um den Tisch herum sitzende oder stehende Personen ihre Hände darauf legen, wobei durch Berührung der kleinen Finger eine Art von Kette gebildet wird. Versuche dieser Art wurden zuerst in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gemacht (s. Spiritismus); nachdem aber ein Aufsatz in der "Allgemeinen Zeitung" vom 4. April 1853 davon Kunde gegeben, wurde das Tischrücken auch diesseit des Atlantischen Ozeans fast allerorten in Gesellschaften mit Erfolg versucht, erregte großes Aufsehen und beschäftigte eine Zeit hindurch Gelehrte und Ungelehrte. Damit verband sich bald das sogen. Tischklopfen, ein Frag- und Antwortspiel, bei welchem der Tisch durch Erheben und Aufstampfen eines Fußes je nach Abrede Ja oder Nein, die Buchstaben des Alphabets oder die Zahlen bezeichnen mußte. Ähnliche Künste waren schon bei Griechen und Römern im Gebrauch, indem man zur Erforschung der Zukunft geweihte Dreifüße in Bewegung brachte, und unter dem Kaiser Valens gab ein derartiges Verfahren den Anlaß zu großartigen Zaubereiprozessen. Auch im jetzigen China und Indien sind entsprechende magische Operationen seit uralten Zeiten im Gebrauch. Da nun die Antworten auf vorgelegte Fragen nur von einer intelligenten Macht gegeben werden können, so schrieb man sie und bald auch das gesamte Tischrücken der Einwirkung von Geistern zu. Eine Reihe von Halbgelehrten suchte nach greifbarern Kräften, und in einer unendlichen Broschürenlitteratur wurden bald die Elektrizität, bald der Magnetismus, bald das Nervenfluidum oder das "magische Geisteswirken" für diese Erscheinungen verantwortlich gemacht, während andre alles für plumpen Betrug ansahen. Faraday zeigte, daß beide Annahmen falsch seien und beim Tischrücken lediglich Selbsttäuschung im Spiel sei, insofern, wie er durch zu diesem Zweck von ihm konstruierte Dynamometer bewies, Personen, die ihre Hände auf den Tisch legen, bald beginnen, im Sinn sogen. ideomotorischer Bewegungen (s. d.) unbewußt einen beträchtlichen Druck auszuüben, der nur in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden braucht, um selbst schwere Tische in Gang zu bringen. Die Spiritisten halten natürlich an ihrer Theorie fest, und ihre herumreisenden Apostel lassen es auch nicht mehr bei dem Tischrücken bewenden, sondern pflegen (wie z. B. Home und Slade) am Schluß ihrer Sitzungen schwebende und fliegende Tische zu zeigen (vgl. Spiritismus). Die schreibenden Tischchen (s. Psychograph) werden durch die aufgelegte Hand einzelner Personen (Medien) in Bewegung gebracht, und zu Guadalupe erschien 1853 die in dieser Weise von einem Stuhl verfaßte Novelle "Juanita". Noch in neuerer Zeit hat sich Crookes bemüht, experimentell zu beweisen, daß die "Medien" tatsächlich im stande seien, eine Verminderung, resp. Gegenwirkung der Schwerkraft zu leisten. Vgl. Crookes, Der Spiritualismus und die Wissenschaft (Leipz. 1873); Wallace, Eine Verteidigung des modernen Spiritualismus (das. 1875).

Tisi, Benvenuto, Maler, s. Garofalo.

Tisiphone, eine der Erinnyen (s. d.).

Tisri, s. Tischri.

Tissandier (spr. -ssangdjeh), Gaston, Gelehrter, geb. 21. Nov. 1843 zu Paris, widmete sich vorwiegend der Chemie und leitete 1864-74 das Versuchslaboratorium der Union nationale. In dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit meteorologischen Arbeiten, und 1868 unternahm er von Calais aus mit Dufour seine erste Luftballonfahrt. Seitdem stieg er mit seinem Bruder Albert mehr als 20mal auf, entwich auch 1870 mittels eines Ballons aus dem belagerten Paris und machte 1875 mit Croce-Spinelli und Sivel zwei Fahrten, von denen die eine 23 Stunden dauerte und die andre, wesentlich zum Zweck spektroskopischer Untersuchungen unternommen, in eine Höhe von 8600 m führte und den beiden Begleitern Tissandiers das Leben kostete. T. ist Vizepräsident der französischen Luftschiffergesellschaft und Professor des Polytechnischen Vereins. Er schrieb außer vielen Beiträgen für die 1873 von ihm gegründete Zeitschrift "Nature": "L'eau" (1867, 4. Aufl. 1878); "La houille" (1869); "Les fossiles" (1874); "Merveilles de la photographie" (1874); "Voyages aériens" (1870; deutsch in Masius' "Luftreisen", Leipz. 1872); "En ballon pendant le siége de Paris" (1871); "Simples notions sur les ballons" (1876); "L'héliogravure" (1875); "Histoire de la gravure typographique" (1875); "Histoire de mes ascensions" (1878); "Le grand ballon captif à vapeur de M. Giffard" (1879); "Les martyrs de la science" (1879); "Observations météorologiques en ballon. Resumé de 25 ascensions aérostatiques" (1879); "Histoire des ballons et des aéronautes célèbres" (1887) etc.

Tissaphérnes, pers. Satrap in Lydien, schloß 413 v. Chr. mit den Spartanern ein Bündnis, stand im Streit zwischen Artaxerxes Mnemon und seinem Bruder Kyros auf des Königs Seite, ließ nach der Schlacht bei Kunaxa 401 die Anführer des griechischen Hilfsheers hinterlistig ermorden und erhielt deshalb eine Königstochter zur Ehe und die Statthalterschaft des im Kampf gefallenen Kyros. Als er die ionischen Städte in Kleinasien dem König zu unterwerfen versuchte, riefen jene die Spartaner zu Hilfe, und er ward von diesen unter Agesilaos 395 am Paktolos besiegt und infolgedessen seiner Strategie entsetzt. Sein Nachfolger Tithraustes ließ ihn später hinrichten.

Tisserand (spr. tiß'rang), Felix, Astronom, geb. 15. Jan. 1845, studierte seit 1863 an der Normalschule in Paris, promovierte 1868, trat als Adjunkt in die Sternwarte ein und wurde bei der Reorganisation des astronomischen Dienstes durch Leverrier 1873 zum Direktor des Observatoriums und zum Professor der Astronomie in Toulouse ernannt. 1874 ging er mit Janssen nach Japan zur Beobachtung des Durchganges der Venus durch die Sonne und 1882 zu demselben Zweck nach Martinique. Er schrieb: "Note sur l'interpolation" (1869); "Détermination des orbites des planètes 116 et 117" (1871); "Sur la recherche de la planète perdue 99" (mit Loewy, 1872); "Sur le mouvement des planètes autour du soleil d'après la loi électrodynamique de Weber" (1872); "Sur les étoiles filantes" (1873); "Observations des taches du soleil à Toulouse en 1874 et 1875" (1876); "Traité de mecanique céleste" (1888 ff.) etc.

Tissiérographie, ein von Tissier zu Paris zuerst angewandtes Verfahren, Kupferstiche auf den lithographischen Stein überzudrucken und die Zeichnung hoch zu ätzen, um dieselbe in der Buchdruckpresse gleichzeitig mit Typensatz drucken zu können. Der Stein wird auf die Höhe der Buchdrucklettern zuge-

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Tissot - Titan.

richtet, der Überdruck in gewöhnlicher Weise (s. Typolithographie) gemacht und dieser mit einer Mischung von rektifiziertem Holzessig, Salzsäure und Alkohol so lange geätzt, bis die erforderliche Tiefe erlangt ist, wobei die Zeichnung während des Tieferätzens an den Seiten durch Firnislagen vor dem Unterfressen durch das Ätzwasser geschützt werden muß.

Tissot (spr. -sso), 1) Simon (Samuel) André, Arzt, geb. 20. März 1728 zu Grancy bei Lausanne, studierte in Genf und Montpellier, ließ sich als Arzt in Lausanne nieder, leitete 1780-83 die Klinik in Pavia und starb 15. Juni 1797 in Lausanne. Von seinen Schriften (Laus. 1783-95, 15 Bde.; Par. 1809, 8 Bde.; deutsch, Leipz. 1784, 7 Bde.) sind besonders die populären hervorzuheben: "L'onanisme" (Laus. 1760, fast in alle europäischen Sprachen übersetzt) und "Avis au peuple sur sa santé" (das. 1761). Vgl. Eynard, La Vie de S. A. T. (Par. 1839).

2) Pierre François, franz. Schriftsteller, geb. 10. März 1768 zu Versailles, ein eifriger Revolutionär und später ein Parteigänger Napoleons, widmete sich seit 1799 ganz der Litteratur, hielt seit 1810 am Collège de France vielbesuchte Vorlesungen über lateinische Poesie, welche 1821 verboten wurden, schrieb unter der Restauration für die Tagesblätter: "Constitutionnel", "Minerve", "Pilote", "Gazette de France", von denen er letzteres auch dirigierte, nahm 1830 seine Vorlesungen wieder auf, erhielt 1833 einen Sitz in der Akademie und starb 7. April 1854. Seinen zahlreichen Schriften fehlte es weder an der eleganten Form noch an bedeutendem Inhalt; nur leiden sie öfters an Oberflächlichkeit. Am meisten gerühmt werden seine "Études sur Virgile, comparé avec tous les poètes épiques et dramatiques des anciens et des modernes" (Par. 1825-30, 4 Bde.; 2. Aufl. 1841, 2 Bde.). Außerdem schrieb er: "Bucoliques de Virgile, traduites en vers" (1800); "Trophées des armées françaises depuis 1792 jusqu'en 1815" (1819, 6 Bde.); "De la poésie latine" (1821); "Poésies érotiques" (1826, 2 Bde.); "Souvenirs historiques sur Talma" (1826); "Histoire complète de la Révolution française" (1833-36, 6 Bde.); "Histoire de Napoléon" (1833, 2 Bde.) u. a. Die "Mémoires de Carnot" gab er nach dessen Manuskripten heraus (1824).

3) Victor, franz. Schriftsteller, geb. 1845 zu Freiburg in der Schweiz, war längere Zeit Hauptredakteur der "Gazette de Lausanne" und ließ sich 1874 in Paris nieder. Von hier aus bereiste er Deutschland und Österreich und veröffentlichte über diese Länder seine in Frankreich von der Lesewelt verschlungenen Schmähschriften: "Voyage au pays des milliards" (1875), "Les Prussiens en Allemagne" (1876) und "Voyage aux pays annexées" (1876) sowie "Vienne et la vie viennoise" (1878), denen sich später anschlossen: "Les mystères de Berlin" (1879), "Voyage au pays des Tziganes" (1880), "La Russie rouge" (Roman, 1880), "L'Allemagne amoureuse" (1884), "La police secrète prussienne" (1884), "De Paris à Berlin" (1886) u. a.

Tissotgummi (Dextringummi), s. Dextrin.

Tisza (spr. tissa), 1) Koloman T. von Borosjenö, ungar. Staatsmann, geb. 16. Dez. 1830 zu Geszt im Biharer Komitat aus einer reichbegüterten adligen calvinistischen Familie, studierte die Rechte und ward 1855 zum Hilfskurator des Szalontaer helvetischen Kirchendistrikts gewählt. Er trat bei der durch das Protestantenpatent vom 1. Sept. 1859 hervorgerufenen Bewegung zuerst als öffentlicher Redner auf, ward 1861 für Debreczin Mitglied des Reichstags, schloß sich hier der Beschlußpartei an und übernahm 1865 mit Ghyczy die Führung des linken Zentrums, bildete jedoch 1875, als die Deákpartei infolge persönlicher Zerwürfnisse und der finanziellen Verwirrung zerfiel, eine neue "liberale Partei" aus dem größten Teil der Deákpartei und dem linken Zentrum, welche, da sie die Majorität besaß, die Regierung übernahm. T. trat in das neue Ministerium Wenkheim als Minister des Innern ein, übernahm aber 21. Okt. 1875 nach dem glänzenden Sieg der neuen Partei bei den Reichstagswahlen den Vorsitz im Kabinett, welches er mit staatsmännischem Geschick leitete. Er verstand es mit großer Geschicklichkeit, die Ungarn für den neuen Ausgleich mit Österreich günstig zu stimmen, die Besorgnisse und Klagen über die Orientpolitik Andrássys zu beschwichtigen, die Abneigung gegen die Okkupation Bosniens zu vermindern und die Mehrheit des Reichstags immer wieder um sich zu scharen. Hierdurch erlangte er auf die Politik der Gesamtmonarchie großen Einfluß und freie Hand für die rücksichtslosen Maßregeln zur Magyarisierung Ungarns, welche zu den schreiendsten Ungerechtigkeiten, so gegen die siebenbürgischen Sachsen, führten. Bei allen Neuwahlen behauptete er die Mehrheit, und selbst die Finanzschwierigkeiten erschütterten seine Stellung nicht. Im Februar 1887 vertauschte er selbst das Innere mit dem Finanzportefeuille. Vgl. Visi, Koloman T. (Budapest 1886).

2) Ludwig, Graf T. de Szeged, Bruder des vorigen, geb. 12. Sept. 1832 zu Geszt, ward 1861 Mitglied des Reichstags, 1867 Obergespan des Biharer Komitats, 1871-73 Kommunikationsminister, nach der Katastrophe von Szegedin (1879) zum königlichen Kommissar für dessen Wiederaufbau ernannt und nach der Vollendung desselben 1883 in den Grafenstand erhoben.

Tisza-Eszlár (spr. tissa-éßlar), Großgemeinde im ungar. Komitat Szábolcs, an der Theiß, mit (1881) 2175 meist ungar. Einwohnern, bekannt durch den im Sommer 1883 geführten Prozeß gegen mehrere jüdische Einwohner, die beschuldigt wurden, ein Christenmädchen, Esther Solymossy, 1. April 1882 rituell geschlachtet zu haben; die Angeklagten wurden 3. Aug. 1883 vom Gericht in Nyiregyháza freigesprochen.

Tisza-Füred (spr. tissa-), Markt im ungar. Komitat Heves, unweit der Theiß, mit reform. Pfarrei, (1881) 6846 ungar. Einwohnern und regem Gewerbfleiß, erlangte als einziger Übergangspunkt an der obern Theiß im J. 1849 strategische Wichtigkeit.

Titan, Beiname des Helios (s. Titanen).

Titan Ti, Metall, findet sich mit Sauerstoff verbunden (Titansäureanhydrid) als Rutil, Anatas und Brookit, welche drei Mineralien aus Titansäureanhydrid bestehen, aber ungleiche Kristallgestalt besitzen, ferner als titansaures Eisenoxydul mit Eisenoxyd im Titaneisenerz, als titansaurer Kalk im Perowskit, als titansaurer Kalk mit kieselsaurem Kalk im Titanit, in geringer Menge in vielen Silikaten, in den meisten Eisenerzen, im Basalt und andern Felsarten, in der Ackererde und in den Meteorsteinen. Aus Fluortitankalium durch Kalium abgeschieden, bildet T. ein dunkelgraues, schwer schmelzbares Pulver, welches beim Erhitzen an der Luft mit großem Glanz verbrennt und sich leicht in erwärmter Salzsäure löst; das Atomgewicht ist 50,25. Von seinen Oxyden ist Titansäureanhydrid TiO2, welches auch künstlich in den drei Formen, in denen es in der Natur vorkommt, dargestellt werden kann, am wichtigsten. T. wurde 1789 von Gregor im Titaneisenerz entdeckt.

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Titaneisenerz - Tities

Titaneisenerz (Ilmenit, Kibdelophan, Crichtonit, Washingtonit), Mineral aus der Ordnung der Anhydride, findet sich in rhomboedrischen Kristallen, auf- oder eingewachsen, in Drusen und rosettenförmigen Gruppen (Eisenrosen), auch derb in körnigen und schaligen Aggregaten, in einzelnen Körnern (Iserin) oder als Sand (Menaccanit); es ist eisenschwarz, undurchsichtig, mitunter magnetisch, von halb metallischem Glanz; Härte 5-6, spez. Gew. 4,56-5,21. T. wird von einigen als isomorphe Mischung von Titanoxyd mit Eisenoxyd, von andern als titansaures Eisenoxydul mit Eisenoxyd FeTiO3 + nFe2O3 betrachtet. Ein oft bedeutender Gehalt an Magnesium (bis 14 Proz. MgO) erscheint dann als Vertreter des zweiwertigen Eisens. T. findet sich besonders als mikroskopischer Gemengteil in vielen Gesteinen (Melaphyr, Dolerit, Diabas, Gabbro), kommt auch in Hohlräumen vieler Silikatgesteine und auf sekundärer Lagerstätte vor. Grosse Kristalle (bis zu 8 kg schwer) liefern Norwegen und Nordamerika, die Eisenrosen stammen vom Gotthard. Sande werden in großer Menge (bis 30 m mächtig) in Kanada gefunden, in geringerer auf der Iserwiese in Böhmen, in Cornwallis. Sonstige Fundorte sind: Aschaffenburg, Frankfurt, Hanau, Chemnitz, Gastein, Bourg d'Oisans, Mijask etc. Hin und wieder wird T. auf Eisen verschmolzen.

Titanen, in der griech. Mythologie das dritte Göttergeschlecht, die Söhne und Töchter des Uranos und der Gäa: Okeanos, Köos, Kreios, Hyperion, Japetos und Kronos, sodann Theia, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phöbe und Tethys. Als Uranos seine Söhne, die Hekatoncheiren (oder Centimanen) und Kyklopen, in den Tartaros geworfen, erhoben sich, von Gäa aufgereizt, die T. gegen den Vater, entmannten ihn und übergaben dem Kronos die Herrschaft. Gegen diesen und die herrschenden T. begann aber später Zeus (s. d.) im Verein mit seinen Geschwistern den Kampf. Derselbe (Titanomachie) wurde in Thessalien geführt, von den T. vom Othrys, von den Kroniden vom Olympos herab. Erst nach zehn Jahren siegte Zeus dadurch, daß er die Kyklopen und Hekatoncheiren aus dem Tartaros befreite. Die T. wurden hierauf selbst in den Tartaros geworfen und die Hekatoncheiren zu ihren Wächtern gesetzt. Dieser Kampf ist zu unterscheiden von dem der olympischen Götter gegen die himmelstürmenden Giganten (s. d.). In der spätern Mythologie werden alle von den T. abstammenden Gottheiten, z. B. Helios, Selene, Hekate, Prometheus etc., mit diesem Namen bezeichnet, bis man zuletzt T. und Giganten identifizierte und der Name Titan nur noch an dem Sonnengott haftete. Vgl. Schömann, De Titanis Hesiodeis (Greifsw. 1846); Mayer, Die Giganten und T. in der antiken Sage und Kunst (Berl. 1887).

Titania, die Elfenkönigin, Gemahlin des Oberon.

Titanit (Sphen, Ligurit, Braun- und Gelbmenakerz, Greenovit), Mineral aus der Ordnung der Silikate mit Titanaten etc., findet sich in monoklinen, säulenartigen und tafelförmigen, oft zu Zwillingen verwachsenen Kristallen, auf- oder eingewachsen, auch derb in schaligen Aggregaten. T. ist gelb, braun, grün, am seltensten rot, meist undurchsichtig oder durchscheinend, glasglänzend; Härte 5-5,5, spez. Gew. 3,4 -3,6. Er besteht aus kieselsaurem und titansaurem Kalk CaSiTiO5, gewöhnlich mit einem geringen Eisen- und Mangangehalt und findet sich auf Klüften hornblendehaltiger Silikatgesteine, besonders verbreitet aber als accessorischer, bisweilen nur mikroskopisch erkennbarer Bestandteil hornblendehaltiger Gesteine, des Syenits, Phonoliths, Trachyts etc.; auch auf Erzlagerstätten. Größere Kristalle kommen vom Gotthard, aus Tirol, der Dauphine und dem Ural. Kleinere gelbe und braune sind mit den genannten Gesteinen weitverbreitet; ferner führen T. die Auswürflinge am Laacher See und an der Somma. Die durchsichtigen grünen Varietäten (Sphen) werden mitunter als Schmucksteine verschliffen.

Titcomb, Timothy, Pseudonym, s. Holland 2).

Titel (lat.), Bezeichnung des Amtes, der Würde und des Ranges einer Person, daher Standes-, Ehren-, Amtstitel (s. Titulatur); ferner bezeichnet T. Aufschrift eines Buches, Kunstwerkes etc.; im juristischen Sinn einen gesetzlichen Grund, aus dem jemand ein Recht zusteht (Rechtstitel), sowie die einzelnen Kapitelüberschriften in den Gesetzsammlungen; im Budget die mit fortlaufenden Nummern bezeichneten Einzelgruppen von Einnahmen und Ausgaben.

Titel, Markt im ungar. Komitat Bács-Bodrog, Dampfschiffstation am rechten Theißufer, gegenüber der Begamündung, mit (1881) 3321 serbischen und deutschen Einwohnern, Hafen und Schiffbau. T. war ehemals der Hauptort des Tschaikistenbataillons.

Titer, s. Titre.

Tithon, s. Juraformation, S. 330.

Tithonos, im griech. Mythus Sohn des Laomedon, Bruder des Priamos und Gemahl der Eos (s.d.). Diese raubte ihn wegen seiner außerordentlichen Schönheit und erbat sich von Zeus Unsterblichkeit für ihn. Da sie aber vergaß, zugleich um ewige Jugend für ihn zu bitten, so schrumpfte T. nach und nach ganz zusammen, so daß er sich nicht mehr rühren konnte und nur seine Stimme noch fort und fort wisperte, wie eine Cikade, in welche ihn die spätere Sage auch endlich noch verwandelt werden läßt.

Titicacasee (Laguna de Chucuito), größter Gebirgssee Südamerikas, im südöstlichen Teil von Peru und im westlichen Teil von Bolivia, zwischen den Küstenkordilleren und den bolivischen Andes, einer der höchst gelegenen Landseen der Erde (3824 m ü. M.), ist 150 km lang, 60 km breit und 8300 qkm (151 QM.) groß, bis zu 218 m tief und sehr fischreich. Der Spiegel schwankt je nach den jährlichen Regenmengen (1875-82 fiel er 2,67 m, seitdem ist er abermals im Steigen). Seine Ufer sind holzlos, meist von Schilfdickichten umgeben, aber reich an prächtigen Grabmälern mit zum Teil vertrockneten Leichen einer ausgestorbenen Menschenrasse. Im N. empfängt der See zahlreiche Bergströme; sein einziger Abfluß und zwar zum Aullagassee (3700 m) ist der schiffbar gemachte Rio Desaguadero an der Südwestspitze. Große Landzungen zerschneiden den T. in mehrere Teile, die nur durch schmale Kanäle miteinander in Verbindung stehen. Er wird mit Dampfbooten befahren und enthält zahlreiche kleine Inseln, von welchen die am südlichen Ende gelegene, zu Bolivia gehörige Insel Titicaca die merkwürdigste ist. Dieselbe hat eine Menge zum Teil großartiger Überreste altperuanischer Baukunst und trug ehedem einen prächtigen und berühmten Sonnentempel, dessen reiche Schätze die Priester bei der Eroberung Perus durch die Spanier in den See versenkt haben sollen. Von hohem Interesse ist der von Alex. Agassiz geführte Nachweis einer marinen Krustaceenfauna in diesem hoch gelegenen Süßwassersee. Vgl. "Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences" (1876); Pentland, The laguna de Titicaca (Lond. 1848).

Tities (lat.), eine der drei ältesten Tribus (s. d.) in Rom, welche aus den unter Titus Tatius sich mit den Römern vereinigenden Sabinern gebildet wurde.

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Titio - Tivoli.

Titio ("Feuerbrand"), Gelehrter, s. Brant.

Titisee, See im Schwarzwald, östlich vom Feldberg, 849 m ü. M., 2 km lang und 15 m tief; dabei ein Gasthaus, das als Sommerfrische besucht wird.

Titlis, das Haupt einer der drei Gebirgsgruppen im östlichen Flügel der Berner Alpen (3239 m), nahezu der Dreiländerstein der Kantone Unterwalden, Uri und Bern. Sein Rücken, eine breite, mit ewigem Schnee bedeckte Kuppe, heißt der Nollen. Er wurde schon 1739 von Engelberg aus erstiegen und galt längere Zeit als höchste Alpenspitze. Eine kühne Ausstrahlung, die Gadmerflühe (3044 m), wendet sich nach der Aare hin; eine firnbelastete Felsmauer verbindet den T. mit den wilden Zacken der Großen und Kleinen Spannörter (3205, resp. 3149 m), die sich nach der Reuß hin verzweigen. Diese ganze Bergwelt ist von der noch großartigern Gruppe des Dammastocks (s. d.) durch den Sustenpaß, von der dritten Gruppe durch die Surenen geschieden. Als Haupt dieser Gruppe ist der Uri-Rothstock (2932 m) von dem Blackenstock (2922 m), dem Engelberger Rothstock (2820 m), den Wallenstöcken (2595 m) und andern Trabanten umstellt, und weiter nach N. hin nehmen Brisen, Ober- und Nieder-Bauen und besonders das Buochser Horn (1809 m) schon voralpines Gepräge an. Dem Buochser Horn gegenüber erhebt sich das Stanser Horn (1900 m), der Schlußpfeiler eines vom T. ausstrahlenden Bergzugs, der am Engelberger Joch ansetzt und die Thäler der Engelberger Aa und der Sarner Aa scheidet. Ein Panorama vom T. zeichnete Imfeld (Zürich 1879).

Titre (franz., spr. tihtr), s. v. w. Titel (s. d.), dann Urkunde, Schein; der Feingehalt der Münzen sowie der Feinheitsgrad der Seide; auch bei der Maßanalyse (s. Analyse, S. 527) gebraucht (Titer). Daher titrieren, den Feinheitsgrad der Seide feststellen; eine Maßanalyse ausführen.

Titriermethode, s. Analyse, S. 527.

Tittmoning, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, Bezirksamt Laufen, an der Salzach, hat 2 kath. Kirchen, ein Kollegiatstift, ein Amtsgericht, 2 Eisenhämmer, Tuchmacherei, Gerberei, 8 Mahl- und eine Sägemühle, Landesproduktenhandel und (1885) l423 Einw.

Titular (lat.), jemand, der mit dem Titel eines Amtes bekleidet ist, ohne die damit verbundenen Funktionen zu verrichten, gewöhnlich nur in Zusammensetzungen vorkommend, wie Titularrat etc.

Titulatur (lat.), die Beilegung des einer Person ihrem Stand gemäß zukommenden Prädikats. Vgl. R. Stein, Titulaturen und Kurialien bei Briefen, Eingaben etc. (Berl. 1883).

Titurel, Held aus der Sage vom heil. Gral (s. d.), Parzivals Urgroßvater. In der Geschichte der deutschen Poesie wird unterschieden: der "Ältere T.", Bruchstücke einer Dichtung von Wolfram von Eschenbach (s. d.), welche die Geschichte von Schionatulander und Sigune behandelt, und der "Jüngere T.", die Fortsetzung von Wolframs Gedicht von Albrecht von Scharfenberg (s. d.).

Titus, apostol. Gehilfe des Paulus, welchen er als einen Heidenchristen, der unbeschnitten geblieben war, auf den Apostelkonvent nach Jerusalem begleitete; später erscheint er im Auftrag des Paulus in Korinth. Die Legende macht ihn zum ersten Bischof in Kreta, wozu der neutestamentliche Brief an T., einer der sogen. Pastoralbriefe (s. d.), Veranlassung gab.

Titusbogen, ein zu Ehren der Besiegung der Juden durch Kaiser Titus vom römischen Senat errichteter, einthoriger Triumphbogen an der Ostseite des Palatin, welcher im J. 81 geweiht wurde. Der Bogen ist 15½ m, die Attika 4½ m hoch. Die Innenwände des Durchganges und die Friese über der Bogenwölbung auf beiden Seiten sind mit Reliefs geschmückt, welche den Triumphzug des Kaisers und den Opferzug darstellen (s. Tafel "Bildhauerkunst IV", Fig. 14).

Titus Flavius Vespasianus, röm. Kaiser, der ältere Sohn des Kaisers Vespasianus, geb. 41 n. Chr., wurde am Hof Neros mit Britannicus erzogen und widmete sich zunächst der bürgerlichen Laufbahn, versäumte aber auch nicht, als Tribun in Germanien und Britannien die üblichen Kriegsdienste zu leisten. Als sein Vater 67 nach Palästina geschickt wurde, um die Empörung der Juden zu unterdrücken, begleitete ihn T. und wurde von jenem, als er 69 Palästina verließ, um die Kaiserwürde anzutreten, mit der Fortführung des Kriegs beauftragt. T. beendete denselben durch die Eroberung und Zerstörung Jerusalems 70. Nachdem er mit seinem Vater einen glänzenden Triumph gefeiert hatte, wurde er von Vespasian zum Teilnehmer an der Regierung ernannt. Er hielt sich als solcher nicht völlig frei von dem Vorwurf der Ausschweifung und sogar der Grausamkeit; allein alle hierauf gegründeten Besorgnisse wurden durch die Güte und Milde völlig widerlegt, welche er sofort bewies, als er nach Vespasians Tod 79 den Thron bestiegen hatte. Von da an war sein Bestreben fortwährend darauf gerichtet, andern Freundlichkeiten und Wohlthaten zu erweisen, und wenn ihm dies an einem Tag nicht gelungen war, so pflegte er am Abend zu seinen Freunden zu sagen, daß er einen Tag verloren habe. Indessen wurde das Glück seiner Regierung, das ihm den Namen "Lust und Liebe des Menschengeschlechts" ("amor et deliciae generis humani") erwarb, durch mehrere schwere Unglücksfälle getrübt, die er indes auf alle Art zu mildern suchte, nämlich durch den Ausbruch des Vesuvs 24. Aug. 79, durch welchen die Städte Herculaneum, Pompeji und Stabiä verschüttet wurden, durch eine drei Tage und drei Nächte wütende Feuersbrunst in Rom und durch eine Pest, welche eine große Menge Menschen hinwegraffte. Außerdem ist von seiner kurzen Regierung noch zu erwähnen, daß er zum Besten des Volkes ein alle frühern an Bequemlichkeit und Geräumigkeit übertreffendes Badehaus, die nach ihm benannten, noch jetzt in Trümmern vorhandenen Thermen des T., bauen ließ. Er starb 13. Sept. 81. Eine vortreffliche Marmorstatue des Kaisers befindet sich im Louvre zu Paris. Vgl. Beulé, T. und seine Dynastie (deutsch, Halle 1875).

Tituskopf (Frisur à la Titus), die in Frankreich zur Zeit des Konsulats aufgekommene Mode, die Haare gekürzt und zu lauter Löckchen verwirrt zu tragen. Als die Locken nachher schlichter getragen wurden, hieß die Frisur à la Caracalla.

Titusville (spr. teitoswill), Stadt im NW. des nordamerikan. Staats Pennsylvanien, am Oil Creek, mit 1859 erbohrten Petroleumquellen u. (1880) 9046 Einw.

Tityos, in der griech. Mythologie ein erdgeborner Riese auf Euböa, Vater der Europa. Da er sich (auf Veranlassung der Hera) an der Leto vergriffen hatte, ward er von Artemis und Apollon mit Pfeilen oder von Zeus mit dem Blitzstrahl erlegt, und in der Unterwelt, wo er über neun Hufen Landes ausgestreckt liegt, hacken zwei Geier seine immer wieder wachsende Leber (den Sitz der sinnlichen Begierde) aus.

Tiverton (spr. tiwwertön), Stadt in Devonshire (England), am Ex, mit Schloßruine (14. Jahrh.), Lateinschule, Armenhaus (1517 gestiftet), Fabrikation von Spitzen und Wollwaren und (1881) 10,462 Einw.

Tivoli, Stadt in der ital. Provinz Rom, in schö-

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Tixtla - Tizian.

ner Lage am Fuß der Sabinerberge und am Teverone (Anio), welcher hier die berühmten, seit 1835 jedoch teilweise durch einen Tunnel abgelenkten Wasserfälle bildet (s. Anio), mit Rom durch Dampftramway verbunden, ist Sitz eines Bischofs, hat enge Straßen, mehrere Kirchen und (1881) 9730 Einw. T. ist das alte Tibur (s. d.), der Lieblingssommersitz der römischen Patrizier, von dessen zahlreichen Überbleibseln vor allen die 2 km außerhalb des heutigen T. gelegenen großartigen Trümmer der Villa des Kaisers Hadrian (mit Resten des Palastes, eines Theaters, einer Palästra, einer Bibliothek, eines Stadiums etc.) zu erwähnen sind. In der Stadt selbst befindet sich auf der Felswand über dem Aniofall der sogen. Sibyllentempel, eine runde Cella mit einem äußern Kreis von kannelierten korinthischen Säulen; nahe dabei steht ein zweiter, viereckiger Tempel (jetzt Kirche San Giorgio). Unterhalb des Wasserfalls befinden sich Ruinen mehrerer antiker Villen (des Quintus Varus u. a.). Von den neuern Bauten ist namentlich die Villa d'Este, ein schöner Renaissancebau (von 1551) mit malerischen Parkanlagen und Wasserwerken, bemerkenswert. Seit neuester Zeit wird die reiche Wasserkraft des Teverone zu elektrischer Beleuchtung der Stadt und zu industriellen Anlagen ausgenutzt. 9 km westlich, am Dampftramway Rom-T., liegen stark besuchte, schon in der römischen Kaiserzeit benutzte Schwefelbäder (24° C.), Bagni delle Acque Albule, und 6 km westlich die malerische alte Aniobrücke Ponte Lucano mit dem Rundgrab der Familie Plautia. - T. ist auch beliebte Bezeichnung von Vergnügungsorten mit Gartenanlagen, Schauspiel etc.

Tixtla (T. de Guerrero), Hauptstadt des mexikan. Staats Guerrero, 1380 m ü. M., mit (1880) 6139 Einw., dient den reichen Bewohnern von Acapulco als Aufenthaltsort während der ungesunden Jahreszeit. In der Nähe Silbergruben.

Tiza, s. Boronatrocalcit.

Tizian, eigentlich Tiziano Vecellio, der Hauptmeister der venezian. Malerschule und Vollender einer neuen koloristischen Richtung, geb. 1477 zu Pieve di Cadore in Friaul, kam noch als zehnjähriger Knabe nach Venedig, um sich daselbst der Malerei zu widmen. Als seine Lehrer werden der Mosaikmaler Zuccato, dann Gentile Bellini genannt; doch muß er später auch bei Giovanni Bellini gelernt und sich nach Giorgione weitergebildet haben. Man erfährt zuerst von seiner Thätigkeit um 1507, wo er neben Giorgione die jetzt verschwundenen Fresken am Fondaco dei Tedeschi in Venedig ausführte. 1511 malte er mit Dom. Campagnola Fresken in der Scuola del Santo in Padua, dann in Vicenza, kehrte aber 1512 nach Venedig zurück. Nachdem er einen Antrag, in die Dienste Leos X. zu treten, zurückgewiesen, nahm ihn der Rat gegen Verleihung eines einträglichen Maklerpatents in seinen Dienst. In der Folge kam T. in intime Beziehungen zu Alfons von Ferrara (1516 reiste er das erste Mal dahin), für den er dessen Porträt, ferner das Venusfest und das Bacchanal (alle drei in Madrid) und Ariadne auf Naxos (in der Nationalgalerie zu London) malte. In Ferrara schloß er auch Freundschaft mit Ariosto, den er zu wiederholten Malen porträtierte. Auch zu Federigo von Mantua trat er um 1523 in nahe Beziehungen; er malte für ihn die Grablegung (Paris). 1518 entstand eins seiner Hauptwerke, die Himmelfahrt Maria (sogen. Assunta) in der Akademie zu Venedig, 1523 das Altarbild für die Kirche San Niccolò (Madonna mit sechs männlichen Heiligen, jetzt im Vatikan) und 1526 ein andres Meisterwerk dieser Periode, die Madonna des Hauses Pesaro (Santa Maria de' Frari in Venedig). In das Jahr 1527 fällt seine Bekanntschaft mit Pietro Aretino, dessen Porträt er für Federigo Gonzaga malte. 1530 schuf er den Märtyrertod Petri für San Giovanni e Paolo (1867 durch Feuersbrunst zerstört). 1532 begab er sich im Auftrag Federigo Gonzagas nach Bologna, wo gerade Kaiser Karl V. verweilte; er malte damals letztern zweimal. T. wurde hierauf 10. Mai 1533 zum Hofmaler Karls und zum Grafen des lateranischen Palastes sowie zum Ritter vom Goldenen Sporn ernannt. Der hierauf folgenden Zeit entstammen die Bildnisse Franz' I. und Isabellas von Este; etwas später fallen die der Geliebten Tizians (Wien, Belvedere), dann die von Eleonore Gonzaga und ihrem Gatten Francesco Maria (Florenz, Uffizien). Nachdem er 1537 seiner Fahrlässigkeit wegen in betreff des versprochenen Bildes sein Maklerpatent zu gunsten Pordenones verloren hatte, malte er in Fresko die dem Rat schon lange versprochene, nur noch in Fontanas Stich erhaltene Schlacht bei Cadore (im großen Ratssaal). 1539 nach Pordenones Tod erhielt er sein Maklerpatent zurück, 1541 ward er nach Mailand zu Karl V. berufen; 1545 ging er, nachdem schon früher, seit 1542, Paul III. den Plan gefaßt hatte, T. nach Rom zu ziehen, dahin, wo er glänzend aufgenommen wurde. Er malte damals das Porträt des Papstes, dann die berühmte Danae (Nationalmuseum zu Neapel). Auf der Rückreise nach Venedig besuchte er Florenz. 1548 ward er nach Augsburg zu Karl V. berufen und malte daselbst Porträte (das Karls V. in Madrid, das zu München etc.). Er kehrte bald wieder nach Venedig zurück, ward aber 1550 abermals nach Augsburg berufen, um das Porträt Philipps II. von Spanien zu malen. Für diesen war er auch nach seiner Rückkehr nach Venedig 1551 außerordentlich viel beschäftigt. 1566 ward er in die florentinische Akademie aufgenommen. Er starb 27. Aug. 1576 in Venedig, fast 100 Jahre alt, an der Pest und ward in der Kirche Santa Maria de' Frari beigesetzt. Der durch die flandrische Schule beeinflußte koloristische Realismus der Venezianer gelangte durch T. auf seine Höhe; in seiner Auffassung nicht so durchgeistigt und ideal wie Raffael und Michelangelo, hat er vor den Römern und Toscanern die unvergleichliche malerische Kraft voraus und kommt Raffael in der Schönheitsfülle gleich, Michelangelo in der dramatischen Lebendigkeit der Komposition nahe. T. ist der größte Kolorist der Italiener und versteht seinen Figuren zugleich den vornehmen Charakter zu geben, der seine eignen Lebensgewohnheiten und die seiner Stadtgenossen kennzeichnet. Obwohl er sich nicht an die Antike anschloß, so ist er doch zu einer verhältnismäßig ähnlichen Wirkung gelangt, indem sich die Ruhe des Daseins, die edle, in sich befriedigte Existenz in seinen Werken ebenso spiegelt. Ganz vermochte er sich übrigens nicht den Einwirkungen der andern italienischen Schulen zu entziehen, und zwischen seinen spätesten Arbeiten, worunter die Dornenkrönung Christi in München hervorragt, und seinen frühern, deren edelstes Erzeugnis der Zinsgroschen in Dresden ist, besteht ein beträchtlicher Unterschied. Er wurde später bewegter in der Haltung der Figuren, leidenschaftlicher im Ausdruck der Köpfe, energischer im Vortrag. Seine Historienbilder tragen mehr oder weniger etwas Porträtmäßiges, freilich in großartiger Auffassung, an sich; es gibt deren, welche zu den edelsten und unvergänglichsten Erzeugnissen der Kunst gehören, während andre sich mit einer mehr äußerlichen Wirkung be-

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Tjalk - Tlaxcala.

gnügen. Die höchste Befriedigung gewähren seine Bildnisse, welche die vornehme Erscheinung der venezianischen Welt mit vollster Treue widerspiegeln und den vollkommensten Ausdruck des venezianischen, von höchster Prachtliebe und sinnlicher Glut erfüllten Lebens darstellen. Zugleich war er als Landschaftsmaler sehr bedeutend, die Landschaft spielt in vielen seiner Gemälde in ihrer großartig-poetischen Auffassung eine Hauptrolle; Poussin und Claude Lorrain haben sich nach seinem Vorbild entwickelt. Die Zahl seiner Schöpfungen ist außerordentlich groß, besonders aus den letzten 40 Jahren seines Lebens, wo er zahlreiche Schüler zu Hilfe nahm. Aus der ersten Periode seines Schaffens, die etwa bis 1511 reicht und seine Jugendentwickelung umfaßt, sind noch zu nennen: die Kirschenmadonna, in der kaiserlichen Galerie zu Wien, nebst zwei andern Madonnen daselbst, und die irdische und himmlische Liebe, in der Galerie Borghese zu Rom, Tizians schönstes allegorisches Bild, ausgezeichnet in der Behandlung des Nackten. Von hervorragenden Schöpfungen der zweiten, etwa bis 1530 reichenden Periode erwähnen wir noch die Auferstehung, in der Kirche San Nazaroe Celso in Brescia (1522); die Ruhe auf der Flucht und die Madonna mit dem Kaninchen, im Louvre zu Paris; die nur mit einem Pelz bekleidete Eleonora Gonzaga von Urbino, in der kaiserlichen Galerie zu Wien; das Bildnis derselben im Palazzo Pitti zu Florenz, weltberühmt unter dem Namen La Bella di Tiziano, das herrlichste Frauenporträt des Meisters; die sogen. Venus von Urbino, in den Uffizien zu Florenz, und die sogen. Geliebte Tizians bei der Toilette, im Louvre zu Paris. Zu den Hauptwerken der letzten Periode seines Schaffens zählen noch das Martyrium des heil. Laurentius, in der Jesuitenkirche zu Venedig; der Tempelgang Mariä, in der Akademie daselbst; die Ausstellung Christi, in der kaiserlichen Galerie zu Wien; die Dornenkrönung, im Louvre; das Abendmahl, im Escorial; Venus mit Amor, in den Uffizien zu Florenz; die sogen. Madrider Venus (eine ruhende Schöne mit ihrem Geliebten); die Danae, im Museum zu Neapel; Jupiter und Antiope, im Louvre; das Reiterbildnis Karls V., in der Galerie zu Madrid (1548 in Augsburg begonnen); Papst Paul III. (1545, im Museum zu Neapel); der Admiral Giovanni Moro, im Berliner Museum. Von Tizians Selbstbildnissen sind diejenigen im Museum zu Berlin und in der kaiserlichen Galerie zu Wien die schönsten, von den Bildnissen seiner Tochter Lavinia sind dasjenige mit der über dem Haupt emporgehobenen Fruchtschüssel (Museum zu Berlin) und die beiden in der Dresdener Galerie (um 1555 und 1565) die vorzüglichsten. Die ältere Litteratur über T. ist überholt durch Crowe und Cavalcaselle, T., Leben und Werke (deutsch von Jordan, Leipz. 1877, 2 Bde.). Vgl. auch Lafenestre, La vie et l'oeuvre du Titien (Par. 1886).

Tjalk, kuffartig gebautes, kleines Fahrzeug mit einem Mast und besonders großem Gaffelsegel und Schwertern; an der Nordseeküste im Gebrauch.

Tjeribon, Insel, s. Tscheribon.

Tjost,s. Turnier.

Tjukalinsk, südlicher Kreis des westsibir. Gouvernements Tobolsk, in welchem viel Ackerbau getrieben wird, und auf dessen zahlreichen und großen Seen sich unzählige Wasservögel befinden, die einen großartigen Handel in Taucher- und Schwanenbälgen hervorgerufen haben. Jährlich kommen 10,000 Schwanenbälge und 100,000 Greben (die Brustfelle der Steißfüße) in den Handel. Die Kreisstadt T. hat (1885) 3907 Einw.

Tjumen, Bezirksstadt im sibir. Gouvernement Tobolsk, rechts an der für Dampfer fahrbaren Tura, 275 km westsüdwestlich von der Stadt Tobolsk, mit regelmäßigen Straßen aus schönen, meist hölzernen Häusern, 11 Kirchen aus Stein, 2 Klöstern, einer Moschee, einer Kreisschule und 2 Pfarrschulen und (1885) 15,590 Einw., welche in mehr als 100 gewerblichen Etablissements eine außerordentlich rege Thätigkeit entfalten. Hauptprodukte sind namentlich: Leder (Juften),Talg, Seife, Glocken, Eisengußwaren, Handschuhe, Gewebe, Netze, Matten, Töpferwaren. Seit 1885 steht die Eisenbahn von Jekaterinenburg bis hierher (350 km) in Betrieb und schließt sich hier an den Sibirischen Trakt (s. d.) an, der über Omsk, Tomsk, Krasnojarsk und Irkutsk nach Kiachta führt. Bei T. beginnt auch der Wasserverkehr nach Tobolsk auf dem Irtisch, diesen abwärts bis zur Mündung des Ob und von diesem auf dem Tom bis Tomst. Die für Ostsibirien bestimmten Waren gehen auf dem Landweg nach Krassnojarsk und von hier auf dem Jenissei hinunter nach Jenisseisk und weiter nach Turuchansk. Eine andre Wasserstraße ist die von T. vermittelst des Ob und Irtisch nach Semipalatinsk. In T. wird jährlich im Januar seit 1845 eine große Messe (Basiliusmesse) abgehalten, deren Umsatz 1 Mill. Rubel beträgt, aber durch die Messe zu Irbit immer mehr verliert.

Tjutschew, Fjodor Iwanowitsch, russ. Dichter, geb. 23. Nov. (a. St.) 1803 im Kreis Brjansk des Gouvernements Grodno, studierte in Moskau, erhielt 1822 eine Stelle im Ministerium des Auswärtigen zu Petersburg, war dann längere Zeit bei der russischen Gesandtschaft in München und (seit 1838) in Turin thätig, wurde 1844 der Person des Reichskanzlers attachiert und erhielt 1857 endlich das Präsidium des Komitees für auswärtige Zensur in Petersburg übertragen; starb in dieser Stellung 15. Juli (a. St.) 1873. Seine Gedichte, die gesammelt in Petersburg 1868 erschienen, zeichnen sich durch Gedankentiefe, Wärme des Gefühls und Formvollendung vorteilhaft aus; eine Auswahl derselben wurde von H. Noé ins Deutsche übertragen (Münch. 1861). T. hat sich auch als Übersetzer, namentlich deutscher Dichter, wie Heine, Goethe, Schiller u .a., verdient gemacht.

Tl, in der Chemie Zeichen für Thallium.

Tlacotálpam, Stadt im mexikan. Staat Veracruz, am Ende einer Lagune, deren Zugang durch die 50 km südöstlich von Veracruz gelegene Barre von Alvarado gesperrt wird, mit lebhaftem Verkehr und (1882) 5939 Einw.

Tlálpam (San Agostino de las Cuévas), hübsche Landstadt, 15 km südlich von Mexiko, am Fuß des Gebirges, beliebter Sommeraufenthalt, mit zahlreichen Villen und 6200 Einw. (mit Umgebung); wird zum Pfingstfest, besonders um der Hasardspiel willen, von Tausenden besucht. Bis 1831 war T. Hauptstadt des Staats.

Tlalpujáhua, Stadt im mexikan. Staat Michoacan, am Fuß des Cerro de Gallo, 2435 m ü. M., mit (1880) 9823 Einw. im Munizipium; die Silberbergwerke waren einst berühmt. Hier begann unter Pfarrer Morelos die erste Revolution gegen Spanien; hier ließ Hidalgo die erste Kanone gießen, die er gegen die Spanier gebrauchte.

Tlaxcala, Binnenstaat der Republik Mexiko, ist auf drei Seiten von Puebla umgeben und hat ein Areal von 3902 qkm (70,9 QM.) mit (1882) 138,988 Einw. T. bildet einen Teil der Hochebene von Anahuac. Die wichtigsten Produkte des Landbaues sind: Mais, Weizen, Gerste, Hafer, Hülsenfrüchte, Maguey,

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Tlemsen - Tobler.

Piment und Früchte aller Klimate. Eisenstein, Silber, Blei, Kupfer und Steinkohlen kommen vor, werden aber noch wenig ausgebeutet. Die gleichnamige Hauptstadt, 2225 m Ü. M, 25 km nördlich von Puebla, an der Eisenbahn, hat eine höhere Schule, etwas Wollindustrie und (1880) 4300 Einw. (zur Zeit ihres Glanzes zählte sie 100,000). - T. bildete in der altmexikanischen Zeit eine oligarchische Republik mit ungefähr 500,000 Einw. Bei der Eroberung Mexikos durch die Spanier schlossen sich die Tlaxcalaner, ein Aztekenstamm, nachdem sie vergeblich Widerstand versucht, treu an Cortez an, welcher daher der Republik eine gewisse Selbständigkeit unter spanischer Oberherrschaft verschaffte.

Tlemsen (bei den Franzosen Telemcen), Stadt in Algerien, Departement Oran, 44 km vom Mittelländischen Meer entfernt, auf drei Seiten von tiefen Schluchten umgeben, hat (1881) 25,370 Einw., davon 10,033 Europäer und Juden. T. hat aus seiner alten Blütezeit nur einige schöne Moscheen aufzuweisen, es ist aber durch günstige klimatische Verhältnisse, zahlreiche Neuschöpfungen der Franzosen (Museum, Bibliothek) und namentlich durch seine großartigen Ölbaumpflanzungen und Weinberge eine Perle Algeriens. Südwestlich von T. liegt Mansura mit den 1318 erbauten großartigen, jetzt in Ruinen liegenden Wasserwerken. - T. war im Mittelalter eine blühende Stadt und die Residenz der auf die Almorawiden folgenden maurischen Dynastie Beni Zian; aber es war schon verfallen, als die Franzosen es 1836 besetzten. Im Frieden von Tafna (1837) wieder freigegeben, wurde es 1841 aufs neue genommen; im März 1842 und im Oktober 1845 fanden hier nochmals harte Kämpfe zwischen den Franzosen und Abd el Kader statt.

Tlepolemos, im griech. Mythus Sohn des Herakles und der Astyoche, mußte als Mörder seines Oheims Likymnios aus Argos fliehen und ließ sich in Rhodos nieder, wo er die Städte Lindos, Jalysos und Kameiros baute. Er beteiligte sich am Zug nach Troja, ward aber von Sarpedon getötet.

Tlinkit (Thlinkit), Indianerstamm, s. Koloschen.

Tlumacz (spr. -maz), Stadt in Ostgalizien, Station der Staatsbahnlinie Stanislau-Husiatyn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit Branntweinbrennerei und (1880) 5062 Einw.

Tmesis (griech.), Trennung eines zusammengesetzten Wortes durch etwas dazwischen Geschobenes (z. B. wo gehst du hin? für: wohin gehst du?).

Toast (engl., spr. tohst), geröstete Brot-, namentlich Weißbrotschnitte zum Thee; dann fast in alle neuern Sprachen übergegangene Bezeichnung für Trinkspruch (s. Gesundheittrinken).

Tobágo (Tabago), britisch-westind. Insel, nächst Trinidad die südlichste der Kleinen Antillen, ist vulkanischen Ursprungs, bis 650 m hoch, teilweise bewaldet und ungemein fruchtbar. T. hat ein Areal von 385 qkm (6,99 QM.) mit (1887) 20,335 Einw. Zucker und Rum sind die wichtigsten Produkte, und auch die Viehzucht ist ziemlich ansehnlich. Den Wert der Ausfuhr schätzt man auf (1887) 32,907 Pfd. Sterl., die Einfuhr auf 23,118 Pfd. Sterl. Die frühere Repräsentativverfassung wurde 1877 aufgehoben. Scarborough, auf der Südostküste, mit gutem Hafen ist Hauptstadt. - T. wurde 1498 von Kolumbus entdeckt. In der Folge war es vorübergehend (1632-l677) von Niederländern besetzt, dann abwechselnd im Besitz der Franzosen und Engländer, bis es 1803 endgültig in den der Engländer kam.

Tobarra, Stadt und Badeort in der span. Provinz Albacete, an der Eisenbahn Madrid-Cartagena, mit besuchten Schwefelquellen und (1878) 7219 Einw.

Több, Hohlmaß, s. Kojang.

Tobe, Längenmaß, s. Taka.

Tobelbad, Badeort in Steiermark, 10 km südwestlich von Graz, in einem von waldigen Bergen umgebenen Thal, mit zwei Thermen von 25 und 30° C., die besonders bei Frauenkrankheiten, Nervenleiden etc. gebraucht werden.

Toberentz, Robert, Bildhauer, geb. 4. Dez. 1849 zu Berlin, besuchte die dortige Kunstakademie und arbeitete dann zwei Jahre in Schillings Atelier zu Dresden. Damals entstanden ein überlebensgroßer Perseus und mehrere Büsten. Nachdem T. von 1872 bis 1857 in Italien studiert hatte, brach er, nach Berlin zurückgekehrt, mit seiner ältern Richtung, die sich im Rauchschen Idealstil bewegt hatte, und arbeitete in der Weise von R. Begas im engen Anschluß an die Natur. Die ersten dieser Arbeiten waren die Marmorfigur einer Elfe und ein Faun mit Amor, denen 1878 die Bronzefigur eines ruhenden Hirten (in der Berliner Nationalgalerie) folgte. 1879 wurde er als Leiter eines der mit dem schlesischen Museum verbundenen Meisterateliers nach Breslau berufen, wo er unter anderm einen monumentalen Brunnen für Görlitz schuf.

Töderich, s. Lolium.

Tobias, ein apokryphisches Buch des Alten Testaments, im Griechischen Tobit genannt. Letzteres ist der Name des Vaters, ersteres derjenige des Sohns. Beide zusammen bilden die Hauptpersonen in einem durchaus romanhaften Familiengemälde, welches wahrscheinlich innerhalb des ersten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden ist. Übrigens ist das Buch verschieden bearbeitet worden, und namentlich ist der Text in der Septuaginta älter und besser als derjenige der Vulgata, dem Luther in seiner Übersetzung folgte. Die neueste kritische Bearbeitung lieferte Fritzsche (Leipz. 1853), Erklärungen außerdem Reusch (Freiburg 1857), Sengelmann (Hamb. 1857) und Gutberlet (Münster 1877).

Tobiasfisch, s. Sandaal.

Tobitschau, Städtchen in der mähr. Bezirkshauptmannschaft Prerau, unweit der March, mit einem Schloß, 2 Kirchen, einer Synagoge und (1880) 2479 slaw. Einwohnern, war nebst dem benachbarten Dorf Roketnitz 15. Juli 1866 der Schauplatz eines Gefechts zwischen Österreichern (Brigade Rothkirch) und Preußen unter General v. Hartmann, in welchem das 5. preußische Kürassierregiment 18 Kanonen eroberte, und infolge dessen Benedek auf seinem Rückzug nach Ungarn die Marchlinie aufgeben mußte.

Toblach, Marktflecken in Tirol, Bezlrkshauptmannschaft Bruneck, 1204 m ü. M. im sogen. Toblacher Feld, der Wasserscheide zwischen Drau und Rienz, im Pusterthal an der Südbahnlinie Marburg-Franzensfeste gelegen, Ausgangspunkt ins Ampezzothal, mit großem Eisenbahnhotel, neuer Kirche und (1880) 1064 Einw. Unfern der kleine Toblacher See. Vgl. Noë, T.-Ampezzo (3. Aufl., Klagenf. 1883).

Tobler, 1) Titus, schweizer. Sprachforscher und Palästinaforscher, geb. 25. Juni 1806 zu Stein im Kanton Appenzell, studierte zu Wien, Würzburg und Paris und ließ sich dann in seiner Heimat als Arzt nieder, widmete sich aber nebenbei mundartlichen Studien und publizistischen Arbeiten. Die Frucht der erstern war sein "Appenzellerischer Sprachschatz" (Zürich 1837), dem sich später die "Alten Dialektproben der deutschen Schweiz" (St. Gallen 1869) anschlossen. 1840 nahm er seinen Wohnsitz zu Horn im Kanton Thurgau, wo er 1853 zum Mitglied des eid-

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Tobol - Toce.

genössischen Nationalrats gewählt ward. Als Früchte seiner vier Reisen nach dem Orient (die erste 1835, die letzte 1865 unternommen) erschienen: Lustreise ins Morgenland" (Zürich 1839, 2 Bde.); "Golgatha, seine Kirchen und Klöster" (St. Gallen 1851); "Topographie von Jerusalem und seinen Umgebungen" (Berl. 1853-54, 2 Bde.); "Denkblätter aus Jerusalem" (Konst. 1853); "Dritte Wanderung nach Palästina" (Gotha 1858); "Nazareth in Palästina" (Berl. 1868) u. a. Außerdem veröffentlichte er noch: "Bibliographia geographica Palaestinae" (Leipz. 1867); "Itinera et descriptiones terrae sanctae ex saeculo VIII., IX., XII. et XV." (das. 1874) u. a. Seit 1871 in München wohnhaft, starb er daselbst 21. Jan. 1877. Vgl. Heim, Titus T. (Zürich 1879).

2) Adolf, roman. Philolog, geb. 24. Mai 1835 zu Hirzel im Kanton Zürich, Sohn des dortigen Pfarrers Salomon T. (gest. 1875 in Zürich), der sich durch die epischen Dichtungen: "Die Enkel Winkelrieds" (Zürich 1837) und "Kolumbus" (das. 1846) einen litterarischen Namen gemacht hat, studierte in Bonn, wo er 1857 promovierte, lebte dann in Rom, in Toscana und Paris, bis er 1861 eine Stelle an der Kantonschule zu Solothurn erhielt. Im J. 1867 habilitierte er sich an der Universität zu Bern, folgte aber noch in demselben Jahr einem Ruf als Professor der romanischen Sprachen nach Berlin, welche Stelle er, seit 1881 auch Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften, noch jetzt bekleidet. Er veröffentlichte: "Bruchstücke aus dem Chevalier au Lyon" (Soloth. 1862); "Italienisches Lesebuch" (2. Aufl., das. 1868); eine Ausgabe des altfranzösischen Dichters Jehan de Condet (Stuttg. 1860); "Mitteilungen aus altfranzösischen Handschriften" (Leipz. 1870); "Die Parabel von dem echten Ring" (2. Aufl., das. 1884); "Vom französischen Versbau alter und neuer Zeit" (2. Aufl., das. 1883); "Vermischte Beiträge zur französischen Grammatik" (das. 1886) und zahlreiche Abhandlungen in Zeitschriften etc. - Sein Bruder Ludwig T., geb. 1827, seit 1872 Professor der germanischen Philologie an der Universität zu Zürich, schrieb außer Abhandlungen in Zeitschriften: "Über die Wortzusammensetzung" (Berl. 1868) und gab "Schweizerische Volkslieder" (Frauenf. 1882-84, 2 Bde.) sowie mit F. Staub das "Schweizerische Idiotikon" (das. 1885 ff.) heraus.

Tobol (kirgis. Tabul), Fluß im westlichen Sibirien, entspringt auf den südlichen Ausläufern des Ural und fließt in nordöstlicher Richtung dem Irtisch zu, in den er bei Tobolsk fällt. Mit dem Eintritt in das Gouvernement Tobolsk wird er schiffbar, doch ist er von Ende Oktober bis Ende April mit Eis bedeckt. Er ist ungemein fischreich.

Tobolsk, russ. Gouvernement in Westsibirien, nördlich vom Eismeer, westlich vom europäischen Rußland begrenzt, umfaßt 1,377,776 qkm (25,022 QM.) mit (1885) 1,313,392 Einw. (neun Zehntel Russen und Nachkommen derselben oder Sibiriaken, darunter an 60,000 Verbannte, und 75,000 Tataren, Bucharen, Ostjaken, Wogulen und Samojeden). Der Religion nach unterschied man 1,134,149 griechische Katholiken, 53,804 Mohammedaner, 6427 römische Katholiken, 4850 Lutheraner etc. Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 10,114, der Gebornen 71,049, der Gestorbenen 51,053. Hauptfluß ist der Ob (s. d.) mit seinen Nebenflüssen Tobol und Irtisch. Gemäßigt ist das Klima nur im S., im N. friert es fast jede Nacht im Jahr. Unter Anbau stehen 2,579,000 Hektar, hauptsächlich werden Hafer und Weizen gebaut, dann Roggen, Gerste, Kartoffeln. Der Viehstand wurde 1884 auf 2,647,594 Stück geschätzt. Fabriken sind zahlreich in den Städten; in erster Linie Gerbereien, Talgsiedereien, Branntweinbrennereien, Mahlmühlen, Kartoffelsirupfabriken, Eisengießereien, Schiffswerften u. a., 1880 im ganzen 1093 Betriebe mit 5066 Arbeitern und einem Produktionswert von 5,958,164 Rubel. An Lehranstalten gab es 1885: 331 Elementarschulen, 12 Mittelschulen, 5 Spezialschulen mit zusammen 11,343 Lernenden. Die Spezialschulen sind: ein geistliches Seminar, eine Feldscher-, eine Hebammen-, eine Navigations-, eine Handwerkerschule. Der Handel ist bedeutend, wird aber von einem kleinen Kreis von Händlern als Monopol ausgebeutet. - Die gleichnamige Hauptstadt, an der Mündung des Tobol in den Irtisch, ziemlich gut und regelmäßig, meist aus Holz erbaut, hat einen Umfang von 12 km und besteht aus der niedrig gelegenen, periodisch vom Irtisch überschwemmten neuern untern Stadt und der ältern, schon 1589 gegründeten obern Stadt auf einem steilen Uferhügel, zu welchem 290 Stufen hinaufführen. Die letztere gewährt mit ihren Festungswerken und der Kathedrale einen imposanten Anblick. T. ist Sitz des Gouverneurs und der obersten Behörden des Gouvernements, hat viele Kirchen, ein theologisches und ein Schullehrerseminar, ein Gymnasium, eine Militär- und andre Schulen, ein Arsenal, Theater und Arbeitshaus und (1885) 20,175 Einw. (darunter viele Deutsche, die hier eine lutherische Kirche haben). Europäische Waren werden von den Märkten von Nishnij Nowgorod und Irbit hierhergebracht. T. ist Stapelplatz für alles für Rechnung der Krone abgelieferte Pelzwerk.

Toboso, El, kleine Stadt in der span. Provinz Toledo, in der Mancha, mit (1878) 1798 Einw., berühmt durch Don Quichottes "Dulcinea von T."

Tobsucht (Furor maniacus), einzelnes Symptom in der Kette einer bestimmten Geisteskrankheit, z. B. dem Säuferwahnsinn (s. Delirium tremens) oder der Melancholie, der Verrücktheit, oder eine selbständige, in sich abgeschlossene Seelenstörung von mehr oder weniger regelmäßigem typischen Verlauf. Vgl. Manie.

Tocaima, Stadt im Staat Cundinamarca der südamerikan. Republik Kolumbien, am Rio Bogotá, 408 m ü. M., mit Salzquelle, Kupfer- und Goldgruben und (1870) 6021 Einw. Eine 29 km lange Eisenbahn verbindet T. mit Jirardot.

Tocantins, Fluß, s. Tokantins.

Toccata (ital.), einer der ältesten Namen für Instrumentalstücke, speziell für Tasteninstrumente, und ursprünglich von Sonata, Fantasia, Ricercar etc. nicht verschieden. Die ältesten Tokkaten für Orgel sind die von C. Merulo 1598 herausgegebenen, aber jedenfalls sehr viel früher geschriebenen für die Orgel. Sie beginnen in der Regel mit einigen vollen Harmonien, allmählich setzt sich mehr und mehr Läuferpassagenwerk an, und kleine fugierte Sätzchen werden eingestreut. Die moderne T. ist ebenfalls noch durchaus ein Stück für Tasteninstrumente und hat kein weiteres charakteristisches Merkmal, als daß sie durchgehends sich in kurzen Notenwerten bewegt und ziemlich vollstimmig gesetzt ist (vgl. die Bachschen Orgeltokkaten, die Schumannsche Klaviertokkata etc.).

Toccato (ital., franz. toquet), bei Trompetenchören die vierte Stimme, welche in Ermangelung der Pauken die beiden Töne derselben gewissermaßen als Grundstimme anzugeben hat.

Toce (spr. tohtsche, Tosa), Fluß in der ital. Provinz Novara, entspringt in den Lepontinischen Alpen an der Schweizer Grenze, bildet einen berühmten

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Tockieren - Tod.

Wasserfall (100 m hoch, 24 m breit, mit drei Absätzen), durchfließt das Thal von Ossola und mündet bei Pallanza in den Lago Maggiore; 76 km lang.

Tockieren (v. ital. toccare, "berühren"), Bezeichnung für eine Art der Malerei, wobei die Farbe nicht verschmolzen, sondern in deutlich sichtbaren und kurz behandelten Pinselstrichen aufgetragen wird; daher s. v. w. mit derben und fetten Strichen skizzenähnlich malen.

Tocopilla (spr. -pillja), Hafenort im Territorium Antofagásta des südamerikan. Staats Chile, 22° 10' südl. Br. In der Nähe sind Kupfergruben.

Tocqueville (spr. tockwil), Charles Alexis Henri Maurice Cérel de, franz. Publizist, geb. 29. Juli 1805 zu Verneuil (Seine-et-Oise), studierte die Rechte, ward 1826 zum Instruktionsrichter und 1830 zum Hilfsrichter ernannt und 1831 nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika gesandt, um das dortige Gefängniswesen kennen zu lernen. Als Früchte dieser Reise erschienen: "Système pénitentiaire aux États-Unis et de son application en France" (Par. 1832, 2 Bde.; 3. Aufl. 1845) und später das gedankenreiche, epochemachende Werk "De la démocratie n Amérique" (das. 1835, 2 Bde.; 15. Aufl. 1868), für welches er den Montyonpreis erhielt, 1836 Mitglied der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften und 1841 der Académie française ward. Nachdem er seit 1839 in der Deputiertenkammer auf seiten der dynastischen Opposition und nach der Februarrevolution von 1848 in der Konstituante und Legislative gewirkt, trat er 2. Juni 1849 als Minister des Auswärtigen ins Kabinett, zog sich aber nach dem Staatsstreich 1851 vom öffentlichen Leben zurück und starb 16. April 1859 in Cannes. Er schrieb noch: "Histoire philosophique du règne de Louis XV" (Par. 1846, 2 Bde.) mit der Fortsetzung: "Coup d'oeil sur le règne de Louis XVI" (2. Aufl. 1850); "L'ancien régime et la révolution" (das. 1856, 7. Aufl. 1866; deutsch, Leipz. 1857 u. 1867). Gesammelt erschienen seine Werke in 9 Bänden (Par. 1860-65). Vgl. Jaques, A. de T. (Wien 1876).

Tocuyo, 1)(Nuestra Señora de la Concepcion de T.) Stadt in der Sektion Barquisimeto des Staats Lara der Bundesrepublik Venezuela, in einem schönen Gebirgsthal am Fluß T., 629 m ü. M., gelegen, hat eine höhere Schule, Wollweberei, Schafzucht, Woll- und Salzhandel u. (1883) 15,383 Einw.; wurde 1545 erbaut. -

2) (San Miguel de T., spr. -kujo) Ort im venezuelan. Staat Falcon, nahe der Mündung des schiffbaren T. in das Karibische Meer, in fieberschwangerer Gegend. Bei der Mündung des Flusses Steinkohlenlager.

Tod, das endgültige Aufhören des Stoffwechsels und der sonstigen Lebensthätigkeiten in einem Individuum, zum Unterschied von einem durch äußere Hindernisse, die sich wegschaffen lassen, erzwungenen zeitweisen Stillstand (s. Anabiotisch und Scheintod). Da die ununterbrochene Aufnahme von Sauerstoff den hauptsächlichsten Lebensreiz darstellt, so ergibt die Lähmung der Atmungs- und Blutumlaufszentren die nächste Todesursache bei den zusammengesetzten und höhern Tieren; man sagt, jemand hat ausgeatmet, oder sein Herz steht still, um den Eintritt des Todes zu bezeichnen. Man muß dabei den natürlichen T. von dem gewaltsam herbeigeführten unterscheiden. Mit dem erstern Namen bezeichnet man auch den durch Krankheiten und innere Ursachen herbeigeführten T., obwohl die Krankheiten oft sehr gewaltsam wirkende Todesursachen liefern (z. B. Erstickung bei Halskrankheiten, Vergiftung bei Cholera und ähnlichen Infektionskrankheiten) und strenggenommen nur der infolge von Altersschwäche eintretende T. als der naturgemäße Abschluß des Lebens zu bezeichnen wäre. Ein solcher T. tritt, wie Preyer bemerkt hat, niemals bei denjenigen niedersten Wesen ein, die sich durch beständige Zweiteilung vermehren; der T. wurde erst eine Notwendigkeit für zusammengesetzte Wesen, deren Organe sich abnutzen, und die Begrenzung der Lebensdauer (s. d.) ist, wie schon Goethe ausdrückte, eine Zweckmäßigkeitseinrichtung: der Kunstgriff der Natur, immer neues und frisches Leben zu haben. Man kann den örtlichen T., d. h. das Absterben einzelner Organe (s. Brand), unterscheiden vom allgemeinen T. Auch beim allgemeinen T. erfolgt das Absterben der sämtlichen Körperteile nicht mit Einem Schlag, sondern mehr oder weniger allmählich; es gehen seinem Eintritt Zeichen voran, welche dessen Annäherung verkünden. Das Stadium, in welches diese Zeichen fallen, heißt Todeskampf oder Agonie. Man nannte es einen Kampf, weil es manchmal mit Symptomen von Aufregung, Schmerzen und Krämpfen verknüpft ist. Aber sehr häufig verläuft es still und geräuschlos (Todesschlaf) auch bei kräftigern Körpern. Die Erscheinungen der Agonie sind in jedem Fall gemischt aus den Symptomen der Krankheit, welche dem Leben ein Ende macht, und aus den Zeichen der fortschreitenden Lähmung des Nervensystems. Aufregungssymptome, von welchen die Krankheit begleitet war, verschwinden nach und nach, das Denkvermögen ist meist vermindert oder aufgehoben. Gegen die Umgebung zeigen sich Sterbende, selbst wenn sie noch bei Bewußtsein sind, meist gleichgültig. Häufiger fehlt das Bewußtsein, manchmal kehrt dasselbe in den letzten Momenten wieder, und die relative Ruhe nach den vorausgegangenen Schmerzen und Krämpfen wird vom Sterbenden als physisches Behagen empfunden. Der erfahrene Beobachter erkennt in der Ruhe das Fortschreiten der Lähmung. Die verschiedenen Organe sterben in einer bestimmten, ziemlich regelmäßigen Reihenfolge ab. War das Bewußtsein noch erhalten, so überlebt es die Sinne. Der Geruchs- und Geschmackssinn scheinen zuerst zu verschwinden. Darauf erlischt meist der Gesichtssinn; die Sterbenden klagen nicht selten über einen Nebel vor den Augen oder rufen nach Licht. Für Gehörseindrücke geben sie noch Zeichen des Verständnisses, wenn das Auge schon von Dunkel umhüllt ist. Der Gefühlssinn ist bald schon frühzeitig sehr verringert, bald verschwindet er erst zuletzt. Nicht selten fühlen Sterbende die Kälte, welche von unten an aufwärts über den Körper fortschreitet. Allmählich verlieren die Muskeln die Fähigkeit, dem Willen zu gehorchen. Der Körper sinkt im Bett herab und streckt sich lang aus; die vorher vielleicht im Krampf zusammengezogenen Gliedmaßen lösen sich; die Gesichtszüge werden hängend, der Unterkiefer fällt herab, und dadurch öffnet sich der Mund; die Augenlider sinken, ohne sich zu schließen. Die Hornhaut des Auges wird glanzlos und matt (gebrochenes Auge); das Auge wird starr und fixiert nicht mehr. Die Schläfe sinken ein, die Nase wird spitz und scheint verlängert. Das ganze Gesicht erscheint länger, das Kinn spitzer und hervorragender; das Gesicht ist gelblich, mitunter bläulich gefärbt, kühl, häufig mit kaltem Schweiß bedeckt (Hippokratisches Gesicht). Das Atmen geschieht langsam, selten und mühevoll, die Atemzüge werden ungleich, auf mehrere oberflächliche folgt ein tiefer; kurz vor dem T. werden sie immer seltener und, einzelne Schluchzer oder Seufzer ausgenommen, immer leiser. Da die schwa-

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Tod - Toda.

chen Muskeln nicht mehr durch Husten den Schleim aus den Bronchien entfernen können, so tritt hörbares Rasseln des Schleims in den Luftwegen ein, welches bei den unregelmäßigen Atembewegungen als Todesröcheln bezeichnet wird. Auch die Zusammenziehungen des Herzens werden unzulänglich, die Arterien immer schwächer gefüllt, die Pulsschläge häufiger, aber schwächer, zuletzt unfühlbar. Die Haut verliert wegen mangelhafter Füllung der Blutgefäße ihre Röte und Elastizität. Die Wärme ist, wenn dem T. Fieber vorausging, im Innern erhöht und steigt sogar über diejenige Höhe hinaus, welche sie während des Lebens hatte. Dabei fühlen sich jedoch das Gesicht, besonders Nasenspitze und Ohren, sowie Hände und Füße meist kühl an. Waren die Kranken während des Todeskampfes fieberlos, so sinkt die Wärme auch objektiv während desselben. Es ist unmöglich, auf Minuten genau den Moment des Todes anzugeben. Gewöhnlich sieht man die letzte Atembewegung, welche natürlich in einer Exspiration besteht, als Schluß des Lebens an; doch ist es sicher, daß zahlreiche Organe des Körpers noch über diesen Moment hinaus eine Fülle von Lebenserscheinungen darbieten. Das Herz arbeitet z. B. manchmal noch eine geraume Weile, die Muskeln kontrahieren sich noch auf direkte Reizung, die Baucheingeweide bewegen sich noch längere Zeit, die auf der Oberfläche gewisser Schleimhäute sitzenden Flimmerzellen stellen ihre sehr lebhaften Bewegungen oftmals erst 48 Stunden nach dem letzten Atemzug ein. Es handelt sich daher beim T. um einen allmählichen Austritt der einzelnen Gewebe aus dem Lebensverband, eine Erscheinung, die dem Verständnis um vieles näher gerückt wird, wenn man den Organismus als einen Zellenstaat auffaßt, in dem sämtliche Glieder ein gleichberechtigtes Einzeldasein führen und erst durch das Aufhören des Blutumlaufs gewissermaßen einzeln verhungern, weshalb man sie auch durch fernere Durchleitung sauerstoffhaltigen Bluts außerhalb des Körperverbandes längere Zeit zum Fortarbeiten veranlagen kann. Etwa 8-12 Stunden nach erfolgtem T. erscheinen an den niedriger liegenden Körperteilen blaurote Flecke (Totenflecke), welche von der mechanischen Senkung des Bluts herrühren. Bei Rückenlage der Leiche erscheinen die Totenflecke am Rücken, bei Gesichtslage im Gesicht, auf Brust und Bauch. Häufig kommen jedoch auch an obern Körperstellen Totenflecke vor, namentlich bei blutreichen Leichen. Die Leichenkälte tritt zu verschiedener Zeit (½-24 Stunden, durchschnittlich 6-12 Stunden) nach dem T. ein, je nach der Temperatur des Sterbenden und des umgebenden Mediums, namentlich auch je nachdem der Tote im Bett gelassen wird oder nicht. Ein weiteres und sehr entscheidendes Zeichen des absoluten Todes ist die Toten- oder Leichenstarre, welche durch das Gerinnen eines Blutbestandteils verursacht wird. Während die Leiche unmittelbar nach dem T. völlig weich zu sein pflegt, macht diese Biegsamkeit der Gliedmaßen allmählich einer von den obern nach den untern Teilen fortschreitenden Erstarrung Platz. Sie beginnt immer an den Kinnladen und am Hals, geht dann am Rumpf abwärts auf die Arme und endlich auf die Beine, zuletzt auf die innern Teile über und verschwindet auch wieder in derselben Reihenfolge. In der Regel stellt sich die Totenstarre binnen 6-12, selten erst nach 24 Stunden, noch seltener bereits wenige Minuten nach dem T. ein, doch will man bei gewaltsamem T., z. B. auf Schlachtfeldern, häufig eine augenblicklich eintretende und den Körper in seiner letzten Gliederanspannung festhaltende Totenstarre beobachtet haben. Nachdem dieselbe 24-48 Stunden angehalten hat, verschwindet sie wieder; selten vergeht sie früher, bisweilen währt sie 5-6 Tage. Mit dem Ende der Totenstarre fällt der Anfang der Fäulnis zusammen, welche sich weiterhin durch den Leichengeruch, durch die grünliche Färbung der Haut und durch die Gasentwickelung im Körper verrät. Alle diese Erscheinungen treten je nach der Temperatur und Feuchtigkeit des umgebenden Mediums, nach der Körperkonstitution, nach der Art der vorausgegangenen Krankheit wenige Stunden bis eine Woche und länger nach dem T. ein. Über die Unterscheidung des Todes vom Scheintod s. d. Vgl. Weismann, Die Dauer des Lebens (Jena 1882); Götte, Über den Ursprung des Todes (Hamb. 1883). Der T. spielt im Volksglauben eine eigentümlich bedeutsame Rolle (s. Totensagen). Die Naturvölker glauben nicht an einen natürlichen und wirklichen T., sondern halten das Sterben für eine Wirkung böser Geister oder Hexen, was sich auch bei den Kulturvölkern noch in der Personifikation des Todes als Totengenius (Thanatos der Griechen), Sensenmann und Freund Hein der Germanen ausspricht. Die griechischen Künstler stellten den T. (Thanatos), den Sohn der Nacht, den Bruder des Schlafes, zumeist auf Grund einer freundlichen Auffassung dar, als ernsten Jüngling mit gesenkter Fackel, eine Vorstellung, welche der Darstellung der griechischen Dichtkunst, die in dem "starrherzigen" Gott des Todes einen dunkelgewandeten, schwertbewehrten Opferpriester der Unterwelt erblickte, allerdings nicht entsprach. Doch gehören jene Darstellungen der bildenden Kunst meist der spätern griechischen Zeit an. Man findet sie vorwiegend auf attischen Grabsteinen, Vasen u. dgl. Vgl. Lessings Abhandlung "Wie die Alten den T. gebildet" und Robert, Thanatos (Winckelmanns-Programm, Berl. 1879). Die spätern römischen Dichter schilderten den T. als ein zähnefletschendes Ungeheuer, das mit blutigen Nägeln seine Opfer zerfleischt. In der ernsten, finstern Auffassung eines unheilvollen Dämons findet sich auch die geflügelte Gestalt des Todes auf etruskischen Vasen und Sarkophagen. Auch die Kunst des Mittelalters gab dem T. die schreckhafte Gestalt eines Ungeheuers mit Fledermausflügeln, besonders in Italien. In Deutschland trat der T. in den ersten Darstellungen der Totentänze (s. d.) in der Mehrzahl auf. Es waren anfangs zusammengeschrumpfte Leichname, später erst entfleischte Gerippe, aus denen dann der Knochenmann der neuern Kunst entstanden ist. Sense und Sichel wurden nach Offenbar. Joh. 14,4 sein Attribut, wozu sich später das Stundenglas gesellte. Vgl. Wessely, Die Gestalten des Todes und des Teufels in der darstellenden Kunst (Leipz. 1876); Schwebel, Der T. in deutscher Sage und Dichtung (Berl. 1877).

Toda (Tuda, Tudavar), Drawidastamm in den Nilgiri um Utakamand herum. Sie sind Hirten, deren einziger Reichtum in ihren Herden besteht, und zerfallen in fünf Kasten, die nicht untereinander heiraten, nämlich Peiky, Pekkan, Kuttam, Kuma und Tody. Es herrscht Polyandrie. Die Frau wird gekauft und gehört den Brüdern einer Familie gemeinschaftlich; die Kinder werden nach der Reihenfolge ihrer Geburt den Brüdern vom ältesten abwärts zugeschrieben. Man hat zwei Leichenzeremonien, ein "grünes" und ein "dürres" Begräbnis. Bei dem grünen Begräbnis wird der Tote verbrannt und die Asche gesammelt, bei dem dürren, das zwölf Monate später stattfindet, wurden früher so viele Büffel

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Todaustragen - Todesstrafe.

geschlachtet, daß die englische Regierung die sinnlose Verschwendung durch Verbote beschränkte. Dem Priester des Dorfs liegt die Pflege und das Melken der Kühe ob; außer den Priestern gibt es noch drei heilige Einsiedler. Man glaubt an böse Geister und verehrt eine heilige Büffelschale, unter der man sich den

höchsten Gott Hiriadeva vorstellt. Vgl. Metz, Die Volksstämme der Nilagiris (Basel 1857); Marshall,A phrenologist amongst the Todas (Lond. 1873).

Todaustragen (Tod austreiben),uraltes Volksfest heidnischen Ursprungs, dessen Feier am Sonntag Lätare (Todsonntag) oder Iudika sich hier und da noch in der Lausitz, in Schlesien und Böhmen erhalten hat, früher aber auch in Meißen, Thüringen, Franken, in der Pfalz und im Odenwald üblich war. Es bildet einen Teil des Maifestes (s.d.) und besteht darin, daß eine den Tod vorstellende Strohfigur unter Absingen von Liedern umhergetragen und dann ins Wasser geworfen oder verbrannt wird. Der Tod ist hier eine christliche Einkleidung des heidnischen

Winterriesen, der vor der Gottheit des Frühjahrs weichen muß. Mitunter war mit dem T. auch ein kleiner dramatischer Wettstreit zwischen Sommer und Winter verbunden. Vgl. v.Reinsberg-Düringsfeld, Das festliche Jahr (Leipz. 1863).

Toddy, Getränk aus Branntwein, Zucker, Eis und Wasser, ähnlich dem Grog, in Schottland, England, Schweden etc. beliebt (Sling enthält dazu noch etwas geriebene Muskatnuß); auch s.v.w. Palmwein.

Todea Willd., Farngattung aus der Familie der Osmundaceen. Eine baumbildende Art dieser Gattung mit 3 m hohem und 60 cm dickem Stamm sowie schönen, ca.2 m breiten, doppeltfiederteiligen Blättern ist T. barbara Moore, die in Neuholland, Neuseeland und Südafrika wächst.

Todesengel, christliches Bild, durch welches der Tod als ein Genius dargestellt wird, der die Seele

aus diesem zu einem bessern Leben hinüberführt, dem griechischen Hermes, welcher als Psychopompos die Seelen der Abgeschiedenen nach dem Hades geleitet, entsprechend.

Todeserklärung, die richterliche Erklärung, daß eine verschollene Person als verstorben anzusehen sei (s. Verschollenheit).

Todeslinderung , s. Euthanasie.

Todesstrafe, die Hinrichtung eines Verbrechers zur Sühne begangenen Unrechts. Je nachdem diese Hinrichtung in mehr oder weniger schmerzhafter Weise vollzogen wurde, unterschied man im ältern Strafrecht zwischen geschärfter (qualifizierter) und einfacher T. Nach dem Strafsystem der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. waren als geschärfte Todesstrafen der Feuertod, das Pfählen, das Rad, das Vierteilen und das Säcken oder Ertränken in Übung, während die Strafen des Stranges und des Schwertes sowie die militärische Strafe der Kugel oder des Arkebusierens als die leichtern und einfachen Arten der T. galten. Die moderne Strafgesetzgebung kennt nur die einfache T., welche in den meisten Staaten, namentlich auch nach dem deutschen Strafgesetzbuch, durch Enthauptung und zwar meistens mittels des Fallbeils, in England, Österreich und Amerika durch Erwürgen am Galgen, in Spanien durch Bruch der Halswirbel (Garrotte) und im Staat New York seit 1889 durch die Anwendung von Elektrizität vollzogen wird. Die Öffentlichkeit der T., welche früher allgemein üblich war, besteht nur noch ausnahmsweise, z. B. in Frankreich; sonst wird dieselbe regelmäßig in einem umschlossenen Raum vollzogen (sogen. Intramuranhinrichtung), so seit 1869 auch in England. Nach der deutschen Strafprozeßordnung müssen dazu zwei Gerichtspersonen, ein Beamter der Staatsanwaltschaft, ein Gerichtsschreiber und ein Gefängnisbeamter zugezogen werden. Der Ortsvorstand hat zwölf Personen aus den Vertretern oder aus andern achtbaren Mitgliedern der Gemeinde abzuordnen, um der Hinrichtung beizuwohnen. Außerdem ist einem Geistlichen von dem Religionsbekenntnis des Verurteilten und dem Verteidiger sowie nach Ermessen des die Vollstreckung leitenden Beamten auch andern Personen der Zutritt zu gestatten. Der Leichnam des Hingerichteten ist den Angehörigen desselben auf ihr Verlangen zur einfachen, ohne Feierlichkeit vorzunehmenden Beerdigung zu verabfolgen. An schwangern oder geisteskranken Personen darf die T. nicht vollstreckt werden. Ihre Vollstreckung ist überhaupt nur zulässig, nachdem die Entschließung des Staatsoberhaupts ergangen ist, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. Als militärische T., die in Fällen des Kriegsrechts aber auch gegen Zivilisten zur Anwendung kommt, ist dieStrafe des Erschießens gebräuchlich. Über die Zulässigkeit der T. an und für sich ist, seitdem Beccaria für ihre Abschaffung eingetreten, also seit mehr denn 100 Iahren, Streit. Wenn dabei vielfach Unklarheit herrscht, so kommt dies besonders daher, weil man oft zwei Fragen nicht gehörig auseinander hält: die rechtsphilosophische, ob dem Staate das Recht zusteht, dem Staatsbürger zur Sühne begangenen Unrechts das Recht auf die Existenz abzusprechen, und die rechtspolitische, ob es, wofern man und zwar wohl mit Recht die erste Frage bejaht, zweckmäßig sei, von ebendiesem Recht noch Gebrauch zu machen. Auch die zweite Frage glaubt die herrschende Ansicht bei dem dermaligen Stand unsrer Zivilisation zur Zeit noch nicht verneinen zu können. Abgeschafft war die T. vor der Herrschaft des norddeutschen Strafgesetzbuchs in Anhalt, Bremen, Oldenburg und im Königreich Sachsen; sie ist es noch in Rumänien, Holland, Portugal, in der Schweiz und in einigen nordamerikanischen Staaten; vorübergehend war sie in Österreich abgeschafft. Einzelne Schweizer Kantone haben indessen die T. neuerdings wieder eingeführt. Im norddeutschen Reichstag hatte sich 1870 die Mehrheit für die Abschaffung der T. entschieden, und nur um das Zustandekommen des Strafgesetzbuchs nicht zu gefährden, entschloß man sich bei dem entschiedenen Widerstand der Regierungen endlich doch fur die Beibehaltung der T. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch bedroht mit der T. den vollendeten Mord, außerdem aber noch den als Hochverrat strafbaren Mord und den Mordversuch, welche an dem Kaiser, an dem eignen Landesherrn oder während des Aufenthalts in einem Bundesstaat an dem Landesherrn dieses Staats verübt worden sind. Auch ist in dem Reichsgesetz vom 9. Juni 1884 über den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen bestimmt, daß derjenige, welcher vorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines andern herbeiführt, mit Zuchthaus, wenn aber durch solche Handlungsweise der Tod eines Menschen herbeigeführt worden ist, mit dem Tod bestraft werden soll, wofern der Thäter jenen Erfolg voraussehen konnte.Das deutsche Militärstrafgesetzbuch endlich bedroht

auch die schwersten Militärverbrechen, wie Kriegsverrat, Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feinde, Thätlichkeiten gegen Vorgesetzte im Felde und militärischen Aufruhr vor dem Feind, mit dem Tod. Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 13, 32, 80 und 211; Deutsche

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Todfall - Toggenburg.

Strafprozeßordnung, § 485 f.; Deutsches Militärstrafgesetzbuch, § 58, 63, 73, 84, 97, 107 f., 133, 159; Mittermaier, Die T. (Heidelb. 1862); Hetzel, Die T. (das. 1870); v. Holtzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die T. (das. 1875); Pfotenhauer, Aphorismen über die T. (Bern 1879); Carfona, La pena di morte (Neap. 1884).

Todfall, s. Baulebung.

Todi, Stadt in der ital. Provinz Perugia (Umbrien), an der Mündung der Naja in den Tiber, mit (teilweise noch etruskischen) Mauern umgeben, Bischofsitz, hat eine gotische Kathedrale, eine nach Bramantes Entwurf erbaute Renaissancekirche, ein schönes Stadthaus und ein altes Regierungsgebäude, Gymnasium, technische Schule, Seminar, reiche Wohlthätigkeitsanstalten und (1881) 3306 Einw. T. ist das alte umbrische Tuder, später römische Kolonie.

Tödi, das Haupt der Glarner Alpen (3623 m), auf der Grenzscheide der Kantone Glarus, Uri und Graubünden, hat eine nach O. flach abfallende Firndecke und zwei Spitzen, den vordern, rundlichen Glarner T. und den südlichen, auf Graubündner Gebiet liegenden Piz Rusein. Ihn umstehen in zwei Parallelzügen, die durch ein Firnmeer verbunden sind, der Bifertenstock (3426 m), der Düssistock (3262 m) und der Piz Tgietschen (Oberalpstock, 3330 m), der Claridenstock (3264 m), das Scheerhorn (3296 m), die Große Windgelle (3189 m) etc. Zwischen Düssistock und Scheerhorn zieht sich der Hüfigletscher, aus dem der Kärstelenbach entspringt, ins Maderanerthal hinab. Einer kleinern Schneemulde, die zusammen mit dem Abfluß des am Piz Tgietschen lagernden Brunifirns, zwischen Tödi und Bifertenstock lagert, entspringt der Bifertenfirn, der wie der Claridenfirn in den Hintergrund des Linththals sich hinabsenkt. Die natürliche Abgrenzung dieser ganzen Bergwelt bilden Klausen-, Kreuzli- und Kistenpaß. Den Reigen der schwierigen Aszensionen im Tödigebiet eröffnete Pater à Spescha, der 1788 den Stockgron, 1799 den Piz Tgietschen erstieg. Auch die übrigen Gipfel wurden seitdem erobert; den höchsten (Piz Rusein) bestieg als erster Reisender Dürler (August 1837). Die Besteigung des T. erfolgt gewöhnlich von der Klubhütte am Grünhorn (2451 rn).

Todleben, s. Totleben.

Tödlichkeit von Körperverletzungen, s. Tötung.

Todmorden, Stadt in Yorkshire (England), an der Grenze von Lancashire, am Calder, hat Baumwollwarenfabriken, Maschinenbauwerkstätten, Kohlengruben und (1881) 23,862 Einw.

Todos los Santos (Bahia de T.), 1) Bai an der Westküste der Halbinsel Niederkalifornien in Mexiko, unter 30° 45' nördl. Br., mit Zollhaus. -

2) Hafen in Argentinien, s. San Blas 1).

Todos Santos, Hafenort an der Westküste der Halbinsel Kalifornien in Mexiko, unter dem Wendekreis, mit Zollhaus und (1880) 1209 Einw.

Todsünden, nach 1. Joh. 5, 16 und 17 solche Sünden, welche den geistigen Tod, d. h. den Verlust des Gnadenstandes, zur Folge haben, nach Petrus Lombardus: Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit des Herzens; einen anerkannten Katalog derselben gibt es nicht. S. Sünde.

Todt..., s. Tot...

Todtnau, Stadt im bad. Kreis Lörrach, an der Wiese und am Fuß des Feldbergs, seit dem Brand von 1876 größtenteils neuerbaut, 650 m ü. M., hat eine kath. Kirche, eine Bezirksforstei, Baumwollspinnerei und -Weberei, Bürsten-, Holzstoff-, Zunder- und Papierfabrikation und (1885) 1756 Einw.

Tostlund, Dorf in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Hadersleben, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht und (1885) 657 Einw.

Toga (lat.), das Nationalkleid der freien Römer im Frieden, wodurch sie als Togati sich von allen Nichtrömern unterschieden, bestand aus einem einzigen, 4 m langen und 2½ m breiten Stück Zeug, das so getragen ward, daß man den einen Zipfel über die linke Schulter nach vorn warf, den obern Rand über den Rücken zog, den andern Zipfel aber unter dem rechten Arm durchzog (so daß derselbe frei blieb) und dann über die linke Schulter warf (vgl. Abbildung). Unter dem rechten Arm bis zur linken Schulter entstand dabei ein Bausch, den man als Tasche (sinus) gebrauchte. Im Krieg knüpfte man, bevor das Sagum (s. d.) die allgemeine militärische Kleidung wurde, die T. unter der Brust gürtelähnlich fest (Cinctus Gabinus). In der spätern Zeit trug man unter der T. die Tunika (s. d.) unmittelbar auf dem Körper. Die T. war von Wolle und weißer Farbe (t. alba), bei gemeinen Leuten und bei der Trauer dunkel (pulla). Die höhern Magistratspersonen bis zu den kurulischen Ädilen trugen eine mit einem Purpurstreifen eingefaßte T. (t. praetexta, s. Tafel "Kostüme I", Fig. 6), ebenso die Knaben bis zum 17. Jahr, die Mädchen bis zu ihrer Verheiratung. Vom vollendeten 17. Jahr an trugen die Jünglinge die einfache, unverbrämte T., die T. virilis oder T. pura. Besondere Staatskleider waren die T. picta. eine T. von Purpur, mit goldenen Sternen verziert, die der Triumphator anlegte, sowie die mit eingestickten Palmzweigen geschmückte T. palmata (trabea). Die T. candida wurde von den Bewerbern um Staatsämter getragen und war glänzend weiß (s. Candidatus); die Angeklagten trugen eine dunkle T. (t. squalida). Im Sommer trug man die T. rasa, eine abgeschorne T. von dünnem Zeug; im Winter eine wollene (t. pinguis). Auch Fremden konnte das Recht, die T. zu tragen, durch Senatsbeschluß als Auszeichnung erteilt werden, wie es z. B. das gesamte römische Gallien erhielt, das daher Gallia togata hieß. Unter den Kaisern begann die T. die Tracht der geringern Leute und Sklaven zu werden. Die Frauen nahmen die Palla (s. d.) an, und die T. wurde das Kleid der wegen Ehebruchs geschiedenen Frauen und Buhldirnen.

Toggenburg, ehemals eine Grafschaft der Schweiz, die voralpine Thalstufe der Thur umfassend, deren Besitzer (Grafen von T.) zu den reichsten und angesehensten Dynasten des Landes gehörten. Nach dem Erlöschen des Geschlechts (1436) fiel die Grafschaft an die Freiherren von Raron, die sie 1469 an den Abt von St. Gallen verkauften. Infolge der Religionsspaltung entstand eine Menge von Zerwürfnissen zwischen Stift und Landschaft, so daß die Zuricher und Berner, von den Toggenburgern angerufen, mit den katholischen Orten handgemein wurden

[Römer in der Toga.]

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Togianinseln - Tokar.

(Toggenburger oder Zwölferkrieg von 1712). Neu ausgebrochene Feindseligkeiten wurden 1755 und 1759 beigelegt. 1803 wurde das Ländchen dem Kanton St. Gallen zugeteilt. Es zerfällt in die vier Bezirke Ober-, Neu-, Alt- und Unter-T., von denen Alt-T. (11,721 Einw.) vorherrschend katholisch, die drei andern, mit 43,887 Einw., vorherrschend protestantisch sind. Die Hauptindustrie ist Baumwollspinnerei (s. Sankt Gallen, S. 283). Die oberste Thalgemeinde ist Wildhaus, der Geburtsort Zwinglis. Bei Ebnat-Kappel (640 m) beginnt die "Toggenburger Eisenbahn" und führt thalabwärts über Wattwyl, Lichtensteg und andre Orte bis nach Wyl, wo sie in die Zürich-St. Galler Linie einmündet (560 m). Vgl. Wegelin, Geschichte der Landschaft T. (St. Gallen 1857); Hagmann, Das T. (Lichtensteg 1877).

Togianinseln (Tadjainseln, Schildpattinseln), Gruppe von etwa 500 Eilanden in der Tominibai an der Ostküste von Celebes, 677 qkm (12,2 QM.) groß, stark bewaldet, unbewohnt, aber wegen des Schildkrötenfanges und der Fischerei häufig besucht; gehört zur niederländischen Residentschaft Menado.

Togo ("jenseit der Lagune"), deutsche Kolonie an der Sklavenküste von Westafrika (s. Karte bei "Guinea"), zwischen 1° 10' (New Sierra Leone) und 1° 30' östl. L. v. Gr. (Gum Koffi), doch zieht sich die östliche Grenzlinie nordostwärts bis 1°40', ein Areal von 1300 qkm (23,6 QM.). Am Meer liegen die Handelsplätze Lome, Bagida und Porto Seguro auf einem schmalen, niedrigen und hafenlosen Küstenstreifen; dahinter zieht sich eine Strandlagune hin, welche in der Lagune T. sich nach N. erweitert, jedoch in weit geringerm Maß, als die Engländer, welche sie Avonlagune nennen, früher angaben. In die Lagune mündet von N. her der Hahofluß. Das sogleich zu Hügeln von 40-60 m Hohe aufsteigende Land ist außerordentlich reich an Ölpalmen und andern Fruchtbäumen; nur der kleinste Teil des Landes ist angebaut mit Kassawen, Mais, Bataten, Ananas u. a., das übrige ist mit Rohr, hohem Gras und Buschdickicht, aus dem einzelne Bäume hervorragen, bestanden. Vierfüßige Tiere sind außer Affen selten; vereinzelt gibt es Leoparden, dagegen ist die Vogelwelt überreich, und die Lagunen sind voll von Fischen. Die Bevölkerung, etwa 40,000 Köpfe und durchweg Neger, beschäftigt sich an der Küste fast ausschließlich mit Handel; weiter nach dem Innern zu fertigt man kunstreiche Gefäße, Leder und Zeuge. Die aus Binsen geflochtenen Hütten sind rund oder viereckig, in jedem Ort aber gleichförmig gebaut und, wie Straßen und Plätze, sehr rein gehalten. Jedes Dorf enthält eine Gerichtshalle, ein Palaver- und ein Fetischhaus. Der Hauptort T. am östlichen Ufer der gleichnamigen Lagune hat 2000-3000 Einw., das heilige Be zählt 2000 Seelen, außerdem werden noch 10 Orte mit je 1000 Seelen genannt. Das Gebiet von T. wurde Ende 1884 unter deutschen Reichsschutz gestellt und für dasselbe ein deutscher Reichskommissar mit dem Sitz in Klein-Popo ernannt. Das Budget der Kolonie bezifferte sich 1888/89 auf 107,000 Mk. Einnahme und 178,000 Mk. Ausgabe. T. wurde 1887 von Henrici besucht, und 1888 ging Wolf ab, um das Hinterland zu erforschen. Vgl. Zöller, Das Togoland und die Sklavenküste (Stuttg. 1885); Krümmel, Togoland (Weim. l887); Henrici, Das deutsche Togogebiet (Leipz. 1888).

Tográi, Muajjad ed-din el Hosein ibn 'Ali, arab. Dichter des 11. und 12. Jahrh., war Wesir des Seldschukkenfürsten Mas' ud ibn Mohammed und wurde nach dessen Beseitigung durch seinen Bruder Mahmud 1119 oder 1121 getötet. Er ist einer der hervorragendsten Elegiker und kontemplativen Lyriker; am berühmtesten ist seine "Lâmije" (auf l reimendes Gedicht), welche wiederholt herausgegeben und übersetzt ist (unter andern v. Rucocke, Oxford 1661; Reiske, Dresd. 1756; Frähn, Kasan 1814).

Tohu wabohu (hebr., "wüst und leer"), nach 1. Mos. 1, 2 Bezeichnung eines wüsten Durcheinander.

Toilette (franz., spr. toa-), ursprünglich ein Tuch (toile), das man über den Putztisch der Damen breitete; dann das ganze zum Putz notwendige Gerät, insbesondere neben dem Spiegel der Tisch (Putztisch, Nachttisch), auf welchem alle diese Geräte sich befinden; endlich der weibliche Putz selbst in allen seinen Details, daher T. machen, sich vollständig ankleiden, putzen.

Toise (spr. toahs'), die franz. Klafter, Normaleinheit des altfranzösischen Längenmaßes. Die alte T. hatte 6 alte Pariser Fuß = 1,949 m; die neue (metrische, t. usuelle), zu 2 m, wurde als Übergang vom alten zum neuen Maßsystem eingeführt. Der ihr zu Grunde liegende, noch jetzt in Paris aufbewahrte Maßstab hieß T. du Pérou (weiteres bei Gradmessungen). Vgl. Peters, Zur Geschichte und Kritik der Toisenmaßstäbe (Berl. 1886).

Tokâd, Hauptstadt eines Sandschak im türk. Wilajet Siwas in Kleinasien, unweit des Jeschil Irmak, 620 m hoch, auf drei Seiten von Bergen umgeben, hat eine alte Citadelle, einen verfallenen Palast sowie eine Brücke und eine Moschee aus der Seldschukkenzeit, sonst meist unansehnliche Häuser, viele Moscheen sowie mehrere christliche Kirchen und Klöster. T. ist Sitz eines armenischen Erzbischofs und war früher als Karawanenstation wie durch lebhaften Handel und Industrie von Bedeutung. Bemerkenswert sind die dortigen Kupferschmelzen und Kupferschmieden, welche ihr Erz von Maaden Kapur an der Quelle des westlichen Tigris erhalten. Die Einwohnerzahl beträgt etwa 45,000 Seelen (26,000 Türken, 15,0000 Armenier, der Rest Griechen und Juden). Im Altertum lag 6 km nordöstlich von T. das pontische Komana; T. selbst ist das byzantinische Eudokia.

Tokadille, ein aus Italien stammendes, dem Puff verwandtes Spiel, wird von zwei Personen mit je 15 (auch 16) Steinen gespielt, nach Regeln, die auf denen des Puffs beruhen, aber ungleich verwickelter sind und mehr Abwechselung bieten als dieser.

Tokantins, großer Fluß in Brasilien, entspringt als Rio das Almas auf den Hochgebirgen im S. der Provinz Goyaz, durchströmt diese und die Provinz Pará in nördlicher Richtung, hat mehrere Wasserfälle und Stromschnellen, erweitert sich unterhalb Cameta zum Rio Pará, empfängt hier einen Nebenarm des Amazonenstroms, den Paranau, der die Insel Marajo vom Festland trennt, und mündet unterhalb Pará oder Belem in den Atlantischen Ozean. Er ist 2612 km lang, wovon 220 km auf den Rio Pará kommen; die Schiffahrt auf dem T. ist seit 1867 allen Nationen freigegeben. Regelmäßige Dampfschiffahrt ist 650 km aufwärts im Gang; oberhalb der Wasserfälle sind weitere 650 km bis zu den Schnellen von Itaboca schiffbar. Sein bedeutendster, ihn an Ausdehnung übertreffender Zufluß ist der Araguaia, welcher an der Sierra de Santa Martha entspringt und in einem breiten Parallelthal zu dem des T. nach N. fließt, um sich nach 2600 km langem Lauf und nach Bildung der großen Flußinsel Santa Anna oder Bannanal bei São João das Duas Barras mit jenem zu vereinen.

Tokar, Stadt mit kleinem Fort in Nubien, südlich von Suakin in einer Oase, in der sich der Fluß Barka

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Tokay - Tokio.

in unzählige Bewässerungskanäle verzweigt; in den Feldern in der Umgebung sind zur Zeit der Aussaat und der der Ernte mehr als 20,000 Arbeiter thätig. Nach der Niederlage von Hicks Pascha sollte die Besatzung des Forts durch Baker Pascha entsetzt werden, dieser wurde jedoch 4. Febr. 1884 geschlagen, und erst General Graham konnte nach einer Niederlage der Mahdisten T., das inzwischen kapituliert hatte, aber vom Feind wieder geräumt war, 1. März erreichen. Das Fort wurde aufgegeben.

Tokay (Tokaj), Markt im ungar. Komitat Zemplin, am Bodrog (unweit der Mündung in die Theiß), Station der Ungarischen Staatsbahn, mit Viehzucht, Fischerei, berühmtem Obst- und Weinbau und (1881) 4479 Einw. Die nord- und nordostwärts liegenden Tokayer Berge, der südliche Teil der Hegyalja (s. d.), liefern 34 Sorten trefflicher Weine. Die edelsten (fünf Sorten) werden bei Tarczal, Talya, Mád, Lißka, Kisfaludy, Zsadany gewonnen, und zwar: ordinärer Tischwein, ohne Süße, aus den ihrer Trockenbeeren beraubten Trauben; Szamorodner, aus Trauben ohne Auslese der Trockenbeeren, wenig süßer, kräftiger, feuriger Wein; Mászláser oder gezehrter Wein (ein-, zwei- und dreibuttig), aus Trauben mit Zusatz von Trockenbeeren, süß, mild, höchst geistig; Ausbruch oder Muskateller, wie der vorige, aber mit fünf oder mehr Butten Trockenbeeren auf ein Faß (zehn Butten Wein). Was aus diesem Gemisch durch den eignen Druck von selbst abfließt, bildet die Essenz, den süßesten, duftigsten, geistigsten und wohlschmeckendsten aller Weine. Der Tokayer Weinbau hat sich seit Gründung der T.-Hegyaljaer Weinbaugesellschaft ungemein gehoben. Der Gesamtertrag beträgt jährlich ca. 97,500 hl. Bei T. fanden 1848 mehrere Gefechte zwischen dem österreichischen Armeekorps unter Schlik und den Ungarn statt.

Tokelauinseln, s. Unioninseln.

Tokio (spr. tokjo; auch Tokei, spr. toke, "Osthauptstadt"), Hauptstadt des japan. Reichs und seit 1868 dauernde Residenz des Mikado, vordem Jedo (Yeddo) genannt, liegt unter 35° 40' uördl. Br. und 139° 47' östl. L. v. Gr. am nordwestlichen Ende der seichten Jedobucht und am Südrand einer fruchtbaren Ebene, welche der Tonegawa mit verschiedenen seiner Nebenflüsse, der Sumidagawa sowie zahlreiche Kanäle durchschneiden. Sie wurde von Iyeyasu (s. Japan, S. 165) angelegt, 1598 zur Residenz gemacht und durch ihn und seine Nachfolger, die Shogune aus dem Haus Tokugawa, zu einer der umfang- und menschenreichsten Städte der Welt, welche zur Zeit ihrer größten Blüte auf einem Areal von 75 qkm gegen 2 Mill. Einw. hatte. Von Jedo aus regierten die Shogune das Land. Um das Schloß (O-Shiro), welches sich in der Mitte der Stadt auf niedrigem, künstlichem Hügel erhob, und seine vielen Nebengebäude und Parkanlagen waren Festungswerke mit Ringmauern und schweren Thoren sowie drei Systeme Wallgräben angebracht, an deren Seiten sich die ausgedehnten Yashikis oder Residenzen des Feudaladels (der Daimios oder Fürsten des Landes, welche hier mit großem Gefolge jedes zweite Jahr wohnen mußten) befanden; dann folgte die eigentliche Stadt mit den Wohnungen der Gewerbtreibenden und Kaufleute. Die Revolution von 1868, welche dem Shogunat mit seinem komplizierten Feudalsystem ein Ende machte und die unbeschränkte Macht des Mikado wiederherstellte, brachte der Stadt große Verluste. Die Yashikis der Daimios verödeten, häufige Brände kamen hinzu und zerstörten ganze Stadtteile mit ihren leicht gebauten, dicht aneinander gereihten Holzhäusern. Allmählich aber erholte sich T. wieder, neues Leben floß ihr durch den Verkehr mit dem Ausland und als Regierungssitz zu, so daß die Stadt Ende 1887 wieder 982,043 Einw. zählte. In der Nähe des Sumidagawa, welcher den westlichen Stadtteil durchfließt, liegt der erste Bahnhof. Seit 1872 erreicht man von hier aus auf dem 30 km langen Schienenweg in einer Stunde den Hafen Yokohama. Vom Bahnhof aus führt eine weite Straße, Shimbashi-dori genannt, nordwärts nach dem schönen Park Uyeno hin über Nihonbashi, die Sonnenaufgangsbrücke, von der aus man die Entfernungen berechnet und den riesigen Kegel des Fujiyama schaut. Shimbashidori, die wichtigste und schönste Verkehrsstraße von T., wurde nebst vielen Seitenstraßen in fremdem Stil mit zweistöckigen, feuersichern Backsteinhäusern angelegt, nachdem eine große Feuersbrunst den Stadtteil zerstört hatte. Am 5. Mai 1873 brannte auch das O-Shiro nieder. Der Mikado residierte seitdem im Yashiki eines ehemaligen Daimio, so daß seine Wohnung viel bescheidener war als die neuen großen Backsteinbauten der englischen und deutschen Gesandtschaft. Inzwischen ist seine neue Residenz an Stelle des alten Schlosses vollendet u. im Januar 1889 von ihm bezogen worden. In T. wohnen die fremden Gesandten u. Konsuln, wo sie wollen, Ausländer in japanischem Dienst in den ihnen überwiesenen ehemaligen Yashikis oder neuen Holzbauten auf Yashikigrund, fremde Kaufleute aber und Gewerbtreibende nur in einem bestimmten Stadtteil. Die Stadt hat Gasbeleuchtung und manche andre europäischen Städten nachgebildete Einrichtung. Für den Straßenverkehr ist an Stelle der Sänfte seit 20 Jahren hier wie in ganz Japan die Shinrikisha getreten, ein Karren, den ein oder zwei sich in, resp. vor die Schere spannende Kulis ziehen, während der Passagier über der Achse auf einem Rohrsitz mit kutschenartigen Rück- und Seitenlehnen sitzt. In ihren ein- oder zweistöckigen, meist nur 7 m hohen Holzhäusern, deren Gemächer möbellos mit Binsenmatten bedeckt und durch leichte Schiebewände getrennt sind, gleichen sich alle japanischen Städte. Das Licht dringt von der Straße oder dem Hof her matt ein durch die Papierscheiben, womit man die Quadrate der Schieberrahmen überzogen hat. In diesen japanischen Häusern ist die Petroleumlampe eingeführt, während für die Bekleidung und

[ Situationsplan von Tokio.]

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Tokkieren - Toledo.

Ausstattung des noch nicht ganz europäisierten Japaners von fremden Artikeln zuerst Filzhut und Regenschirm Eingang fanden. Seit der neuen politischen Einteilung Japans 1871 bildet die Stadt mit ihrer nächsten Umgebung ein besonderes Territorium, das Tokiotu, mit ca. 1½ Mill. Einw.

Tokkieren, s. Tockieren.

Toko, Pfefferfresser, s. Tukan.

Tököly (Tökely), Emmerich, Graf von, ungar. Magnat, geb. 1656 auf dem Schloß Käsmark im Zipser Komitat, Sohn des protestantischen Grafen Stephan von T., welcher, der Beteiligung an der Verschwörung der ungarischen Mißvergnügten gegen den Kaiser Leopold I. beschuldigt, 1671 seiner Güter für verlustig erklärt, in seinem Schloß Likawa belagert ward und während der Belagerung starb. Emmerich T. floh nach Siebenbürgen, erhielt vom Großfürsten Apafi den Oberbefehl über ein den aufständischen Ungarn zu Hilfe gesandtes Truppenkorps, drang bis Österreich und Schlesien vor, ließ sich von der Pforte gegen das Versprechen eines jährlichen Tributs zum Fürsten von Ungarn ernennen, auf dem Landtag zu Kaschau 1682 von den Ständen als König huldigen und zog 1683 mit dem Großwesir Kara Mustafa vor Wien, ward von diesem 4. Okt. 1685 auf verräterische Weise zu Großwardein verhaftet und in Ketten zu dem Sultan nach Adrianopel gebracht, jedoch Anfang 1686 in Freiheit gesetzt und für seine weitern Operationen mit 9000 Mann türkischer Truppen unterstützt. Aber in Ungarn selbst fand er bei seiner Rückkehr nur wenig Anhänger, so daß er 1688 bei Großwardein von dem österreichischen General Heusler geschlagen wurde. Hierauf vom Sultan zum Großfürsten von Siebenbürgen erhoben, drang er mit 16,000 Mann hier ein und schlug Heusler im September 1689 bei Zernest, mußte sich aber vor dem Markgrafen von Baden in die Walachei zurückziehen. Er wohnte auch später allen Kämpfen der Pforte gegen Österreich bei und übte bedeutenden Einfluß auf den Sultan aus. Nach dem Abschluß des Friedens on Karlowitz (26. Jan. 1699) lebte er, von der Amnestie ausgeschlossen, aber vom Sultan mit einer Pension und Gütern reich ausgestattet und zum Fürsten von Widdin ernannt, meist zu Konstantinopel. Er starb 13. Sept. 1705 auf seinem Landgut bei Ismid.

Tola, 1) Gold- und Silbergewicht in Ostindien, ursprünglich das Gewicht der Bombay-, resp. Siccarupie von 179-179½ englischen Troygrän = 11,599-1l,642 g; wird in Bombay in 100 Goonze à 6 Chows, in Kalkutta in 12 Mascha à 8 Röttihs (Ruttees) à 4 Dhan eingeteilt;

2) Normal- oder neues Bazargewicht in Kalkutta, à 16 Anna = 180 englischen Troygrän = 11,664 g. Seine Oberstufen Sihr und Maund bilden das Handelsgewicht.

Tolam, Gewicht, s. Maund.

Toland, John, engl. Freidenker, geboren um 1670 zu Redcastle in Irland von katholischen Eltern, trat 1687 zu den Presbyterianern über, studierte in Glasgow, Edinburg und Leiden Theorie und Philosophie, veröffentlichte 1696 in London eine Schrift: "Christianity not mysterious", in welcher er im Anschluß an Locke darzuthun suchte, daß das Christentum vernunftmäßig sei, und welche alsbald von Henkers Hand verbrannt wurde. Darauf politischen Studien zugewandt, veröffentlichte er 1699 die Gesamtausgabe der Werke Miltons mit Biographie des Dichters, welche ihm abermals Angriffe zuzog, gegen die er sich in der Schrift "Amyntor" verteidigte. 1701 bereiste er Deutschland, fand hier an der Kurfürstin Sophie von Hannover und der philosophischen Königin Sophie Charlotte von Preußen Gönnerinnen und richtete dann an letztere seine "Letters to Serena" (1704), in denen er den Glauben an einen außerweltlichen Gott und eine individuelle Unsterblichkeit aufgibt. Er bereiste 1709 abermals Deutschland und Holland und starb 1722 in Putney bei London. Von seinen Schriften sind noch zu ermähnen: "Adeisidaemon" (1709); "Nazarenus, or jewish, gentile and mohametan christianity" (1718); "Pantheisticon" (1720). Vgl. Berthold, John T. und der Monismus der Gegenwart (Heidelb. 1876).

Toldy (ursprünglich Schedel), Franz, bedeutendster ungar. Literarhistoriker, geb. 10. Aug. 1805 zu Ofen, studierte Medizin, praktizierte dann einige Zeit als Bezirksarzt in Pest, wandte sich aber bald ganz der Litteratur zu, in der er schon früh (namentlich mit Übersetzungen) zu wirken begonnen hatte. Von einer größern Reise, die ihn nach Berlin, London und Paris führte, 1830 zurückgekehrt, wurde er Mitglied der ungarischen Akademie und 1835 Sekretär derselben, welches Amt er bis 1861 führte. Von 1833 bis 1844 lehrte er als außerordentlicher Professor der Diätetik an der Pester Universität; 1836 gründete er die Kisfaludy-Gesellschaft; 1861 erhielt er die Professur der ungarischen Litteratur an der Hochschule zu Pest. Er starb daselbst 10. Dez. 1875. Seine Hauptwerke sind: "Handbuch der ungarischen Poesie" (Pest 1828, 2 Bde.), durch welches die ungarische Dichtung zum erstenmal in umfassenderer Weise in die deutsche Litteratur eingeführt wurde; dann in ungarischer Sprache die unvollendete "Geschichte der ungarischen Nationallitteratur" (das. 1851-53, 3 Bde.) und "Geschichte der ungarischen Poesie" (das. 1854, 3. Aufl. 1875; deutsch von Steinacker, 1863). - Sein Sohn Stephan, Publizist und dramatischer Dichter, geb. 4. Juni 1844 zu Pest, studierte daselbst Jurisprudenz, wirkte einige Zeit als Ministerialbeamter und schrieb politische Broschüren, einen Roman und mehrere Bände Novellen in französischer Richtung, auch Dramen, von denen die Lustspiele: "A jó hajafiak" ("Die guten Patrioten") und "Az uj emberek" ("Neue Menschen") mit Erfolg aufgeführt wurden. Seit 1875 Redakteur des Journals "Nemzeti Hirlap", starb er 6. Dez. 1879 in Budapest.

Toledo, 1) span. Provinz in der Landschaft Neukastilien, grenzt im N. an die Provinzen Avila und Madrid, im O. an Cuenca, im S. an Ciudad-Real, im W. an Caceres und hat einen Flächenraum von 15,257 qkm (277,1 QM.). Die Provinz wird im S. von den Montes de T., im N. von der Sierra de San Vicente, einer Parallelkette der Sierra de Gredos, durchzogen, im übrigen ist sie eben oder hügelig und gehört zum Becken des Tajo, welcher die Provinz quer durchschneidet und hier den Guadarrama und Alberche von N., dann kleinere Zuflüsse von S. her aufnimmt. Der Südosten der Provinz gehört mit dem Giguela zum Flußgebiet des Guadiana. Die Bevölkerung betrug 1878: 335,038 Seelen (22 pro Quadratkilometer) und wurde 1886 auf 358,000 Seelen geschätzt. Der Boden ist sehr fruchtbar, aber wenig angebaut und liefert hauptsächlich Getreide, Öl und Wein. Die Viehzucht ist ansehnlich, Schafwolle und Wachs sind wichtige Produkte. Auch Salinen, Eisengruben und Mineralquellen sind vorhanden. Die Industrie ist von geringer Bedeutung, sie liefert Leder, Töpferwaren u. a. Auch der Handel ist wenig entwickelt. Die von Madrid nach S. und W. auslaufenden Eisenbahnen durchziehen die Provinz. Dieselbe umfaßt zwölf Gerichtsbezirke (darunter Madridejos, Ocana, Talavera de la Reina).

Tolentino - Tollens.

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Die gleichnamige Hauptstadt liegt malerisch auf einem zum Tajo schroff abfallenden Berg, von doppelten, getürmten Mauern umgeben, ist durch eine Zweigbahn nach Castillejo mit der Bahn Madrid-Alicante verbunden und gewährt mit ihren 26 Kirchen, zahlreichen Klostergebäuden, ihren alten Thoren, Brücken und einer Unzahl von Türmen einen imposanten Anblick. Das Innere bildet ein Gewirr krummer und ungleich hoch liegender, aber reinlicher Gassen. Das ansehnlichste Gebäude ist die Kathedrale, eine der großartigsten gotischen Kirchen, 113 m lang, 57 m breit, mit einem großen, 90 m hohen Turm, fünf von 88 Pfeilern getragenen Schiffen, 40 Seitenkapellen, prachtvollen Grabmälern, zahlreichen Kostbarkeiten und Kunstschätzen. Die Bibliothek des Domkapitels besitzt viele seltene Handschriften. Der im höchsten Teil der Stadt gelegene Alkazar ist 1887 abgebrannt. Bemerkenswert sind noch: die schöne gotische Kirche San Juan de los Reyes (von 1477) und das anstoßende ehemalige Franziskanerkloster mit herrlichem Kreuzgang, der ehemalige Inquisitionspalast (jetzt Regierungsgebäude), der Palast der Vargas, das Stadthaus, das Hospital mit dem Grabmal seines Gründers, Kardinals Tavera, 2 Thore von arabischer Bauart, 2 hoch gespannte Brücken. Im Mittelalter hatte T. gegen 2000,000, jetzt hat die tote, verlassene Stadt nur noch (1886) 19,775 Einw. Nahe am Tajo liegt die große königliche Waffenfabrik, in welcher die berühmten Toledoklingen, jetzt meist die Waffen für die Armee, verfertigt werden. Außerdem liefert T. Seiden-, Gold- und Silberstoffe (Kirchenparamente) und führt berühmten Marzipan aus. T. hat eine Zentralschießschule und ist Sitz des Gouverneurs und eines Erzbischofs, der den Titel eines Primas von Spanien führt. Hier spricht man das reinste Spanisch (Castellano). Die 1498 gestiftete Universität ist eingegangen. T. hieß zur Römerzeit Toletum, war ein befestigter Ort der Karpetaner im tarrakonensischen Spanien, wurde später römische Kolonie, war schon frühzeitig durch seine Stahlwarenfabrikation berühmt und zu der Zeit Cäsars ein starker Waffenplatz. Unter den Westgoten war es eine Zeitlang (576-711) Residenz der Könige und wurde bedeutend vergrößert. Unter der Herrschaft der Mauren (seit 714) bildete es längere Zeit ein eignes Reich. 1085 eroberte Alfons VI. von Kastilien die Stadt und das Reich und machte erstere zu seiner Residenz. In der Folge war T. der Hauptsitz der Inquisition. Vgl. Gamero, Historia de la ciudad de T. (Tol. 1863).

2) Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Maumee, 7 km oberhalb dessen Mündung in den Eriesee, hat stattliche Kirchen und Schulen, ein Irrenhaus, eine Besserungsanstalt, ein städtisches Gefängnis, großartige Industrie (Bau von Dampfmaschinen, Eisenbahnwagen, Maschinen und landwirtschaftlichen Geräten, Sägemühlen, Schreinerwerkstätten, Kornmühlen), lebhaften Handel, namentlich mit Getreide, und (1880) 50,137 Einw.

Tolentino, Stadt in der ital. Provinz Macerata, am Chienti und am östlichen Abhang des Apennin, von altertümlicher Bauart, hat eine Brücke von 1268, ein Seminar, eine technische Schule, Industrie in Leder, Eisenguß- und Wollwirkwaren und (188l) 4114 Einw. - T. ist das alte Tolentinum im Picenterland und merkwürdig durch den hier 19. Febr. 1797 zwischen Frankreich und Papst Pius VI. abgeschlossenen Frieden, in welchem letzterer Avignon und Venaissin, Bologna, Ferrara und die Romagna an ersteres abtrat, sowie durch den am 2. und 3. Mai 1815 erfochtenen Sieg der Österreicher unter Bianchi über die Neapolitaner unter Murat, infolge dessen letzterer den Thron von Neapel verlor.

Toleránz (lat.), Duldung, insbesondere religiöse, welche den von der Staatskirche abweichenden Glaubensgenossen ungehinderte Religionsübung sichert, wie sie z. B. innerhalb des Christentums gegen die Wiedertäufer, Unitarier, Deutschkatholiken, Freien Gemeinden, aber auch gegen die Bekenner andrer Religionen, in den christlichen Ländern namentlich gegen die Juden, geübt wird. Früher wurden die staats-, privat- und kirchenrechtlichen Verhältnisse solcher tolerierten Bekenntnisse in den einzelnen Staaten oft durch besondere Toleranzedikte (Toleranzpatente) geordnet, wie z. B. in Preußen in Ansehung der Freien Gemeinden durch das Toleranzedikt Friedrich Wilhelms IV. vom 30. März 1847. In Österreich wurde durch das Toleranzeditt Josephs II. von 1781 den Protestanten Religionsfreiheit gewährt. - Im Münzwesen ist T. s. v. w. Remedium (s. d.).

Tolfa, Flecken in der ital. Provinz Rom, Kreis Civitavecchia, hat Alaungruben (bei T. und bei dem nahegelegenen Allumiere), die, im l5. Jahrh. entdeckt, früher noch reichern Ertrag lieferten, und (1881) 3103 Einw.

Tolima, 1) Staat der südamerikan. Republik Kolumbien, umfaßt 47,700 qkm (866,3 QM.) mit (1881) 230,891 Einw. Das Land, vom obern Magdalenenstrom durchflossen und von den beiden Hauptketten der Kordilleren Kolumbiens eingefaßt, gehört meist dem gemäßigten Klima an; das Thal ist reich an Produkten (Tabak, Kakao, Zuckerrohr, Mais), die Viehzucht bedeutend, der Bergbau aber trotz großen Reichtums an Gold, Silber, Kupfer etc. vernachlässigt. Hauptstadt ist Neiva.

2) Pik von T., vulkanischer Gipfel der mittlern Kordillere von Kolumbien, im NW. von Ibagué, 5584 m hoch, höchster Gipfel der Andes nördlich vom Äquator.

Toli-Monastir, türk. Stadt, s. Monastir 1).

Tolkemit, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig, Landkreis Elbing, am Frischen Haff, hat eine kath. Kirche, einen Hafen, Störfischerei, Kaviarbereitung, starken Drosselfang, Böttcherei, Töpferei, Schiffahrt und (1885) 2847 Einw.

Toll, Karl, Graf von, russ. General, geb. 1778 zu Reval, trat 1796 in die russische Armee ein, machte 1799 Suworows Feldzug mit, kam 1805 in den Generalstab, focht bei Austerlitz, dann gegen die Türken, war 1812 Generalquartiermeister Kutusows, 1813 Barclay de Tollys, ward auf dem Schlachtfeld von Leipzig Generalleutnant, 1823 Generaladjutant des Kaisers und Chef des Generalstabs der ersten Armee und 1825 General der Infanterie. An dem Feldzug von 1829 gegen die Türken nahm er als Chef des Generalstabs den ruhmvollsten Anteil. Durch den Sieg 11. Juni bei Kulewtscha erwarb er sich die Grafenwürde. Im polnischen Feldzug von 1831 stand er abermals als Stabschef dem General Diebitsch zur Seite, übernahm nach dessen Tode das interimistische Kommando und leitete beim Sturm auf Warschau 7. Okt. nach Paskewitsch' Verwundung die Operationen des letzten entscheidenden Schlachttags. Hierauf ward er in den russischen Reichsrat berufen und 1833 zum Oberdirigenten der Wasser- und Wegekommunikationen und der öffentlichen Bauten ernannt. Er starb 5. Mai 1842 in Petersburg. Vgl. Bernhardi, Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Grafen von T. (2. Aufl., Leipz. 1866, 4 Bde.).

Tollens, Henrik Caroluszoon, niederländ. Dichter, geb. 24. Sept. 1780 zu Rotterdam, ward

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Tollense - Tollwut.

Kaufmann, widmete sich daneben der Poesie, zog sich 1846 auf sein Landgut zu Rijswijk zurück, wo er 21. Okt. 1856 starb. Seine Erstlingsarbeiten waren mehrere Komödien und ein bürgerliches Trauerspiel: "Konstanten", welche er jedoch später nicht in seine Werke aufnehmen wollte. Darauf veröffentlichte er: "Idyllen en minnezangen" (1801-1805); "Gedichten" (1808-15, 3 Bde.); "Tafereel van de overwintering der Nederlanders op Nova Zembla" (1816; deutsch, Amsterd. 1871); "Romanzen, balladen en legenden" (1818); "Nieuwe gedichten" (1821) und "Laatste gedichten" (1848-53). Eine Gesamtausgabe seiner Werke erschien Leeuwarden 1876, 12. Bde. T. war eine Zeitlang der beliebteste holländ. Dichter, vorzüglich des Mittelstandes; 1860 ward ihm zu Rotterdam ein Standbild errichtet.

Tollense, Nebenfluß der Peene, entspringt oberhalb Prillwitz in Mecklenburg-Strelitz, durchfließt den Tollensesee (11 km lang, 2 km breit), tritt nach Pommern über und mündet bei Demmin; sie ist auf 45 km für kleine Fahrzeuge schiffbar.

Tollgerste, s. v. w. Lolium temulentum.

Tollheit, s. v. w. Geisteskrankheit, besonders eine mit Aufregungszuständen verbundene Form, daher Tollhaus, s. v. w. Irrenhaus; im engern Sinn ist T. s. v. w. Tollwut.

Tollkerbel, f. Conium.

Tollkirsche, s. Atropa.

Tollkrankheit (Darmgicht), Bienenkrankheit, bei der junge Bienen, welche eben erst die Zelle verlassen haben, von den Waben auf das Bodenbrett des Stockes herabfallen, sich zum Flugloch herauswälzen und dann auf der Erde wie rasend umherlaufen, bis sie unter krampfhaften Zuckungen sterben. Verursacht wird die T. durch schädliche Bestandteile der genossenen Nahrung. Bemerkt man der T. ähnliche Erscheinungen an den Flugbienen, so liegt offenbar Vergiftung durch gewissenlose Menschen vor; aus Vorsicht esse man nicht Honig aus Stöcken, an denen man T. wahrnimmt. Durch Füttern gesunden Honigs mildert und beseitigt man das Übel. Der T. nicht unähnlich ist die Flugunfähigkeit (Maikrankheit), bei welcher die Trachtbienen aus dem Flugloch herauskommen, auf die Erde niederstürzen, wo sie wie irrsinnig umherlaufen, bis sie ermattet liegen bleiben und verenden. Ursache dieser Krankheit ist ein Schimmelpilz (Mucor Mucedo) in den Eingeweiden der Bienen. Füttert man gesunden Honig, dem man einige Tropfen Saticylspiritus beimischte, so beseitigt man die Krankheit nach und nach.

Tollkraut, s. Datura und Alropa.

Tollkühnheit unterscheidet sich von Feigheit (s. d.), welche die drohende Gefahr überschätzt, von Tapferkeit (s. d.), welche dieselbe richtig, und von Verwegenheit (s. d.), welche sie unterschätzt, dadurch, daß sie jene gar nicht schätzt, sondern ihr blind entgegengeht.

Tollrübe, s. Bryonia.

Tollwurm (Lyssa), die vom Zungenbeinkörper in die Zunge des Hundes sich fortsetzende Bandmasse, welche früher, besonders von Jägern, als Ursache der Tollkrankheit angesehen und deshalb jungen Hunden häufig ausgeschnitten wurde.

Tollwut (Wutkrankheit, Hundswut, Wasserscheu, Lyssa, Rabies canina), eine Krankheit, welche vermutlich ursprünglich bei Hunden, vielleicht auch bei Wölfen und Füchsen entsteht, gewöhnlich aber infolge von Ansteckung zum Ausbruch gelangt. Sie überträgt sich auf Menschen, alle Säugetiere und Vögel, wird indes fast ausschließlich durch Hunde, bisweilen auch durch Katzen und zwar durch Biß verbreitet, während eine Ansteckung durch andre Tiere weniger zu fürchten ist, da diese in der Krankheit nicht beißen. Die T. der Hunde kommt in zwei Formen, als rasende und stille Wut, vor; nicht selten geht die erste in die zweite über, meist aber besteht die eine Form des Leidens während der ganzen Dauer desselben. Beide Formen sind gleichmäßig ansteckend, und die eine kann die andre hervorrufen. Die T. beginnt mit verändertem Benehmen der Hunde; die Tiere werden mürrisch, hastig, weniger folgsam und verkriechen sich oft. Der Appetit ist vermindert, und bald wird die Aufnahme von Nahrungsmitteln ganz verschmäht. Dagegen zeigt sich gewöhnlich eine Neigung, ungenießbare Gegenstände zu benagen und selbst herabzuschlucken. Auch plätschern die wutkranken Hunde zuweilen mit der Zunge in kaltem Wasser. Die Ansicht, daß die Hunde in der T. Scheu vor dem Wasser hätten, ist unrichtig. Die Neigung, zu beißen, ist zunächst am meisten gegen andre Hunde und gegen Katzen gerichtet. Nicht selten werden aber auch größere Haustiere und Menschen schon in der ersten Zeit der Krankheit angegriffen. Im weitern Verlauf der T. streben die Hunde, sich aus ihrem etwanigen Gewahrsam zu befreien und von der Kette loszumachen. Sie laufen ohne erkennbare Veranlassung fort, schweifen nicht selten in entfernte Gegenden, kehren aber zuweilen noch an demselben oder am folgenden Tag wieder zurück. Sie verkriechen sich dann an abgelegenen Orten, um nach kurzer Ruhe abermals zu entlaufen. Gegen ihnen bekannte Personen benehmen sie sich oft freundlich, während sie fremde Personen und Tiere anfallen. Sie beißen gewöhnlich Menschen und Tiere nur ein- oder einigemal, worauf sie weiterlaufen. Zuweilen ist aber die Beißwut so groß, daß der Hund auf alles, was ihm in den Weg kommt, losfährt und selbst in leblose Gegenstände sich mit den Zähnen einige Zeit lang festbeißt. Die meisten wutkranken Hunde sind schwer abzuwehren, weil sie sich gegen die gewöhnlichen Abwehrmittel unempfindlich zeigen. Die Stimme ändert sich zu einem Mittelding zwischen Bellen und Heulen. Es tritt Schwäche und Lähmung des Unterkiefers und des Hinterteils sowie allmählich zunehmende Abmagerung des Körpers ein. Aus dem offen stehenden Maul fließt zäher Schleim. Die Hunde ziehen sich nach dunkeln Orten zurück oder verkriechen sich in ihren Behältern. Die Lähmung des Körpers nimmt zu, u. der Tod erfolgt in der Regel nach 5 -7 Tagen. Über elf Tage sah man bis jetzt keinen Hund bei T. leben bleiben. Bei der rasenden Wut tritt unter den vorstehenden Erscheinungen besonders hervor: die große Unruhe, die Neigung zum öftern Entlaufen, die große Beißsucht, das häufige eigentümliche Bellen und die kürzere Dauer der Krankheit. Bei der stillem Wut sind sehr bemerkenswert: die Lähmung (Herabhängen) des Unterkiefers, Schwäche und Lähmung des Hinterteils, mehr ruhiges Verhalten, geringere Beißsucht, das Verkriechen an dunkeln Orten und im allgemeinen eine längere Krankheitsdauer. Die Meinung, daß tolle Hunde immer geradeaus laufen, den Schwanz hängen lassen oder ihn zwischen die Beine ziehen, und daß bei ihnen Speichel aus dem Maul abfließt, ist irrig. Erst später, wenn die Kreuzlähmung sich einstellt, hängt der Schwanz schlaff herab, das Maul aber ist bei tollen Hunden mehr trocken als feucht. Das eigentümlichste und wichtigste Zeichen der T. ist die Veränderung der Stimme und der Art des Bellens. Die Töne sind bald höher, bald tiefer als im gesunden Zustand, immer etwas rauh und heiser, und der erste Anschlag des Bellens geht allemal in ein kurzes Geheul über.

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Tollwut.

Die Ursachen der primären Erzeugung der T. sind nicht bekannt; ist eine solche überhaupt möglich, so erfolgt sie jedenfalls sehr selten, sekundär entsteht die Krankheit durch Einimpfung des Speichels, an welchen das Kontagium hauptsächlich gebunden ist, in die Bißwunde. Bei hoher Entwickelung der Krankheit findet sich das Kontagium aber auch im Blut, Harn und andern Säften des Hundes. Die Verdauungsorgane und die unverletzte Haut scheinen keine besondere Empfänglichkeit für dasselbe zu besitzen. Das Kontagium ist fix, hängt sich auch an Instrumente, Kleidungsstücke etc. an und behält einige Zeit seine Wirksamkeit. Bei Wiederkäuern und Schweinen entsteht T. immer nur durch den Biß eines tollen Hundes, Fuchses oder andern fleischfressenden Tiers, das Kontagium kann aber auch von Pflanzenfressern auf andre Tiere und auf den Menschen übertragen werden. Der Ausbruch der Krankheit erfolgt nach dem Biß bei Hunden zwischen der 4. und 6. Woche, selten nach 3-6 Tagen oder nach 8-16 Wochen, ganz ausnahmsweise noch später. Nicht jeder Biß eines tollen Hundes erzeugt T., besonders dann nicht, wenn die Zähne durch den Pelz des gebissenen Tiers oder durch dicke Kleider des Menschen abgewischt, von Speichel befreit werden. Zuweilen wird auch das Kontagium durch reichlich fließendes Blut fortgespült, oder es fehlt bei dem betreffenden Individuum die Disposition. Die Behandlung wutkranker Hunde und Katzen ist wegen der damit verbundenen Gefahr in den meisten Ländern gesetzlich verboten, übrigens auch erfolglos. Es kommt hauptsächlich darauf an, die Krankheit und ihre Folgen zu verhüten. Dies geschieht am wirksamsten durch möglichst hohe Hundesteuer. Nach dem deutschen Viehseuchengesetz ist von jedem Fall von T. der Polizei sofort Anzeige zu machen. Hunde, welche der T. verdächtig sind, sind sofort zu töten oder bis zu polizeilichem Einschreiten abgesondert in einem sichern Behältnis einzusperren. Letzteres, soweit es ohne Gefahr geschehen kann, besonders dann, wenn der verdächtige oder an der T. erkrankte Hund einen Menschen oder ein Tier gebissen hat. Ist die T. festgestellt, so ist der Hund sofort zu töten, ebenso alle Hunde und Katzen, welche von demselben gebissen worden sind. Ist ein erkrankter oder verdächtiger Hund frei umhergelaufen, so ist die Festlegung aller Hunde des gefährdeten Bezirks für drei Monate anzuordnen. Dasselbe gilt für Katzen. Kadaver toller Hunde sind vorsichtig an abgelegenem Ort mindestens 2 m tief zu vergraben. Die Berührung mit der bloßen oder gar mit verletzter Hand ist sorgfältig zu vermeiden. Alles, was mit dem tollen Hund in Berührung gekommen war oder von ihm besudelt wurde, ist zu verbrennen oder auszuglühen. Größere Massen von Geifer, Blut etc. übergießt man mit starker Seifensiederlauge, Chlorkalklösung oder Schwefelsäure. Die Hundehütte ist zu verbrennen, der Stall gründlich zu reinigen und zu desinfizieren, und niemals darf vor Ablauf von zwölf Wochen ein neuer Hund in denselben gebracht werden. Pferde, Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Vögel, die von einem wutkranken Tier gebissen wurden, sind sobald wie möglich tierärztlicher Behandlung und zugleich einer Beaufsichtigung zu unterwerfen. Kommt die Krankheit zum Ausbruch, so ist der Polizei Anzeige zu erstatten, welche das Tier töten läßt. Die Kadaver sind wie die der Hunde zu behandeln, sie sind ohne Abhäutung tief zu vergraben oder durch Chemikalien, resp. hohe Hitzegrade unschädlich zu machen. Ein Ersatz des Wertes der auf polizeiliche Anordnung getöteten Tiere findet nicht statt. Die Gesetzgeber haben sich gegenüber dieser Frage von dem Gesichtspunkt leiten lassen, daß die T. nach ihrem Ausbruch nur wenige Tage besteht, stets zum Tod führt und deshalb nicht wie Rotz und Lungenseuche längere Zeit verheimlicht werden kann. In Preußen erkrankten und fielen an T. oder wurden deshalb getötet 1884-85: 352, 1885-86: 326, 1886-87: 386 Hunde. Die steigende Zahl der getöteten Hunde, welche mit tollkranken in nähere Beziehung gekommen oder von solchen gebissen worden waren (759, 822, 1247), zeigt, daß diese Maßregel eine ihrer Wichtigkeit entsprechende Beachtung gesunden hat. Von den tollwutkranken ortsangehörigen Hunden entfällt ein so großer und beständig steigender Prozentsatz (bis 86,79 Proz.) auf die östlichen Provinzen, und von diesen ist wieder ein so großer Teil von herrenlos umherschweifenden tollwutkranken Hunden gebissen worden, daß man wohl annehmen darf, die steigende Verbreitung der T. in den östlichen preußischen Provinzen sei auf stets erneute Einschleppung aus Rußland zurückzuführen. Jedenfalls aber ist der Verbreitung der Seuche in diesen Provinzen förderlich, daß hier häufiger als anderwärts viele nutzlose, schlecht gepflegte und wenig beaufsichtigte Hunde gehalten werden. Ferner sind von 1884 bis 1887 in Preußen an T. erkrankt und gefallen, bez. getötet worden: 23 Pferde, 348 Rinder, 80 Schafe und 52 Schweine.

Beim Menschen entsteht die T. ebenfalls nur nach dem Biß eines wutkranken Fleischfressers (Hund, Wolf, Fuchs, Katze) und zwar nach 2-6 Wochen, auch wohl nach einigen Monaten, so daß die Wunde längst geheilt sein kann, wenn die Krankheit ausbricht. Im ersten Stadium derselben sind die Kranken sehr unruhig, ängstlich und matt, sie verlieren den Appetit, klagen über Übelkeit und Gliederschmerzen, und es stellt sich leichtes Fieber mit Durst und Verstopfung ein. Eitert die Wunde noch, so nimmt sie ein häßliches Ansehen an; war sie bereits geheilt, so wird sie wieder schmerzhaft, und die Schmerzenziehen sich nach dem Stamm hin. Bald entsteht Steifigkeit in Hals und Nacken, namentlich beim Schlingen; der Kopf wird eingenommen, das Gesicht blaß, der Blick matt, der Puls voll und beschleunigt. Allmählich oder plötzlich entwickelt sich nun das zweite Stadium mit immer heftigern und häufigern Anfällen mit krampfhaften Bewegungen, großer Angst, Verzweiflung, Wut und meist nur geringer Störung des Bewußtseins. Die Kranken haben das Bedürfnis zu beißen, und manche laufen unruhig hin und her. Sie haben heftigen Durst, aber Widerwillen gegen jedes Getränk. Mitunter tritt schon beim Anblick des Getränks oder doch nach Genuß von wenig Wasser das Gefühl heftiger Zusammenschnürung im Hals oder ein Wutanfall ein, während feste Speisen noch geschlungen werden können. Im dritten Stadium, etwa 1-2 Tage später, tritt Lähmung ein, der Speichel läuft aus dem Mund oder in den Schlund und erregt Erstickungsnot, der Atem wird schnell und röchelnd, der Puls klein, die Stimme rauh und heiser, und der Tod erfolgt in einem Anfall oder ruhig nach einem solchen. Dies Stadium dauert nur wenige Stunden, und so verläuft die ganze Krankheit in 3 Tagen, oft in 24 Stunden. Die Sektion ergibt nichts Besonderes, nur die Schwellung der Milz und der lymphatischen Gebilde ist bemerkenswert. Die Prognose der ausgebrochenen T. ist ganz ungünstig, dagegen sind überhaupt nur wenige Bisse eines tollen Hundes ansteckend, die Mehrzahl der Gebissenen erkrankt nicht. In Preußen starben 1884-87 an T.

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Tolmezzo - Tolstoi.

sechs Personen. Die Behandlung muß mit energischem Ausblutenlassen der Wunde durch tiefe Einschnitte und aufgesetzte Schröpfköpfe, Ätzungen der Wunde mit Alkalien und rauchender Salpetersäure beginnen. Kleinere, vielfach zerfleischte Glieder sind zu amputieren. Außerdem ist eine umsichtige, beruhigende psychische Behandlung unendlich wichtiger als alle Arzneien. In der Diät ändere man wenig und lasse nur die bei jeder Wunde schädlichen Dinge vermeiden. Gegen die Krankheit selbst sind allerlei Mittel empfohlen worden, die sich aber als nutzlos erwiesen haben. Man beschränkt sich daher auf Morphiumeinspritzungen und Chloroformeinatmungen, sucht bei Wutanfällen zu verhindern, daß der Kranke sich oder andern schaden kann, und wendet dabei möglichst geringen Zwang an. Alles, was den Kranken erregen könnte, namentlich auch das Aufdringen von Flüssigkeiten, ist zu vermeiden. Als Ersatz des Getränks sind nasse Brotkrume, Apfelsinenscheiben, Eisstückchen, Klystiere zu empfehlen, doch nur dann, wenn sie keine Krämpfe erregen. In neuerer Zeit hat Pasteur auf theoretische Annahmen hin ein Impfverfahren ersonnen, welches die Empfänglichkeit für das unbekannte Wutgift selbst bei schon gebissenen Personen beseitigen soll und bei Tieren, auch in mehreren Fällen bei Menschen erprobt wurde. Er arbeitet mit dem getrockneten Rückenmark tollwutkranker Kaninchen und benutzt dies zu präventiven Impfungen. Dabei erreichte er, daß ein geschütztes Tier ohne Schaden mit solchem frischen Rückenmark geimpft werden konnte, welches bei ungeschützten Tieren in sieben Tagen T. erzeugte. Thatsache ist, daß alle Personen, welche Pasteur geimpft hat, die Impfung ohne Schaden ertrugen, und daß keine derselben, obwohl sie von verdächtigen Hunden gebissen worden waren, an T. erkrankte. Ein Urteil über den wahren Wert dieser Impfungen läßt sich aber bis jetzt nicht fällen, denn erstens ist die Methode nicht frei von erheblichen Einwänden, ferner ist bei mehreren der geimpften Personen sehr zweifelhaft, ob der Hund, welcher sie biß, wirklich an T. litt, endlich lehrt die Erfahrung, daß viele Menschen, welche von unzweifelhaft wutkranken Tieren gebissen wurden, niemals an T. ertranken. Vgl. Johnen, Die Wutkrankheit (Düren 1874); Zürn, Die Wutkrankheit der Hunde (Leipz. 1876); Rueff, Die Hundswut (Stuttg. 1876); Fleischer, Die Tollwutkrankheit (Elbing 1887); Reder, Die Hundswut (in der "Deutschen Chirurgie", Stuttg. 1879); Billings, Fourteen days with Pasteur (New York 1886).

Tolmezzo, Distriktshauptstadt in der ital. Provinz Udine, im Gebirge nahe dem Tagliamento, mit Ringmauern, stattlicher Kirche, altem Schloß und (1881) 1658 Einw.; einer der regenreichsten Orte Europas (jährlich 2437 mm).

Tolna, ungar. Komitat, am rechten Donauufer, wird südlich vom Komitat Baranya, westlich von Sümeg, nördlich von Veszprim und Weißenburg und östlich von der Donau begrenzt, ist 3643 qkm (66,17 QM.) groß, eben und sehr fruchtbar, im W. bergig und hügelig, in den östlichen Teilen dagegen morastig. Das Komitat, welches der Sárviz (mit dem Sárviz- oder Palatinalkanal) und seine Nebenslüsse Kapos und Sió durchströmen, erzeugt viel Getreide, Wein, Obst, Tabak etc. Ausgedehnte Wiesen und Hutweiden begünstigen die Viehzucht; in der Donau wird beträchtlicher Hausenfang betrieben. Die Einwohner (1881: 234,643) sind meist Ungarn und katholisch. Sitz des Komitats ist Szegszárd. Der Markt T., an der Donau, hat ein Kastell, eine Dampfschiffstation und (1881) 7723 Einw. Vgl. "Beschreibung der Herrschaft T." (Wien 1885).

Tolosa, 1) Bezirksstadt in der span. Provinz Guipuzcoa, an der Bahnlinie Madrid-Irun, mit Papier-, Waffen- und Wollzeugfabriken, Zink- und Bleigruben und (1878) 7488 Einw. -

2) Stadt, s. Toulouse.

Tölpel, Pflanze, s. v. w. Raps.

Tölpel (Sula Briss.), Gattung aus der Ordnung der Schwimmvögel und der Familie der T. (Sulidae), schlank gebaute Vögel mit langem, geradem, an den Seiten komprimiertem, sehr starkem und in eine wenig herabgekrümmte Spitze ausgehendem Schnabel, sehr langen Flügeln, langem, keilförmigem Schwanz, niedrigen, stämmigen Füßen, nacktem Gesicht und nackter Kehle. Der T. (weißer Seerabe, Bassansgans, Sula bassana Gray), 98 cm lang, 190 cm breit, mit Ausnahme der braunschwarzen Schwingen erster Ordnung weiß, auf Oberkopf und Hinterhals gelblich überflogen, mit gelben Augen, bläulichem Schnabel, grünen Füßen und schwarzer, nackter Kehlhaut, bewohnt alle nördlichen Meere vom Wendekreis bis zum 70.° nördl. Br., kommt vereinzelt in die Nähe Norddeutschlands, Hollands und Frankreichs, ist aber am häufigsten auf Island, den Färöern, Orkaden und Hebriden, an der amerikanischen Küste und im nördlichen Teil des Stillen Ozeans, fliegt vortrefflich, schwimmt wenig, ruht nachts auf Felsen an der Küste, ist auf dem Land sehr unbeholfen und fast hilflos. Andern Vögeln gegenüber ist er zänkisch und bissig. Er erbeutet seine Nahrung, indem er auf das Wasser herabstürzt und dabei taucht. Die T. sammeln sich zur Brutzeit auf Inseln in unzähligen Scharen, nisten dicht nebeneinander und legen nur je ein weißes Ei. Die Jungen werden gegessen, nach Edinburg auf den Markt gebracht, auch eingesalzen.

Tolstoi, 1) Peter Andrejewitsch, Graf, hervorragender Diplomat in der Zeit Peters d. Gr., geb. 1645, hielt sich, um das Seewesen zu studieren, 1698 in Italien auf, wirkte als Gesandter längere Zeit in der Türkei, setzte 1717 die Auslieferung des auf österreichisches Gebiet geflüchteten Zarewitsch Alexei durch und nahm während der Regierung Katharinas I. die erste Stelle neben Menschikow ein, dessen Opfer er wurde; 1727 geheimer Umtriebe angeklagt, wurde er in den äußersten Norden des europäischen Roland verbannt, wo er 1729 starb.

2) Peter Alexandrowitsch, Graf, russ. Feldherr und Diplomat, geb. 1761, focht unter Suworow gegen die Türken und Polen, befehligte 1805 das russische Landungskorps in Norddeutschland, führte 1813 ein Korps in Bennigsens Armee, nahm an der Belagerung von Dresden teil und erzwang dann Hamburgs Übergabe. Zum General der Infanterie ernannt, erhielt er nach Nikolaus' Thronbesteigung die Leitung der Militärkolonien und 1831 den Oberbefehl über das Reserveheer, mit welchem er die Polen schlug. Er starb 1844 in Moskau als Präsident des Departements für die Militärangelegenheiten im Reichsrat.

3) Alexei Konstantinowitsch, Graf, der bedeutendste russ. Dramatiker der Neuzeit, zugleich ausgezeichneter Lyriker und Epiker, geb. 24. Aug. 1818 zu St. Petersburg, verbrachte seine Jugend meist in Kleinrußland, wo ihn die schöne Natur sowie die eigentümlichen Sitten und die reiche historische Vergangenheit des Volkes mächtig anregten. Schon als Kind lernte er, von seinem Oheim A. Perowskij bei seinen Reisen ins Ausland stets mitgenommen, Welt und Menschen kennen und hatte sich unter anderm auch des Wohlgefallens Goethes zu erfreuen, der dem

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Tolteken - Tolubalsam.

phantasievollen Knaben eine große Zukunft prophezeite. Nach Beendigung der häuslichen Erziehung studierte er in Moskau und übernahm nach Vollendung seiner Studien einen kleinen Posten bei einer russischen Gesandtschaft in Deutschland. Die diplomatische Karriere sagte ihm jedoch nicht zu; schon nach kurzer Zeit jenen Posten aufgebend, begab er sich auf Reisen nach Deutschland, Frankreich und Italien und begann nach seiner Rückkehr seine litterarische Thätigkeit. Seine ersten Versuche bestanden in lyrischen Gedichten, die durch das in ihnen ausgesprochene tiefe Gefühl, durch die originellen Wendungen, die Frische und Schönheit der Naturschilderungen und die innige Liebe zum Volk große Beachtung fanden. Dem allgemeinen patriotischen Aufschwung folgend, trat T. während des Krimkriegs 1853-56 in das aktive Heer, zog sich aber sofort nach Beendigung des Feldzugs wieder ins Privatleben zurück, um auf seinen Gütern in der Nähe von St. Petersburg und im Gouvernement Tschernigow ganz der Dichtung zu leben. Er starb in der Blüte seiner Kraft 28. Sept. 1875. "T. war ein großer, originaler Dichter, eine tief humane Natur", heißt es von ihm in einem von Turgenjew geschriebenen Nekrolog. Neben vielen lyrischen Gedichten (in Auswahl mit denen Nekrassows deutsch von Jessen, Petersb. 1881), von denen manche in glücklichster Weise den Ton des Volksliedes treffen, müssen in erster Reihe genannt werden die epischen Erzählungen: "Die Sünderin" (1858) u. "Der Drache" (1875); der vortreffliche historische Roman "Fürst Serebrennyi" (deutsch, Berl. 1882), das Drama "Don Juan", eine interessante, durchaus originale Variation des bekannten Stoffes, und die dramatische Trilogie: "Der Tod Iwans des Schrecklichen", "Zar Fjodor Joannowitsch" u. "Zar Boris" (1876). Eine vollständige Sammlung seiner lyrischen und epischen Dichtungen erschien 1878.

4) Leo Nikolajewitsch, Graf, russ. Romanschriftsteller, geb. 28. Aug. (a. St.) 1828 im Gouvernement Tula auf der Besitzung seines Vaters, Jasnaja Poljana, erhielt daselbst eine gute häusliche Erziehung und bezog 1843 die Universität Kasan, um dort orientalische Sprachen zu studieren. Es zog ihn jedoch wieder zurück in die Einsamkeit und Stille des Dorfs, so daß er die Universität, die Studien aufgebend, bald verließ; dort bildete er sich als Autodidakt weiter aus. Bei einer Reise in den Kaukasus fand er am militärischen Leben Gefallen und trat plötzlich 1851 in das Heer ein. Man nahm ihn als Offizier in die 4. Batterie der 20. Artilleriebrigade am Terek auf, wo er bis zum Beginn des türkischen Kriegs (1853) blieb. Während desselben befand er sich bei der Donauarmee des Fürsten Gortschakow, beteiligte sich am Gefecht an der Tschernaja und erhielt 1855 das Kommando über eine Gebirgsbatterie. Nach Beendigung des Kriegs nahm er seinen Abschied, hielt sich mehrere Jahre abwechselnd in St. Petersburg und Moskau auf und zog sich endlich 1861 wieder auf sein väterliches Gut Jasnaja Poljana zurück, wo er seitdem in größter Zurückgezogenheit lebte. Durch seine beiden großartigen Romane: "Krieg und Frieden" (1865-68, 4 Bde.) und "Anna Karenin" (1875-78, 3 Bde.), von denen der erstere die Zeit der Napoleonischen Kriege behandelt, der andre in der russischen Gegenwart spielt, hat sich T. einen Ehrenplatz in der modernen russischen Litteratur erworben. Er ist ein vortrefflicher Erzähler, der die echte epische Ruhe besitzt und die Sprache meisterhaft handhabt. Außer den genannten Romanen sind als bedeutsame Werke noch zu verzeichnen (seit Anfang der 50er Jahre): "Kindheit und Jugend", "Die Kosaken", "Kriegsgeschichten", "Sebastopoler Erzählungen" (während des Kriegs geschrieben), "Polikuschka", "Familienglück"; die Skizze "Der Tod des Iwan Iljitsch" (deutsch in "Tolstois neue Erzählungen", Leipz. 1887); das dramatische Sittengemälde "Die Macht der Finsternis" (deutsch von Scholz, Berl. 1887) u. a. In den letzten Jahren ist T. mehr und mehr einem religiösen Mystizismus anheimgefallen, wie z. B. sein Aufsehen erregendes Buch "Worin besteht mein Glaube" (deutsch von Sophie Behr, Leipz. 1885) zeigt. Gesamtausgaben seiner meist auch ins Deutsche übersetzten Werke erschienen 1880 und 1887. Sonst ist T. noch auf dem Gebiet der Volkspädagogik, auch litterarisch, thätig gewesen.

5) Dimitri Andrejewitsch, Graf, russ. Staatsmann, geb. 1823, ward beim Marineministerium angestellt, 1865 Oberprokurator des heiligen Synod und 1866 Minister der Volksaufklärung. Er zeigte sich als ein fanatischer Vorkämpfer des orthodoxen Russentums. Die mitunter gewaltsame Bekehrung der Griechisch-Unierten zur russischen Staatskirche, die Unterordnung der Katholiken Rußlands unter das römisch-katholische Kollegium in Petersburg, die Russifizierung der polnischen Schulen waren sein Werk. Im Unterrichtswesen begünstigte er den Klassizismus, machte sich aber durch seine Feindschaft gegen die Volksschule und seine kleinliche Bevormundung der Universitäten verhaßt und erhielt daher 1880 unter Loris-Melikow seine Entladung. Auf Betrieb Katkows ernannte ihn Kaiser Alexander 1882 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und 1883 zum Minister des Innern. Er leitete dies Amt ganz im Geiste des Zaren streng reaktionär und starb 7. Mai 1889 in Petersburg. Er schrieb eine Geschichte der Finanzen Rußlands bis Katharina II. (1847) und "Le catholicisme romain en Russie" (1863-64); von dem letztern Werk erschien 1877 eine russische Bearbeitung.

Tolteken (Tolteca), amerikan. Volksstamm, wanderte im 4. oder 5. Jahrh. von einem nördlichern Land, Huehuetlapallan, aus in Anahuac ein und gründete hier um die Mitte des 7. Jahrh. die Stadt Tollan (Tula). Durch Eroberung und friedliche Übereinkunft erweiterten die T. bald ihr Gebiet und gelangten auf eine ziemlich hohe Stufe der Kultur, welche im allgemeinen das Gepräge der spätern aztekischen trägt, und von welcher großartige Bauten in Anahuac noch Kunde geben. Im 4. Jahrh. seines Bestehens stand ihr Reich auf der höchsten Stufe seiner Macht, seitdem sing es infolge unglücklicher Kriege und ungünstiger Naturereignisse an zu sinken. Unter dem König Topiltzin (Mitte des 11. Jahrh.) wurde das Land durch Hungersnot und Krankheit entvölkert, und die übriggebliebenen siedelten sich teils in benachbarten Landschaften an, teils verschmolzen sie mit den Chichimeken, die 100 Jahre später hier einwanderten, bis die Azteken (s. d.) an ihre Stelle traten. Vgl. Valentini, The Olmecas and the Tultecas (Worcester 1883).

Tolú, Stadt im Staat Bolivar der südamerikan. Republik Kolumbien, am Golfo de Morrosquillo, mit verfallenen Festungswerken, Aussuhr von Palmöl, Getreide, Holz, Tolubalsam und (1870) 3013 Einw.

Tolubalsam (Opobalsam), harzig-balsamische Substanz, welche von dem in Südamerika heimischen Baum Myroxylon toluifera H. B. Kth. aus Einschnitten in den Stamm gewonnen wird, ist srisch terpentinartig, braungelb, durchsichtig, erstarrt mit der Zeit kristallinisch und gibt dann ein gelbliches Pulver. Er riecht feiner als Perubalsam, schmeckt

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Toluca - Tomek.

aromatisch, wenig kratzend, löst sich in Alkohol und Äther und besteht aus einem Kohlenwasserstoff, Tolen, Harzen, Benzoesäure und Zimtsäure. Man benutzt den T. als Räuchermittel und zur Bereitung eines aromatischen Sirups. Der T. wurde zuerst durch Monardes bekannt, scheint aber noch lange eine Seltenheit geblieben zu sein und findet sich erst im 17. Jahrh. in deutschen Apothekertaxen.

Tolúca (Toloccan), Hauptstadt des mexikan. Staats Mexiko, 2680 m ü. M. gelegen, hat eine schöne Kathedrale, Theater, höhere Schule, Seifen-, Schminke- und Kerzenfabrikation, bedeutende Schweinezucht, Handel mit Würsten und Schinken und (1880) 11,376 Einw. Südwestlich davon liegt der 4570 m hohe Nevado de T. (Xinantecatl), ein ausgebrannter Vulkan mit einem Kratersee in der Höhe von 4090 m.

Toluidin, s. Toluol.

Toluidinblau, s. Anilin.

Toluifera, s. Myroxylon.

Toluol (Methylbenzol, Benzylwasserstoff) C7H8 findet sich im leichten Steinkohlenteeröl und wird daraus durch fraktionierte Destillation gewonnen, entsteht auch bei trockner Destillation des Kampfers, Tolubalsams, Drachenbluts etc., bei Behandlung eines Gemisches von Monobrombenzol und Methylbromür mit Natrium etc. Das aus Steinkohlenteer gewonnene T. des Handels ist ein Gemisch von Benzol und T. in Verhältnissen, wie sie den Zwecken der Industrie entsprechen. Reines T. bildet eine farblose, dem Benzol sehr ähnliche Flüssigkeit vom spez. Gew. 0,882, riecht angenehm aromatisch, löst sich nicht in Wasser, wenig in Alkohol, leicht in Äther, erstarrt noch nicht bei -20°, siedet bei 111° und brennt mit leuchtender Flamme; mit Chromsäure liefert es Benzoesäure, mit konzentrierter Salpetersäure zwei isomere Nitrotoluole C7H7NO2, ein kristallisierbares (Paranitrotoluol), welches bei 54° schmilzt und bei 237° siedet, und ein flüssiges (Orthonitrotoluol) vom spez. Gew. 1,163, welches bei 227° siedet und nach Bittermandelöl riecht. Bei Behandlung mit reduzierenden Substanzen liefert das Gemisch der Nitrotoluole zwei Toluidine C7H7.NH2, von welchen das Paratoluidin farblose Kristalle bildet, bei 45° schmilzt und bei 198° siedet, während das flüssige Orthotoluidin (Pseudotoluidin) vom spez. Gew. 1,0 nicht bei -20° erstarrt und bei 199° siedet. Dies Toluidin wird durch Chlorkalklösung violett gefärbt, ersteres nicht. Die Toluidine entsprechen dem Anilin und verhalten sich demselben sehr ähnlich, bilden namentlich auch mit Säuren Salze. Aus salzsaurem Orthotoluidin scheidet Eisenchlorid einen blauen Körper (Toluidinblau) ab. Die Toluidine spielen eine wichtige Rolle bei der Darstellung der Anilinfarben (vgl. Anilin), das T. ist der Ausgangspunkt für die Darstellung vieler Verbindungen, z. B. der Benzoesäure, des künstlichen Indigos etc.

Tölz, Flecken und Bezirksamtshauptort im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, am Austritt der Isar aus den Alpen und an der Linie Holzkirchen-T. der Bayrischen Staatsbahn, 671 m ü. M., hat eine evangelische und 4 kath. Kirchen, ein Franziskanerkloster, ein Kriegerdenkmal zur Erinnerung an den Sieg der deutschen Landsknechte bei Pavia (1525), deren Führer Georg Frundsberg und Kaspar Winzerer in T. geboren waren, elektrische Beleuchtung, ein Amtsgericht, Holzhandel, Flößerei, Kreidebrüche, Zementfabrikation, Ziegelbrennerei und (1885) 3796 Einw. Dabei das Bad Krankenheil mit mehreren jod- und schwefelhaltigen, doppeltkohlensauren Natronquellen von 7,5-9° C., welche besonders gegen skrofulöse Leiden, Anschwellungen der Leber und Milz, chronische Gebärmutterentzündung, chronische Katarrhe der Nase, des Rachens und des Kehlkopfes, Leiden der Harnwerkzeuge und chronische Hautkrankheiten empfohlen werden. Vgl. Höfler, Bad Krankenheil zu T. (2. Aufl., Freiburg 1889); Derselbe, Führer von T. und Umgebung (5. Aufl., Münch. 1886); Letzel, Der Kurgast von Krankenheil (Tölz 1888).

Tom., Abkürzung für Tomus (s. d.).

Tomahawk (spr. -hahk), die Streitaxt der nord-amerikan. Indianer, gilt als Symbol des Kriegs; daher den T. begraben, s. v. w. Frieden halten.

Toman (Tomaund, Tomond), pers. Goldmünze, ursprünglich dem Dukaten gleich, wird in 10 Kran à 2 Panabat à 10 Schahi (4 Schahi = 1 Abassi) eingeteilt und enthält gesetzmäßig 3,376 g fein Gold im Wert von 9,419 Mk.

Tomaschek, Johann Wenzel, Musiklehrer und Kompon ist, geb. 17. April 1774 zu Skutsch in Böhmen, erhielt den ersten Violin- und Gesangunterricht in Chrudim, besuchte dann die Schule des Klosters Iglau und bezog die Universität Prag, um die Rechte zu studieren, wandte sich aber bald ganz der Musik zu und wurde, nachdem er sich durch eingehende theoretische Studien weitergebildet, der angesehenste Musiklehrer Prags. Schüler von ihm sind: Dreyschock, Kittel, Schulhoff u. a. T. war auch ein fleißiger und gediegener Komponist; im Druck erschienen von ihm eine Orchestermesse, Kantaten, Lieder, eine Symphonie, ein Klavierkonzert, ein Streichquartett, ein Trio, fünf Klaviersonaten und andre Klavierstücke. Er starb 3. April 1850 in Prag.

Tomaschow, 1) Stadt im russisch-poln. Gouvernement Petrokow, an der Pilitza und der Bahnlinie Koluszki-Ostrowez, hat eine protestantische und eine kath. Kirche, viele Tuchfabriken und (1885) 16,349 Einw. -

2) Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Lublin, mit Porzellanfabrik, regem Grenzverkehr mit Österreich und (1885) 5784 Einw.

Tomate, s. Lycopersicum.

Tombak, s. Messing; weißer T., s. v. w. Weißkupfer.

Tombara, s. Neubritannia-Archipel, S. 70.

Tombigbee River (spr. tombiggbi riwwer), Fluß im nordamerikan. Staat Alabama, vereinigt sich nach einem Laufe von 730 km mit dem Alabama zum Mobile River (s. d.) und ist bis Columbus (Mississippi) 670 km oberhalb Mobile schiffbar. Sein Hauptzufluß ist der Black Warrior River, der bis Tuscaloosa fahrbar ist.

Tombola (ital.), ein in Italien übliches Lottospiel, bei welchem die Lose aus einer Trommel gezogen werden; wird namentlich bei Volksfesten von der auf öffentlichen Plätzen versammelten Volksmenge gespielt.

Tombuktu, Stadt, s. Timbuktu.

Tomé (El T.), Hafenstadt im südamerikan. Staat Chile, Provinz Concepcion, an der Nordseite der Talcahuanabai, hat eine Wolltuchfabrik, Schiffswerfte und (1875) 3529 Einw.

Tomek, Wáclaw Wladiwoj, böhm. Historiker, geb. 31. Mai 1818 zu Königgrätz, seit 1850 Professor an der Universität in Prag, ging 1882 an die neue tschechische Universität daselbst über, war 1861-66 Mitglied des böhmischen Landtags und des österreichischen Reichsrats und ist seit 1885 Mitglied des Herrenhauses. Er schrieb auf Palackys Betrieb eine vortreffliche Geschichte Prags (1855 ff., Bd. 1-7). Von seinen übrigen Büchern sind noch zu nennen: "Deje zemr ceské" (1843); "Deje mocnáestvi Rakouského" (1845); "Dejepis university Prazske" (1848); "Zák-

748

Tomi - Ton.

lady starého mistopisu Prazského" (1865); dann "Geschichte Böhmens in übersichtlicher Darstellung" (deutsch vom Verfasser, Prag 1864-65); "Die Grünberger Handschrift" (übersetzt von Maly, das. 1859); "Handbuch der österreichischen Geschichte" (das. 1859, nur Band 1); "Johann Zizka" (deutsch, das. 1881).

Tomi, im Altertum Stadt in Untermösien, am Pontus Euxinus, bekannt als Verbannungsort des Dichters Ovid; das jetzige Constanza (s. d.).

Tomleschg, Thal, s. Hinterrhein.

Tommaseo, Niccolò, ital. Schriftsteller, geb. 1802 zu Sebenico in Dalmatien, studierte zu Padua die Rechte, folgte aber seiner Neigung für die Litteratur, war seit 1827 in Florenz journalistisch thätig und ging 1833 nach Frankreich. Im folgenden Jahr veröffentlichte er seine Schrift "Dell' educazione" (1834), die binnen zwei Jahren drei Auflagen erlebte, ferner die politische Schrift "L'Italia" (1835) und einen Roman: "Il duca d'Atene" (1836). Von 1838 an lebte er in Venedig, wo ein Jahr vorher sein trefflicher "Kommentar zu Dante" erschienen war, und wo er weiterhin seine "Nuovi scritti" (1839-1840, 4 Bde.) und "Studj critici" (1843, 2 Bde.) sowie seine große, mit Recht berühmte Sammlung "Canti popolari toscani, corsici, illirici, greci" (1843, 2 Bde.) veröffentlichte. Auch ließ er eine Bearbeitung der auf die Geschichte Frankreichs im 16. Jahrh. bezüglichen Gesandtschaftsberichte (1838, 2 Bde.) erscheinen und gab die "Lettere di Pasquale de' Paoli" (1846) heraus. Seine streng katholische Gesinnung hinderte ihn nicht, sich 1848 zur liberalen und nationalen Partei zu bekennen. Infolge seines freimütigen Auftretens mit Manin verhaftet, aber vom Volke gewaltsam befreit und als Minister des Unterrichts mit Manin an die Spitze der provisorischen Regierung gestellt, verließ er die Stadt vor dem Einzug der Österreicher und begab sich nach Korfu, wo eine Krankheit seine Erblindung zur Folge hatte. 1852 veröffentlichte er zu Mailand seinen sehr interessanten psychologischen Roman "Fede e bellezza", der mehrmals neu aufgelegt wurde. 1854-59 lebte er in Turin, von da an zu Florenz, wo er 1. Mai 1874 starb. Von seinen weitern Publikationen sind hervorzuheben: "Le lettere di Santa Caterina di Siena" (1860, 4 Bde.); eine Sammlung seiner politischen Schriften: "Il secondo esiglio" (1862, 3 Bde.); "Sulla pena di morte" (1865) und "Nuovi studj su Dante" (1865). Äußerst verdienstvoll ist sein "Dizionario di sinonimi della lingua italiana" (7. Aufl. 1887, 2 Bde.), geschätzt auch sein "Leben Rosminis" und sein "Dizionario estetico" (neue Aufl. 1872). T. war einer der angesehensten Schriftsteller seiner Zeit, vielseitigen und lebhaft beweglichen Geistes und von großem Einfluß als Kritiker. Vgl. Bernardi, Vita e scritti di Niccolò T. (Turin 1874); K. Hillebrand in der "Allgemeinen Zeitung" (Mai 1874).

Tommaso, ital. Maler, aus Modena, daher T. da Modena genannt, malte um 1352 in Treviso (im Dominikanerkloster) eine Reihe von Wandbildern der berühmtesten Mitglieder des Dominikanerordens, sodann im Dom des Lünettenfresko des Gekreuzigten. Weitere Spuren von ihm finden sich in Prag, wohin er 1357 durch Karl IV. berufen worden sein soll. Eine Madonna und ein Ecce homo befinden sich auf dem Karlstein bei Prag.

Tompa, Michael, ungar. Dichter, geb. 29. Sept. 1819 zu Rimaszombat im Gömörer Komitat, studierte daselbst und in Sáros-Patak und ward 1845 protestantischer Seelsorger zu Beje im Gömörer Komitat, 1848 Feldgeistlicher in der Honvédarmee und 1852 Pfarrer zu Yamva (Gömörer Komitat), wo er bis an das Ende seines Lebens wirkte. Sein erstes selbständiges Werk war: "Néprgék, Népmondák" ("Volksmärchen, Volkssagen", Pest 1846). In demselben Jahr zeichnete die Kisfaludy-Gesellschaft seine komische poetische Erzählung "Szuhay Mátyás" mit einem Preis aus und wählte ihn zu ihrem Mitglied. 1847 erschien die erste Ausgabe seiner Gedichte. In den Jahren unmittelbar nach der Revolution gab er der damaligen gedrückten Stimmung und den von der politischen Gewalt noch verpönten Hoffnungen in mit großem Beifall aufgenommenen allegorischen Gedichten Ausdruck, wegen deren er sich 1852 vor dem Kriegsgericht in Kaschau zu verantworten hatte. 1858 wurde er von der Akademie zum Mitglied gewählt, 1868 erhielt er für seine Dichtungen den großen akademischen Preis (200 Dukaten). Kurz darauf starb er 30. Juli 1868. Eine Gesamtausgabe seiner Dichtungen erschien in 5 Bänden (Pest 1881).

Tomsk, russ. Gouvernement in Westsibirien, zwischen den Gouvernements Tobolsk, Semipalatinsk und Jenisseisk und der Mongolei, 847,887 qkm (15,398 QM.) groß mit (1885) 1,960,064 Einw. (meist Russen und deren Nachkommen), darunter 994,246 Griechisch-Katholische, 64,545 Heiden (Tataren, Kalmücken, Bucharen, Ostjaken u. a.), 29,179 Mohammedaner, 6659 Römisch-Katholische, 4501 Juden u. a. Die Zahl der Verbannten beträgt 30,000. Das Gouvernement wird im SO. vom Altai ausgefüllt, hat weiter nach N. große Steppen (vgl. Baraba), Wälder und Moräste und wird seiner ganzen Länge nach vom Ob durchflossen. Das Klima ist im S. gemäßigt, im N. rauh. Gebaut werden: Hafer, Weizen, Roggen, Gerste, Kartoffeln. Haupterwerb ist Viehzucht, man zählte 1883: 982,115 Pferde, 821,027 Rinder, 930,915 meist grobe Schafe, 216,032 Schweine. Leider treten zuweilen Viehseuchen auf. Die Hüttenwerke im Altai lieferten früher außerordentliche Mengen von Metall (1851: 655,240 kg silberhaltige Golderze, 362,872 kg goldhaltige Silbererze und 4,096,478 kg Kupfer), die Produktion ist aber sehr bedeutend heruntergegangen; es ist daher eine Anzahl von Werken bereits aufgegeben, was zum großen Teil an der Mißwirtschaft der Kronbeamten liegt; die Privatunternehmungen gedeihen weit besser. Die Ausbeute betrug 1880: 2427 kg Gold, 10,135 kg Silber, 1,058,274 kg Blei, 470,516 kg Kupfer und 713,383 kg Gußeisen. Zwei große Märkte werden jährlich zu Susunk (Kreis Barnaul) und zu Wosnesensk (Kainsk) abgehalten. An Lehranstalten sind vorhanden 1885: 9 Mittelschulen mit 1372 Schülern, 5 Fachschulen mit 403 Schülern, 254 Elementarschulen mit 8956 Schülern. Die Hauptstadt T., am Tom, ist Sitz des Gouverneurs, eines griechischen Bischofs, einer Schuldirektion, hat viele zum Teil recht stattliche Regierungsgebäude, einen russischen Bazar, zahlreiche chinesische Kaufläden, 9 griechische Kirchen, 2 Klöster, eine lutherische und eine römisch-katholische Kirche, mehrere Moscheen, ein großartiges (1887 eröffnetes) Universitätsgebäude, Seminar, Gymnasium, höhere Töchterschule, Bibliothek, naturwissenschaftliches Museum und (1885) 36,742 Einw., welche Gerberei, Seifensiederei, Talgschmelzerei u. a. sowie lebhaften Handel mit Getreide, Leder und Pelzwaren betreiben, wozu die Lage am Sibirischen Trakt die Stadt besonders befähigt.

Tomus (lat.), Band, Teil eines Buches.

Ton (spr. tönn), Handelsgewicht in England und den Vereinigten Staaten Nordamerikas, à 20 Ztr. à 112 Pfd. = 1016,046 kg; in Nordamerika oft nur

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Ton - Tonart.

zu 2000 Pfd. T. of shipping, Schiffslast, nach Gewicht 2000 Pfd., oft das gewöhnliche T.; nach Raum = 400 engl. Kubikfuß = 1,132 cbm; in New York und New Orleans nach Waren usanzmäßig, z. B. 20000 Pfd. schwere Güter, 1830 Pfd. Kaffee in Säcken etc.

Ton, in der Musik ein Klang von konstanter Tonhöhe (s. Schall, S. 391); auch s. v. w. Ganzton (s. d.) oder Tonart (besonders Kirchenton). In der Malerei versteht man unter T. (Farbenton) die sämtlichen in einem Gemälde angewendeten Farben in ihrem Verhältnis zu einander und nach ihrem Gesamteindruck.

Tonalá, Hafenstadt im mexikan. Staat Chiapas, an einem Haff des Stillen Ozeans, dessen Einfahrt nur Schiffen von 3 m Tiefe zugänglich ist, mit (1880) 6702 Einw.

Touale, Berg und Paß an der Grenze Tirols (Sulzberg-Thal) und der ital. Provinz Sondrio, ersterer 2690, letzterer 1874 m hoch. Über den Paß, welcher befestigt ist, führt eine der wichtigsten Militärstraßen aus Tirol nach dem Veltlin. Hier 1799 und 1809 Treffen zwischen Tirolern und Franzosen; auch in den Jahren 1848, 1859 und 1866 kam es daselbst öfters zu Gefechten.

Tonalit, gemengtes kristallinisches Gestein, aus Plagioklas, Quarz, Hornblende und Biotit bestehend, bildet den Monte Adamello, südlich von Tonale (daher T.).

Tonalität (franz.), ein Begriff der modernen Musiktheorie, der sich nicht völlig mit "Tonart" deckt, sondern in seiner Bedeutung weit über die Grenzen der letztern hinausreicht. T. ist die eigentümliche Bedeutung, welche die Akkorde dadurch erhalten, daß sie auf einen Hauptklang, die Tonika, bezogen werden. Während die ältere Harmonielehre, welche im wesentlichen von der Tonleiter ausgeht, unter "Tonika" den dieselbe beginnenden und schließenden Ton versteht, muß die neuere Harmonielehre, welche nichts andres ist als die Lehre von der Auffassung der Akkorde im Sinn von Klängen, einen Klang (Dur- oder Mollakkord) als Tonika aufstellen. So ist die C dur-T. herrschend, wenn die Harmonien in ihrer Beziehung zum C dur-Akkord verstanden werden; z. B. die Folge:

[s. Graphik]

ist im Sinn einer Tonart der ältern Harmonielehre gar nicht zu begreifen, obgleich niemand behaupten kann, daß sie fürs Ohr unverständlich ist. Im Sinn der C dur-T. ist sie: Tonika - Gegenterzklang - Tonika - schlichter Terzklang - Tonika, d.h. es sind der Tonika nur nahe verwandte Klänge gegenübergestellt (vgl. Klangfolge). Ein Klang wird als Hauptklang aufgestellt: entweder durch direkte Setzung, wiederholten Anschlag, breite Darlegung (z. B. der F moll-Akkord zu Anfang der Sonata appassionata von Beethoven), oder auf indirektem Weg, indem ein Schluß zu ihm gemacht wird; das letztere geschieht, indem einem seiner verwandten Klänge der Untertonseite einer der Obertonseite folgt oder umgekehrt (s. Tonverwandtschaft). Bei derartigen Folgen, z. B. F dur-Akkord - G dur-Akkord || oder As dur-Akkord - G dur-Akkord || oder G dur-Akkord - F moll-Akkord ||, ist der übersprungene C dur- oder C moll-Akkord das Verständnis der beiden Akkorde vermittelnd und tritt deshalb gern danach als schließender Akkord auf. Diese Ausprägung der T. durch eine Art Schlußfolgerung kann ein Tonstück beginnen, wird aber noch viel häufiger im weitern Verlauf zur Anwendung gebracht, wenn die Tonikabedeutung auf einen andern Klang übergehen soll (s. Modulation). Die eigentümliche Thatsache, daß konsonante Akkorde unter Umständen ganz dieselbe Wirkung und Bedeutung für die harmonische Satzbildung haben wie dissonante, daß z. B. in C dur der Unterdominante (fac) meist ohne Änderung des Effekts die Sexte (d) beigegeben werden kann und der Oberdominante (ghd) ebenso die Septime (f), findet ihre Erklärung nur im Prinzip der T. Denn im strengsten Sinn konsonant, d. h. schlußfähig, keine Fortsetzung (Auflösung) verlangend, ist eigentlich immer nur ein einziger Klang, die Tonika; die Bedeutung der übrigen ist durch ihre Verwandtschaft mit dieser bedingt.

Tonart, in der Mufik die Bestimmung des Tongeschlechts (ob Dur oder Moll) und der Tonstufe, auf welcher ein Stück seinen Sitz baben soll. Statt unsrer heutigen beiden Tongeschlechter nahmen die Alten (Griechen, Römer, Araber, Inder, das Abendland im Mittelalter) deren eine größere Zahl an (vgl. Kirchentöne); über die Bedeutung dieser verschiedenen Oktavengattungen wie der Tonleitern überhaupt vgl. Tonleiter. Jede Oktavengattung kann beliebig transponiert werden, d. h. dieselbe Intervallenfolge kann von jedem Ton aus gebracht werden; schon die Griechen hatten 15 Transpositionsskalen, die Kirchentöne wurden freilich lange Zeit nur in die Quarte und erst später auch in die Quinte transponiert. Die Einführung noch mehrerer Transpositionen im 16.-17. Jahrh. war schon das Anzeichen des Unterganges der alten Lehre. Die heutigen Transpositionen der beiden Grundskalen (C dur und A moll) sind :

1) in die Oberquinte (G dur E moll) mit 1 # (vor F)

2) - - Unterquinte (F dur, D moll) mit 1 b (vor H)

3) - - 2. Oberquinte (D dur, H moll) mit 2 # (vor F, C)

4) - - 2. Unterquinte (B dur, G moll) mit 2 b (vor H, E)

5) - - Obersexte (A dur, Fis moll) mit 3 # (vor F, C, G)

6) - - Untersexte (Es dur, C moll) mit 3 b (vor H, E, A)

7) - - Oberterz (E dur, Cis moll) mit 4 # (vor F, C, G, D)

8) - - Unterterz (As dur, F moll) mit 4 b (vor H, E, A, D)

9) - - große Oberseptime (H dur, Gis moll) mit 5 # (vor F, C, G, D, A)

10) - - große Unterseptime (Des dur, B moll) mit 5 b (vor H, E, A, D, G)

11) - - übermäßige Oberquarte (Fis dur, Dis moll) mit 6 # (vor F, C, G, D, A, E)

12) - - übermäßige Unterquarte (Ges dur, Es moll) mit 6 b (vor H, E, A, D, G, C)

13) - - chromatische Obersekunde (Cis dur, Ais moll) mit 7 # (vor F, C, G, D, A, E, H)

14) - - chromatische Untersekunde (Ces dur, As moll) mit 7 b (vor H, E A, D, G, C, F)

Der verschiedene Charakter der Tonarten ist kein leerer Wahn, hängt aber nicht, wie man hier und da lesen kann, von der ungleichartigen Temperatur der Töne ab (nämlich C dur als am reinsten gestimmt gedacht), sondern ist eine ästhetische Wirkung, die in der Art des Aufbaues unsers Musiksystems ihre Erklärung findet. Dasselbe basiert auf der Grundskala der sieben Stammtöne A-G, und die beiden diese vorzugsweise benutzenden Tonarten C dur und A moll erscheinen als schlichte, einfache, weil sie am einfachsten vorzustellen sind. Die Ab-

750

Tonbestimmung - Tongaarchipel.

weichungen nach der Obertonseite (#-Tonarten) erscheinen als eine Steigerung, als hellere, glänzendere, die nach der Untertonseite (b-Tonarten) als Abspannung, als dunklere, verschleierte; die erstere Wirkung ist eine dur-artige, die letztere eine moll-artige. Dazu kommt die Verschiedenheit der ästhetischen Wirkung der Dur-Tonarten und Moll-Tonarten selbst, welche in der Verschiedenheit der Prinzipien ihrer Konsonanz wurzelt; Dur klingt hell, Moll dunkel. Die Dur-Tonarten mit Kreuzen haben daher einen potenzierten Glanz, wie die Molltonarten mit Been potenziert dunkel sind; eigenartige Mischungen beider Wirkungen sind das Helldunkel der Dur-Tonarten mit Been und die fahle Beleuchtung der Molltonarten mit Kreuzen. Die Wirkung wächst mit der Zahl der Vorzeichen. Geringe Modifikationen erleidet der Charakter der Tonarten durch die größere oder geringere Schwierigkeit, mit der die einzelnen Tonarten von den Instrumenten hervorgebracht werden. Die Tonarten mit viel Vorzeichen klingen am besten beim Klavier; dagegen machen manche Tonarten den Instrumenten mit teilweise gebundener Intonation besondere Schwierigkeiten. Die Posaunen stehen in Es dur, haben daher eine natürliche Abneigung gegen #-Tonarten; umgekehrt stehen Flöte und Oboe in D dur, d. h. sie haben Abneigung gegen B-Tonarten. Auch die Streichinstrumente sind zufolge der Stimmung der leeren Saiten als in G-, resp. D- oder A dur stehend anzusehen, d. h. sie begegnen in den B-Tonarten größern Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten der Applikatur belasten in einer ganz ähnlichen Weise die Vorstellung wie die des Systems der Notenschrift, und Es dur erscheint daher den Posaunisten, D dur den Flötisten, Oboisten und Violinisten als eine besonders einfache Tonart.

Tonbestimmung, die mathematische Bestimmung der Tonhöhenverhältnisse, die Feststellung der relativen Schwingungszahlen oder Saitenlängen, welche den einzelnen musikalischen Intervallen zukommen. Der Schwingungsquotient ist der genaue mathematische Ausdruck des Verwandtschaftsverhältnisses zweier Töne, z. B. der Schwingungsquotient 9:8 für den großen Ganzton c:d; 10:9 für den kleinen Ganzton d:e; 16:15 für den großen Halbton e:f; 25:24 für den kleinen Halbton f:fis; 5:4 für die (reine) große Terz c:e; 6:5 für die kleine Terz c:es; 256:225 für die verminderte Terz dis:f; 64:81 für c:e als vierte Quinte aufgefaßt c (g d a) e (mit Ignorierung der Oktavversetzungen) etc. Eine Tabelle der wichtigsten denkbaren Tonwerte im Umfang einer Oktave, von e ausgehend und nach diesem die akustischen Werte der übrigen Töne bestimmend, findet sich in Riemanns "Musiklexikon" (3. Aufl., Leipz. 1887).

Tonbridge (spr. tönnbriddsch), s. Tunbridge.

Tonbuchstaben, s. Buchstabentonschrift.

Tondern (Tönder), Kreisstadt in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, an der Widaue, Knotenpunkt der Linien Elmshorn-Heide-Ribe der Schleswig-Holsteinischen Marsch- und Tingleff-T. der Preußischen Staatsbahn, hat eine schöne evang. Kirche, ein Schullehrerseminar, ein Amtsgericht, ein Hauptsteueramt, Bierbrauerei, Viehmärkte, Fettviehausfuhr und (1885) 3516 fast nur evang. Einwohner. 1639 fand man bei dem benachbarten Ort Galhus im Schlamm ein großes goldenes, mit Figuren verziertes Horn und 1734 ein zweites. Diese sogen. Tondernschen Hörner, welche 1802 aus der Kunstsammlung zu Kopenhagen entwendet wurden, waren Schau- und Luxusstücke. Die Runenschrift des einen Horns gehörte dem angelsächsischen Alphabet an und war, aus dem 6. Jahrh. stammend, die älteste bekannte.

Tondeur (spr. tongdör), Alexander, Bildhauer, geb. 1829 zu Berlin, besuchte seit 1848 die dortige Akademie und bildete sich dann unter Bläsers Leitung weiter aus. Nachdem er sich von 1852 bis 1854 in Wien aufgehalten, begab er sich auf ein Jahr nach Paris und 1856 nach Rom, wo eine verwundete Venus entstand, die von der Iris zum Olymp getragen wird, worauf eine Marmorgruppe der Mutterliebe folgte. 1858 begann er in Berlin eine ausgedehnte Thätigkeit namentlich in allegorischen und mythologischen Gestalten. Dieser Art sind eine Borussia als Brunnenfigur mit den vier Hauptflüssen Preußens, Frühling, Sommer und Herbst als dekorative weibliche Gewandfiguren, ein Triton in der Muschel und zwei der kolossalen Städtefiguren in der Berliner Börse, die Vasen zum Andenken an den dänischen und an den deutsch-österreichischen Krieg, eine Gruppe: Tag und Nacht, Pan, der eine Wasser schöpfende Nymphe überrascht, von feiner Empfindung und großer Sorgfalt der Ausführung (1867), die beiden Bronzestatuen Bülows und Blüchers am Postament der großen Kölner Reiterstatue Friedrich Wilhelms III. von Bläser, mehrere Büsten und zwei Restaurationen von Reliefs der pergamenischen Gigantomachie (s. Tafel "Bildhauerkunst III", Fig. 8, 9).

Tondruck, s. Lithographie, S. 837.

Tonelada, Schiffslast, Tonne, Stückmaß in Spanien und Spanisch-Amerika, à 20 Quintales = 920,186 kg; die neue Tonelada metrica = 1000 kg; in Portugal und Brasilien für trockne Waren à 54 Arroba, für Flüssigkeiten à 60 Almud; in Brasilien bei Schiffsfrachten s. v. w. englisch Ton; in Argentinien und Uruguay Getreidemaß, = 10,29 hl.

Tonfall, s. Kadenz.

Tongaarchipel (Freundschaftsinseln), eine zum südlichen Polynesien gehörige Inselgruppe im Stillen Meer, unter 18-22° südl. Br., südöstlich von den Fidschi- und südlich von den Samoainseln, umfaßt im ganzen 32 größere Inseln und ungefähr 150 kleinere Eilande mit einem Gesamtflächenraum von 997 qkm (18 QM.). Die meisten der Inseln sind niedrig, haben Korallenfelsen zur Grundlage und sind mit einer dicken, fruchtbaren Erdschicht bedeckt; nur einzelne sind hoch, gebirgig und vulkanischen Ursprungs. Die umgebenden Riffe erschweren den Zugang zu den meisten Inseln, doch haben einige derselben schöne Häfen. Das Klima ist angenehm und gesund, nur finden häufig Erderschütterungen statt. Das Pflanzenreich liefert Pisange, Brotfruchtbäume, Yams, Kokos- und andre Palmen, Zuckerrohr, Bambus, Baumwolle, Feigen, Citrusarten, Papiermaulbeerbäume etc. Das Tierreich ist vertreten durch Schweine, Hunde, Ratten, das gewöhnliche Hausgeflügel, Papageien, Reiher, Tropikvögel und Schildkröten. Der Archipel ist aus drei Gruppen zusammengesetzt. In der nördlichen, 205 qkm (3,7 QM.) großen Hafulu-Hu-Gruppe ist Vavau (145 qkm mit über 3000 Einw.) die größte Insel; auf Amarpurai (Fanulai) und Lette(Bickerton) sind thätige Vulkane, letzteres hatte 1854 einen heftigen Ausbruch, das erstere ist seit der Eruption von 1846 nur noch eine Masse von Felsentrümmern. Die mittlere Gruppe umfaßt die Namukagruppe (37 qkm), die Kotuinseln, Tofoa (55 qkm), 854 m hoch und mit einem thätigen Vulkan, das kleinere (11 qkm), aber 1524 m hohe Kao und die aus sechs Inseln und 6-8 Inselchen bestehende Hapaigruppe, 68 qkm (1,2 QM.). Zur südlichen Gruppe gehören Pylstaart, das 174 qkm

750a

Zum .Artikel »Tongking«.

TONGKING.

Maßstab 1:2.500 000.

ÖSTL. HINTERINDIEN

Maßstab 1:18.000 000.

HUÉ.

1:600000

HA-NOI.

1:300000

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Tongern - Tongking.

(3,2 QM.) große Eua und die bedeutendste aller Inseln, Tongatabu, 430 qkm (7,8 QM.) mit ca. 9000 Einw. Die Zahl der Einwohner betrug 1884: 22,937, darunter 350 Engländer, 63 Deutsche, 13 Amerikaner, 11 Franzosen. Die Tonganer (22,000) gehören zu den Polynesiern (s. Tafel "Ozeanische Völker", Fig. 22) und übertreffen an Bildungsfähigkeit die meisten Bewohner der benachbarten Inselgruppen. Sie treiben sorgfältigen Landbau, sind geschickte und unternehmende Seeleute und beweisen bei dem Bau ihrer Häuser und Boote wie bei der Verfertigung ihrer Gerätschaften, Waffen (Keulen, Bogen und Pfeile) und Kleider (Stoffe aus Papiermaulbeerbaum) ziemliche Kunstfertigkeit. Sie sind jetzt zum Christentum bekehrt. Schon 1797 kamen Missionäre aus London auf Tongatabu an, drei wurden ermordet, die andern kehrten zurück; seit 1822 siedelten sich Methodisten an. Auf den südlichen Inseln haben französische Missionäre dem Katholizismus Eingang verschafft. Etwa 5500 Kinder besuchen Schulen; von höhern Bildungsanstalten existieren eine Industrieschule und ein Gymnasium. Die ganze Gruppe bildet seit Anfang dieses Jahrhunderts ein einheitliches Reich unter einem König, dem eine gesetzgebende Versammlung zur Seite steht. Residenz des Königs und Sitz der Regierung ist Nukualofa auf Tongatabu. Am 1. Nov. 1876 schloß König Georg I. einen Freundschaftsvertrag mit dem Deutschen Reich. Die Gruppe gehört zum Bezirk des deutschen Konsuls in Apia. Der Handel befindet sich zum großen Teil in den Händen der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft, welche die meisten Waren von Apia einführt. Die Einfuhr (Baumwoll- und Wollwaren, Eisenwaren, Getreide, Bauholz, Konserven etc.) betrug 1887: 3,171,553 Mk., davon deutsch 1,181,300, englisch 1,691,864 Mk., die Ausfuhr (Kopra und etwas Kaffee, Schwämme, Wolle) 3,148,933 Mk., davon deutsch 2,377,384, englisch 704,160 Mk. Der englische Handel wächst auf Kosten des deutschen. Die Inselgruppe wurde 1887 besucht von 74 Schiffen von 28,264 Ton., darunter 34 deutschen von 19,468 T. Die deutschen Postdampfer laufen den T. auf der Fahrt von Sydney nach Apia regelmäßig an. Die Inseln wurden 1643 von Tasman entdeckt und von Cook, der sie 1773 und 1777 genauer erforschte, wegen des sanften und gutwilligen Charakters der Eingebornen Freundschaftsinseln (Friendly Islands) benannt. Die Flagge s. auf Tafel "Flaggen I". Vgl. Mariner, Account of the Tonga Islands (Lond. 1814, 2 Bde.; deutsch, Weim. 1819); Meinicke, Die Inseln des Stillen Ozeans (Leipz. 1875); Jung, Der Weltteil Australien, Bd. 3 (Leipz. 1883).

Tongern, Hauptstadt eines Arrondissements in der belg. Provinz Limburg, am Geer, Knotenpunkt an der Eisenbahn Lüttich-Hasselt, hat eine alte Kathedrale (13. Jahrh.), ein Athenäum, ein Tribunal, Strohhutfabriken und (1888) 8763 Einw. T. ist die älteste Stadt Belgiens (das alte Aduatuca) und war schon im 4. Jahrh. Sitz eines Bischofs, welcher im 6. Jahrh. nach Maastricht und 720 nach Lüttich übersiedelte.

Tongeschlecht (Klanggeschlecht), die Unterscheidung eines Akkords oder einer Tonart (Tonalität) als Dur oder Moll. Während Tonarten mit verschiedenen Vorzeichen nur verschiedenartige Transpositionen derselben Tonreihe sind, ist die Auffassung von Klängen oder Tonarten verschiedenen Tongeschlechts eine prinzipiell verschiedene. Man vergleicht Dur dem männlichen, Moll dem weiblichen Geschlecht.

Tongking (hierzu Karte "Tongking"), französisches Schutzgebiet in Hinterindien, grenzt im N. an China, im W. an die Laosstaaten und Siam, im S. an Anam, im O. an den Golf von T. benannten Teil des Südchinesischen Meers und hat ein Areal von 90,000 qkm (1635 QM.), nach andern aber 165,200 qkm (3000 QM.) mit 10-12 Mill. Einw., worunter 400,000 einheimische Christen. Das Land ist zum Teil gebirgig, teils durchaus ebenes Alluvium und wird in seiner ganzen Länge von dem aus Jünnan kommenden Songka durchzogen, der mehrere größere Flüsse (Schwarzer und Klarer Fluß) aufnimmt und, ein großes, vielverzweigtes Delta bildend, in zahlreichen Armen in die Bai von T. mündet und mit dem zweiten Fluß Tongkings, dem Thai-binh oder Bak-ha, durch drei künstliche Kanäle und andre Abzweigungen in Verbindung steht. Den Süden durchfließt der gleichfalls aus Jünnan kommende Ka, den Norden der noch sehr wenig bekannte Tam. Die Wälder der Berge sind reich an allerhand Nutzholz; dort hausen Elefanten, Tiger, Büffel, Rhinozerosse. Der Mineralreichtum ist ein sehr großer; Gold- u. Silberbergwerke werden seit langer Zeit in primitiver Weise ausgebeutet, Kohlen, Kupfer, Quecksilber, Eisen, Zink, Blei aber gar nicht abgebaut. Im Tiefland wird viel Reis gebaut (1½ Mill. Hektar sind damit bestellt); außerdem werden gewonnen und in den Handel gebracht: Zimt, Tabak, Indigo, Mais, Baumwolle, Zuckerrohr, Bohnen, Rizinus, Drachenblut, Sternanis, Erdnüsse, wohlriechende Harze. Als Haustiere werden gehalten: Schweine, Hühner, Büffel, Rinder, aber nur wenige Pferde und Elefanten. Eine Hauptbeschäftigung bildet der Fang von Fischen und Krokodilen; der Schwanz der letztern wird sehr geschätzt. Schiffahrt wird eifrig betrieben und in dem baumlosen Flachland Ziegelbrennerei. In den Städten Hanoi und Namdinh werden geschnitzte Möbel, Lackarbeiten, eingelegte Perlmutterarbeiten, Kleiderstoffe angefertigt. Der Buchdruck von Hanoi, dem Sitz tongkingesischer Gelehrsamkeit, ist berühmt. Der Handel auf dem Songkai mit Jünnan ist sehr bedeutend, er wird auf 3½ Mill. Frank geschätzt. Für den Außenhandel ist Haiphong, an einem Nordarm des Deltas, Hauptplatz; 1880 schätzte man den dortigen Handel auf 20 Mill. Fr., während der Kriegsjahre sank derselbe naturgemäß, stieg darauf aber schnell und betrug 1886 bei der Einfuhr 28,8, bei der Ausfuhr 9,1 Mill. Fr. Der Handel, vornehmlich der Geldhandel, ist zum großen Teil in den Händen der Chinesen, von denen 10,000 in T. leben. In neuester Zeit wurden Differentialzölle eingeführt, welche die französischen Provenienzen sehr begünstigen. Um den Binnenverkehr zu heben, sind Eisenbahnen von Hanoi nach Haiphong und Quang-Yen, auch über Namdinh nach Anam und von Hanoi nach Langson geplant. Eine Gesellschaft mit einem Kapital von 1½ Mill. Fr. hat sich in Frankreich gebildet, um die öffentlichen Arbeiten zu übernehmen. Sie hat auch eine wöchentliche Dampferlinie zwischen Haiphong und Hongkong eingerichtet. In Haiphong bestehen ein englisches und ein französisches Bankinstitut. Die wichtigsten Orte sind die Hauptstadt Hanoi und die Hafenstadt Haiphong. Das erstere ist Sitz der französischen Verwaltungsbehörden. T. hat von 1883 bis 1885 dem Mutterland an 327 Mill. Fr. gekostet, wozu noch 685,000 Fr. für ein submarines Kabel kommen. Jetzt gewährt Frankreich einen jährlichen Zuschuß von 30 Mill. Fr. Nach dem Budget von 1888 belaufen sich für Anam und T. die Einnahmen auf nur 17,321,000, die Ausgaben auf 17,034,620 Fr., wozu aber noch die Ausgaben für Krieg u. Marine mit zusammen 38,055,000 Fr. kommen.

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Tongoi - Tonmalerei.

Geschichte. Ein französischer Waffenhändler, Dupuis, machte 1870 den französischen Gouverneur von Kotschinchina darauf aufmerksam, daß der Rote Fluß eine treffliche Wasserstraße nach der chinesischen Provinz Jünnan bilde. Daher wurde 1873 der Schiffsleutnant Garnier nach T. geschickt, der Hanoi besetzte und die Eroberung von T. begann, aber 31. Dez. 1873 von den Piraten der Schwarzen Flagge überfallen und getötet wurde. Gemäß einem Vertrag mit Anam räumten die Franzosen 1874 die besetzten Plätze gegen die Zusicherung freien Handels und des Schutzes der Missionen. Als chinesische Piraten den Handel störten und eine friedliche Verständigung zwischen Frankreich und China, das die Oberhoheit über T. beanspruchte, daran scheiterte, daß die französische Regierung 1883 den sogen. Bourréeschen Vertrag nicht genehmigte, schickte letztere den Kommandanten Rivière mit Truppen nach T., um es von neuem zu besetzen. Auch dieser wurde 19. Mai bei einem Ausfall aus Hanoi von den Schwarzen Flaggen getötet und nun die Absendung einer größern französischen Streitmacht beschlossen, um T. völlig in französische Gewalt zu bringen, wofür der Vertrag mit Anam 25. Aug. 1883 Frankreich freie Hand gab. Nach einigen mißglückten Vorstößen erstürmten die Franzosen unter Courbet 16. Dez. Sontai und nahmen unter General Millot 12. März 1884 Bacninh ein, womit sie das Delta des Roten Flusses in Besitz hatten. China verzichtete im Vertrag von Tientsin (11. Mai 1884) auf T., räumte es aber nicht schnell genug, so daß die eilig vorrückenden Franzosen von den chinesischen Truppen bei Bakle zurückgewiesen wurden, worauf Frankreich mit China Krieg begann (s. China, S. 23). In T. wurden die Chinesen aus dem Land selbst vertrieben, brachten den Franzosen aber, als dieselben über die Grenze vordrangen, 24. März 1885 bei Langson eine empfindliche Niederlage bei. Dennoch trat China am 1. April 1885 T. ab und zog seine Truppen zurück, worauf die französische Regierung die Schwarzen Flaggen unterdrückte. Vgl. Thureau, Le Tonkin (Par. 1883); Millot, Le Tonkin (das. 1888); Bouinais, Tonkin-Anam (2. Aufl., das. 1886); Deschanel, La question du Tonkin (das. 1883); Gautier, Les Français au Tonkin (das. 1884); "L'affaire du Tonkin, par un diplomat" (1888); Lehautcour, Les éxpeditions françaises au Tonkin (1888, 2 Bde.); Scott, Frankreich und T. 1884 (deutsch, Ilfeld 1885).

Tongoi, Hafenstadt im südamerikan. Staat Chile, Provinz Coquimbo, Ausgangspunkt einer ins Minenrevier von Ovalle führenden Eisenbahn, hat Kupferschmelzen und (1875) 1533 Einw.

Tongrische Stufe, s. Tertiärformation, S. 601.

Tonic Solfa Association, in England weitverbreitete Gesellschaft zur Ausübung des a cappella-Gesangs in akustisch reiner Stimmung, die sich einer besondern Notierungsart mit den Silben Do Re Mi Fa So La Si bedient. Erfinder der Tonic Solfa-Methode ist der anglikanische Geistliche John Curwen (gest. 1880), der auch eine "Grammar of vocal music founded on the Tonic Solfa Method" herausgab und eine Zeitung: "The Tonic Solfa Reporter" (seit 1851), redigierte. Die Tonic Solfa-Methode hat die größte Ähnlichkeit mit dem in Deutschland für Volksschulen zur Anwendung gekommenen Ziffernsystem (1 2 3 4 5 6 7 für die Dur-Tonleiter) und ist eine Wiederbelebung der Guidonischen Solmisation, aber mit sieben Silben statt mit sechs.

Tonika (ital.), nach gewöhnlichem Sprachgebrauch der Ton, nach welchem die Tonart benannt wird, d. h. in C dur c, in G dur g etc. Die neuere Harmonielehre versteht indes unter T. den Dreiklang der T., d. h. in C dur den C dur-Akkord, in C moll den C moll-Akkord etc. Vgl. Tonalität.

Tonisch (vom lat. Tonus, s. d.), stärkend, spannend; tonische Mittel (Tonica), Arzneimittel, welche den Tonus, das Spannungsvermögen der Muskeln und Nerven, vermehren sollen, also stärkende Mittel, besonders China, Eisenpräparate.

Tonkabohnen, s. Dipteryx.

Tonkakampfer, s. Kumarin.

Tonkunst, s. Musik.

Tonleiter, nach der ältern Musiklehre identisch mit Tonart (s. d.). Seit aber die neuere Theorie die Terzverwandtschaft der Töne und Klänge erkannt hat (s. Tonverwandtschaft), erscheint es als Willkür, z. B. den E dur-Akkord und As dur-Akkord als nicht zur C dur-Tonart gehörige Klänge zu betrachten. Der Begriff der Tonart ist daher zu dem der Tonalität (s. d.) erweitert worden, während die T. als Akkord der Tonika mit Durchgangstönen erscheint:

Dur-Tonleiter ^[s. Bildansicht]

Moll-Tonleiter ^[s. Bildansicht]

Wie der tonische, kann aber auch jeder andre Akkord, der tonalen Harmonik mit Durchgangstönen auftreten; soll die Tonalität scharf ausgeprägt bleiben, so werden die Durchgänge so gewählt werden müssen, daß die der Tonika angehörigen Töne bevorzugt werden. Die dann zum Vorschein kommenden Skalen sind die alten Kirchentöne (oder griechischen Oktavengattungen); die Skala der Dominante:

mixolydisch ^[s. Bildansicht]

die Skala der Unterdominante:

lydisch: ^[s. Bildansicht]

und so fort. Vgl. Riemann, Neue Schule der Melodik (Hamb. 1883).

Tonmalerei, Gattung von Musik, deren hauptsächlichster Zweck darin besteht, mittels der Tonsprache Zustände und Begebnisse zu schildern, welche der Sinnen- und Erscheinungswelt entnommen sind. Die Frage über Berechtigung und Zulässigkeit der T. gehört zu den unentschiedensten auf dem Gebiet der Ästhetik der Tonkunst. Unbedingt verworfen wird die T. von den Vertretern der sogen. strengen Klassizität, wiewohl nicht abzuleugnen ist, daß, wie die Meister des 17. Jahrh., so auch alle klassischen Tondichter des 18. und 19. Jahrh., z. B. Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Schubert, Spohr u. a., die T. mit Vorliebe gepflegt haben. Jenen gegenüber stehen diejenigen, welche der Tonkunst geradezu einen begrifflich erklärbaren Inhalt zu vindizieren und zu diesem Behuf die Ausdrucksfähigkeit derselben extensiv und intensiv zu vervollkommnen streben, als die entschiedensten Anhänger der T.; nur verfallen diese wieder in ein gefährliches Extrem, indem sie in Komposition und Kritik einer realistischen Richtung huldigen, die nur in Ausnahmefällen mit der

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Tonna - Tonsur.

Tonkunst ein ersprießliches Bündnis einzugehen vermag. Die Musik kann allerdings der realen Außenwelt angehörige Dinge nicht in jener konkreten Weise schildern wie Dichtkunst und bildende Kunst. Dagegen vermag sie gerade nach jener Seite hin, wo die beiden genannten Künste ihrer Natur nach mehr oder minder lückenhaft bleiben, nicht nur ergänzend aufzutreten, wie in der Vokalmusik und im Drama, sondern auch als unabhängige Kunst in den Formen der reinen Instrumentalmusik die Vorgänge des innersten Gefühlslebens wiederzugeben, insofern erst durch sie die mit der poetischen Grundidee verknüpften Seelenstimmungen zur vollkommenen und künstlerisch-selbständigen Erscheinung gebracht werden können. Die Musik kann und soll demnach nicht das wiedergeben, was das Auge sieht und der Geist denkt, sondern nur die hieraus erwachsenden Empfindungen, die Seelenbilder in ihrer zeitlichen Form. So stellt die Tonkunst die im Innern fortlebende Außenwelt dar, und die T. würde alsdann richtiger als musikalische Stimmungsmalerei zu bezeichnen sein. Dies hat Beethoven wohl erwogen, wenn er der Pastoralsymphonie die Worte vorausschickte: "Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei". Ja, selbst da, wo Beethoven eine scheinbar ganz materielle T. gibt, wie am Schluß des zweiten Satzes (Nachtigallengesang, Wachtelschlag und Kuckuckruf) und im letzten Satz (Schilderung des Gewitters), offenbart sich eine so schöne geistige Bedeutsamkeit, daß darin nur eine symbolische Auffassung der Natur und im letztern Fall nur der durch die Schilderung der äußern Hergänge in der Natur hervorgerufene Stimmungston zur Darstellung gelangt. Eine solche symbolische Auffassung aber ist es überhaupt, die der T. ihren innern künstlerischen Wert verleiht, indem sie die Vorstellung des Gegebenen bei hörbaren Vorgängen durch ähnliche Klangwirkung nachahmt (wie z. B. Marschner das Heulen des Sturmwindes in "Hans Heiling"), bei sichtbaren auch analoge Tonformen wiedergibt, wie sich z. B. in einigen Messen die Worte: "et descendit de coelis" in absteigender und "ascendit de coelum" in aufsteigender Tonfolge komponiert finden. Am leichtesten sind solche Vorkommnisse zu schildern, welche einen gewissen Rhythmus in sich tragen. Die T. fand in F. David und Berlioz und in neuester Zeit namentlich in Liszt, Raff, zum Teil auch in R. Wagner, also vorzugsweise in den Anhängern der sogen. Programmmusik (s. d.), ihre hauptsächlichsten Vertreter.

Tonna, Amtsgericht, s. Gräfentonna.

Tonnage (franz., spr. -ahsch), Schiffsladung, Tonnengeld.

Tonnay-Charente (spr. tonnä-scharangt), Stadt im franz. Departement Niedercharente, Arrondissement Rochefort, an der Charente, über welche eine Drahtbrücke führt, und an der Eisenbahn Rochefort-Angoulême, hat einen Hafen, welcher einen Annex des Hafens von Rochefort (s. d. 1) bildet und einen Warenverkehr von 163,000 Ton. aufweist, Fabrikation von Seilerwaren, Schiffbau, bedeutenden Handel mit Branntwein und (1881) 2256 Einw.

Tonne, großes Faß; dann Maß und Gewicht für trockne Dinge, als Handelsgewicht in Deutschland = 1000 kg. Schiffs- oder Seetonne, Schiffsfrachtgewicht, = 1000 kg; über Registertonne s. Schiffsvermessung; in Schweden, Norwegen und Dänemark ist T. Feldmaß: die schwedische T. Landes (Tonnstelle) = 49,366, die norwegische = 39,379, die dänische = 55,162 Ar. Eine T. Goldes bedeutet eine Summe von 100,000 Thlr.

Tonneau (spr. -noh, T. de mer, T. metrique), in Frankreich Gewicht = 1000 kg, an Raum = 42 Pariser Kubikfuß = 1,440 cbm, als Getreidemaß = 15 Hektol.; in Marseille nach der Ware verschieden, = 900 Liter Öl, 18 Kisten à 25 Flaschen Wein etc.

Tonneins (spr. tonnängs, Stadt im franz. Departement Lot-et-Garonne, Arrondissement Marmande, an der Garonne und der Südbahn (Bordeaux-Toulouse), hat eine reformierte Konsistorialkirche, ein Hengstedepot, eine Tabaksfabrik, Handel mit Hanf, Wein etc. und (1886) 5447 Einw.

Tonnengehalt eines Schiffs, s. Schiffsvermessung.

Tonnengeld, eine nach dem Tonnengehalt (Tragkraft) bemessene, von Seeschiffen, insbesondere solchen fremder Flagge, beim Einlaufen in die Häfen erhobene Abgabe (s. Zuschlagszölle).

Tonnengewölbe, s. Gewölbe, S. 311.

Tonnenkilometer, s. Kilometer.

Tonnenmühle, s. Wasserschnecke.

Tonnensystem, s. Exkremente, S. 966 f.

Tonnerre (spr. tonnähr), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Yonne, am Armançon und an der Eisenbahn Paris-Dijon, hat eine schöne Kirche (St.-Pierre), ein Coll`ege, ein Spital (mit dem Grabmal des Ministers Louvois), Bibliothek, Fabrikation von Webwaren, Zement, Schokolade, vorzüglichen Weinbau, Steinbrüche und (1886) 4774 Einw.

Tönning (Tönningen), Stadt in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Eiderstedt, Knotenpunkt der Linien Jübek-T. der Preußischen Staats- und Neumünster-T. der Westholsteinischen Eisenbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Landratsamt, ein Hauptzollamt, einen Hafen, eine Schiffswerfte, Eisengießerei und Maschinenbau, ansehnliche Fettviehausfuhr nach und Steinkohleneinfuhr aus England und (1885) 3248 evang. Einwohner. T. wurde 1644 befestigt und in der Folge wiederholt von den Dänen erobert, die 1714 die Festungswerke schleiften.

Tönnisstein, Kurort im preuß. Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Mayen, zur Gemeinde Kell gehörig, unweit der Station Brohl der Linie Kalscheuren-Bingerbrück der Preußischen Staatsbahn, mit Kurhaus und einem gegen chronische Katarrhe wirksamen alkalischen Säuerling. In der Nähe der schon den Römern bekannte Säuerling Heilbrunnen.

Tönsberg, älteste Stadt Norwegens, schon ums Jahr 871 gegründet, im Amt Jarlsberg und Laurvik belegen, an der Eisenbahn Drammen-Skien, mit 4913 Einw., ist in der neuern Zeit der Mittelpunkt einer bedeutenden Schiffahrt mit dem Ausland geworden. Ihr gehört vornehmlich der größte Teil der norwegischen Flotte, die jedes Jahr im Monat März nach dem Eismeer auf Walfischfang ausgeht, an. T. selbst besaß 1885: 139 Fahrzeuge von 61,242 Ton., die angrenzenden Distrikte 344 Fahrzeuge von 89,496 T. Der Wert der Einfuhr betrug 1885: 882,500 und der der Ausfuhr 295,000 Kronen. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls. Unweit der Stadt liegen die dicht bevölkerten und reichen Inseln Nöterö und Tjömö. In der Umgegend finden sich mehrere in der Landesgeschichte berühmte Orte, z. B. das Slotsfjeld mit den Überresten der mittelalterlichen Burg Tönsberghus und der Edelhof Jarlsberg, sonst Söheim genannt.

Tonschluß, s. v. w. Kadenz.

Tonschnitt, s. Holzschneidekunst, S. 682.

Tonsillae (lat.), in der Anatomie s. v. w. Mandeln (s. d.); Tonsillotomie, Exstirpation derselben.

Tonsur (lat.), die geschorne Stelle auf dem Scheitel als Ehrenzeichen des katholischen Priesterstandes.

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Tontinen - Topana.

Büßende ließen sich schon früh das Haupt ganz kahl scheren; von ihnen nahmen die Mönche diese Sitte an, und von diesen ging sie im 6. Jahrh. auf alle christlichen Geistlichen über, denen sie 633 auf der vierten Synode zu Toledo gesetzlich vorgeschrieben ward. Man unterschied aber ein kahl geschornes Vorderhaupt als T. des Apostels Paulus von der kreisförmigen Platte auf dem Scheitel, der T. des Apostels Petrus. Jene war in der griechischen Kirche sowie in etwas andrer Form, als T. des Jacobus, bei den Briten und Iren üblich, diese in der abendländischen Kirche Priestern und Mönchen gemein. Die eben erst in den geistlichen Stand Eingetretenen tragen sie im Umfang einer kleinen Münze, die Priester im Umfang einer Hostie, die Bischöfe noch größer, und bei dem Papst bleibt nur ein schmaler Kreis von Haaren über der Stirn stehen.

Tontinen, Anstalten, welche gegen Entgelt Einzahlungen unter der Verpflichtung annehmen, dieselben mit Zinsen nach Ablauf bestimmter Zeit denjenigen der Einleger, welche dann noch am Leben sein werden, als Kapital oder Rente zurückzugewähren. Sie erhielten ihren Namen nach ihrem Erfinder, dem italienischen Arzt Lorenzo Tonti, welcher auf Veranlassung des Kardinals Mazarin 1653 die erste Tontine in Paris einrichtete. Sie hatten vornehmlich in den romanischen Ländern großen Anklang gefunden. In Frankreich wurde das Tontinengeschäft bald nach seiner Erfindung vom Staat betrieben, verwickelte denselben aber in arge Finanzschwierigkeiten und wurde deshalb wieder aufgegeben; die letzte größere Tontine wurde 1759 eingerichtet. Die T., welche sehr verschieden gestaltet sein können, gehören nicht zu den Versicherungsanstalten, wenn nicht der Unternehmer ein Risiko dabei zu tragen hat (z. B. wenn die Auszahlungen in Form von Leibrenten bis zum Tode des letzten Überlebenden erfolgen). Die oft und noch neuerdings versuchte Verbindung der T. mit einer Lotterie ist auch in romanischen Staaten meistens ausdrücklich verboten, z. B. in Italien. Vgl. Versicherung. - Tontine heißt auch ein französisches Kartenglücksspiel, das mit der vollständigen Whistkarte von 12-15 Personen gespielt werden kann.

Tonus (lat., "Spannung"), eine während des Lebens bestehende schwache, unwillkürliche, aber vom Nervensystem abhängige Kontraktion der Muskulatur Während man früher den T. als eine automatische Funktion auffaßte, haben neuere Beobachtungen ergeben, daß er reflektorischer Natur sei, und daß die Muskeln erst infolge einer gewissen Spannung in tonische Kontraktion geraten. Da der Muskel in letzterm Zustand unzweifelhaft einen größern Stoffverbrauch aufweist als im Zustand der Ruhe, so dürfte der T. für die Erhaltung und Regulierung der Körperwärme eine hohe Bedeutung besitzen. Von außerordentlichem Wert ist der T. für die Mechanik der Ortsveränderung; durch den T. wird es nämlich ermöglicht, daß bei der Arbeit der Muskeln sofort eine Annäherung der Befestigungspunkte bewirkt wird, ohne daß erst Zeit und Kraft zur Anspannung des schlaffen Muskels erforderlich wären. Nach dem Tod erlischt der T., und infolgedessen erscheinen die Gesichtszüge der Leichen welk und schlaff.

Tonverwandtschaft, ein moderner musikalischer Begriff, welcher sich auf die Zusammengehörigkeit der Töne zu Klängen bezieht. Verwandt im ersten Grade, direkt verwandt sind Töne, welche einem und demselben Klang angehören (s. Klang). Mit c im ersten Grad verwandt sind g, f, e, as, a und es, denn c:g gehört dem C dur-Akkord oder C moll-Akkord an, c:f dem F dur-Akkord oder F moll-Akkord, c:e dem C dur-Akkord oder A moll-Akkord, c:as dem As dur-Akkord oder F moll-Akkord, c:a dem F dur-Akkord oder A moll-Akkord, c:es dem As dur-Akkord oder C moll-Akkord. Im ersten Grad verwandte Töne sind konsonant (vgl. Konsonanz). Verwandt im zweiten Grad sind Töne, welche nicht demselben Klang angehören, daher nicht direkt aufeinander bezogen werden, sondern durch Vermittelung von Verwandten ersten Grades. Es ist müßig, Verwandte dritten und vierten oder noch fernern Grades anzunehmen, da alle Töne, welche nicht direkt verwandt sind, gegeneinander dissonieren. Die verschiedene Qualität der Dissonanzen hängt allerdings von der Art der Vermittelung ab, welche das Verständnis des Intervalls ermöglicht; diese Vermittelung geschieht aber nicht durch Töne, sondern durch Klänge, so daß die Klangverwandtschaft in Frage kommt. Töne, die im ersten Grad verwandten Klängen angehören, sind leichter gegeneinander verständlich als solche, die auf im zweiten Grad verwandte Klänge bezogen werden müssen. Im ersten Grad verwandte Klänge sind: 1) solche gleichartige (beide Dur oder Moll), von denen der Hauptton des einen im ersten Grad verwandt ist mit dem Hauptton des andern; 2) solche ungleichartige, von denen einer der Wechselklang eines Akkordtons des andern ist, d. h. für den Durakkord der Mollklang (Unterklang) des Haupttons, Quinttons und Terztons, für den Mollakkord der Durklang des Haupttons, Quinttons und Terztons, also allgemein: Hauptwechselklänge (Ober- und Unterklang desselben Tons), Quintwechselklänge und Terzwechselklänge; dazu kommen noch die Leittonwechselklänge. Mit dem C dur-Akkord sind also im ersten Grad verwandt der G dur-, F dur-, E dur-, As dur-, A dur-, Es dur-, F moll-, C moll-, A moll- und E moll-Akkord; mit dem A moll-Akkord dagegen der D moll-, E moll-, E moll-, Cis moll-, C moll-, Fis moll-, E dur-, A dur-, C dur- und F dur-Akkord. Alle übrigen sind nicht direkt verständlich, sondern bedürfen der Vermittelung oder nachträglichen Erklärung. Da die Tonartenverwandtschaft abhängt von der Verwandtschaft der Toniken (Hauptklänge), so sind alle die Tonarten mit C dur, resp. A moll im ersten Grad verwandt, deren Tonika einer der Klänge ist, welche hier als im ersten Grad verwandt mit dem C dur-, resp. A moll-Akkord aufgeführt sind. Im zweiten Grad verwandt mit der C dur-Tonart sind dagegen z. B. D dur, B dur, H dur, Des dur, D moll, H moll und alle noch ferner stehenden; mit der A moll-Tonart: G moll, H moll, B moll, Gis moll, G dur, B dur etc.

Tonwechselmaschine, s. Pistons.

Tooke (spr. tuk), 1) Thomas, engl. Nationalökonom, geb. 1774 zu St. Petersburg als der Sohn des Historikers William T., erwarb sich als Teilnehmer eines großen Handelshauses reiche Erfahrungen im Handels- und Finanzwesen. Von 1820, wo er die berühmte Merchant's petition in favour of free trade verfaßte, war er bis zu seinem Tod, 1858, an allen kommerziellen Enqueten und an der Gesetzgebung auf allen Gebieten wirtschaftlicher Natur beteiligt. Er veröffentlichte eine sechsbändige "History of prices" (Lond. 1838-57, Bd. 5 u. 6 von Newmarch bearbeitet), welche den englischen Handel von 1793 bis 1856 schildert; "Inquiry into the currency principle" (1844); "On the bank charter act of 1844" (1855).

2) J. Horne, Schriftsteller, s. Horne Tooke.

Toowoomba, s. Tuwumba.

Top (Topp), s. Takelung.

Topana, eine Wurzel, s. Bunium.

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Topas - Topelius.

Topas, Mineral aus der Ordnung der Silikate (Andalusitgruppe), kristallisiert in säulenförmigen, rhombischen Kristallen, auch derb in mangelhaft ausgebildeten Individuen (Pyrophysalit), in parallelstängeligen Aggregaten (Pyknit, Stangenstein), losen Kristallen und abgerollten Stücken auf sekundärer Lagerstätte. T. ist selten farblos und wasserhell, gewöhnlich gelblichweiß bis gelb, auch braun, rötlichweiß bis rot, grünlichweiß bis grün, mitunter violblau (diese Farben bleichen aber am Tageslicht aus), durchsichtig bis kantendurchscheinend, glasglänzend. Er phosphoresziert beim Erhitzen mit gelblichem oder bläulichem Schimmer und besitzt besonders interessante thermoelektrische Eigenschaften. Härte 8, spez. Gew. 3,51-3,57. Er besteht aus Aluminiumsilikat mit einem analog zusammengesetzten Kieselfluoraluminium 5 Al2SiO5 + Al2SiFl10. Sehr reich sind die Kristalle an mikroskopischen Flüssigkeitseinschlüssen, darunter flüssige Kohlensäure. Durch Glanz und Durchsichtigkeit ausgezeichneter edler T. findet sich in Sibirien (Kristalle von über 10 kg Gewicht), am Schneckenstein in Sachsen, zu Rozna in Mähren mit Bergkristall, Turmalin, Steinmark oder Lithionglimmer in granitischen Gesteinen, in Brasilien (Brasilian) in Chloritschiefer. Außerdem führen die Zinnerzlagerstatten des Erzgebirges und Cornwalls T. ; auf sekundärer Lagerstätte findet er sich oft mit andern Edelsteinen in Brasilien, auf Ceylon, in Aberdeen. Der Pyrophysalit stammt aus norwegischen Graniten und Gneisen, der Pyknit aus den Zinnerzlagerstätten von Altenberg in Sachsen und aus einem Magneteisenlager bei Durango in Mexiko (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 1-3). Die schönen Varietäten des Topases, namentlich die wasserhellen (Pingos d'agoa, Wassertropfen), die gelbroten und die dunkel gelbbraunen, sind Edelsteine zweiten Ranges. In Brasilien sollen jährlich gegen 900 kg gewonnen werden. Die gelbroten glüht man vorsichtig in geschlossenen Gefäßen, wodurch sie lichtrot (gebrannte Topase, brasilische Rubine) werden und im Preis bedeutend steigen. Die lichtbläulichen und grünlichen Varietäten gehen als Aquamarin. Sonstige Handelsnamen sind den Fundorten entlehnt, da dieselben meist charakteristische Farbenvarietäten liefern. So wird der bläuliche sibirischer oder taurischer T., der goldgelbe brasilischer T., der safrangelbe indischer T., der blaß weingelbe sächsischer T. oder Schneckentopas (vom Schneckenstein) und, wenn er eine grünliche Farbe hat, wohl auch sächsischer Chrysolith genannt. Orientalischer T. ist bräunlichgelber Korund, böhmischer T. Citrin, die gelb gefärbte Varietät des Bergkristalls, zu welchem auch die grauwolkigen Rauchtopase gehören. Gelblicher Flußspat führt ebenfalls den Namen T. Mit dem T. der Alten ist unser Mineral wahrscheinlich nicht identisch. Die schlechtern Sorten des Topases dienen als Surrogat des Schmirgels.

Topasfels, auf wenige Lokalitäten beschränktes Gestein von breccienartigem Aussehen, besteht aus Quarz und Topas, in körnigem Gemenge wechselnd mit Lagen von Turmalin; in die zahlreichen Drusenräume ragen Quarz- und Topaskristalle mit frei ausgebildeten Enden hinein. Außerdem beteiligen sich noch ein dem Steinmark ähnliches Mineral und Glimmer an der Zusammensetzung. Das Gestein bildet z. B. den als Topasfundort bekannten Schneckenstein bei Auerbach im sächsischen Vogtland, wo es gangförmig im Glimmerschiefer auftritt. Verwandte Gesteine werden von mehreren Zinnerzlagerstätten beschrieben.

Topazolith, gelbe Varietät des Granats (s. d.).

Tope (aus sanskr. Stupa, "Tumulus"), die einfachste Form der Kultusdenkmäler des Buddhismus, grabhügelähnliche Gebäude, in denen, in kostbaren Kapseln verschlossen, Reliquien Buddhas und seiner Schüler aufbewahrt wurden. Sie sind in halbkugelförmiger Ausbauchung aus Steinen errichtet und ruhen auf einem terrassenartigen, in späterer Zeit bisweilen hoch emporgeführten Unterbau, manchmal von einem Kreise schlanker Säulen umgeben und mit besonderer Portalanlage versehen; die Krone bildet ein Schirm. Die Halbkugel soll eine Wasserblase vorstellen, womit Buddha den menschlichen Leib vergleicht. Dergleichen Denkmäler sind in großer Anzahl über Indien bis Afghanistan hinein und gegen Norden bis ins südliche Sibirien verbreitet. Auf Ceylon und in Vorderindien heißen sie Dagopa (aus Dhâtugôpa, "Reliquienbehälter"). Vgl. Ritter, Die Stupas (Berl. 1838); Wilson, Ariana antiqua (2. Ausg., Lond. 1861); Cunningham, The Bhilsa Topes (das. 1854); Köppen, Die Religion des Buddha, Bd. 1, S. 535 ff. (Berl. 1859).

Topeka, Hauptstadt des nordamerikan. Staats Kansas, am Kansasfluß, mit Gelehrtenschule (Lincoln College), Töchterschule, Staatenhaus, Mühlen, Gießereien, Eisenbahnwerkstätte und (1880) 15,452 Einw. In der Nähe Kohlen- und Eisengruben. T. wurde 1854 gegründet.

Topelius, Zachris, finnisch-schwed. Dichter und Schriftsteller, geb. 14. Jan. 1818 auf Kuddnäs Gaard bei Nykarleby, wurde, nachdem er bei Runeberg Privatunterricht genossen, Student in Helsingborg, promovierte 1840 und redigierte von 1842 bis 1860 die "Helsingfors Tidningar". worin er seine ersten Gedichte und Novellen brachte. 1852 wurde er Lektor der Geschichte am Gymnasium in Wasa, 1854 außerordentlicher Professor der finnischen Geschichte an der Universität Helsingborg, 1863 Ordinarius, endlich 1876 Professor der allgemeinen Geschichte daselbst, von welcher Stellung er 1878 mit dem Titel Staatsrat zurücktrat. T. ist nächst Runeberg der angesehenste Dichter Finnlands; er hat sich mit Glück in allen Zweigen der Poesie bewegt, und überall begegnet man einem milden, frommen Sinn in einer vollendeten Form. In der Lyrik ("Ljungblommor", Stockh. 1845-54; "Sånger", 1861; "Nya blad", 1870) ist er am glücklichsten, wenn er seinen patriotischen und religiösen Stimmungen Worte leiht. Seine bekanntesten Schauspiele sind: "Efter femtio år" ("Nach 50 Jahren", Stockh. 1851), das reich an Effekt ist, aber Gustavs Zeit mit zu schwarzen Farben malt, und "Regina af Emmerits" (1854). 1861 gab er eine Sammlung seiner "Dramatiska dikter" heraus (neue Ausg. 1881). Am populärsten wurde er durch seine Novellen und Kinderbücher. Unter den erstern ragt besonders hervor: "Fältskärns berättelser" ("Erzählungen eines Feldschers", Stockh. 1858-67, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1880), ein Cyklus romantischer Schilderungen aus Finnlands und Schwedens Geschichte von Gustav II. Adolf bis Gustav III. Die spätern "Sagor" (1847-52, 4 Sammlungen) und "Läsning för barn" (1865-84, 6 Bücher; ins Finnische, Norwegische, Engl. u. Deutsche übersetzt) machten ihn zum Liebling der Jugend. Sein für die Volksschulen Finnlands geschriebenes "Naturens bok" erlebte sieben schwedische und fünf finnische Auflagen. Auf dem Boden strenger Wissenschaft stehen seine Vorlesungen etc. und seine "Geschichte des Kriegs in Finnland" (1850). Als anziehender Schilderer seiner Heimat endlich erscheint er in den Werken: "Finland

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Topete y Carballo - Topik.

framstäld i teckningar" (1845-52) und "En resa i Finland" (1873; deutsch von Paul, Helsingf. 1885). T.' Popularität beruht auf seinem reinen, für alles Gute und Edle warmen Gefühl und den zu gleicher Zeit frischen und wehmütigen Naturtönen, welche durch seine Dichtungen gehen. In deutscher Übersetzung erschienen neuerdings von ihm sechs Novellen: "Aus Finnland" (Gotha 1888, 2 Bde.).

Topete y Carballo (spr. i karwalljo), I. B., span. Admiral, geb. 24. Mai 1821 zu Tlacotalpa in Yucatan, trat 1835 in die Marine, befehligte 1860 im Kriege gegen Marokko die spanische Flotte, zeichnete sich dann in dem Kriege gegen Peru aus, war 1867 Konteradmiral und Hafenkapitän von Cadiz und nahm hervorragenden Anteil an der Revolution vom September 1868. Auf seinem Schiff Saragossa ward die Flagge der Empörung zuerst aufgepflanzt. Er ward als Marineminister Mitglied der provisorischen Regierung vom 8. Okt. 1868, geriet jedoch als Beförderer der Thronkandidatur des Herzogs von Montpensier wiederholt mit Prim in Streit, nach dessen Tod er wenige Tage das Präsidium des Kabinetts innehatte. 1871-72 war T. Minister der Kolonien, im Juni 1872 wieder wenige Tage und vom 4. Jan. bis 13. Mai 1874 Marineminister. Hierauf zog er sich in das Privatleben zurück und starb 31. Okt. 1885 in Madrid.

Topfbaum, s. Lecythis.

Topfbraten, in Thüringen und Sachsen beliebtes Gericht, zu dessen Herstellung Zunge, Niere, Herz, Rüssel, Ohrwange und etwas Schwarte eines frisch geschlachteten Schweins gekocht und mit einer braunen Zwiebelsauce gedämpft werden.

Topfen, s. Quark.

Töpfer, 1) Johann Gottlob, Organist, geb. 4. Dez. 1791 zu Niederroßla in Thüringen, besuchte das Gymnasium, dann das Lehrerseminar in Weimar, wo er zugleich unter Destouches und A. E. Müller gründliche Musikstudien machte, wurde 1817 Seminarmusiklehrer, 1830 Stadtorganist daselbst; starb 8. Juni 1870. Seine Bedeutung beruht auf seinen Schriften über die Orgel, durch welche er vielfach reformatorisch gewirkt hat. Die hauptsächlichsten sind: "Die Orgel, Zweck und Beschaffenheit ihrer Teile" (Erf. 1843); "Theoretisch-praktische Organistenschule" (das. 1845); "Lehrbuch der Orgelbaukunst" (Weim. 1856, 4 Bde.; 2. Aufl. von Allihn, 1888) etc. Als Komponist trat er mit einer großen Orgelsonate, einem Konzertstück für Orgel, einer Kantate: "Die Orgelweihe", einem Choralbuch (4. Aufl., Weim. 1878), kleinen Orgelstücken u. a. hervor.

2) Karl, Lustspieldichter, geb. 26. Dez. 1792 zu Berlin, debütierte als Schauspieler in Strelitz, ging dann nach Breslau, Brünn und 1815 an das Hofburgtheater zu Wien. Daneben versuchte er sich auch in Lustspielen, von denen "Der beste Ton" u. "Freien nach Vorschrift" von der Kritik günstig aufgenommen wurden. 1820 ließ er sich als Schriftsteller in Hamburg nieder, wo er 22. Aug. 1871 starb. Von seinen spätern Stücken hat besonders "Rosenmüller und Finke" Glück gemacht. Seine dramatischen Produkte, welche als "Lustspiele" (neue Ausg., Leipz. 1873, 4 Bde.) erschienen, entbehren zwar jedes poetischen Gehalts, zeichnen sich aber durch theatralische Wirksamkeit und eine gewisse Sorgfalt in der Durchführung aus. Auch "Erzählungen und Novellen" (Hamb. 1842-44, 2 Bde.) veröffentlichte T.

Töpferei (Häfnerei), ehemals zünftiges Handwerk, welches sich mit Verfertigung irdener Ware, seltener mit der Fabrikation feinerer Arbeiten, zuweilen auch mit der Herstellung irdener Öfen und in neuerer Zeit an manchen Orten auch mit der Fabrikation architektonischer Verzierungen, Basreliefs etc. beschäftigt. S. Thonwaren.

Töpfererz, s. Alquisoux.

Töpferscheibe, s. Thonwaren, S. 663.

Töpferthon, s. Thon.

Töpffer, Rudolf, Maler und Novellist, geb. 31. Jan. 1799 zu Genf, Sohn des Malers Wolfgang Adam T. (gest. 1847), widmete sich der Kunst, ging aber wegen eines Augenleidens bald zum Lehrfach über, gründete 1825 ein Pensionat, das er bis zu seinem Tod leitete, wurde 1832 zum Professor an der Genfer Akademie ernannt und starb 8. Juni 1846. Von seinen Novellen fanden den meisten Beifall die "Nouvelles genevoises" (Par. 1845; deutsch unter andern von Zschokke, Aarau 1839 u. Stuttg. 1885); ferner "Voyages en zigzag" (1844); "Nouvelles voyages en zigzag" (1854); "Nouvelles et mélanges" (1840); "La bibliothèque de mon oncle" (1843; deutsch, Leipz. 1847) und "Rose et Gertrude" (1845; deutsch, Hildburgh. 1865). Für seine künstlerischen Arbeiten bediente er sich nur des Stifts; aber die Genrezeichnungen und Karikaturen, womit er seine humoristischen Reisebeschreibungen, wie die "Voyages en zigzag" , illustrierte, sind voll Wahrheit, Reiz und Satire. Namentlich gehören hierher seine sechs kleinen Romane in Bildern, die in der "Collection des histoires en estampes" (mit französischem u. deutschem Text, Genf 1846-47, 6 Bde.) gesammelt erschienen. Vgl. Rambert. Écrivains nationaux suisses, Bd. 1 (Genf 1874); Relave, La vie et les oeuvres de T. (Par. 1886); Blondel und Mirabaud, Rodolphe T. (das. 1887).

Topfgießerei, die Herstellung gußeiserner Kochgeschirre.

Topfhelm, s. Helm.

Topfpflanzen, die in Töpfen kultivierten Pflanzen im Gegensatz zu den Freilandpflanzen, welche im freien Land herangezogen werden.

Topfstein (Lavezstein, Giltstein, Lavezzi, Pierre ollaire), meist graugrünes Gestein, aus einem Gemenge von Chlorit, Talk, auch Serpentin und gelegentlich Quarz sowie kohlensauren Verbindungen bestehend, ist lokal mit Serpentinen, Talk- und Chloritschiefern eng verknüpft, kommt in den Alpen (Chiavenna), in Norwegen und Nordamerika vor und eignet sich durch seine Weichheit, welche Schneiden und Drehen gestattet, sowie durch seine Feuerbeständigkeit zur Herstellung von Töpfen, Ofenplatten etc.

Top-Hane (türk.), Zeughaus, Arsenal; Name einer Vorstadt in Konstantinopel.

Topik (griech.), bei den Alten die Lehre von der Auffindung des Stoffes zum Zweck der rhetorischen Behandlung irgend eines Gegenstandes; insbesondere die systematische Zusammenstellung allgemeiner Begriffe und Sätze (Topen, lat. loci communes), die beim Ausarbeiten von Reden als Richtschnur oder Leitfaden für die Auffindung und Wahl zweckmäßiger Beweisgründe dienen sollten. Die T. wurde von den spätern griechischen Rhetorikern und Grammatikern sowie von den Römern mit Vorliebe behandelt, z. B. von Cicero in seinen Schriften: "De inventione" und "Topica"; doch war sie im ganzen ein bloßer Schematismus, insofern man derselben nicht die logischen Kategorien zu Grunde legte, sondern gewisse allgemeine Dispositionen aufstellte, um zur Auffindung des Stoffes zu gelangen. Im Mittelalter verlor sie sich in leere Spielereien, und in neuerer Zeit hat man eine besondere Behandlung der-

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Topin - Torda-Aranyos.

selben als unersprießlich ganz aufgegeben. In der Grammatik ist T. die Lehre von den Stellen, welche den einzelnen Wörtern im Satz und den Sätzen in der Periode zukommen. Biblische T. oder Topologie, eine Theorie der Grundsätze, nach denen der Theolog bei der Wahl und Behandlung der biblischen Beweisstellen zu verfahren hat.

Topin (spr. -päng). Marius, franz. Geschichtschreiber, geb. 25. Dez. 1838 zu Aix, Neffe Mignets, besuchte das dortige Lyceum und das in Gap und war 1856-70 in der Verwaltung der Steuern thätig. Während der Belagerung von Paris 1870-71 befehligte er ein Bataillon Nationalgarde und gründete 1872 mit Mitchell den "Courrier de France". 1873 übernahm er die Redaktion der "Presse" und verteidigte das Ministerium Broglie, da er bonapartistisch gesinnt ist. Er schrieb: "Le cardinal de Retz, son génie, ses écrits" (1864, 3. Aufl. 1872); "Histoire d'Aigues-Mortes" (1865); "L'Europe et les Bourbons sous Louis XIV" (1867, 3. Aust. 1879); "L'homme au masque de fer" (1869, 3. Aufl. 1870), welche Werke von der Akademie mit Preisen gekrönt wurden; "Louis XIII et Richelieu" (1876), ebenfalls preisgekrönt, und "Romanciers contemporains" (1876).

Topinambur, s. Helianthus.

Topisch (griech.), örtlich, im Gegensatz zu allgemein, z. B. topische Schmerzen, topische Arzneien, topische Recidive bösartiger Geschwulste.

Töpler, August, Physiker, geb. 7. Sept. 1836 zu Brühl a. Rhein, studierte in Berlin Chemie und Physik, wurde Chemiker, dann Dozent an der landwirtschaftlichen Akademie zu Poppelsdorf bei Bonn, 1864 Professor an der polytechnischen Schule zu Riga. Er widmete sich indes hauptsächlich der Physik und wurde 1868 als Professor der Physik nach Graz berufen, von wo er 1876 in derselben Eigenschaft an das Polytechnikum zu Dresden übertrat. T. zeigte sich besonders geschickt in Auffindung neuer Beobachtungsmethoden und Konstruktion neuer Apparate. Seine "Optischen Studien nach der Methode der Schlierenbeobachtung" (Bonn 1865) zeigten, wie man eine ganze Reihe von Erscheinungen, welche sich sonst der Beobachtung entziehen, sichtbarmachen kann. Ebenso machte er die stroboskopischen Scheiben zur Beobachtung schwingender Körper nutzbar. Er konstruierte eine Quecksilberluftpumpe, welche gar keine Hähne verlangt und dadurch einen großen Vorzug vor der Geißlerschen hat, gegen welche sie allerdings den Nachteil erheblich größerer Dimensionen besitzt. Gleichzeitig mit Holtz konstruierte T. eine wesentlich auf denselben Prinzipien beruhende Elektrisiermaschine, welche sich durch die Anwendung von Metallbelegungen von derjenigen von Holtz unterscheidet und von dieser zurückgedrängt wurde, in der letzten Zeit aber sich allgemeinere Anerkennung verschaffte, seit T. ihr durch Anwendung einer großen Anzahl von Scheiben eine früher nicht geahnte Stärke gab. Durch eine Anzahl mathematisch-physikalischer Arbeiten, so über die Fundamentalpunkte eines optischen Systems, über die Zerlegung zusammengesetzter Schwingungen u. a. m., hat sich T. ebenso als gediegener Theoretiker bewiesen.

Töpliz, 1) Badeort in Böhmen, s. Teplitz. -

2) Badeort in Krain, unfern Rudolfswerth, mit warmen Quellen (34-38° C.) und (1880) 363 Einw. Vgl. Radics, Das Mineralbad T. (Wien 1878).

Topo, Feldmaß in Peru, = 5000 QVaras = 35,9128 Ar.

Topographenkorps, eine in Rußland zum Zweck der Landesvermessung 1822 errichtete und 1877 reorganisierte Truppe mit einem Etat von 9 Generalen, 75 Stabs- und 370 Oberoffizieren, welche sich aus den Topographenunteroffizieren der Topographenabteilung ergänzen, nachdem dieselben einen dreijährigen Kursus auf der Topographenschule in St. Petersburg mit Erfolg durchgemacht haben.

Topographie (griech.), Ortsbeschreibung mit möglichst genauem Eingehen auf alle Einzelheiten, welche das Gelände bietet, seien sie von der Natur oder durch Kunst geschaffen. Die Gewinnung eines möglichst genauen Kartenbildes eines Landes ist der Zweck der topographischen Aufnahme desselben, die in den europäischen Staaten durch die topographische Abteilung der Generalstäbe in Maßstäben von 1:20,000 bis 1:25,000 erfolgt, während die topographischen Karten teils in denselben, teils in kleinern Maßstäben herausgegeben werden (s. Landesaufnahme).

Topologie (griech.), Ortslehre, Ortskunde.

Topolya (spr. topolja), Markt im ungar. Komitat Bács-Bodrog, an der Bahnlinie Budapest-Semlin, mit (1881) 9500 ungar. Einwohnern, Weinbau, Schloß und Bezirksgericht.

Toponomastik (griech., topographische Onomastik), geographische Namenkunde, s. Onomatologie.

Topp, Toppnant, s. Takelung

Topuszko (spr. topúss-), Kurort im kroatisch-slawon. Komitat Agram, an der Glina, mit Schlammbädern und zahlreichen gegen Gicht und Rheuma wirksamen indifferenten Thermen (60° C.), deshalb das kroatische "Gastein" genannt. Vgl. Hinterberger, Die Thermal- und Schlammbäder zu T. (Wien 1864).

Torcello (spr. -tschello), Insel in den Lagunen von Venedig, 9 km nordöstlich von der Stadt gelegen, mit wenigen von der ehemaligen bedeutenden Stadt T. erhaltenen Gebäuden, unter denen besonders der Dom im Basilikensystem aus dem 7. Jahrh. und die Kirche Santa Fosca, ein Zentralbau aus dem 9. Jahrh., Erwähnung verdienen. Das gegenwärtige Dorf T. hat nur 128 Einw.

Torda (Thorenburg), Stadt im ungar. Komitat Torda-Aranyos und Station der Ungarischen Staatsbahn, am linken Ufer des Aranyos, mit Franziskanerkloster, 9 Kirchen (2 römisch-katholische, eine lutherische, eine reformierte, eine unitarische, eine griechisch-unierte und 3 griechisch-nichtunierte), schönem neuen Komitatshaus und (1881) 9434 ungarischen und rumän. Einwohnern, die Getreide- und Weinbau und Viehzucht betreiben. T., Sitz des Komitats und eines Gerichtshofs, hat ein unitar. Untergymnasium, bedeutende Viehmärkte, ein großes, schon seit Römerzeiten bekanntes Salzbergwerk, mehrere Salzteiche mit einem Solbad und mitten in der Stadt Reste der ehemaligen Thorenburg. In der Nähe von T., wo sich viele römische Altertümer finden und einst die römische Kolonie Pataissa (Salinä) stand, ist die wild romantische Tordaer Schlucht (320 m tief und 25 km lang), die einen 30 km langen Kalkzug von oben bis unten quer durchschneidet, und durch deren Mitte, fast die ganze 6-20 m breite Sohle einnehmend, der Bach Kerekes fließt. Im S. die pittoresken Toroczkóer Kalkfelsen und der malerisch gelegene, einst von Deutschen gegründete, jetzt von unitarischen Ungarn bewohnte Ort Toroczkó (Eisenmarkt).

Torda-Aranyos (spr. -áranjosch), ungar. Komitat in Siebenbürgen, grenzt an die Komitate Arad, Bihar, Klausenburg, Maros-Torda, Kis-Küküllö, Unterweißenburg u. Hunyad, umfaßt 3370 qkm (61,2 QM.), wird vom Aranyos und seinen Nebenflüssen bewäs-

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Tordalk - Torf.

sert, ist besonders im W. durch Ausläufer des Bihargebirges sehr gebirgig (Muntje le mare 1828 m) und hat (1881) 137,031 ungarische und rumän. Einwohner, die meist Berg- und Ackerbau, Viehzucht und Holzhandel betreiben. T. ist reich an Edelmetallen und Mineralschätzen und wird von der Ungarischen Staatsbahn (Klausenburg-Kronstadt) durchzogen. Sitz des Komitats ist Tord a.

Tordalk, s. Alk.

Torell, Otto Martin, Naturforscher, geb. 5. Juni 1828 zu Warberg, studierte in Lund Medizin und Naturwissenschaften, machte größere wissenschaftliche Reisen in Europa, unternahm 1858 mit Nordenskjöld eine Reise nach Spitzbergen und besuchte 1859 Grönland und 1861 abermals mit Nordenskjöld Spitzbergen. Inzwischen war er in Lund zum Adjunkten der Zoologie und zum Intendanten des zoologischen Museums ernannt worden, 1866 erhielt er die Professur der Zoologie und Geologie in Lund, und 1871 wurde er Chef der geologischen Untersuchung Schwedens in Stockholm. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Reisen, seine Studien über die Eiszeit und die Tiefseefauna publizierte er in den Schriften der Universität Lund und der Akademie der Wissenschaften zu Stockholm.

Torelli, 1) Giuseppe, Violinspieler, geboren um 1650 zu Verona, gest. 1708 als Konzertmeister in Ansbach, war mit Corelli (s. d.) der bedeutendste Vertreter der Instrumentalmusik des 17. Jahrh. und gilt als der Schöpfer des noch bis zu Händels Zeit in Gebrauch gebliebenen Concerto grosso, derjenigen Form, aus welcher die moderne Orchestersymphonie hervorgegangen ist.

2) Achille, ital. Lustspieldichter, geb. 5. Mai 1844 zu Neapel, erhielt seine Ausbildung in einem Privatinstitut und schrieb mit 16 Jahren seine erste Komödie: "Chi muore, giace". womit er einen Turiner Staatspreis gewann. Weniger glücklich waren ein paar weitere Versuche: "Il buon vecchio tempo", "Cuore e corona", "Prima di nascere"; besser gefiel das Lustspiel "Il precettore del rè" (später betitelt: "Una corte nel secolo XVII"), dessen Aufführung der ältere Dumas beiwohnte, der dem jungen Dichter eine glänzende Laufbahn verkündigte. Mit "La missione della donna" und "La verita" (1875) errang T. wieder Preise; auch "Gli onesti" fand Anerkennung. 1866 kämpfte T. als Freiwilliger im italienischen Heer und erlitt in der Schlacht bei Custozza einen Sturz vom Pferd. Einen außerordentlichen Triumph feierte er darauf (1867) mit seinem Lustspiel "I mariti". Den Erwartungen, welche dies Stück für Torellis Begabung erweckte, vermochte er mit den spätern Leistungen nicht völlig zu entsprechen; doch errang er noch manchen Erfolg, so mit "La fragilità" (1868), "La moglie" (1870), "Nonna scelerata" (für die Ristori geschrieben, 1870); ganz besonders aber erfreuten sich "Triste realtà" (1871) und "Il colore del tempo" (1875) ehrenvoller Aufnahme. Dagegen blieben "Consalvo" (1872), "La fanciulla" (1873), "La contessa di Berga" (1874), "Mercede" (1878), "Scrollina" (1880) u. a. ohne Wirkung. Der grelle Wechsel von Erfolgen und Mißerfolgen wirkte einigermaßen verdüsternd auf das Gemüt des Dichters und nährte eine Empfindlichkeit, die auch in seiner lyrischen Sammlung "Schegge" zum Ausdruck kommt.

Toreno, Don José Maria Queypo de Llana Ruiz de Saravia, Conde de, span. Staatsbeamter und Geschichtschreiber, geb. 1786 zu Oviedo, nahm Anteil an der Erhebung der spanischen Nation gegen die Franzosen 1808 und erwarb sich schon damals als Unterhändler des Bündnisses zwischen Spanien und England sowie als Deputierter bei den Cortes 1810 und 1812 den Ruf eines gewandten Diplomaten und Staatsmannes. Nach der Rückkehr Ferdinands VII. 1814 flüchtete er nach Frankreich und kehrte erst 1820 in sein Vaterland zurück. Infolge der Wiederherstellung der absolutistischen Regierungsgewalt 1823 abermals verbannt, lebte er in Paris, kehrte 1832 nach Spanien zurück, gewann bald bedeutenden politischen Einfluß und trat 1834 als Finanzminister in das Kabinett. Im April 1835 übernahm er das Portefeuille des Auswärtigen und die Präsidentschaft des Kabinetts. Doch führten Aufstände, die seine reaktionären Maßregeln hervorriefen, schon im September seinen Sturz herbei. In den Cortes, die 18. Febr. 1840 zusammentraten, und in die er als Mitglied der Prokuratorenkammer gewählt worden war, zeigte er sich wieder als entschiedener Moderado. Nach dem bald darauf erfolgenden Sturz der Moderadospartei begab er sich wieder nach Paris, wo er 16. Sept. 1843 starb. Als Schriftsteller gewann er vornehmlich durch seine "Historia del levantamiento, guerra y revolucion de España" (Madr. 1835-37, 5 Bde.; Par. 1838, 3 Bde.; deutsch, Leipz. 1836-38, 5 Bde.) Ruf.

Toreros (fälschlich Toreadores, span.), alle am Stiergefecht Beteiligten.

Toreutik (griech., lat. Caelatura), die Bildnerei in Metallen, zur Unterscheidung von Skulptur (sculptura), der Arbeit in Stein, Thon und Holz. Man denkt bei T. vorzugsweise an die Bearbeitung des Metalls mit scharfen Instrumenten, an das Ziselieren, das Herausschlagen oder Treiben der Formen mittels Bunzen, doch unter Umständen auch an ein teilweises Gießen in Formen. Die Künstler in dieser Arbeit heißen Toreuten.

Torf, Aggregat pflanzlicher Substanzen in verschiedenem Grade der Zersetzung, mit erdigen Materialien gemischt. In den ersten Stadien der Bildung läßt der T. die Struktur der Pflanzen noch deutlich erkennen; bei tiefer greifender Zersetzung entsteht ein homogener, wenigstens bei Betrachtung mit unbewaffnetem Auge strukturloser Körper. Nicht selten sind in einem und demselben Torflager die untern Schichten, als die ältern und die dem größern Druck ausgesetzten, in der Zersetzung weiter vorgeschritten (reifer) als die obern (unreifen). Wo die Bodenbeschaffenheit die Ansammlung stagnierender, seichter Wasser gestattet, werden dieselben durch gesellig auftretende Pflanzen überwuchert, die dann ihrerseits wiederum die Wasser vor schneller Verdunstung schützen. So entsteht ein Mittelzustand zwischen Land und Wasser: die Moore (Lohden der Oberpfälzer, Ried in Schwaben und Thüringen, Moos in Bayern). Es setzt demnach die Torfmoorbildung zunächst beckenartige Einsenkungen des Bodens oder Kommunikationen mit benachbarten Flüssen und Seen sowie einen undurchlässigen Untergrund voraus. Dieser wird entweder von fettem, schlammigem Thon (dem Knick der Norddeutschen) oder von einem eigentümlichen Mergel (Wiesenmergel, Alm in Südbayern) gebildet. Auch auf spaltenfreien Gesteinen, die ein Versinken des Wassers nicht gestatten, und namentlich auf solchen, welche bei ihrer Verwitterung einen undurchlassenden Thon liefern, können Moore entstehen. Ferner müssen die klimatischen Bedingungen einer schnellen Verdunstung des Wassers entgegenarbeiten, wie in regen- und nebelreichen Gegenden, weshalb namentlich die gemäßigten Zonen die eigentliche Hei-

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Torf (Entstehung der Torfmoore).

mat der Moore bilden, während sie sich in der heißen Zone auf hoch gelegene Plateaus und auf undurchdringliche Wälder beschränken. Außer durch die atmosphärischen Niederschläge, beziehen die Moore das Wasser aus Seen, Schnee- und Eisfeldern, aus Flüssen, welch letztere sie oft saumartig umziehen. Ferner können Landseen mit flachen Ufern der Vermoorung unterliegen. Von den Uferrändern aus zieht sich eine das Wasser überwuchernde Vegetation immer tiefer in den See hinein; schwimmende Vorposten werden abgerissen, bilden bewegliche Inseln, auf denen sich eine reiche Sumpfflora ansiedelt, bis die Masse zu schwer wird und zu Boden sinkt, um durch Wiederholung des Spiels eine immer mächtigere, das Wasser allmählich verdrängende Schicht zu bilden, die sich endlich mit der vom Ufer her fortschreitenden Moorbildung vereinigt. So besitzt der Federsee in Oberschwaben heute nur noch eine Wasseroberfläche von 256 Hektar, während er noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts 1100 Hektar groß war. Das Steinhuder Meer in Schaumburg-Lippe ist von 5400 auf 3600 Hektar reduziert. Auch der Kochelsee, der Chiemsee u. a. sind in einem solchen Vertorfungsprozeß begriffen. Die Pflanzen, die zur Vermoorung führen, sind solche, welche in großer Anzahl der Individuen vorkommen und stark wuchern, besonders aber verfilzte Wurzeln treiben: die Heiden (Calluna vulgaris und Erica tetralix), Riedgräser (Carex-Arten), Wollgräser (Eriophorum), Scirpus, Juncus, ganz besonders Nardus stricta, von Moosen Hypnum- und Sphagnum-Arten, endlich in hoch gelegenen Lokalitäten die Zwergkiefer (Pinus Pumilio). Je nach der hervorragenden Beteiligung einzelner der genannten Pflanzen an der Moorbildung unterscheidet man Wiesen- (Grünlands-) Moore und Heide- (Moos- oder Hoch-) Moore. In erstern dominieren die Carex- und Eriophorum-Arten; bisweilen tritt auch Hypnum in großer Menge auf, während Sphagnum fehlt. Ihr Hauptsitz sind die Ufer der Flüsse und Seen und zwar namentlich (den Bedürfnissen der aufbauenden Pflanzen entsprechend) derer mit kalkhaltigem Wasser. Sie umsäumen die Wasserbehälter, vom Trocknen aus zum Nassen hin immer weiter wachsend. Dieser Richtung des Wachsens entsprechend, besitzen sie eine flache, mitunter selbst nach dem Innern zu eingesenkte Oberfläche. Ihre Torflager sind gewöhnlich nur 1-2 m mächtig, selten bis 3 m, ganz selten 6 m und mehr. Hierher zählen viele norddeutsche Torflager, die Donau- und Isarmoore, die vertorfenden Seen etc. Die zweite Art der Moore bildet sich in Mulden und Becken, in denen sich etwas Wasser ansammelt, das zunächst Kolonien von Sphagnum entstehen läßt, auf denen sich dann besonders Erica und Calluna ansiedeln. Bei günstigen Wässerungsverhältnissen immer größere und größere Kreise schlagend, gibt sich hier die Richtung der Ausbreitung durch eine Wölbung zu erkennen, deren Gipfelpunkt im Innern bis zu 10 m höher liegen kann als der Rand, eine Eigenheit der Erscheinung, auf welche der Name Hochmoor hinweist. Die solchergestalt gebildeten und zusammengesetzten Moore, die sich in Norddeutschland, dann namentlich auch in den mittel- und süddeutschen Gebirgen finden, besitzen meist stärkere Torflager als die Wiesenmoore, und es werden aus der Emsgegend Mächtigkeiten bis zu 11 m, aus Südbayern solche von 7,5 m und darüber, aus dem Jura bis 12 m angegeben. Endlich kommen Moore von gemischtem Charakter vor, indem bald Inseln mit Wiesenmooren in Hochmooren, bald mit Hochmooren in Wiesenmooren auftreten. - In schon abgebauten Torflagern pflegt der T. nachzuwachsen, wenn mit der Entfernung der Torfmasse nicht zugleich auch die Ursachen zur Moorbildung hinweggenommen wurden. Nur wo (natürliche oder künstliche) Entwässerung und (natürliche oder künstliche) Änderung des wasserundurchlassenden Untergrundes in einen durchlassenden vorliegt, unterbleibt das Nachwachsen, wie denn die sogen. Fehnkolonien (s. d.) nur dort durchführbar sind, wo eine gründliche Entwässerung und eine sorgfältige Entfernung der torfbildenden Masse stattfinden. - Bei der Umwandlung der abgestorbenen Pflanzensubstanz in T. liefern zunächst die Proteinkörper, Dextrin und Stärke unter Einfluß von Sauerstoff Kohlensäure, Schwefelwasserstoff, Phosphorwasserstoff, Ammoniak und Humussäuren. Langsamer zersetzt sich die Holzfaser zu einer erst gelben (Ulmin), später braunen Masse (Humin), während der Gehalt der Pflanzen an Kieselsäure und unlöslichen Mineralsalzen unverändert in das Zersetzungsprodukt übergeht. Durch eigne Schwere und durch den Druck nachwachsender Generationen sinken die Massen zusammen, verdichten sich und unterliegen einer stetig fortschreitenden Umsetzung, als deren gasige Hauptprodukte sich Kohlensäure und Kohlenwasserstoffe bilden, während die Masse selbst schwärzer, homogener und reicher an Kohlenstoff wird. Die Gasexhalationen rufen mitunter in der zähflüssigen Masse Aufblähungen hervor, welche, wenn das Magma den Rand übersteigt, zu Moorausbrüchen führen können. Übrigens ist die große wasseraufsaugende Kraft des Torfs ebenfalls oft die Ursache solcher Aufblähungen und Ausbrüche. Das Produkt des Vertorfungsprozesses, der T., besitzt keine bestimmte chemische Zusammensetzung und ist auch in seinen physikalischen Eigenschaften je nach dem Grad, bis zu welchem die Umsetzung sich bereits vollzogen hat, bedeutend verschieden. So ist der T. bald schlammartig, bald dicht, hellgelb, dunkelbraun oder pechschwarz. Oberflächlich getrocknet, kann er 50-90 Proz. Wasser aufnehmen und gibt dasselbe in trockner Luft nur sehr allmählich ab, verliert aber diese Eigenschaft, sobald er vollkommen ausgetrocknet ist. Bei Abschluß der Luft erhitzt, gibt der T. Kohlensäure, Kohlenoxyd, Kohlenwasserstoffe, Ammoniak, Teer und Wasser; beim Verbrennen liefert er eine Asche, die arm an Alkalien ist, thonigen Sand, Magnesium- und Calciumsulfat sowie Eisenoxid neben wenig Phosphorsäure und Chlor enthält. Für die quantitative Zusammensetzung ergeben sich folgende ungefähre Grenzwerte: Kohlenstoff 40-60 Proz., Wasserstoff 4-6,5, Sauerstoff 25-35, Stickstoff 1-6, Asche 1-15 Proz. Benennungen einzelner Varietäten des Torfs sind, solange sich die komponierenden Pflanzen erkennen lassen, diesen entnommen, so: Konferventorf (wesentlich aus Konferven gebildet), Moostorf (Sphagnum), Wiesentorf (Ried- und Wollgräser, Binsen), Heidetorf (Erica tetralix), Holztorf (Wurzel- und Stammteile von Weiden, Erlen etc.). Auch die Aufhäufung von Tangen soll zur Bildung von T. (Meertorf) führen; doch ist für mehrere sogen. Meertorfe die Zusammensetzung aus Süßwasserpflanzen nachgewiesen und ihr heutiges Vorkommen am Meeresgrund oder am Ufer in einem tiefern Niveau als die Meeresoberfläche als Folge von Senkungserscheinungen erkannt worden. Andre Benennungen bezeichnen den Zustand, in welchem sich die in Zersetzung begriffenen Substanzen befinden. So läßt der Rasentorf, gewöhnlich die oberste Decke der Moore bildend, die Reste noch deutlich ernennen, die nur eine gelbe bis braune Farbe

Torf (Gewinnung).

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angenommen haben. Ihn unterteufend und die untersten Lagen einnehmend, tritt häufig Pechtorf auf, schwärzlichbraun bis dunkelschwarz, strukturlos, auf der Schnittfläche wachsglänzend. Die ungefähre Mitte zwischen beiden, zugleich aber auch stark mit Erdteilen gemengt, hält die Torferde. Der Fasertorf ist eine dem Pechtorf ähnliche Masse, von Pflanzenteilen, die einen geringen Grad der Zersetzung zeigen, durchzogen. Im Papiertorf ist unvollkommen zersetzte Pflanzenmasse in dünne, leicht voneinander abzuhebende Lagen geteilt. Der Baggeroder Schlammtorf endlich stellt frisch einen Brei dar, welcher mit Netzen gebaggert oder geschöpft wird, getrocknet aber fest und kompakt ist. Als gelegentliche Bestandteile finden sich im T., außer Fragmenten noch nicht vollkommen zersetzter Vegetabilien, menschliche und tierische Reste. Erstere befinden sich meist in einem sehr vollkommnen Erhaltungszustand. Besonders hervorzuheben sind außer den vertorften Pfahlbauten Knochen vom Riesenhirsch, vom Bos primigenius und Elephas primigenius, weil dieselben für ein sehr hohes, bis in die Diluvialperiode zurückreichendes Alter der betreffenden Moore zeugen, während die meisten Torfbildungen jüngern Datums sind und dem Alluvium angehören. Unter den mineralischen Einschlüssen sind Eisenkies und Strahlkies sowie als seltenere Kupferkies, Zinkblende und sonstige Reduktionsprodukte aus Sulfaten zu nennen. Die erstgenannten geben durch gelegentliche Oxydation die Veranlassung zur Bildung von Gips, Bittersalz, Alaun, Glaubersalz und besonders Eisenvitriol, welcher bisweilen in solchen Mengen dem T. beigemengt ist, daß er aus demselben gewonnen wird (Vitrioltorf). Ferner ist Blaueisenerde ziemlich häufig, seltener Kochsalz, letzteres nur in tief gelegenen, dem Meer benachbarten Mooren. Die Verbreitung der Torfmoore ist zunächst in Deutschland eine sehr bedeutende. Altpreußen besitzt 260 QM. Moorland, die drei 1866 erworbenen Provinzen 132, Mecklenburg 10, Oldenburg 20, Bayern 12, die Reichslande und das übrige Süddeutschland etwa 25 QM., so daß gegen 4,6 Proz. der gesamten Oberfläche Deutschlands vom Moor bedeckt sind. Besonders tragen dazu bei das norddeutsche Tiefland, die Hochplateaus Bayerns und Oberschwabens und die Rücken der Gebirge Süd- und Mitteldeutschlands (Schwarzwald, rheinische Gebirge, Rhön, Harz, Thüringer Wald, Fichtelgebirge, Erzgebirge, Riesengebirge). Auch in der nördlichen Schweiz, am Südabhang der Alpen, in den Tiroler, Salzburger und Kärntner Alpen bis nahe zur Schneegrenze kommen Moore vor; 10 Proz. des irischen Landes sind von ihnen bedeckt. Ebenso zahlreich sind sie in Schottland, Skandinavien, Rußland. Asien ist arm an T.; aus Afrika ist keine echte Torfbildung bekannt. Dagegen sind die Moore in Nordamerika stark verbreitet, und auch in Südamerika werden viele aus den Anden beschrieben.

Gewinnung des Torfs.

(Hierzu Tafel "Torfbereitung".)

Die Gewinnungsweise des Torfs richtet sich nach der physikalischen Beschaffenheit desselben. Der Stechtorf wird mittels Handspaten oder besonderer Maschinen in Stücke von regelmäßiger Ziegelform gestochen, an der Luft getrocknet und als Loden von 314-525 mm Länge, 52-78 mm Dicke und 105-157 mm Breite in den Handel gebracht. Das Abstechen des Torfs geschieht entweder horizontal oder vertikal. Beim horizontalen Torfstich arbeitet man in der Weise, daß ein Brett neben den Rand der Torfgrube gelegt wird, welches vom Rand so weit absteht, als die Lange der Loden beträgt; hierauf werden mit einem scharfen herzförmigen Spaten der Länge und Breite nach vor dem Brette die Loden abgestochen; nach entsprechendem Weiterrücken des Bretts wird dann das eben beschriebene Verfahren wiederholt. Ein zweiter, niedriger stehender Arbeiter hebt die Torfstücke in 78-105 mm Dicke ab, legt sie in einen bereit stehenden Schubkarren und fährt sie nach den Trockenplätzen. Beim vertikalen Torfstich sticht der Arbeiter am Rande der Grube mit einem scharfen, mit zwei rechtwinkeligen Seitenkanten versehenen Spaten (s. Textfig. 1) im Torfboden auf die Länge eines Ziegels nieder, schneidet dann mittels eines Stecheisens das Torfstück an der untern Seite ab und bringt es später mittels des Schubkarrens zum Trockenplatz. Bei dieser Handarbeit müssen die Moore vorher genügend entwässert werden; geschieht letzteres nicht, und muß der T. unter Wasser gestochen werden, so benutzt man besondere Stechmaschinen. Der auf vorstehend beschriebene Art gewonnene T. enthält oft noch 80-90 Proz. Wasser und wird in Haufen, auf Hiefeln oder auf Stellagen getrocknet, wobei der T. mindestens zwei Monate im Freien bleibt und bei andauerndem Regenwetter sehr große Verluste erleidet. Bei dem Trocknen auf Hiefeln werden die Torfloden, nachdem sie einige Tage auf dem Boden gelegen haben, auf kleine, zugespitzte Holzstäbe aufgesteckt, welch letztere an etwa 2 m hohen Pfählen angebracht sind. Beim Trocknen auf Stellagen werden die Loden auf einem mit Dach versehenen Lattengerüst ausgebreitet und getrocknet. Dies letztere Verfahren wird bei weniger konsistentem T. angewendet. Erdiger, schlammiger T., welcher wegen mangelnden Zusammenhangs kein Stechen zuläßt, wird gewöhnlich durch Schöpfen mit eisernen Eimern, deren Ränder geschärft sind, und deren Böden aus einem Stück groben Zeugs bestehen, gewonnen (Baggertorf). Die Masse wird auf den geebneten Erdboden gegossen, wo sich noch Wasser abscheidet, und dann in breiförmigem Zustand in einen flachen Raum, der durch ausrecht stehende Bretter abgegrenzt ist, gebracht. Wenn der T. hier eine genügende Konsistenz erreicht hat, wird er in Formen gebracht, resp. zerschnitten. Das Austrocknen wird wohl hierbei noch dadurch befördert, daß man die Masse durch Schlagen mit Knütteln oder Dreschflegeln bearbeitet, oder daß Arbeiter mit Brettern, welche sie sich an die Füße geschnallt haben, darauf herumtreten. Modell- oder Streichtorf und Backtorf werden gewonnen, indem man die Torfmasse in unregelmäßigen Stücken aus der Torfgrube nimmt, durch Schlagen mit Hölzern oder Treten mit den Füßen oder mit Zusatz von Wasser durcheinander mengt und dann in entsprechende Formen bringt. Besser als dieser Handtorf mit seinem geringen spezifischen Gewicht, wodurch große Feuerungsanlagen bedingt werden, und seiner Neigung, beim Transport zu zerbröckeln, ist der Maschinentorf, dessen Substanz auf irgend eine Weise verdichtet wird. Man preßt die Torfmasse entweder, nachdem sie zerkleinert und in Öfen getrocknet ist (Trockenpreßmethode, System Exter-Gwynne), oder, sobald die Masse aus

[Fig. 1. Spaten zum Torfstechen.]

Torfgewinnung.

Fig. 1. Torfmaschine für Pferdebetrieb von Schlickeysen; Fig. 2 u. 3 die beiden obern Messer derselben.

Fig. 2.

Fig. 3.

Fig. 7. Zweiwellige Torfmaschine von Grotjahn und Picau.

Fig. 4. Torfmaschine für Dampfbetrieb von Schlickeysen. Längendurchschnitt.

Fig. 5. Torfmaschine für Dampfbetrieb von Schlickeysen. Querschnitt.

Fig. 6. Torfmaschine von Clayton, Son and Howlett.

Fig. 8 u. 9. Wander-Torf-Aufbereitungsmaschine von Cohen und Moritz. Seiten- und Stirnansicht.

Zum Artikel »Torf«.

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Torf (Gewinnung).

dem Moor kommt, in geeignete Formen (Naßpreßmethode, System Koch und Mannhardt) und erhält auf diese Weise den Preßtorf. Bei Gewinnung von Schlämmtorf nach dem System Challeton wird die rohe Torfmasse zwischen Messerwalzen zerkleinert, mittels eines Bürstenapparats und unter Zufluß von Wasser durch ein Sieb getrieben und in andern Apparaten noch weiter zerkleinert. Der Schlamm gelangt dann in Gefäße, in denen sich die schweren mineralischen Beimengungen absetzen, und hierauf in Bassins, durch welche das Wasser absickern kann. Wenn die Torfmasse dann genügend kompakt geworden ist, wird dieselbe in Ziegel geformt. Siebtorf nach System Versmann wird gewonnen, indem man die rohe Torfmasse in einen Trichter von Blech bringt, welcher am Umfang mit kleinen Löchern versehen ist. In dem Trichter bewegt sich ein eiserner Konus, welcher um seine Peripherie herum ein schneckenartig gewundenes Messer trägt. Dieses Messer schneidet den T. fein und drückt ihn in feinen Strähnen durch die seitlichen Löcher des Trichters, während die gröbern Teile die untere Trichteröffnung passieren. Unter Maschinentorf im engern Sinn (kondensierter oder verdichteter T.) begreift man alle diejenigen Torfsorten, bei denen die Torffasern durch maschinelle Vorrichtungen zerrissen und wieder miteinander vermengt werden, so daß ein möglichst homogenes Produkt entsteht, und wobei das Verdichten des Torfbreies ohne Anwendung von Torfpressen vor sich geht. Man unterscheidet hierbei noch, ob die Herstellung des Torfs mit oder ohne Wasserzufluß erfolgt. Das Formen des Torfs geschieht von Hand, oder es werden durch die Maschine prismatische Stränge gebildet, welche nach den üblichen Dimensionen zerschnitten werden. Eine besondere Art des Maschinentorfs ist der Kugeltorf, bei welchem der durch die Maschine hergestellte Torfbrei in besondern Vorrichtungen zu faustgroßen Kugeln geformt wird. Die Herstellung von kondensiertem oder verdichtetem Maschinentorf ist wohl als die bisher rationellste und jetzt am meisten verbreitete Methode zu bezeichnen. Nach einer andern Methode der Torfzubereitung wird der T. auf einer Zentrifugalmaschine entwässert, in Brei verwandelt, getrocknet, gemahlen und in heißen Pressen komprimiert. Im bayrischen Kolbermoor und Haspelmoor wird die zu bearbeitende Parzelle von der Vegetation befreit, geebnet, gepflügt und geeggt und der abgelöste T. lufttrocken gemacht. Dann sammelt man ihn mit einem Schneepflug, bringt ihn in eine Zerkleinerungsmaschine, aus dieser in den Trockenofen und mit einer Temperatur von 50-60° in die Presse, welche ihn in dunkelbraune, glänzende Ziegel verwandelt. Fig. 1 der Tafel zeigt eine Torfmaschine für Pferdebetrieb von Schlickeysen. Die an der stehenden Welle W befestigten Schneckenflügel S, S sind schraubenförmig gestaltet und umfassen nicht den ganzen Kreisumfang, wie sich aus Fig. 2 und 3, welche die beiden obern Messer, resp. Flügel darstellen, ergibt. Das obere Messer ist mit einem Schaber B versehen, welcher die am innern Umfang des Bottichs hängen gebliebenen Torffasern abschabt und den Messern zuführt. Damit sich die Torfmasse nicht festsetzt, sind mehrere Eisenstäbe E, E quer durch den Bottich hindurchgezogen. Der den untern Teil des Bottichs abschließende Boden O ist mit der Welle W fest verbunden. Wenn nun die Torfmasse oben in den Bottich eingeschüttet wird, so muß bei entsprechender Drehung der Welle W die Masse zerrissen, durcheinander gemengt, durch das untere Messer der Ausgangsöffnung, vor welcher sich die Form F befindet, zugedrängt werden und aus dem Mundstück in einem fortlaufenden Strang austreten. Um das unbequeme Aufgeben des rohen Torfmaterials in die hohen Bottiche zu vermeiden, konstruierte man Torfmaschinen mit liegender Schneckenwelle, wobei aber das Eigengewicht des Torfs beim Nachschieben der Torfmasse nicht mehr behilflich ist. Fig. 4 und 5 zeigen eine solche Maschine für Dampfbetrieb von Schlickeysen. Die Konstruktion der Messer ist aus der Zeichnung ersichtlich. Zu erwähnen ist die unterhalb des Trichters T liegende Speisewalze W, welche durch Zahnräder im entgegengesetzten Sinn mit der Messerwelle S bewegt wird, so daß hierdurch Messer und Speisewalze das Material aus dem Trichter nach unten ziehen. Derartige Maschinen liefern bei geeignetem Rohmaterial in 10 Arbeitsstunden 10-15,000 Loden. Die in Fig. 6 dargestellte Maschine ist von Henry Clayton Son and Howlett in London, Atlas Works. Bei dieser wird die Torfmasse in den vertikal stehenden Trichter T gegeben und durch Bewegung der Flügel an der im Trichter befindlichen vertikalen Welle nach unten gedrückt, wo sie in den horizontal liegenden Cylinder eintritt. Aus letzterm wird die Masse durch die Formen gepreßt und tritt daselbst in mehreren glatten Strängen aus. Diese Stränge werden dann von Brettern aufgenommen und durch das mit sechs eingespannten Drähten versehene Schneidegatter G in Stücke zerschnitten. Die Torfmasse wird durch eine besondere Aufzugsvorrichtung vermittelst der Trommel K nach oben geschafft. Diese Maschine hat etwa 5-6 Pferdekräfte für ihre Bewegung nötig und liefert pro Tag 60-100,000 Loden frischen T. Da der T. häufig mit wenig oder gar nicht vermoderten Pflanzenteilen durchsetzt ist, welche sich an die Messer ansetzen und dadurch Verstopfungen und Betriebsstörungen herbeiführen, konstruierte man Torfmaschinen mit zwei nebeneinander liegenden Wellen, deren Schraubenflächen aneinander vorbeigleiten und sich gegenseitig reinigen. In Fig. 7 ist eine derartige Maschine von Grotjahn und Picau dargestellt. Die bis jetzt beschriebenen Maschinen zur Herstellung von Maschinentorf stellen den T. ohne besondere vorherige Beimengung von Wasser her. Von Cohen und Moritz ist eine Wandertorfaufbereitungsmaschine (Fig. 8 und 9) konstruiert, bei welcher der T. durch Zusatz von Wasser zu einer breiartigen Masse verarbeitet wird. Dieselbe enthält mehrere nebeneinander liegende horizontale Cylinder, in welchen sich je eine Schneckenwelle bewegt. Diese Schneckenwellen werden durch Zahnräder vermittelst der Riemenscheibe K durch eine Lokomobile getrieben. In dem zur Aufnahme des Rohmaterials dienenden Trichter T befindet sich ein Rührwerk, durch welches die Torfmasse mit dem zugepumpten Wasser gemischt wird. Diese Maschinen sind mit Rädern versehen und auf Schienen so aufgestellt, daß ihre Fortbewegung zu gewissen Zeiten auf den Schienen neben dem Arbeitskanal her erfolgen kann. Bei geringer Tiefe der Torfgrube wird der ausgestochene T. direkt in den Trichter geworfen, dagegen wird bei tiefer liegenden Torflagern die Torfmasse durch einen Elevator E noch dem Trichter geführt. Der auf diese Weise gewonnene Torfbrei wird dann durch Karren dem Trockenterrain zugeführt. Bei der Kugeltorffabrikation wird der T. zu einer breiartigen Masse verarbeitet und dann durch eine Hebevorrichtung nach der Formmaschine gehoben. Diese Form besteht aus einer oder mehreren Trommeln von Holz oder Metallblech (s. Textfig. 2), welche um Achsen rotieren und an der innern Seite mit Schraubengängen ver-

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Torfbeere - Torgau.

sehen sind. In eine solche Trommel wird nun mittels einer im Trichter T rotierenden Schraube der Torfbrei geschoben. Jeder auf diese Weise während einer Umdrehung vorgeschobene Teil wird bei der Drehung in den Schraubengängen zu einer Kugel geformt, verläßt am Ende der Trommel dieselbe und rollt auf einer schiefen Ebene nach dem Trockenraum.

Der fertige T. enthält im lufttrocknen Zustand oft noch bis 30 Proz. Wasser, das bei der Verbrennung verdampft werden muß und den Heizeffekt des Torfs herabzieht. Um letztern zu erhöhen, wird der T. in verschieden konstruierten Darröfen getrocknet. Nach Karsten sind bei Siedeprozessen 2½ Gewichtsteile T. = 1 Gewichtsteil Steinkohle. Nach Vogel ist die Verdampfungskraft von lufttrocknem Fasertorf mit 10 Proz. Wasser 5,5 kg, von Maschinentorf mit 12-15 Proz. Wasser 5-5,5 kg und von Preßtorf mit 10-15 Proz. Wasser 5,8-6,0 kg. Um den T. besser verwerten zu können, verkohlt man ihn und zwar namentlich, seitdem er durch die neuen Gewinnungsmethoden in eine homogenere, dichtere Masse verwandelt werden kann. Die Verkohlung in Meilern oder Haufen geschieht in ganz ähnlicher Weise wie bei Holz, man hat aber auch besondere Verkohlungsöfen konstruiert. Der T. findet in seiner durch die neuen Gewinnungs- und Bearbeitungsmethoden wesentlich verbesserten Gestalt auch ausgedehnte technische Verwendung. Die Torfkohle kommt in ihrem spezisischen Wärmeeffekt der Holzkohle sehr nahe, doch steht sie in ihrer Brauchbarkeit hinter derselben zurück. Sie gibt wegen ihrer geringen Dichtigkeit und des großen Aschengehalts kein intensives Feuer, ist leichter zerdrückbar und daher in Schachtöfen nicht gut verwendbar, während sie in Herd-, Pfannen- und Kesselfeuerungen mit vielem Erfolg benutzt werden kann. Aus verdichtetem T. dargestellte Kohle dürfte für Hüttenwerke sehr wichtig werden, wenn es gelingt, sie billig genug herzustellen. Torfgasfeuerungen sind in verschiedenen Industriezweigen für Puddel- und Schweißöfen, für Glashüttenbetrieb, zum Brennen von honwaren, Ziegeln etc. angewendet worden. Ferner unterwirft man T. der trocknen Destillation, um Leuchtgas, Paraffin, Photogen etc. zu gewinnen. Auch hat man versucht, den im T. enthaltenen Stickstoff (bis 3,8 Proz.) in die Form von Ammoniak überzuführen. Weitere Anwendung findet der T. bei der Papierfabrikation und zwar versuchsweise als Surrogat zur Pappenfabrikation, ferner als Dungmittel, als Streumaterial in Viehställen etc. Vgl. Torfstreu. Vgl. Wiegmann, Über die Entstehung, Bildung und das Wesen des Torfs (Braunschw. 1837); Grisebach, Über die Bildung des Torfs in den Emsmooren (Götting. 1846); Senft, Die Humus-, Marsch-, Torf- und Limonit-Bildungen (Leipz. 1862); Sendtner, Die Vegetationsverhältnisse Südbayerns (Münch. 1854); Vogel, Der T., seine Natur und Bedeutung (Braunschw. 1859); Derselbe, Praktische Anleitung zur Wertbestimmung von Torfgründen etc. (Münch. 1861): Dullo, Torfverwertung in Europa (Berl. 1861); Schenck, Rationelle Torfverwertung (Braunschw. 1862); Schlickeysen, Mitteilungen über die Fabrikation von Preßtorf (Berl. 1864); Wentz, Lintner und Eichhorn, Der Kugeltorf (Freising 1867); Breitenlohner, Maschinenbacktorf (Lobositz 1873); Hausding, Industrielle Torfgewinnung und Torfverwertung (Berl. 1876); Derselbe, Die Torfwirtschaft Süddeutschlands und Österreichs (das. 1878); Birnbaum, Die Torfindustrie etc. (Braunschw. 1880); Stiemer, Der T. (Halle 1883).

Torfbeere, s. v. w. Vaccinium Oxycoccus.

Torfmoor, s. Torf.

Torfmoos, s. Sphagnum.

Torfstreu und Torfmull, aus der Faserschicht, welche in einer Stärke von 0,5 m den Brenntorf in den Heidemooren bedeckt, auf besondern Maschinen dargestellte Fabrikate. Der Moos- oder Fasertorf wird getrocknet und auf dem Reißwolf, einer rotierenden, mit Spitzen besetzten Trommel, welcher ein ebenfalls mit Spitzen besetztes Brett gegenübersteht, oder auf der Torfmühle, die einer Kaffeemühle ähnlich ist, zerkleinert und dann durch Siebe in die faserige Torfstreu und den pulverigen Torfmull getrennt. Erstere dient in der Landwirtschaft als Ersatz der Strohstreu, ist billiger als diese, saugt die Flüssigkeit kräftiger auf und liefert vortrefflichen Dünger. Man macht daraus für die Tiere ein Lager von 12-15 cm Höhe und ersetzt täglich die feucht gewordenen Teile durch neues Material. Der Torfmull eignet sich vortrefflich zum Desinfizieren von menschlichen Exkrementen und wird vielfach in Streuklosetten angewandt. Er bindet etwa das Zwölffache seines Gewichts an Fäkalstoffen und liefert dabei eine trockne, geruchlose Masse, die sich vortrefflich als Dünger eignet. Schmutzwasser, durch Torfftreu filtriert, liefern ein klares Filtrat, welches bei reichlichem Luftzutritt nicht mehr fäulnisfähig ist. Torfstreu wird auch mit Karbolsäure, Jodoform, Sublimat imprägniert und als Verbandmittel benutzt. Mit Kalkmilch imprägniert, dient Torfstreu als Füllmaterial für Zwischendecken, außerdem dient sie zu Isolierzwecken für Eishäuser, zu Umhüllungen von Dampfleitungen, zur Konservierung von Fleisch und Fischen, in der Gärtnerei zu verschiedenen Zwecken etc. Das Aufsaugungsvermögen des reinen Fasertorfs ist so groß, daß er das neunfache Gewicht an Wasser absorbiert, einzelne Proben mit 20 Proz. Feuchtigkeit absorbierten sogar bis 19,7 Teile Wasser. Torfstreu enthält im lufttrocknen Zustand 88 Proz. organische Substanz (mit 0,6- 3,2 Proz. Stickstoff), 2 Proz. Asche (mit 0,08 Proz. Kali, 0,09 Proz. Phosphorsäure) und 10 Proz. Wasser. Vgl. Mendel, Die Torfstreu (Brem. 1882); Haupt, Torfstreu als Desinfektions- und Düngemittel (Halle 1884); Fürst, Die Torfstreu (Berl. 1888).

Torgau, Kreisstadt und Festung im preuß. Regierungsbezirk Merseburg, liegt an der Elbe, über welche zwei Brücken (darunter eine Eisenbahnbrücke) führen, und an den Linien Halle-Guben und T.-Pratau der Preußischen Staatsbahn. Die Festung (seit 1811) besteht aus acht Bastionen, zwei Lünetten, dem Brückenkopf, dem Fort Zinna und dem sogen. Neuen Werk (seit 1866). Das auf einem Felsen an der Elbe lie-

[Fig. 2. Formmaschine für Kugeltorf.]

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Torgel - Tornados.

gende Schloß Hartenfels (von Johann Friedrich dem Großmütigen erbaut) dient jetzt als Kaserne. Von den 3 Kirchen (2 evangelische und eine katholische) ist die Stadtkirche mit Gemälden von Lukas Cranach und dem Grabstein der Katharina von Bora, von sonstigen Gebäuden das altertümliche Rathaus und das Zeughaus bemerkenswert. Die Bevölkerung beträgt (1885) mit der Garnison (ein Infanterieregiment Nr. 72, ein Pionierbataillon Nr. 3 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 19) 10,988 Seelen, meist Evangelische, welche Wagen-, Handschuh-, Thonwaren-, Zündschnur-, Dungmittel-, Zigarren-, Mostrich-, Biskuit- und Mineralwasserfabrikation, Bierbrauerei, Dampfschneidemüllerei, Kalk- und Ziegelbrennerei, Schiffahrt und Getreidehandel betreiben. T. hat ein Landgericht, ein Gymnasium und eine Sammlung sächsischer Altertümer. In der Nähe das königliche Hauptgestüt Graditz (s. d.). Zum Landgerichtsbezirk T. gehören die 16 Amtsgerichte zu Belgern, Dommitzsch, Düben, Eilenburg, Elsterwerda, Herzberg, Jessen, Kemberg, Liebenwerda, Mühlberg, Prettin, Schlieben, Schmiedeberg, Schweinitz, T. und Wittenberg. - T. war häufig Sitz der sächsischen Kurfürsten. Hier wurde im März 1526 das Torgauer Bündnis zwischen Sachsen und Hessen gegen die katholischen Reichsstände geschlossen. Auch verfaßten hier Luther und seine Freunde 1530 die Torgauer Artikel, die Grundlage der Augsburgischen Konfession, und 1576 ward zur Beilegung der kryptocalvinistischen Streitigkeiten hier das Torgauische Buch (s. Konkordienformel) veröffentlicht. In der Nähe von T., bei Süptitz, wurden 3. Nov. 1760 die Österreicher unter Daun von Friedrich d. Gr. geschlagen (Denkmal daselbst). 1811 ward T. auf Napoleons I. Befehl befestigt, hielt Ende 1813 eine dreimonatliche Belagerung durch Tauenzien aus und kapitulierte erst 10. Jan. 1814. T. fiel 1815 an Preußen. 1889 wurden die Rayongesetze aufgehoben. Vgl. Grulich, Denkwürdigkeiten der altsächsischen Residenz T. aus der Zeit der Reformation (2. Aufl., Torg. 1855); Knabe, Geschichte der Stadt T. bis zur Reformation (das. 1880).

Torgel, Fluß in Esthland, entspringt als Weißensteinscher Bach auf dem Südabhang des esthnischen Landrückens, empfängt einen Abfluß des Fellinschen Sees und fließt in südwestlicher Richtung, an der Stadt Pernau vorbei, dem Rigaer Meerbusen zu.

Torgoten, s. Kalmücken.

Tories (spr. tóris), Mehrzahl von Tory (s. d.).

Torino, ital. Name von Turin.

Torjaer Stinkberg (auch Berg Büdös), im ungar. Komitat Háromszék (Siebenbürgen), nordwestlich von Kézdi-Vásárhely, 1071 m ü. M., eine der hervorragendsten Naturmerkwürdigkeiten Ungarns. Aus den Spalten und Höhlen des vielfach zerrissenen und oben verwitterten Trachyts entströmen ununterbrochen Gase, namentlich Schwefelwasserstoffes, dessen Geruch schon von weitem wahrnehmbar ist. Von den drei Höhlen (Stink-, Alaun- und Mörderhöhle) wird nur die erstere vom Volk zu Kurzwecken (bei Rheuma, Gicht und Augenleiden) benutzt. In diese kann man nur dann ohne Gefahr eintreten, wenn der Kopf sich über der Gasschicht befindet, tiefer verliert man sofort die Besinnung. Am Fuß des Bergs sind acht Mineralquellen, die als Heilquellen dienen.

Torlonia, röm. Fürstenfamilie, deren Reichtum der Bankier Giovanni T. (geb. 1754 zu Siena, gest. 25. Febr. 1829 in Rom) begründete; er kaufte das Herzogtum Bracciano und erlangte 1809 die Herzogswürde. Diese ging auf seinen ältesten Sohn, Marino T. (1796-1865), über, jetziger Inhaber ist sein Enkel Herzog Leopold T., geb. 25. Juli 1853, bis 1888 Bürgermeister (sindaco) von Rom. Der dritte Sohn, Don Alessandro, Fürst von Civitella-Cesi, Musignano, Canino, Farnese und Fucino, Marchese di Roma Vecchia und Torrita, geb. 1. Juni 1800, erwarb durch die Pacht der Salz- und Tabaksregie in Rom und Neapel und günstige Anleihen ein ungeheures Vermögen, das er zur Errichtung von wohlthätigen Anstalten, zum Bau von Theatern, zur Trockenlegung des Fuciner Sees (1852-75) und der Anlegung des wertvollen Museo T. in Trastevere verwendete; er starb 7. Febr. 1886 in Rom. Seine Titel und Besitzungen gingen auf seine einzige Tochter, Anna Maria (geb. 8. März 1855), und deren Gemahl, den Fürsten Giulio Borghese (geb. 19. Dez. 1847), über.

Tormentilla L. (Tormentill), Gattung aus der Familie der Rosaceen, nur durch die Vierzahl der Teile der Blumenkrone und des Kelchs von Potentilla verschieden, kleine, ausdauernde Kräuter in Mitteleuropa, mit fiederigen Blättern und einzelnen Blüten in Zweiggabeln. T. erecta L. (Potentilla T. Schrank, Ruhr-, Blut- und Rotwurz), mit cylindrischem bis knolligem, knotigem, hinten wie abgebissenem, dunkel rotbraunem Rhizom, bis 30 cm langem, fast niederliegendem, oberwärts sparrig verzweigtem Stengel, meist dreizähligen Blättern, großen Nebenblättern, einzeln stehenden, langgestielten, gelben Blüten und kahlen, fast glatten Früchtchen, wächst besonders auf feuchtem Boden in Nord- und Mitteleuropa. Das Rhizom enthält Chinovasäure, Tormentillgerbsäure, Tormentillrot, ist als Rhizoma Tormentillae offizinell und gehört zu den kräftigsten einheimischen adstringierenden Mitteln.

Tormes, Fluß in der span. Provinz Salamanca, entspringt am nördlichen Abhang der Sierra de Gredos, fließt vorherrschend nordwestlich, durchströmt das reizende Thal von Bohoyo und El Barco und fällt unterhalb Fermoselle an der portugiesischen Grenze links in den Duero; 230 km lang.

Torna, ehemaliges ungar. Komitat am rechten Theißufer, zwischen dem Hernád und Sajó, umfaßte 619 qkm (11,22 QM.) und (1869) 26,176 Einw. Seit 1881 bildet es, mit Ausnahme von sieben zu Gömör gehörigen Gemeinden, mit Abauj das neue Komitat Abauj-T. (s. d.). Hauptort war der Markt T. (Turnau), jetzt im Komitat Abauj-T., mit (1881) 1470 ungar. Einwohnern und Ruinen des historisch merkwürdigen Schlosses T. (Bebek).

Tornados (span.), Name von Wirbelstürmen, welche zwar an Stärke den gewaltigsten Orkanen Westindiens, des Indischen und Chinesischen Meers oft gleichkommen, aber einen verhältnismäßig kleinern Raum umfassen und auch von geringerer Dauer sind. Ihr Durchmesser sinkt von einigen Meilen oft bis auf einige tausend Fuß herab. Sie kommen am häufigsten in den östlichen Staaten Nordamerikas und an der Westküste von Afrika als sogen. Landtornados vor, bewegen sich in der Regel von SW. nach NO. über die Erdoberfläche fort und richten oft ungeheure Verheerungen an. Seetornados trifft man am häufigsten in dem Bereich und der Nachbarschaft der Region der Kalmen (s. d.); sie sind hier außerordentlich heftig und sehr gefährlich für die

[Wappen von Torgau.]

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Tornberg - Torpedo.

Schiffe. Die T. werden von einem sehr kräftigen aufsteigenden Luftstrom gebildet, welcher in der Höhe seine Wasserdämpfe verdichtet. Auf diese Weise entsteht über den T. regelmäßig die Sturmwolke, eine kleine schwarze Wolke, das sogen. Ochsenauge, welche rasch zunimmt und sich nach oben hin trichterförmig erweitert. Sie bilden einerseits den Übergang zu den Tromben oder Windhosen (s. Trombe), anderseits zu den Cyklonen oder eigentlichen Wirbelstürmen (s. Wind). Vgl. Reye, Die Wirbelstürme, T. und Wettersäulen (Hamb. 1872).

Tornberg, Karl Johan, schwed. Orientalist, geb. 23. Okt. 1807 zu Linköping in Ostgotland, studierte von 1826 an zu Upsala Theologie und orientalische Sprachen, habilitierte sich 1835 daselbst als Dozent des Arabischen, setzte 1836-38 seine Sprachstudien noch in Paris unter Sacy, Jaubert und Quatremère fort und wurde 1844 außerordentlicher, 1850 ordentlicher Professor der morgenländischen Sprachen an der Universität zu Lund, wo er 6. Sept. 1877 starb. Er gab heraus: Ibn el Vardis "Fragmenta libri Margarita mirabilium" (mit lat. Übersetzung, Ups. 1835-45, 2 Bde.); "Primordia dominationis Murabitorum" (aus dem "Kartas" genannten Buch, das. 1839); Ibn Chaldunis "Narratio de expeditionibus Francorum in terras Islamismo subjectas" (das. 1840); Ibn abi Zer' Fesanos "Annales regum Mauritaniae" (im Arabischen "Roudh el Kartas", mit lateinischer Übersetzung und Noten, das. 1843-1846, 2 Bde.) und Ibn al Athirs umfangreiches "Chronicon, quod perfectissimum dicitur" (im Arabischen: "Kamil Ette warikh", Leid. 1851-74, 13 Bde.). T. schrieb außerdem: "De linguae Aramaeae dialectis" (Ups. 1842), beschrieb die "Codices arabici, persici et turcici bibliothecae Upsaliensis" (das. 1849) und die "Codices orientales bibliothecae Lundensis" (Lund 1850) und lieferte wichtige Beiträge zur arabischen Münzenkunde in "Symbolae ad rem numariam Muhammedanorum" (Ups. 1846-1856, 3 Tle.) und "Numi cufici" (das. 1848).

Torneà (spr. tórneo), Stadt im finn. Gouvernement Uleaborg, am linken Ufer des hier in den Bottnischen Meerbusen mündenden Torne-Elf, der schwedischen Stadt Haparanda gegenüber, mit (1885) 1015 Einw. 75 km nördlicher liegt der Berg Awasaksa (s. d.). T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Torneutik (griech.), Dreher-, Drechslerkunst.

Tornister (im mittelalterlichen Latein turnicella), Hauptbestandteil des Gepäcks der Fußsoldaten, meist viereckiger Behälter, aus einem Holzgestell mit wasserdichtem Überzug von Fellen oder präpariertem Segeltuch bestehend, wird an zwei Riemen oben auf dem Rücken getragen, dient nebst dem Brotbeutel zum Fortschaffen der nicht am Körper befindlichen Ausrüstungsstücke des Soldaten.

Toro (Bocas del T.), Bezirk des Staats Panama, s. Chiriqui.

Toro, Bezirksstadt in der span. Provinz Zamora, rechts am Duero (mit schöner Brücke) und an der Eisenbahn Medina-Zamora, mit (1878) 7754 Einw.

Torontál, ungar. Komitat, längs der Maros und Theiß, wird von diesen Flüssen, der Donau und vom Komitat Temes begrenzt, umfaßt 949 qkm (172,4 QM.), ist eben, sehr fruchtbar, hat viele Sümpfe und Moräste und (1881) 530,988 Einw. (Deutsche, Serben, Ungarn und Rumänen), welche Ackerbau und Viehzucht, lebhaften Handel und Schiffahrt treiben, und wird von der Szegedin-Temesvárer Bahnlinie sowie vom Begakanal durchschnitten. Komitatssitz ist die Stadt Groß-Becskerek.

Torónto, Hauptstadt der britisch-amerikan. Provinz Ontario, an der westlichen Nordküste des Ontariosees und an einem vortrefflichen, durch ein Fort beschützten Hafen gelegen, ward 1794 (unter dem Namen York) angelegt und nahm 1834 den jetzigen indianischen Namen an, der "Versammlungsort" bedeutet. T. ist jetzt eine der blühendsten Städte Nordamerikas, mit stattlichen öffentlichen Gebäuden und Privathäusern, aber flacher, reizloser Umgebung. Es ist Hauptsitz der höhern Bildungsanstalten Kanadas. Es hat eine 1827 gegründete Universität mit Sternwarte und Museum, 3 theologische Colleges, 2 Arznei- und eine Tierarzneischule, eine Lehrerbildungsanstalt, ein Gymnasium und 2 Museen. Unter den zahlreichen Kirchen zeichnen sich die anglikanische und katholische Kathedralen aus. Andre öffentliche Gebäude sind: der oberste Gerichtshof Kanadas (Osgoode hall), das Stadthaus, Zollamt, die Börse, eine große Markthalle, ein Kristallpalast für landwirtschaftliche Ausstellungen, ein Krankenhaus und eine Irrenanstalt. Der Handel blüht ungemein, indem Torontos günstige Lage es zum Haupthafen der westlichen Distrikte Kanadas gemacht hat (Wert der Einfuhr 1887: 21 Mill., der Ausfuhr 3,2 Mill. Doll.). Die Stadt hat Möbelfabriken, Gießereien, Brennereien, Brauereien, Korn- und Papiermühlen. Die Bevölkerung wuchs 1817-81 von 1200 auf 86,415 Seelen. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Toropez, Kreisstadt im russ. Gouvernement Pskow, an der Toropa, mit vielen griechisch-russ. Kirchen, 2 Klöstern, zahlreichen Gerbereien u. (1887) 6811 Einw.

Torossen, s. Eis, S. 399.

Torpeder, der Mann, welcher den Torpedo handhabt; s. Torpedo, S. 768.

Torpedo, Zitterroche, s. Rochen.

Torpedo (hierzu Tafel "Torpedos"), ein mit Explosivstoff gefüllter, namentlich zum Zerstören feindlicher Schiffe dienender Apparat, nach dem Zitterrochen benannt. David Bushnell (geb. 1742 zu Connecticut, gest. 1826 in Georgia) baute 1776 ein steuerbares submarines Boot, mit dessen Hilfe man eine Holzschraube in den Rumpf des feindlichen Schiffs schrauben und an diese ein mit Pulver gefülltes Gefaß hängen konnte, das in bestimmter Zeit durch ein Uhrwerk zur Explosion gebracht wurde. Diese Erfindung hatte aber so wenig Erfolg wie die Bushnellschen Treibtorpedos, welche, mit dem Strom gegen die feindlichen Schiffe treibend, durch den Anstoß an dieselben explodieren sollten. Robert Fulton konstruierte 1797 ebenfalls ein unterseeisches Boot, machte mit demselben 1801 im Hafen von Brest gelungene Sprengungsversuche, wandte sich aber, da er keine Anerkennung fand, 1804 nach England und begleitete eine Expedition nach Boulogne, um die dort liegende französische Flotte durch Seeminen, die man Catamaran ("Floß", daher "Catamaran-expedition") nannte, zu zerstören. Die mit 40 Fässern Pulver gefüllten Catamarans sollten durch ein Uhrwerk zu bestimmter Zeit entzündet und durch den Strom gegen die feindlichen Schiffe geführt werden, hatten aber nur einen sehr geringen Erfolg. 1806 nach Amerika zurückgekehrt, veröffentlichte Fulton in seinem Buch "T. war, or submarine explosions" (1807) noch viele Projekte, welche zum Teil erst in neuerer Zeit verwirklicht wurden. Samuel Colt (Erfinder des Revolvers) sprengte 1842 mehrere verankerte Schiffe und 1843 ein solches, das mit 5 Seemeilen Fahrt lief, mittels elektrischer Zündung aus einer Entfernung von 5 Seemeilen in die Luft. In dem T. wurde durch eine Vorrichtung bei der Berüh-

Torpedos.

Fig. 4. Torpedoboot mit Stangen-Torpedo.

Fig. 1. Kontakt-Torpedo.

Fig. 8. Auslegen von Kontakt-Torpedos.

Fig. 5. Elektrisch steuerbarer Fisch-Torpedo.

Fig. 2. Chemisch wirkender Zünder des Kontakt-Torpedos.

Fig. 3. Treib-Torpedo.

Fig. 6. Durchschnitt. a Lancierrohr b Torpedolager c Kessel d Maschine e Raum für Offiziere f Raum für Mannschaft g Schraube h Revolverkanonen i Kommandotürme k Reserveschraube l Beiboot m Masten mit Segeln, nur zur Überführung nach China n Podest für Schnellfeuerkanonen o Schnellfeuerkanonen p Luke oberhalb der Maschine q Ventilator r Luken zum Maschinen- und Kesselraum s Bugruder

Fig. 7. Grundriß

Fig. 6 u. 7. Hochsee-Torpedoboot, für die chinesische Regierung erbaut.

Zum Artikel »Torpedo«.

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Torpedo (Defensiv- und Offensivtorpedos).

rung mit dem Schiffsboden ein metallischer Kontakt hervorgebracht, der den richtigen Augenblick für die Zündung am Land signalisierte. Die hierbei benutzten Leitungsdrähte (so viel bekannt, die ersten submarinen Kabel) waren durch eine Mischung von Asphalt und Wachs isoliert. 1848 führten Himly und Werner Siemens zum Schutz gegen die dänische Flotte eine Hafensperre in Kiel aus. Es wurden ausgepichte, mit 20 Ztr. Pulver gefüllte Fässer, in welche zwei Leitdrähte geführt waren, deren Verbindungsdraht in Schießbaumwolle lag, 6 m tief verankert. Am Strand waren zwei Beobachtungsstellen angelegt, von denen aus das Passieren einer Mine beobachtet wurde. Im Krimkrieg verwendete man elektrische, vom Land aus zu zündende Grundminen (auf dem Grund liegend) und Stoß- oder Kontaktminen, die durch den Anstoß des Schiffs zur Explosion gebracht werden sollten. Der Zünder der letztern bestand aus einer mit Schwefelsäure gefüllten Glasröhre, bei deren Zerbrechen sich die Säure über ein Gemisch von chlorsaurem Kali und Zucker ergoß, wodurch dieses und somit die Mine zur Explosion gebracht wurde. Über den Zünder war eine Schutzkappe aus Blei geschraubt (s. Tafel, Fig. 1 u. 2, Kontakttorpedo und Zünder desselben). Ihre allgemeine Einführung als Kriegsmittel und ihre heutige Bedeutung verdanken die Torpedos dem amerikanischen Bürgerkrieg. Im Februar 1862 fanden die Nordstaaten die erste Torpedosperre im Savannahfluß; im Oktober d. J. organisierten die Südstaaten das erste Torpedokorps, anfänglich unter Leitung von F. M. Maury, dann unter dem General Rains. Von den sich jetzt andrängenden zahllosen Torpedoerfindungen fanden folgende vorzugsweise Verwendung: Die Pfahl-, Rahmen- oder Gerüstminen zur Sperrung von Hafeneinfahrten waren auf eingerammtem Pfahlwerk befestigte Sprengkörper mit 12½ kg Pulver, deren Zünder durch Anstoß funktionierte. Die Treib- oder Faßtorpedos waren verpichte, mit 40 bis 60 kg Pulver gefüllte Fässer, meist mit mehreren Kontaktzündern, zuweilen auch mit Uhrwerk versehen, die mit angehängtem Ballast unter der Oberfläche schwammen und durch den Strom gegen die Blockadeschiffe getrieben wurden. Der auf beifolgender Tafel dargestellte Treibtorpedo (Fig. 3) hat einen Perkussionszünder, welcher erst funktioniert, wenn die Mine zum Stillstand kommt; dann wird durch den Strom die Schraube mit Flügeln in Drehung versetzt, wodurch das aus der Drehachse verschiebbare Gewinde so weit fortgleitet, bis die Hahnsicherung frei wird; sofort schlägt der Hahn herunter auf ein Zündhütchen und bringt dieses und die Mine zur Explosion. Da die Treibminen nicht selten den eignen Schiffen gefährlich wurden, wenn sie der Gegenstrom bei eintretender Flut zurückführte, so wendete man zur Sperrung der Häfen vielfach schwimmende Torpedos an, die, am Grund verankert, durch einen Schwimmer von Korkholz getragen wurden. Nach der Konstruktion von Singer war das mit der Basis nach oben gekehrte Minengefäß von der Form eines abgestumpften Kegels durch einen lose aufliegenden Deckel geschlossen, welcher herunterfiel, sobald die Mine beim Anstoß eines Schiffs sich nach einer Seite neigte; im Herunterfallen löste er die Hemmung eines Schlaghahns aus, der nun eine Zündpille durch Schlag entzündete, worauf die Mine explodierte. Durch das Bewachsen mit Muscheln wurde aber der Mechanismus aller komplizierten Zündvorrichtungen häufig sehr bald in seiner Gangbarkeit gestört, die Schwimmkraft der Minen vermindert und dadurch ihre zeitgerechte Explosion fraglich. Eine furchtbare Waffe waren die Uhrwerktorpedos oder Höllenmaschinen, gewöhnliche Warenkisten, mit Pulver gefüllt und mit einem Uhrwerk versehen, das zu bestimmter Zeit die Explosion bewirkte. Die Kohlentorpedos waren gußeiserne Gefäße, durch Bestreichen mit Teer und Bekleben mit Kohlengruß den großen Kohlenstücken täuschend ähnlich gemacht. Sie wurden, mit Pulver gefüllt, unter Kohlen gemischt und explodierten in der Kesselfeuerung der Dampfschiffe, die dann sofort versanken. Durch solche Kisten- und Kohlentorpedos ist wahrscheinlich eine große Anzahl Schiffe der Nordstaaten zerstört worden, deren spurloses Verschwinden nur so erklärt werden kann. Außer den genannten kamen noch elektrische Minen mit 20-30 Ztr. Pulver erfolgreich zur Verwendung. Bei diesen wurden die mit Guttapercha und geteertem Hanf isolierten Leitungsdrähte durch einen dünnen Platindraht (Glühdraht) verbunden, welcher in einem mit Knallquecksilber oder Mehlpulver gefüllten Zünder steckte.

Hatten die bisherigen Torpedos mit Erfolg ausschließlich der Verteidigung gedient, so lag es nahe, dieselbe Waffe auch beim Angriff zu verwenden, und man löste die Aufgabe nach Fultons Vorschlag, indem man an der Spitze langer Stangen einen T. mit Kontaktzünder befestigte und denselben unter den Boden des feindlichen Schiffs schob (s. Tafel, Fig. 4). Hierzu bediente man sich der Ruderboote oder kleiner Dampfbarkassen und besonders für diesen Zweck erbauter eiserner Dampfboote in Zigarrenform, die ihrer Kleinheit wegen Davids genannt wurden. Auch Bushnells Idee der unterseeischen Boote trat wieder ins Leben; 17. Febr. 1864 wurde im Hafen von Charleston der Hausatonic durch ein solches gänzlich zerstört, mit ihm aber auch das Boot. Nach solchen Erfolgen traten alle Staaten dem Torpedowesen näher. Überall wurden Kommissionen zur Prüfung des Vorhandenen, Ausführung von Versuchen und entsprechenden Neukonstruktionen eingesetzt. Man teilte die Torpedos in Defensiv- und Offensivtorpedos und nannte erstere Seeminen, letztere kurzweg Torpedos. Die im amerikanischen Krieg so viel verwendeten Treibtorpedos verwarf man in Rücksicht auf die Gefahr, die sie bei eintretendem Rückstrom oder bei Offensivbewegungen den eignen Schiffen bringen, gänzlich. Alle Seeminen wurden verankert und mit Auftrieb versehen, so daß sie in bestimmter Wassertiefe schwimmend erhalten wurden. Die Zündung der Minen erfolgte durch Kontakt- oder durch elektrische Zünder. Jene, die Stoßminen, haben den Vorzug großer Einfachheit; aber ihr gefahrvolles Auslegen und Wiederaufnehmen sowie die Sperrung der Ausfahrt auch für die eignen Schiffe mußten ihre Verwendung auf den zu beiden Seiten für den eignen Verkehr freizulassenden Teil des Fahrwassers beschränken, während in dem durch sie nicht gesperrten Wasser Beobachtungsminen so tief versenkt wurden, daß die Fahrt auch bei Ebbe für die größten Schiffe frei blieb. Die alleinige Verwendung von elektrischen Beobachtungsminen ist bei größerer Zahl durch die Kabelleitung (zwei Drähte für jede Mine) nicht nur sehr kostspielig, sondern auch in Bezug auf sichere Beobachtung kaum durchführbar. Alle bis jetzt bekannt gewordenen Vorrichtungen zur Bestimmung des Augenblicks, wann sich ein Schiff über einer der Minen befindet, sind kompliziert und bei Nacht, Nebel und Pulverdampf nicht zu gebrauchen. Den Apparaten liegt die Idee zu Grunde, durch den Schnittpunkt zweier Visierlinien den Moment zu bestimmen, wann sich ein

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Torpedo (ältere und neuere Konstruktionen).

Schiff über der Mine befindet. Bei den meisten Apparaten sind zwei Meßtische aufgestellt, deren Abstand als Basis für das Beobachtungsdreieck genügend groß sein muß. Auf jeder der beiden Meßtischplatten, auf denen die ausgelegten Minen durch Punkte bezeichnet sind, steht ein Fernrohr, und es handelt sich nun darum, dem Fernrohr an der Zündstation die Bewegungen des andern synchronistisch mitzuteilen, zu welchem Zweck beide Meßtische durch eine elektrische Leitung verbunden sind. Durch dieselbe wird mit Hilfe mechanischer Einrichtungen auf der Zündstation ein Zeiger oder Lineal parallel der Fernrohrachse der andern Station bewegt. Bilden nun die Verbindungslinie der beiden senkrechten Fernrohrachsen und die Visierlinien der beiden Fernrohre das wirkliche Beobachtungsdreieck, so wird durch das synchronistisch bewegte Lineal auf der Zündstation stets ein jenem ähnliches Dreieck dargestellt, und wenn die in die See fallende Spitze des Dreiecks auf einen Minenpunkt fällt, so ist der Moment für die Stromschließung der Zündbatterie und die Explosion der Mine gekommen. In Deutschland ist ein derartiger Apparat von Siemens und Halske im Gebrauch. Aus allem diesen geht hervor, daß nur eine solche Zündeinrichtung der Minen befriedigen konnte, welche die Vorteile des Kontakt- und elektrischen Zünders ohne deren Nachteile vereinigt. Dies war bereits 1866 vom österreichischen Obersten v. Ebener erkannt worden, und es gelang ihm, eine solche Vorrichtung herzustellen, bei welcher durch den Stoß des Schiffs die Stromschließung der Leitung selbstthätig in der Weise erfolgte, daß eine federnde Pufferstange beim Anstoß ein Rad in Bewegung setzte, wodurch zunächst die Stromschließung, sodann aber die Einschaltung der Zündpatrone in den Stromkreis stattfand. War nun die Zündbatterie am Land eingestellt, so erfolgte die Explosion; andernfalls ging der Puffer nach Einwirkung des Schiffs auf denselben wieder zurück, ohne daß eine Entzündung eintrat. Diese Minen gestatteten also die freie Durchfahrt, solange die Zündbatterie am Land nicht eingeschaltet war, ganz wie die Beoachtungsminen und verhielten sich nach deren Einschaltung wie Stoßminen. Wegen der Kompliziertheit der mechanischen Einrichtung sind diese Minen indes nicht mehr in Verwendung. Vorteilhafter erwies sich der Hertzsche elektrische Zünder, der beliebig lange in Wirksamkeit bleibt, aber erst dann in Thätigkeit tritt, wenn durch den Anstoß eines Schiffs seine Kohlenzinkelemente mit einer erregenden Flüssigkeit in Verbindung gebracht werden; die Entzündung erfolgt aber auch dann nur, wenn noch ein Leitungsdraht zum Meeresboden führt. Das gefahrlose Auslegen dieser Minen ist dadurch gesichert, daß erst nach einstündigem Liegen im Wasser die elektrische Batterie des Zünders wirkungsfähig wird; inzwischen bleibt jedes Berühren des Torpedos ohne Erfolg. Die Gefahr des Aufnehmens ist vollständig beseitigt, sobald der Draht vom Meeresboden gehoben oder durchschnitten ist. Zu diesem Zweck vereinigt man die Drähte einer größern Anzahl von Minen an einem außerhalb ihrer Wirkungssphäre liegenden und nur dem Eingereihten bekannten Punkte. Diese Minen, deren spezielle Einrichtung geheimgehalten wird, bilden in Deutschland den Schwerpunkt der Küstenverteidigung durch Torpedos. Seitdem man die Seeminen, statt mit Ketten und Steinen oder gewöhnlichen Ankern, mit Drahttauen und Pilz- oder Saugankern, die sich im Grund festsaugen, verankert, werden dieselben weniger leicht durch Strömungen fortgerissen. Man legt die Stoßminen in zwei oder mehr Reihen (Treffen) schachbrettförmig hintereinander an, so daß ein Schiff die Sperre nicht passieren kann, ohne auf eine Mine zu stoßen.

Der Spierentorpedo besitzt noch die alte Konstruktion, nur wendet man häufig auch bei ihm die elektrische Zündung an. Ende der 60er Jahre wurde von den Gebrüdern Harvey ein Offensivtorpedo konstruiert, der aus einem kupfernen, mit Holz bekleideten trapezoidischen Kasten besteht; an demselben sind mehrere in einen Ring zusammenlaufende Leinen so befestigt, daß der T. beim Schleppen um 45-60°, je nach der schnellern Fahrt, querab vom Schiff ausschert. Man manövriert so, daß das feindliche Schiff über die Schleppleine laufen muß, bei deren Anziehen der T. gegen den Schiffsboden stößt, in welchem Augenblick die Explosion bei Kontaktzündern von selbst erfolgt, oder man zündet durch Elektrizität. Zur Verhütung vorzeitiger Explosionen ist der Zündmechanismus durch einen Vorstecker arretiert, den man mittels einer Leine herauszieht, wenn der T. weit genug vom Schiff abgetrieben ist. Der Harvey-T. kann nur bei Tage gebraucht werden, und im Geschwaderkampf können Feind wie Freund auf den T. auflaufen, zumal wenn im Melée und Pulverdampf die Schiffe schwer zu unterscheiden sind. Aus diesen Gründen ist der Harvey-T. in den meisten Marinen wieder außer Gebrauch gekommen oder höchstens auf die Fälle beschränkt, wenn einzelne Schiffe auf Kreuzungen ausgehen.

Fulton stellte 1814 Versuche an, mit Geschützen unter Wasser zu schießen, um Schiffen unter der Wasserlinie einen Leck beizubringen, und hat bis in die neueste Zeit Nachahmer gefunden, von denen aber keiner Erfolg erreichte; der Widerstand des Wassers ist so bedeutend, daß die Geschwindigkeit der Geschosse in rapider Weise abnimmt. Man kann von einem Geschoß unter Wasser nur dann befriedigende Wirkung erwarten, wenn die dasselbe bewegende Kraft nicht bloß einmal, wie beim Geschütz, sondern auf eine gewisse Zeit dauernd wirkt. 1730 soll Desaguliers Boote unter Wasser mit Raketen zerstört haben; 1862 schoß Hunt aus 30,5 cm Geschützen Raketen; 1874 machte Weir in New York unter Wasser Versuche mit einer Rakete von 2,31 m Länge, 30,5 cm Durchmesser und 111 kg Gewicht, wovon auf den Treibsatz 35 kg und die Sprengladung 34 kg kamen; sie ging mit etwa 4,5 m Geschwindigkeit, hatte aber infolge ihres Leichterwerdens durch Verbrennen des Satzes eine unregelmäßige Flugbahn. 1872 wurde von Lay ein elektrisch steuerbarer Fischtorpedo in Zigarrenform (s. Tafel, Fig. 5) konstruiert, dessen treibende Kraft durch das Verdunsten flüssiger Kohlensäure erzeugt wird, wovon der T. 200-250 kg enthält. Das Ausströmen der Kohlensäure ist auf 6 Atmosphären Druck geregelt, so daß der Schraubenpropeller die gleiche Geschwindigkeit behält. Durch ein sich aus dem T. abwickelndes Kabel mit zwei Leitungsdrähten bleibt derselbe mit dem Land in Verbindung. Der galvanische Strom setzt einen komplizierten Mechanismus in Bewegung, durch den das Öffnen und Schließen eines Dreiwegehahns für das Ausströmen der Kohlensäure und durch Anziehen von zwei Elektromagneten das Steuern bewirkt wird. Durch die Elektromagnete werden zwei Kolben bewegt, von denen jeder mit einer Seite der Ruderpinne verbunden ist. Der Gang des Torpedos im Wasser ist durch zwei auf seinem Rücken stehende Stäbe sichtbar gemacht. Außer sehr großer Kompliziertheit hat dieser T., der von der ägyptischen Regierung angenommen ist, unter vielen andern noch den Nachteil, daß die Herstellungskosten eines Exemplars

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Torpedo (Fischtorpedo, Torpedoboote).

30,000 Mk. betragen. Der Smithsche T. (1872) ist dem vorigen ähnlich; er wird durch den Druck flüssigen Ammoniaks bewegt und mittels galvanischen Stroms gesteuert. Alle diese und andre Offensivtorpedos werden von dem 1867 vom österreichischen Kapitän Lupis und dem Ingenieur Whitehead in Fiume erfundenen Fischtorpedo übertroffen, welcher wegen seiner vorzüglichen Leistungen von fast allen Kriegsmarinen eingeführt worden ist. Ein Whiteheadscher Fischtorpedo ist ca. 4,5 m lang, bei einem größten Durchmesser von 0,5 m; er besitzt kreisrunde Querschnitte und ist an beiden Enden scharf zugespitzt. Sein Gewicht beträgt ca. 300 kg. Als treibende Kraft dient in eine besondere Abteilung des Torpedos bis zu 100 Atmosphären Spannung eingepumpte Luft, die bei ihrem Ausströmen eine Maschine treibt, durch welche zwei vierflügelige Schrauben gedreht werden, die hintereinander sitzen und sich gegeneinander bewegen, um das Drehen des Torpedos zu verhüten. Um das Schiff in bestimmter Tiefe unter der Wasserlinie zu treffen, hat der Fischtorpedo eine Einrichtung, durch welche er auf eine bestimmte Wassertiefe gestellt werden kann, und die, auf ein horizontales Ruder wirkend, die Wassertiefe während der ganzen Dauer der Bewegung reguliert; ein zweites, senkrecht stehendes Ruder dient zur Innehaltung der Richtung in vertikaler Ebene. Der vorderste Teil des Torpedos enthält die Sprengladung, die durch einen beim Anstoß funktionierenden Zünder entzündet wird. Vier radial am Kopf sitzende scharfe Messer verhindern bei schiefem Auftreffen an der Schiffswand das Abgleiten. Die Geschwindigkeit des Torpedos wird vor seinem Ablassen durch Stellung der Ventile bestimmt: werden diese ganz geöffnet, so erreicht er in der ersten Sekunde eine Geschwindigkeit von etwa 13 m und läuft fast 2 Seemeilen; bei einer Anfangsgeschwindigkeit von 6,5 m erreicht er 2 Seemeilen (3710 m). Mit der Geschwindigkeitsabnahme wachsen die Schwankungen und nimmt die Treffsicherheit ab. Die Fischtorpedos wurden früher aus Stahl, jetzt der bessern Konservierung halber aus Phosphorbronze hergestellt. Ein T. kostet ca. 7500 Mk. Die Fischtorpedos wurden zuerst aus unter Wasser, im Bug und Heck in der Symmetrieebene des Schiffs fest eingebauten Lancierrohren abgelassen, derart, daß die durchlaufene Bahn in der verlängerten Mittellinie des Schiffs lag. Auch die Einführung von über Wasser befindlichen Lancierrohren änderte an letzterm Umstand nichts, so daß die dem T. zu gebende Richtung demselben lediglich mit dem Schiff selbst erteilt werden konnte, was bei bewegtem Wasser und sich schnell bewegendem Zielobjekt mit geringen Treffchancen verknüpft ist. Infolgedessen hat man zur Zeit zum Abschießen von Fischtorpedos geschützartige Apparate, sogen. Torpedokanonen, in Anwendung gebracht, welche, auf Deck stehend und um ein Pivot drehbar, in ähnlicher Weise das Ziel zu nehmen gestatten wie gewöhnliche Geschütze. Das Abschießen des Torpedos aus dem Lancierrohr, resp. der Kanone geschah zuerst und geschieht bei den ältern Apparaten auch jetzt noch mittels komprimierter Luft; in neuester Zeit bringt man zu dem Zweck auch Schießpulver zur Anwendung, welches man in der Torpedokanone hinter dem als Geschoß fungierenden Torpedo zur Verbrennung bringt. Wenn der T. das Lancierrohr oder die Torpedokanone verläßt, stößt ein äußerlich vorstehender Daumen gegen eine Knagge, hierdurch wird ein entsprechender Hahn geöffnet, und nun beginnt die durch komprimierte Luft betriebene Maschine ihre Thätigkeit. Die in der vordern Spitze des Torpedos untergebrachte Sprengladung besteht aus feuchter Schießbaumwolle. Obgleich der Fischtorpedo zur Zeit an Bord von fast allen größern Kriegsschiffen geführt wird, so findet derselbe seine Hauptanwendung doch auf den sogen. Torpedobooten (Fig. 6 u. 7), deren fast ausschließliche Bewaffnung derselbe bildet. Fast alle Kriegsmarinen besitzen größere oder kleinere Torpedobootflottillen, darunter Deutschland die mit am besten organisierten. Die Boote sind aus Stahl gebaut und haben eine Länge von ca. 40 m, die jedoch in neuester Zeit im Interesse einer größern Ladefähigkeit (entweder um mehr Torpedos nebst Munition, ein größeres Kohlenquantum oder eine anderweitig vollkommnere Armierung, bestehend in Schnellfeuerkanonen oder Revolvergeschützen, mitführen zu können) keineswegs die Maximallänge repräsentiert. Ihre scharfe Form und die bedeutende Kraft ihrer Maschinen gestatten denselben, Geschwindigkeiten von 20 Knoten und darüber zu erreichen. Derartig hohe Geschwindigkeiten befähigen die Torpedoboote bei besondern Gelegenheiten, speziell wenn es nicht darauf ankommt, ihren immerhin nur geringen Kohlenvorrat vorzeitig zu erschöpfen, unter andern auch zu Ekläreurdiensten und sind bei der Ausübung ihres Angriffs auf feindliche Schiffe unerläßlich. Letztern hat man sich in der Weise vorzustellen, daß eine größere Anzahl von Booten entweder unter dem Schutz eines Geschwaders von größern Schlachtschiffen oder von geeigneten Punkten der Küste aus, vorzugsweise des Nachts, dem feindlichen Schiff so schnell als möglich auf Schußweite nahe zu kommen sucht. Dieses Manöver hat deswegen die Chance des Gelingens für sich, weil das feindliche Schiff seine Aufmerksamkeit nicht auf sämtliche angreifenden Boote gleich wirksam ausüben kann; während es sich gegen einige derselben verteidigt, wird das eine oder andre Boot Gelegenheit finden, seinen T. zu lancieren. Die Verteidigungsmittel größerer Kriegsschiffe gegen einen Angriff von Torpedobooten bestehen in schnell feuernden und Revolverkanonen, deren Aufstellung an Bord so beschaffen ist, daß das Schiff nach allen Richtungen hin feuern kann. Bei einem nächtlichen Angriff wird dabei auch die weitere Umgebung des Schiffs mittels elektrischen Bogenlichts erleuchtet, dessen Reflektoren so eingerichtet sind, daß sie, um eine vertikale Achse drehbar, den ganzen Horizont abzusuchen gestatten. Um nun ihrerseits in dem Leuchtkegel des elektrischen Strahls nicht zu früh als Torpedoboote erkannt zu werden, sind diese über Wasser in allen ihren Teilen mit einer nicht reflektierenden schwarzen Farbe gestrichen. Gelingt es einem Torpedoboot, innerhalb der Schußweite der schnell feuernden Kanonen im elektrischen Lichtkegel unbemerkt zu bleiben, so ist die Chance gegeben, bis zum nächsten Beleuchtetwerden bis auf Torpedoschußweite heranzukommen. Hieraus ergibt sich, wie große Anforderungen an die Aufmerksamkeit eines einen Torpedobootsangriff erwartenden Schiffs gestellt werden, und daß anderseits die von Torpedobooten verzeichneten günstigen Erfolge zum Teil der Unaufmerksamkeit des angegriffenen Schiffs zuzuschreiben sind. Bei der Blockade von feindlichen Häfen, deren Verteidigung Torpedobooten obliegt, tritt häufig der Fall ein, daß die blockierenden Schiffe ankern müssen. Diese umgeben sich alsdann mit sogen. Torpedoschutznetzen aus starkem Stahldraht, welche an Spieren in einer gewissen Entfernung vom Schiff in solcher Weise ausgebracht werden, daß der unter Wasser befindliche Teil des Schiffs vollkommen durch die Netze

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Torpedobatterie - Torre Annunziata.

maskiert wird. Ein auf das Schiff lancierter T. wird durch das Netz aufgefangen und kommt nicht in unmittelbarer Nähe der leicht verletzbaren Teile des Schiffsbodens zur Explosion, so daß die Möglichkeit, durch dieselbe zum Sinken gebracht zu werden, nur gering ist. Zum Sperren der Häfen und Reeden mit Minen bedient man sich besonderer Boote, Minenleger und Minenprahme; letztere dienen nur zum Transport, erstere zum Auslegen der Minen, zu welchem Zweck sie Kräne zum Aufhängen der Minen und Anker haben müssen, die in neuerer Zeit meist korrespondierend an beiden Bordwänden stehen, oder man benutzt hierzu das Bugspriet oder auch einen Kranbalken am Heck (Fig. 8). - Über die gegen die Minen anzuwendenden Schutzmittel hat man noch wenig Erfahrungen. Die Leitungsdrähte von elektrischen Minen wird man durch Schleppanker und Dreggen aufzufischen suchen und zerschneiden; man wird Ketten und Taue über den Grund ziehen, um die Minen selbst aufzufischen oder zur Explosion zu bringen, zu welchem Zweck man kleine Boote vorschickt. Der Verteidiger aber wird sich hiergegen dadurch sichern, daß er die Minensperre in den Bereich des wirksamen Geschützfeuers legt und vor dieselbe eine Kettensperre zieht. Hat man von der Lage der Minen Kenntnis, so wird man zwischen dieselben Minen (Gegen- oder Quetschminen) zu legen suchen oder hineintreiben, um durch deren Explosion die Explosion der Sperrminen zu veranlassen. Man glaubt sogar, sich mit schweren Geschossen einen Weg durch die Minensperre erschießen zu können. Auch will man, wie im Rettungswesen, mit einem Geschoß eine Leine über die Sperre schießen und beim Zurückziehen derselben Minen zerstören. Gegen Angriffe mit Spierentorpedos ist die Wachsamkeit der beste Schutz. In den meisten Marinen hat man für den Dienst mit Torpedos besondere Torpedokorps errichtet; in denselben ist der Torpederleutnant ein Verwaltungsoffizier, Obertorpeder und Torpeder sind Deckoffiziere erster und zweiter Klasse, der Obertorpedersmaat ist Sergeant und der Torpedersmaat Unteroffizier. Vgl. "Die Torpedos und Seeminen in ihrer historischen Entwickelung" (Berl. 1878); "Submarine warfare offensive and defensive" (New York 1869); "Des explosions au sein de l'eau" und "Études sur les effets des explosions sous-marines" in der "Revue maritime" (Par. 1877); Ehrenkrook, Die Fischtorpedos (Berl. 1878); Derselbe, Geschichte der Seeminen und Torpedos (das. 1878); Sleeman, Torpedos and Torpedo warfare (2. Aufl., Lond. 1889); "Das Torpedowesen in der deutschen Marine" (Berl. 1884).

Als Landtorpedos hat man Sprengkörper bezeichnet, wie sie zuerst im nordamerikanischen Bürgerkrieg bei der Verteidigung von Charleston, dann auch 1870 bei der Verteidigung von Paris benutzt wurden, hölzerne oder eiserne, mit Sprengladung versehene und auf Wegen, Defileen etc. oberflächlich in die Erde vergrabene Gefäße, deren Zünder durch den Fuß der darüber hinschreitenden Truppen in Thätigkeit trat. Weitere Ausbildung erhielten die Landtorpedos durch Zubovits. Er konstruierte fliegende Torpedos mit 2 kg Sprenggelatine, die von den Feldtruppen mitgeführt werden, Torpedos für feldmäßige Befestigung mit 10 kg und solche für beständige Befestigungen mit 15-50 kg Sprenggelatine. Seine Tritttorpedos explodieren beim Betreten der Stelle, wo sie vergraben sind, die Berührungstorpedos beim Wegräumen gewisser Hinderungsmittel (zurückgelassene Wagen etc.), Beobachtungstorpedos bringt ein Beobachter mit Hilfe von Abzugsdrähten im geeigneten Moment zum Spielen, während die selbsttätigen Torpedos durch einen uhrartigen Regulator zur bestimmten Zeit zur Explosion gebracht werden. Dies System ist von mehreren Staaten angenommen worden. Lufttorpedos (Aerobomben) sind Luftballons, welche mit Sprengstoffen geladene Gefäße oder Geschosse über eine feindliche Festung tragen und in dieselbe niederfallen lassen sollen.

Torpedobatterie, Kombination mehrerer Unterwasserlancierrohre für Fischtorpedos, welche von zwei fest miteinander verbundenen Pontons aus gleichzeitig gehoben, geladen und unter Wasser gesenkt werden können. Dieselben sind zur Verteidigung von Hafeneinfahrten bestimmt, bis jetzt jedoch noch im Stadium des Versuchs.

Torpedoboot, s. Torpedo, S. 767.

Torpedogranaten, von Krupp für den 21 cm Mörser hergestellte 6 Kaliber lange Gußstahlgranaten, welche eine Sprengladung von 48 kg prismatischen Pulvers aufnehmen; aus ihnen sind die jetzt in allen Artillerien gebräuchlichen Granaten mit brisanter Sprengladung aus Schießwolle, Dynamit, Melinit etc. hervorgegangen, welche aus 15 und 21 cm Mörsern verschossen werden.

Torpid (lat.), schwer erregbar, empsindungslos.

Tórpor (lat., Torpidität), krankhaft verminderte Erregbarkeit und Beweglichkeit, Stumpfsinn.

Torquatus, s. Manlius 2) und 3).

Torquay (spr. torkih), Stadt in Devonshire (England), steigt terrassenförmig vom Meer an und wird von belaubten Höhen mit zahlreichen Villen eingefaßt. Es ist eine alte Stadt, wie die Ruine der Torabtei und die Tor Moham-Kirche, beide aus dem 14. Jahrh., beweisen, ist aber erst seit Anfang des 19. Jahrh. als beliebter Badeort wichtig geworden. T. hat einen Kursaal, ein Museum, einen Zufluchtshafen für Jachten und (1881) 24,767 Einw. Dabei Kent's Hole, eine Höhle, in der zahlreiche Werkzeuge aus der Steinzeit und die Knochen vorweltlicher Tiere gefunden wurden.

Torquemada (spr. -ke-), 1) Johannes de (Turrecremata), Vertreter des Papalsystems, geb. 1388 zu Valladolid und schon als Knabe dem Dominikanerorden übergeben. Seit 1431 magister sacri palatii in Rom, nahm er an dem Baseler Konzil teil, erklärte sich hier gegen die immaculata conceptio, aber auch gegen den von der Majorität verfochtenen Satz von der Überordnung des Konzils über den Papst. Ihm verlieh für seine dem Stuhl Petri erwiesenen Dienste Eugen IV. den Titel eines "defensor fidei" sowie den Kardinalshut. Er starb 1468 in Rom. Unter seinen Schriften sind zu nennen: "Quaestiones Evangeliorum de tempore et sanctis", ein Kommentar zum Dekret Gratians etc. Vgl. Lederer, Der spanische Kardinal Joh. v. T. (Freiburg 1879).

2) Thomas de, span. Generalinquisitor; s. Inquisition, S. 971.

Torquieren (lat.), krümmend drehen (z. B. Tabak); martern, peinigen, plagen.

Torr. et Gray, bei botan. Namen Abkürzung für J. Torrey, Arzt in New York. Gray, s. Gray 6). Flora Nordamerikas.

Torre Annunziata, Stadt in der ital. Provinz Neapel, Kreis Castellammare, am Golf von Neapel, Knotenpunkt der Eisenbahnen Neapel-Salerno und Cancello-Gragnano, hat bedeutende Fabrikation von Maccaroni, Fischerei, einen Hafen, in welchem 1886: 2566 Schiffe mit 127,904 Ton. einliefen, Ausfuhr von Teigwaren, Mehl und Steinen, Einfuhr von Getreide und Wein und (1881) 20,060 Einw.

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Torre del Greco - Torstensson.

Torre del Greco, Stadt in der ital. Provinz Neapel, am Golf von Neapel und an der Eisenbahn Neapel-Salerno, hat mehrere Kirchen, zahlreiche Landhäuser, ansehnlichen Schiffbau, Fischerei und Korallenfang, Fabrikation von Korallenwaren, Weinbau, Schiffahrt und (1881) 21,588 Einw. T. ist der Hauptsitz der Korallenfischer des Mittelmeers. Es wurde vom Kaiser Friedrich II. auf den Ruinen römischer Bauten gegründet, litt sehr oft durch Erdbeben und Ausbrüche des Vesuvs, so insbesondere 1631, 1794 und 1872. Unweit östlich das Kloster Camaldoli (della Torre) am Hang des Vesuvs.

Torre de Moncórvo, Stadt in der portug. Provinz Traz os Montes, Distrikt Braganza, unweit der Mündung des Sabor in den Douro gelegen, mit Kastell, Seidenweberei und (1878) 2040 Einw.

Torrefaktion (lat.), Dörrung, Röstung (der Erze).

Torre Maggiore (spr. maddschore), Stadt in der ital. Provinz Foggia, Kreis San Severo, hat einen ehemals herzoglichen Palast, ein berühmtes ehemaliges Cassinenserkloster und (1881) 8234 Einw.

Torrenssee (Lake Torrens), großer Salzsumpf in Südaustralien, westlich von und zum Teil parallel mit der Flinderskette und durch einen nur 31 km breiten Isthmus von dem nördlichsten Ausläufer des Spencergolfs getrennt. Ein Projekt, den See mit diesem zu verbinden, kam nicht zur Ausführung, da der T., wie nachgewiesen wurde, zu hoch liegt, um vom Meer aus hinlänglich mit Wasser gefüllt zu werden. Die höchst öden Ufer sind nur an der Ostseite von Viehzüchtern besetzt.

Torre Pellice (spr. pellihtsche. La Tour), Flecken in der ital. Provinz Turin, Kreis Pinerolo, am Pellice und der Eisenbahn Turin-T., Hauptort der Waldensergemeinden, hat ein Lycealgymnasium, Tuch- und Baumwollmanufaktur, Seidenspinnerei und (1881) 2840 Einw.

Torres Novas, Stadt in der portug. Provinz Estremadura, Distrikt Santarem, am Almondo und der Eisenbahn Lissabon-Oporto, hat Leinenindustrie und (1878) 8065 Einw.

Torresstraße, Meerenge zwischen der Yorkhalbinsel des Australkontinents und Neuguinea, welche das Arasurameer mit dem Korallenmeer verbindet. Sie ist durch zahlreiche Inseln: Prince of Wales, Horn, Thursday (s. d.), Booby, Banks, Mulgrave u. a., sowie durch unzählige Korallenriffe, welche sich weit nach O. hin erstrecken, fast verschlossen. Zwischen den Riffen führen schmale Kanäle hindurch, der bedeutendste der Prince of Wales-Kanal, welcher von den Postdampfern zwischen Batavia und Brisbane benutzt wird. Der südlichere Teil heißt Endeavourstraße (s. d.). Der erste, welcher die Straße befuhr, war Torres (1606); Cook besuchte sie 1770, aber erst 1802 fand Flinders einen sichern Weg durch dieselbe.

Torres Vedras, Stadt in der portug. Provinz Estremadura, Distrikt Lissabon, am Sigandro und der Bahnlinie Lissabon-T., mit altem Schloß, 4 Kirchen. Weinbau und (1878) 4926 Einw. In den Linien von T. auf einem Höhenrücken behauptete sich Wellington im Winter 1810 auf 1811 gegen die Franzosen unter Masséna.

Torrevieja, Stadt in der span. Provinz Alicante, am Mittelländischen Meer, durch Zweigbahn mit der Linie Alicante-Murcia verbunden, mit Hafen, starkem Export des in den Salinen der Provinz gewonnenen Salzes (jährlich aegen 800,000 metr. Ztr.) und (1878) 8165 Einw. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Torricelli (spr. -tschelli), Evangelista, Mathematiker und Physiker, geb. 15. Okt. 1608 zu Piancaldoli, studierte etwa seit 1628 in Rom unter Castelli, ging 1641 zu Galilei nach Florenz, um diesem bei der Ausarbeitung seiner "Discorsi" zu helfen, und ward 1642 Professor der Mathematik und Physik in Florenz, wo er 25. Okt. 1647 starb. Er schrieb: "Trattato del moto" (vor 1641) und gab in seinen "Opera geometrica" (Flor. 1644) die Gesetze vom Ausfluß der Flüssigkeiten aus Gefäßen (Torricellis Lehrsatz, s. Ausflußgeschwindigkeit). Er erfand 1643 das Barometer und erkannte die unregelmäßigen Schwankungen desselben, verfertigte zuerst einfache Mikroskope und verbesserte die Fernrohre. Vgl. J. R. v. Mayer, Die Torricellische Leere (Stuttg. 1876).

Torricellische Leere und Röhre, s. Barometer.

Tórrington, alte Stadt in Devonshire (England), am Torridge, südöstlich von Bideford, hat Fabrikation von Handschuhen und (1881) 3445 Einw.

Torsellino (lat. Tursellinus), Orazio, Gelehrter, geb. 1545 zu Rom, trat 1562 in den Jesuitenorden, ward Rektor der Kollegien in Florenz und Loreto; starb 6. April 1609 in Rom. Sein Werk "De usu particularum latini sermonis" (Rom 1598) ward zuletzt von Hand (Leipz. 1829-45, 4 Bde.) bearbeitet.

Torshok, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an der Twerza und der Eisenbahn Ostaschkow-Rshew, eine der ältesten Städte Rußlands und früher Festung, hat 30 Kirchen (darunter eine schöne Kathedrale), ein festungsartig gebautes Mönchskloster zum heil. Jephrem, ein geistliches Seminar, ein Lehrerseminar, berühmte Fabrikation von Lederwaren, Wachsbleichen, lebhaften Handel u. (1885) 14,574 Einw.

Torsion (lat., Drillung, Verdrehung), die Veränderung, welche ein Stab oder Faden erleidet, wenn beide Enden desselben in entgegengesetzter Richtung gedreht werden. Während die Längenachse hierbei unverändert bleibt, werden alle Längsfasern in eine schraubenförmige Lage gebracht und dabei gedehnt. Dadurch entsteht eine Spannung in dem tordierten Körper, die Torsionselastizität, welche denselben in seine ursprüngliche Beschaffenheit zurückzuführen sucht. Die zurückdrehende Komponente dieser Spannung ist nach Coulomb und Wertheim proportional dem Dreh- oder Torsionswinkel, ferner der vierten Potenz des Radius vom Draht und umgekehrt proportional der Länge des Torsionskörpers. - T. in der Botanik, s. Drehwüchsigkeit.

Torsionsfestigkeit, s. Festigkeit, S. 177.

Torsionswage, s. Drehwage.

Torso (ital., "Strunk"), in der Kunstsprache der Rumpf einer Bildsäule, welcher Kopf, Arme und Beine fehlen. Berühmt ist der im Vatikan und zwar in der Belvedere genannten Abteilung der Museen aufgestellte T. des Herakles ("T. vom Belvedere"), welcher unter Papst Julius II. beim Campo di Fiore gefunden worden ist, ein Werk des Bildhauers Apollonios (s. d. 4). Von hervorragender Bedeutung ist auch der T. des sogen. Ilioneus in der Münchener Glyptothek.

Torstensson, Linnard, Graf zu Ortala, schwed. Feldherr im Dreißigjährigen Kriege, geb. 17. Aug. 1603 zu Torstena in Schweden, ward in seinem 15. Lebensjahr Page Gustav Adolfs, kam 1630 als Kapitän der Leibkompanie mit dem König nach Deutschland, ward bei dem Sturm auf Wallensteins Lager bei Nürnberg 3. Sept. 1632 gefangen, im Februar 1633 ausgewechselt, stand dann beim schwedischen Heer in Livland, kehrte 1635 nach Deutschland zurück, machte bis 1639 unter dem Herzog Bernhard von Weimar und Banér alle Feldzüge mit und blieb dann als Reichsrat in Schweden bis 1641. Nach Banérs Tod mit dem Oberbefehl über die Armee

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Torsus - Tory und Whig.

in Deutschland betraut, drang er, wiewohl durch Gichtleiden stets an die Sänfte gefesselt, im Mai 1642 durch Sachsen in Schlesien ein, nahm Glogau und Schweidnitz, rückte in Mähren ein und eroberte Olmütz. Erzherzog Leopold und Piccolomini zwangen ihn jedoch zum Rückzug nach Sachsen, wo er 2. Nov. d. J. auf der Ebene bei Breitenfeld einen blutigen, aber glänzenden Sieg erfocht und dann Leipzig nahm. Um sein Heer durch die Besatzungen Schlesiens und Pommerns zu verstärken, ging er mit demselben im Frühjahr bis nach Frankfurt a. O. zurück, eilte dann wieder über die böhmische Grenze, bedrohte Prag und entsetzte das bedrängte Olmütz. Infolge von Dänemarks Kriegserklärung an Schweden im Dezember 1643 nach Holstein berufen, eroberte er, mit Ausnahme der Festungen Rendsburg und Glückstadt, die ganze Halbinsel. Darauf nach Deutschland zurückgekehrt, schlug er 6. März 1645 den kaiserlichen General Hatzfeld bei Jankau, vereinigte sich sodann mit dem Fürsten Rakoczy von Siebenbürgen, eroberte im Fluge ganz Mähren, drang bis an die Donau vor und nahm die Schanzen an der Wolfsbrücke vor Wien. Um in Mähren festen Fuß zu fassen, begann er alsdann die Belagerung von Brünn; allein der hartnäckige Widerstand dieses Platzes, die Verheerungen, welche eine pestartige Seuche unter seinen Truppen anrichtete, und der Friede Rakoczys mit dem Kaiser nötigten ihn im August zum Rückzug nach Böhmen. Von Krankheit erschöpft, legte er den Oberbefehl in die Hände des Generals Wrangel nieder und begab sich zurück nach Schweden. Von der Königin Christine 1647 zum Grafen zu Ortala ernannt, starb er 7. April 1651 in Stockholm. Vgl. Watts de Peyster, Eulogy of T. (New York 1872).

Torsus, Fluß, s. Tirso.

Tort (lat. tortum), eine jemand absichtlich zugefügte Beleidigung; Unrecht, Verdruß, Unbilde.

Törteln, Kartenspiel, s. Tatteln.

Torticollis (lat.), s. v. w. Schiefhals (s. d.).

Tórtola, britisch-westind. Insel, zu den Jungferninseln (s. d.) gehörig, 64 qkm (1,67 QM.) groß mit 4000 Einw., erzeugt Zucker, Baumwolle und Kaffee. Hauptort ist Roadtown.

Tortona, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Alessandria, unfern der Scrivia, an der Eisenbahn Mailand-Novi-Genua, mit welcher sich hier die Linie Turin-Alessandria-Piacenza kreuzt, ist Sitz eines Bischofs und eines Handelsgerichts, hat eine sehenswerte Kathedrale (mit interessantem antiken Sarkophag), ein Theater, Reste alter Festungswerke (1799 von den Franzosen geschleift), ein Gymnasium, eine Notariatsschule, ein Seminar, eine technische Schule, Seidenspinnerei, Fabrikation von Baumwollwaren, Hüten, Leder und Ackerbauwerkzeugen und (1881) 7147 Einw. - T. ist das antike Dertona. Von Kaiser Friedrich Barbarossa 1155 erobert und zerstört, ward es von den Mailändern wieder aufgebaut. 1796 den Franzosen übergeben, wurde es 1799 von den Österreichern zwar wiedererobert, aber infolge der Schlacht von Marengo aufs neue geräumt.

Tortonische Stufe, s. Tertiärformation, S. 601.

Tortosa, befestigte Bezirksstadt in der span. Provinz Tarragona, am Ebro (mit Schiffbrücke) und an der Bahnlinie Valencia-Tarragona, hat eine Kathedrale, 3 Forts, Fabrikation von Porzellan, Steingut, Seife, Papier, Leder etc., Seesalzgewinnung, lebhaften Handel (mit Öl, Salz etc.) und (1878) 24,057 Einw. T. ist Bischofsitz.

Tortrix, Wickler; Tortricina, Familie aus der Ordnung der Schmetterlinge, s. Wickler.

Tortúga (Tortue, "Schildkröte"), 1) westind., zur Republik Haïti gehörige Insel an der Nordküste Haïtis, 35 km lang, bewaldet und fruchtbar, aber unbewohnt. -

2) Eine der Inseln unter dem Wind, in Westindien, 90 km von der Küste von Venezuela, 60 qkm groß und unbewohnt.

Tortúgas ("Schildkröten"), Gruppe von Koralleninselchen im Golf von Mexiko, am westlichen Ende des Riffs von Florida, zwei mit Leuchttürmen und einem Fort (Jefferson) der Vereinigten Staaten.

Tortur (lat., Marter, Folter, harte oder peinliche Frage), im frühern Strafverfahren Erregung körperlicher Schmerzen, um vom Angeschuldigten Geständnisse zu erpressen. Im römischen Reich wurde die T. anfangs nur gegen Sklaven, später auch gegen Freie und zwar zuerst bei Majestätsverbrechen angewendet. In Deutschland fand die T. durch das römische Recht und durch das Beispiel der italienischen Praxis Eingang, gelangte aber bei dem Aberglauben und der religiösen Intoleranz des 16. und 17. Jahrh. zur ausgedehntesten Anwendung, indem sie zu einem furchtbaren Mittel ward, Schuldige und Unschuldige zum Geständnis zu bringen. Man verfolgte im blinden Eifer, die göttliche Vorsehung nachzuahmen, die Verbrecher als Sünder, und der grausame Sinn der Zeit mit dem Aberglauben im Bund und mit der T. in der Hand belegte eine unglaubliche Menge Unschuldiger als Zauberer und Hexen mit den ungerechtesten Strafen. Mittel der T., welche mehrere Grade hatte, waren z. B. Peitschenhiebe bei ausgespanntem Körper, Zusammenpressen der Daumen oder der Beine mittels Schraubstöcke mit abgestumpften Spitzen (spanische Stiefel, spanischer Bock), Ausrecken des Körpers auf einer Bank oder Leiter, Brennen in der Seite oder an den Nägeln. Bevor man zur T. selbst schritt, wurde häufig mit derselben unter Vorzeigung oder Anlegung der Folterwerkzeuge gedroht (sogen. Territion). Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 suchte zwar die T. zu beschränken, indem niemand ohne hinreichende Verdachtsgründe gefoltert werden sollte; auch sollte das Geständnis nur dann gültig sein, wenn es nicht während der Marter, sondern erst, wenn der Scharfrichter mit derselben nachgelassen, zu Protokoll erklärt und zwei oder drei Tage nachher vor gehörig besetztem Gericht wiederholt (Urgicht) worden sei. Indessen war damit doch nur wenig Sicherheit gegen die Erpressung unwahrer Aussagen und Geständnisse geboten, zumal die T. fortgesetzt, gesteigert und wiederholt werden durfte, wenn der Gepeinigte das Geständnis, zu dem er während der T. sich bereit gezeigt, nachmals verweigerte oder zurücknahm. Wie in Deutschland, fand die T. auch in Frankreich und in andern europäischen Ländern, am wenigsten in den nördlichen, Eingang. Schon im 16. Jahrh. erhoben sich Stimmen gegen die T.; aber erst Thomasius, Beccaria, Voltaire, Sonnenfels, J. Möser vermochten der Überzeugung von ihrer Unmenschlichkeit allgemeine Geltung zu verschaffen. Zuerst (1740 und 1754) wurde die T. in Preußen abgeschafft, dann in Baden 1767, Mecklenburg 1769, Sachsen und Dänemark 1770, Österreich 1776, Frankreich 1789, Rußland 1801, Bayern, Württemberg 1809, in Gotha ausdrücklich erst 1828 und in Hannover 1840. Vgl. Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte (Tübing. 1845).

Torus (lat.), Pfühl, Polster; Ehebett; der Wulst an der Basis der ionischen Säule (s. Säule, S. 350); in der Botanik der Blütenboden (s. Blüte, S. 70).

Tory und Whig (engl., im Plural Tories und Whigs), alte Parteinamen der engl. Aristokratie,

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Törzburg - Toscana.

welche bis zur neuesten Zeit die beiden Hauptgegensätze in den politischen Ansichten derselben repräsentierten. Der Ursprung der beiden Namen geht in die ersten Zeiten der Stuarts zurück. Mit dem Namen Tories bezeichnete man ursprünglich katholische Räuberbanden, welche zur Zeit des Kampfes Karls I. gegen das Parlament unter dem Vorwand royalistischer Gesinnung Irland plündernd durchzogen, und diese Bezeichnung wurde etwa seit 1680 auf die Anhänger des Herzogs von York, der als der geheime Beschützer der irischen Rebellen galt, dann auf die Hofpartei überhaupt übertragen. Die Ableitung des Wortes ist nicht sicher. Der Name Whig (abgeleitet von whigamore, einer Bezeichnung der westschottischen Bauern wegen eines Instruments u. Rufs [whigam], mit dem sie ihre Pferde antrieben) galt seit dem Edinburger Aufstand von 1648, dem sogen. Whigamoreraid, für die schottischen Covenanters; dann wurden die Anhänger republikanischer Tendenzen in Schottland die "wilden Whigs" genannt, und seit 1680 begann die Partei des Hofs ihre für die Freiheiten der Nation kämpfenden Gegner als Whigs zu bezeichnen. Seit der Berufung Wilhelms III. von Oranien 1688, namentlich aber seit der Thronbesteigung des Hauses Hannover 1714 erlangten die Whigs das Übergewicht u. behaupteten es während der Regierungen Georgs I. und Georgs II. im Kabinett wie im Parlament. In dieser Zeit veränderte sich aber allmählich die Stellung der beiden Parteien. Die Tories hatten bisher noch immer an die Wiederherstellung der königlichen Rechte in dem von den Stuarts beanspruchten Umfang, viele von ihnen wohl auch an die Restauration der vertriebenen Dynastie gedacht. Als aber diese unmöglich geworden war, fügten sie sich in die Umstände und wurden die Vertreter des einmal Bestehenden, also der bischöflichen Kirche und der neuen Dynastie, der Sinekuren, der bisherigen parlamentarischen Formen und der Schutzzölle. Die eifrigsten Gegner aller Neuerungen nennt man Hochtories (high-tories). Die Whigs dagegen, dem Fortschritt huldigend, wirkten für Emanzipation der Dissenters, Katholiken und Juden und in staatlicher Hinsicht für freisinnigere Entwickelung der politischen Institutionen gegenüber der Unduldsamkeit des starren Aristokratismus. Seit 1782 wechselten fast stets Tory- und Whigministerien miteinander ab; zu erstern gehörten die Ministerien: Pitt, Portland, Castlereagh, Goderich, Wellington, Peel, Aberdeen, Derby, zu letztern: Fox, Canning, Grev, Melbourne, Russell und Palmerston. Infolge der neuern großen Reformen haben jedoch, zumal durch das Auftreten von neuen Parteibildungen, der Radikalen, Adullamiten, Homerulers etc., die Namen T. und W. ihre aktuelle Bedeutung eingebüßt. Als Liberale und Konservative werden auch in England jetzt die sich hauptsächlich bekämpfenden Parteien bezeichnet, so daß die Namen T. und W. nur noch historische Bedeutung haben. Vgl. Kebbel, History of torysm from the accession of Mr. Pitt to Beaconsfield (Lond. 1885).

Törzburg, Karpathenpaß im ungar. Komitat Fogaras, südwestlich von Kronstadt, an der Grenze von Siebenbürgen und Rumänien, der eine tiefe, breite Einsattelung zwischen den Felswänden des Königssteins und Bucsecs bildet; mit Grenzzollamt und Kontumazanstalt in Ober-T. Nordwestlich hiervon Dorf Unter-T. mit dem Felsenschloß T. (Dietrichsburg), das 1377 an Stelle der hölzernen Burg der Deutschen Ordensritter erbaut wurde.

Tosa, Fluß, s. Toce.

Tosca, trachytischer Tuff, s. Trachyte.

Toscana, vormaliges ital. Großherzogtum, fast in der Mitte Italiens, jetzt Landschaft (comuartimento) des Königreichs Italien, grenzt an die Landschaften Rom, Umbrien, die Marken, Emilia und Ligurien und umfaßt die Provinzen: Arezzo, Florenz, Grosseto, Livorno, Lucca, Massa-Carrara, Pisa und Siena mit 24,053, nach Strelbitsky 24,062 qkm (437,01 QM.) Areal und (1881) 2,208,869 Einw. (näheres s. unter den einzelnen Provinzen und Italien). - T. ist das alte Tuscien oder Etrurien (s. d.). Nach dem Untergang des weströmischen Reichs (476 n. Chr.) herrschten in dem Land zwischen dem Macrafluß und dem Tiber Ostgoten, dann Griechen, endlich Langobarden. Während der Herrschaft der letztern stand es unter Lehnsherzögen, die zu Lucca residierten; Karl d. Gr. machte T. 774 zu einer fränkischen Provinz und setzte Markgrafen ein. Markgraf Bonifacius II., zugleich Graf von Modena, Reggio, Mantua und Ferrara, der reichste und mächtigste Fürst in Italien, hinterließ 1052 einen minderjährigen Sohn, Friedrich, für den seine Mutter Beatrix die Regierung führte, und als er 1055 starb, folgte ihm sein Stiefvater Georg der Bärtige von Niederlothringen. Beatrix und noch mehr ihre Tochter Mathilde, Markgräfin von Tuscien, waren eifrige Anhängerinnen des Papstes, und letztere vermachte nebst ihren übrigen Besitzungen 1115 auch T. dem römischen Stuhl. In dem hierauf entbrennenden Streit zwischen Kaiser und Papst um die Mathildische Erbschaft ging die politische Einheit und die fürstliche Macht unter, und die städtischen Gemeinwesen Florenz, Siena, Pisa, Lucca, Arezzo u. a. rissen alle Gewalt in T. an sich. Unter diesen erlangte Florenz die größte Macht und vereinigte im 14. und 15. Jahrh. den größten Teil von T. mit seinem Gebiet. Und als in Florenz die Familie Medici zur Herrschaft kam, gewann sie damit auch die Herrschaft von T. Am 1. Mai 1532 erhob der Kaiser Karl V. seinen spätern Eidam, Alexander von Medici, zum erblichen Herzog von Florenz. Dessen Nachfolger Cosimo I. (1537-74) vergrößerte sein Gebiet 1555 durch die Erwerbung Sienas und wurde 1569 von Papst Paul V. zum Großherzog von T. ernannt und in dieser Würde sein Nachfolger Franz (1574-87) vom Kaiser (1576) bestätigt. Derselbe hatte dann seinen Bruder Ferdinand, bisher Kardinal, zum Nachfolger. Unter den folgenden Herzögen, Cosimo II. (gest. 1621), Ferdinand II. (gest. 1670) und Cosimo III. (gest. 1723), sank der Staat schon sichtlich. Gemäß dem Wiener Frieden von 1735 fiel T. nach dem Tode des letzten Medici, Giovanni Gasto (1737), an den Herzog Franz Stephan von Lothringen, Gemahl Maria Theresias von Österreich und nachmaligen Kaiser Franz I. Ihm folgte 1765 sein zweiter Sohn, Großherzog Leopold, unter dessen aufgeklärter Regierung das zu einer österreichischen Sekundogenitur erklärte Land durch weise Reformen und vorzügliche Sorge um geistige und materielle Entwickelung zu hoher Blüte gelangte. Als Leopold 1790 Kaiser ward, folgte ihm in T. sein zweiter Sohn, Ferdinand III., der im Sinn seines Vaters regierte. 1793 trat er der Koalition gegen Frankreich bei, schon 1795 aber schloß er einen Neutralitätsvertrag mit letzterm. Dessenungeachtet besetzte Bonaparte 1796 Livorno. 1797 ward der Abzug der Franzosen mit 1 Mill. Frank erkauft; aber schon im März 1799 rückten dieselben, nachdem sie nochmals 2 Mill. Fr. erpreßt hatten, wieder in T. ein und nötigten den Großherzog, das Land zu verlassen. Im Frieden von Lüneville 1801 mußte derselbe T. gegen Salzburg abtreten; T. aber, das zu

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Toscana - Toschi.

einem Königreich Etrurien umgeschaffen ward, erhielt 21. März der Infant Ludwig von Parma. Durch den Vertrag von Fontainebleau vom 27. Okt. 1807 zwischen Frankreich und Spanien ward Etrurien von letzterm gegen das nördliche Portugal an Frankreich abgetreten und durch Dekret vom 24. März 1808 mit demselben vereinigt. Am 2. März 1809 erhielt Napoleons Schwester Elisa Bacciocchi den Titel einer Großherzogin von T. Nach dem Sturz Napoleons I. erhielt Ferdinand 1814 T. zurück, dazu den ehedem zu Neapel gehörigen Stato degli Presidj, die Ensel Elba und die Anwartschaft auf die Erbfolge in Lucca. Ferdinand III. starb 18. Juni 1824; ihm folgte sein Sohn Leopold II., welcher, von seinem Minister, dem Grafen Fossombroni, unterstützt, im Sinn seines Großvaters und Vaters zu regieren sich bemühte. Straßenbauten, großartige Arbeiten zur Entwässerung der Maremmen, Erweiterung des Hafens von Livorno, Industrieausstellungen, Reorganisation des Studienwesens zeugten von dem Eifer und der Einsicht der Regierung, durch die T. sich in geistiger und materieller Kultur außerordentlich hob. Seit dem Tod Fossombronis (1844) aber machte sich bald der reaktionäre Einfluß Österreichs fühlbar. Infolge der Abdikation des Herzogs Karl von Lucca ergriff der Großherzog von T., gemäß der Wiener Kongreßakte vom 9. Juli 1815, am 11. Okt. 1847 von Lucca Besitz und trat Fivizzano an Modena, Pontremoli an Parma ab. Die Nachwirkungen der Pariser Februarrevolution rissen auch T. von dem Weg der Reform auf den der Revolution. Schon vorher, unterm 17. Febr., hatte der Großherzog eine liberale Konstitution proklamiert. Es folgten der Erlaß eines neuen Preßgesetzes (21. Mai), die Kreierung von Ministerien des Kultus und Unterrichts (5. Juni) und die Eröffnung der Kammern (26. Juni), ohne daß die revolutionäre Partei befriedigt worden wäre. Das neue Ministerium Capponi ergriff im Auftrag der Kammern strengere Maßregeln; als aber bei einem am 25. Aug. ausbrechenden Aufstand zu Livorno, wo Guerrazzi (s. d.) der Hauptführer der Bewegung war, das Militär gemeinschaftliche Sache mit den Aufständischen machte und in Florenz selbst das Volk sich erhob, warf sich der Großherzog eingeschüchtert der demokratischen Partei in die Arme und berief ein Ministerium Montanelli-Guerrazzi, flüchtete aber 23. Jan. 1849 nach Gaeta. Schon 8. Febr. setzte die Deputiertenkammer eine provisorische Regierung ein, welche eine Konstituierende Versammlung von 120 Mitgliedern einberief, und proklamierte 15. Febr. die Republik. Die 25. März eröffnete Nationalversammlung übertrug am 27. Guerrazzi die exekutive Gewalt in Form der Diktatur. Gleichzeitig aber begann zu Florenz die Gegenrevolution, und dieselbe siegte mit Hilfe der herbeigezogenen Truppen und der Nationalgarden so schnell, daß bereits 11. und 12. April die Republik beseitigt war. Von Florenz aus verbreitete sich die Gegenrevolution schnell über das Land. Eine Deputation begab sich nach Gaeta, um Leopold zur Rückkehr einzuladen; dieser ernannte 1. Mai von Gaeta aus den Generalmajor Serristori zu seinem außerordentlichen Kommissar und berief am 24. ein neues Ministerium unter der Präsidentschaft Baldasseronis. Schon 11. Mai ward nach zweitägigem Widerstand Livorno, das bisher noch Widerstand geleistet hatte, von den Österreichern unter d'Aspre besetzt, und am 25. rückten dieselben in Florenz ein. Der Großherzog proklamierte bei seiner Rückkehr 28. Juli zwar eine umfassende Amnestie, schloß aber 27. April 1850 mit Österreich eine Militärkonvention, der zufolge 10,000 Mann Österreicher bis auf weiteres in T. bleiben sollten. 1851 wurde mit Rom ein Konkordat über Modifikation der Leopoldinischen Gesetze abgeschlossen, welches der Kirche unumschränkte Freiheit gewährte und den Staat in ihren Dienst stellte; durch Dekret vom 8. Mai 1852 wurde die Konstitution vom 17. Febr. 1848 außer Geltung gesetzt und die Herstellung der unumschränkten Souveränität verkündigt. Die österreichischen Truppen räumten T. erst im Frühjahr 1855. Der Ausbruch des Kriegs zwischen Österreich und Frankreich im Frühjahr 1859 riß auch T. in den Strudel der Begebenheiten hinein. Nachdem Leopold 24. April eine Aufforderung zum Anschluß an Sardinien abgelehnt, brach am 27. ein Aufstand in Florenz aus, welcher den Großherzog veranlaßte, das Land zu verlassen. Es ward sofort eine provisorische Regierung eingesetzt und der König von Sardinien zum Diktator ausgerufen. Derselbe lehnte zwar die Diktatur ab, übernahm dagegen am 30. das Protektorat über T. und ernannte seinen Gesandten in Florenz, Boncompagni, zum außerordentlichen Generalkommissar während der Dauer des Unabhängigkeitskriegs. Der Großherzog Leopold II. entsagte durch Abdikationsurkunde vom 21. Juli dem Thron zu gunsten seines ältesten Sohns, Ferdinands IV., und dieser erließ sofort eine Proklamation an die Toscaner, welche Aufrechthaltung der Verfassung und Anerkennung der Rechte der Nation verhieß. Sie verhallte aber wirkungslos. Die Landesversammlung, die 11. Aug. zusammentrat, beschloß am 16. die Thronentsetzung des Hauses Lothringen und den Anschluß Toscanas an das Königreich Sardinien. Letzterer erfolgte hierauf auf Grund der allgemeinen Abstimmung vom 11. und 12. März 1860 am 22. März. Am 16. April hielt Viktor Emanuel in Florenz seinen Einzug. Ein 17. Febr. 1861 erschienenes Dekret Viktor Emanuels hob auch den letzten Rest der Autonomie Toscanas auf und machte dasselbe vollständig zu einem Teil des neuen Königreichs Italien. Die entthronte großherzogliche Familie lebt in Österreich. Vgl. Galluzzi, Istoria del granducato di T. sotto il governo della casa Medici (Flor. 1787, 5 Bde., u. öfter); Ricasoli und Ridolfi, T. ed Austria (das. 1859); A. Zobi, Storia civile della T. dal 1737 al 1848 (das. 1850-52, 5 Bde.); Napier, Florentine history (Lond. 1847, 6 Bde.); v. Reumont, Geschichte Toscanas seit dem Ende des florentinischen Freistaats (Gotha 1876-77, 2 Bde.); v. Wurzbach, Die Großherzoge von T. (Wien 1883).

Toscana, Ludwig Salvator von, s. Ludwig 47).

Toscanella, Stadt in der ital. Provinz Rom, Kreis Viterbo, an der Marta, mit etruskischen Gräbern, mittelalterlichen Mauern und Türmen, zwei kunstgeschichtlich bedeutenden Kirchen (San Pietro und Santa Maria, letztere von 1206) und (1881) 3573 Einw.

Toscanisches Meer, s. Tyrrhenisches Meer.

Toschi (spr. tóski), Paolo, ital. Kupferstecher, geb. 7. Juni 1788 zu Parma, machte seine Studien unter Bervic in Paris und gewann hier besonders Ruf durch eine Radierung des Einzugs Heinrichs IV. nach Gerard. 1815 fertigte er die Zeichnung zu dem Stich nach der Kreuztragung von Raffael, welchem der Stich nach der Kreuzabnahme von Daniel da Volterra folgte. Beide Blätter gelten als Hauptwerke der neuern Kupferstechkunst. 1819 kehrte T. in seine Vaterstadt zurück und ward hier Direktor der Akademie der schönen Künste, die er neu organisierte. Zu seinen gelungensten Stichen gehören noch Albanis Venus und Adonis und Lo spasimo di Sicilia nach Raffaels Ge-

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Tosi - Totenbestattung.

mälde in Madrid, Correggios Madonna della Scodella und die Blätter nach dessen Fresken im Kloster San Paolo zu Parma, an welchen seine Schüler mit thätig waren. T. starb 30. Juli 1854.

Tosi, Pietro Francesco, Sänger und Gesanglehrer, geboren um 1650 zu Bologna, gestorben um 1730 in London, wirkte anfangs als Sänger in Dresden und an andern italienischen Bühnen Deutschlands und von 1692 an, nachdem er seine Stimme verloren, als Gesanglehrer in London. Er hinterließ ein Gesanglehrbuch von höchster Bedeutung: "Opinioni de' cantori antichi e moderni o sieno osservazioni sopra il canto figurato", welches in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Eine deutsche Bearbeitung dieses epochemachenden Werkes ist die "Anleitung zur Singekunst" von J. F. Agricola (s. d. 5).

Tosken, Volksstamm, s. Albanesen.

Töß, ein im voralpinen Gebiet des schweizer. Kantons Zürich entspringender Fluß, der in nordwestlicher Richtung dem Rhein zufließt und fast auf dem ganzen 49 km langen Lauf durch sein enges, waldiges Thal im Dienst industrieller Etablissements steht. Auch das Dorf T., bei Winterthur, an der Bahnlinie Winterthur-Bülach-Koblenz, mit (1888) 3388 Einw., einst Sitz eines Dominikanerklosters, ist Fabrikort geworden. Das Tößthal wird von der Bahnlinie Winterthur-Wald durchzogen. Vgl. Geilfus, Das Tößthal (Zürich 1881).

Tossefta (Tosifta, chald., "Zusatz, Ergänzung"), ein der Mischna (s. Talmud) ähnliches Sammelwerk aus 60 Traktaten und 452 Abschnitten, den von der authentischen Mischna differierenden, größtenteils in dieselbe nicht aufgenommenen religiös-gesetzlichen Stoff des rabbinischen Judentums nebst umfangreichen haggadischen Bestandteilen (s. Haggada) enthaltend. Die T. ergänzt und berichtigt die Mischna und ist eine Fundgrube für Bibelexegese, Archäologie u. a. Ausgaben besorgten Zuckermandel (Pasewalk 1880) und Friedländer (Preßb. 1889 ff.); einzelne Teile bearbeitete Schwarz (Karlsr. 1879-82).

Tössuh, Längenmaß, s. Tussoo.

Tost, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln, Kreis T.-Gleiwitz, an der Linie Oppeln-Borsigwerk der Preußischen Staatsbahn, 268 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, eine Burgruine, eine große Korrigendenanstalt, ein Amtsgericht, eine Dampfbrauerei, eine große Flaschenstrohhülsenfabrik u. (1885) 2434 meist kath. Einw.

Tostedt, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Lüneburg, Landkreis Harburg, an der Linie Harburg-Bremen der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Bienenzucht und (1885) 1081 Einwohner.

Tosto (ital.), eilig, geschwind.

Tot, ein in bergmännischer Beziehung gebrauchter Ausdruck für Unnutzbares, z. B. totes Feld, ein unbauwürdiges Grubenfeld; dann bedeutet das Wort so viel wie vollständig, z. B. tot gasen, Erze völlig fein gasen, tot rösten, geschwefelte Erze durch Röstung vollständig von Schwefel befreien.

Total (lat.), ganz, vollständig.

Totalisator, s. Wettrennen.

Totalität (neulat.), Gesamtheit, kommt als Eigenschaft jedem Ding zu, insofern dasselbe als vollständiger Komplex seiner einzelnen Teile in ihrem notwendigen Zusammenhang aufgefaßt wird.

Totalreflexion und Totalreflektometer, s. Brechung, S. 375.

Totalschade (Totalverlust), im Versicherungswesen der Schade, welcher durch Verlust des ganzen versicherten Wertes eintritt, im Gegensatz zum Partialschaden (s. d.).

Totana, Bezirksstadt in der span. Provinz Murcia, an der Sierra de España, mit schönen Orangengärten, großen Töpfereien und (1878) 9648 Einw.

Totanus, Wasserläufer.

Tote Hand (Manus mortua), Bezeichnung der Kirche rücksichtlich des Besitzes unbeweglicher Güter, die regelmäßig nicht wieder veräußert werden dürfen und somit für den öffentlichen Verkehr gewissermaßen abgestorben sind; dann s. v. w. Mortuarium, s. Baulebung.

Tote Konten, in der Buchhaltung (s. d., S. 565) s. v. w. Sachkonten.

Totem, das Handzeichen der kanadischen Indianer, dessen sich die Häuptlinge statt der Namensunterschrift bedienen, meist in einem rohen Bilde des Tiers bestehend, von dem sie den Namen tragen (schleichende Schlange, Otter etc.). Daher Totemismus, nach Lubbock die bei den Indianern sich vorfindende Verehrung sinnlich wahrnehmbarer Wesen, über die der Mensch keine Macht besitzt (z. B. Himmelskörper, Tiere, Flüsse etc.), und deren Gunst er durch Opferspenden und Geschenke zu erwerben sucht, also eine Mittelstufe zwischen Fetischismus und Religion.

Totenamt, Gottesdienst zu Ehren eines Verstorbenen; in der katholischen Kirche s. v. w. Seelenmesse (s. Messe und Requiem).

Totenbestattung, die mit religiösen Gebräuchen verbundene Übergabe menschlicher Leichname an die Elemente, sofern nicht durch Einbalsamierung und Beisetzung in Gebäuden die Verwesung künstlich verhindert werden soll. Die Bestattung in freier Luft auf Reisiglagern u. dgl. findet sich hauptsächlich in der Südsee; bei seefahrenden Völkern weitverbreitet ist dagegen die Bestattung auf einem kleinen, den Wellen ausgesetzten Kahn (Einbaum) gewesen, der die Vorstellung zu Grunde lag, daß der Leichnam zur jenseit des Meers belegenen Heimat zurückkehren müsse. Die Charonsmythe ist ein Nachklang dieser auch im alten Europa weitverbreiteten Bestattungsart. Doch hat man solche "Wikinger-Begräbnisse" in großen Schiffen auch in Erdhügeln der skandinavischen Länder angetroffen. Am allgemeinsten und oft nebeneinander üblich sind aber über den ganzen Erdball das Begräbnis, sei es in bloßer Erde oder in Felsen- und Steingräbern, und die Verbrennung der Toten. Dabei bestanden ursprünglich gewisse allgemeine Gebräuche: die Versorgung der Toten mit Speise und Trank, woraus sich Totenopfer, -Schmäuse und ähnliche Zeremonien entwickelten, ferner die Beigabe der Waffen, Ehrenzeichen, die Nachfolge von Gattin, Sklaven, Schlachtroß etc., Gebräuche, die auf der Vorstellung beruhten, daß der Tote in bisheriger Weise weiterlebe, Speise, Waffen, Bedienung etc. bedürfe. Die hiermit zusammenhängenden, zum Teil sehr grausamen Gebräuche der Naturvölker waren selbst bei den halbgesitteten Bewohnern des alten Europa noch im Schwange, namentlich bei Begräbnissen von Fürsten und Häuptlingen, die man mit ihrem ganzen Hofstaat begraben findet; Marco Polo traf sie im Mittelalter noch in Asien so weit in Übung, daß dem Toten alle dem Zug begegnenden Leute ins Grab folgen mußten; sie sind jetzt noch bei afrikanischen Häuptlingen und selbst in Indien (Witwenverbrennung) im Gange. In den meisten Ländern fand dagegen eine Art Ablösung der Menschenopfer statt, indem statt des Lebens einige Tropfen Blut, ein Finger oder das Haar (s. Trauerverstümmelung) geopfert wurden oder statt der Menschen (wie

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Totenbestattung (Leichenverbrennung).

in Japan) thönerne oder metallene Puppen mit ins Grab gelegt wurden. Hier und da, wie in Dahome und bei nordamerikanischen Indianern, wurden sogar den bereits begrabenen Häuptlingen noch Botschafter und Diener durch Ermordung am Grab nachgesandt. Mit diesen Ideen über das Fortleben im Einklang findet man bereits bei Naturvölkern einen verhältnismäßig außerordentlichen Luxus bei der T., dem Toten werden seine wertvollsten Waffen und Schmuckstücke, die besten Kleider etc. mitgegeben, bei den fortgeschrittenern Stämmen selbst Gold und Edelsteine. Die ältesten Kulturvölker trieben diesen Luxus auf die Spitze. Bei den Ägyptern wohnten die Lebenden in Lehmhütten, die Toten in Palästen. Die Reichern dachten schon im Leben daran, sich ein prächtiges, behagliches Grabgewölbe zu bauen, und die Behandlung der Leichen (s. Mumien) verschlang große Summen. Die Mumiensärge wurden, wie die neuern Ausgrabungen gezeigt haben, oft mit guten Porträten der Toten in Wachsmalerei versehen, außerdem gab man hier, wie bei vielen andern Völkern, den Toten Masken (s. d.) als Schutzmittel mit. Auch die Meder und Assyrer verwandten auf prächtige Grabmäler große Summen, und auf den Gipfel stieg dieser Gräberluxus bei den kleinasiatischen Fürsten, wie denn das Mausoleum (s. d.) zu Halikarnassos der ganzen Gattung prächtiger Grabdenkmäler den Namen gegeben hat. In den letzten Jahren sind mehrere solcher kleinasiatischer Prachtgrabmäler bekannt gemacht worden. Auch bei Griechen und Römern maß der Volksglaube der Art der Bestattung einen Einfluß auf das Los der Verstorbenen im jenseitigen Leben bei, indem man wähnte, der unbestattete Tote müsse hundert Jahre ruhelos an den Ufern des Styx umherirren. Darum hielten es die Überlebenden für eine Pflicht der Humanität, jedem irgendwo gefundenen Toten wenigstens durch Aufwerfen von drei Handvoll Erde zur Ruhe zu verhelfen. Bei den Spartanern wurden die Toten auf den Schilden hinausgetragen, und alles Leichengepränge war durch die Gesetze verpönt. Bei den Athenern aber fanden feierliche Leichenbegängnisse statt und zwar unter dem Geleit der in schwarze Gewänder gehüllten Verwandten und Freunde, von Klageweibern (penthetriae, praeticae), Musikchören und seit Solons Zeit auch von Lobrednern. Vor der eigentlichen Bestattung ward der Tote dreimal gerufen, dann zur Erde gesetzt, wo liebende Hand sein Antlitz bedeckte und seine Augen schloß. Auch ward ihm ein Stück Geld (Obolos) als Fahrlohn für Charon (s. d.) in den Mund und ein Stück aus Honig und Mehl bereiteten Kuchens zur Beschwichtigung des Kerberos (s. d.) in die Hand gegeben. Vor dem Trauerhaus ward der Persephone, der Königin des Totenreichs, ein Opfer dargebracht. Ein den Verwandten im Haus bereitetes Leichenmahl (perideipnon, lat. silicernium, Visceratio) beschloß die Trauerfeier. Nach vollendeter T. wurde das Haus sorgfältig gereinigt. Noch zu Platons Zeiten wurden die Leichen häufig beerdigt; aber mit Verbreitung des Glaubens, daß die Seele einer Reinigung bedürfe, um in die Wohnungen der Seligen zu gelangen, ward später, ungefähr seit dem Beginn des 4. Jahrh. v. Chr., das Verbrennen allgemeiner Gebrauch. Auch bei den Römern waren feierliche Leichenbegängnisse üblich und später sogar mit blutigen Gladiatorenkämpfen verbunden. Seit dem Ende der Republik wurde bei ihnen die Verbrennung allgemein und Kolumbarien zur gemeinsamen Aufbewahrung der Asche erbaut, nur ganz kleine Kinder und vom Blitz erschlagene Personen wurden stets beerdigt und nicht verbrannt. Der Leiche folgten außer einem Mimen, der Gang und Gebärde des Verblichenen nachahmte, die Klageweiber, welche noch jetzt in manchen Teilen Italiens im Gang sind. Der Luxus der Begräbnisse stieg in den Kaiserzeiten so hoch, daß er durch Gesetze eingeschränkt werden mußte, weil man Schiffsladungen mit Spezereien verbrannte. Bei der Beerdigung wurde der Leichnam in Särgen aus Holz, Thon oder Stein (s. Sarkophag) ins Grab gesenkt oder in gemauerten oder aus dem Felsen gehöhlten Grabkammern beigesetzt. Bei der Leichenverbrennung wurde die Asche des Verstorbenen in einer Urne aufbewahrt und in dem Grabmal beigesetzt (s. Urne und Grabmal). Bei den Völkern des Orients war und ist die T. im allgemeinen einfacher. Ja, die Perser sollen, damit durch Begraben eines Toten die von Ormuzd rein geschaffene Erde nicht verunreinigt werde, früher ihre Toten den Hunden und Raubvögeln vorgeworfen haben, was bei den Gebern in Indien noch heute Brauch ist (s. Parsen). Bei den alten Hebräern wurden alle menschlichen Leichname als unrein angesehen, daher die Beschleunigung der T. und Anlegung der Totenäcker möglichst fern von den Wohnungen der Lebendigen. Doch war auch die Leichenverbrennung bei den Juden üblich, wie man aus Jer. 34, 5 und andern Bibelstellen ersieht. Es war, wie bei den Römern, die vornehmere, weil kostspieligere Begräbnisform. Bei den Christen wurden die Toten, schon aus Opposition gegen das Heidentum, von jeher beerdigt, nie verbrannt, wobei wohl der früh ausgebildete Glaube an die Auferstehung des Leibes mitgewirkt haben mag. Überall, wo das Christentum und der Mohammedanismus sich ausgebreitet haben, schafften sie die heidnische Leichenverbrennung ab, so später bei den Germanen, und noch Karl d. Gr. verbot den Sachsen jene bei Todesstrafe. Seitdem das Christentum herrschende Religion geworden, beging man die T. feierlich mit Gesang von Hymnen auf Tod und Auferstehung, woran sich später bei weiterer Ausbildung der kirchlichen Zeremonien Totenopfer, Seelenmessen, Exequien nebst Almosenspenden und Leichenmahlzeiten anschlossen. Särge machten die Deutschen in vorchristlicher Zeit einfach aus einem Baumstamm, indem sie ihn durchschnitten, die eine Hälfte aushöhlten und die andre als Deckel benutzten (Baumsärge, Totenbaum). Holzsärge in Kastenform, neben denen auch Steinsärge (Sarkophage) vorkommen, wurden seit Einfuhrung des Christentums häufiger. Aus dem Reliquienkultus mit seinen Heiligengerippen entwickelte sich seit dem 4. Jahrh. die gefährliche Unsitte, Geistliche, Patrone, Kirchenwohlthäter und angesehene Personen überhaupt in den Krypten der zum gottesdienstlichen Gebrauch benutzten Kirchen, ja in diesen selbst beizusetzen, ein Verfahren, gegen welches anfangs die Konzile von Prag, Arles, Meaux etc. eiferten, bis es etwa seit 1000 überall unbeanstandet blieb und erst seit hundert Jahren völlig aufgehört hat. Seitdem findet die T. allgemein auf den Begräbnisplätzen statt, die sich nur noch auf den Dörfern zuweilen im unmittelbaren Umkreis der Ortskirche befinden, in neuerer Zeit aber mehr und mehr außerhalb der Ortschaften angelegt wurden (s. Begräbnisplatz).

[Leichenverbrennung.] In neuerer Zeit ist die Bestattungsfrage vom sanitären Standpunkt der Gegenstand zahlreicher Erörterungen gewesen. Nachdem 1849 Jak. Grimm in einer öffentlichen Rede die Vorzüge und die Erhabenheit der altgermanischen Feuerbestattung geschildert, hat sich eine langsam an-

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Totenblume - Totengericht.

wachsende Agitation für dieselbe erhoben, zumal in großen Städten und Gebirgsländern, woselbst die Anlegung der Friedhöfe sanitäre und andre Schwierigkeiten bereitet. Erfahrene Ärzte, wie der Oberstabsarzt Trusen, Bock u. a., machten schon lange in Deutschland Propaganda für die Verbrennung; italienische und schweizerische Ärzte schlossen sich bald ihnen an. Der 1869 zu Florenz tagende internationale Kongreß der Ärzte faßte eine dafür eintretende Resolution, und die 1. Dez. 1870 in Florenz stattgefundene feierliche Verbrennung des auf der Reise verstorbenen Radscha von Kelapur auf großem Scheiterhaufen nach indischem Ritus regte das Interesse in weitern Kreisen an. In Italien beschäftigten sich seitdem die Ärzte Pini, Rota, Ayr, Anelli, Amati, Gorini und sehr viele andre mit der Frage, und die Professoren Polli in Mailand und Brunetti in Padua konstruierten besondere Öfen, in denen die Verbrennung schnell und möglichst wenig kostspielig vorgenommen werden kann. Durch Mittel, welche der Kaufmann Alb. Keller aus Zürich bei seinem 1874 in Mailand erfolgten Tod aussetzte, konnten diese Versuche in großartigem Maßstab durchgeführt werden, und Mailand erbaute die erste Verbrennungshalle (1875), der solche zu Lodi, Cremona, Varese, Rom, Como, Brescia, Padua, New York, Washington und Philadelphia folgten. In Deutschland erwarb sich insbesondere Reclam Verdienste um die Popularisierung des immer noch manchem Widerspruch, namentlich von orthodoxer Seite, begegnenden Gedankens; Kinkel u. a. traten dafür ein, die Ingenieure Pieper und Siemens in Dresden beschäftigten sich mit der Konstruktion praktischer Verbrennungsöfen, und seit 1877 hat auch Gotha eine Verbrennungshalle, in welcher 1878 die erste Verbrennung einer Leiche ausgeführt wurde. Die Regierungen haben sich bisher meistens ablehnend verhalten, kaum daß einzelne die Verbrennung fakultativ gestattet haben. 1889 waren Verbrennungsöfen in Thätigkeit: in Italien 23, Amerika 10, je einer in Stockholm, Kopenhagen, London, Paris, Gotha, Zürich, und bis 1. Aug. 1888 wurden verbrannt: in Gotha 554, in Italien 998, in Amerika 287, in Schweden 39, in England 16, in Frankreich 7, in Dänemark 1 Person. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man in Zukunft zu diesem System der T. allgemein übergehen wird, denn es besitzt außerordentliche sanitäre Vorzüge und kann in einer die Pietät und das ästhetische Gefühl völlig zufriedenstellenden Weise ausgeführt werden. Das einzige gewichtige Bedenken (Vernichtung der Spuren eines an dem Verstorbenen ausgeübten Verbrechens) könnte wohl durch die Einführung der allgemeinen Leichenschau gehoben werden. In der neuesten Zeit haben sich in vielen großen Städten Vereine zur Agitation für die Leichenverbrennung gebildet, deren Organisation von Mailand ausging. Von der neuerdings sehr angeschwollenen Litteratur über die Verbrennung der Toten sei nur erwähnt: J. Grimm, Über das Verbrennen der Leichen (Berl. 1850); Trusen, Die Leichenverbrennung (Bresl. 1855); Wegmann-Ercolani, Über Leichenverbrennung (4. Aufl., Zürich 1874); Küchenmeister, Die Feuerbestattung (Stuttg. 1875); Pini, La crémation en Italie et à l'étranger de 1774 etc. (Mail. 1884); Thompson, Die moderne Leichenverbrennung (deutsch, Berl. 1889); über die T. überhaupt vgl. Weinhold, Die heidnische T. (Wien 1859); De Gubernatis, Storia popolare degli usi funebri indoeuropei (Mail. 1873); Tegg, The last act, the funeral rites of nations (2. Aufl., Lond. 1878); Sonntag, Die T., Totenkultus alter und neuer Zeit (Halle 1878); Wernher, Bestattung der Toten in Bezug auf Hygiene etc. (Gießen 1880).

Totenblume, s. Calendula.

Totenbrocken, s. Schwanenhalseisen.

Totenbuch der alten Ägypter, s. Hieroglyphen (S. 521) und Totengericht.

Totenfest, das feierlich begangene Andenken der Toten. In der ältern christlichen Kirche pflegten die Freunde und Verwandten eines Toten den Jahrestag seines Todes durch eine Kommunion zu begehen (s. Requiem). Später hielt man für alle in einer Gemeinde während eines Jahrs Gestorbenen eine gemeinsame Totenfeier. Die katholische Kirche bestimmte dazu das Fest Allerseelen (s. Allerseelen), die griechische die Sonnabende der 2., 3. und 4. Fastenwoche und den Sonnabend vor Pfingsten, wozu in der russischen Kirche noch das Gedächtnis aller im Kriege gefallenen Soldaten 21. Okt. kommt. In der protestantischen Kirche feiert man das T. meist am letzten Sonntag des Kirchenjahrs.

Totenflecke, s. Tod, S. 736.

Totengericht, eine den alten Ägyptern zugeschriebene Sitte, Gericht zu halten über einen Verstorbenen, ehe er begraben wurde. 42 Männer prüften sein Leben und seine Thaten; vor ihnen konnte jedermann den Verstorbenen anklagen. Ward er für gerecht erfunden, so erfolgte die feierliche Bestattung; wurde er für schuldig erklärt, so durfte er nicht begraben werden, sondern wurde im Hause seiner Verwandten aufgestellt. Die Richter versammelten sich nahe bei dem See Möris, über welchen die Leichen in einem Kahn an das jenseitige Ufer gebracht wurden. So lauten die Angaben Diodors über ein T., welches bei den alten Ägyptern bestanden haben soll. Indessen wird sein Bericht durch die mit der Entzifferung der Hieroglyphen erschlossene altägyptische Litteratur nicht bestätigt, vielmehr scheint derselbe auf einem Mißverständnis zu beruhen. Das T. ist weniger eine Sitte der alten Ägypter als ein Glaubensartikel ihres heiligen Buches, ein Kapitel in dem sogen. Totenbuch, welches in vielen Exemplaren auf Papyrus erhalten und in den Museen zu finden ist. Der betreffende Text ist in der Regel durch eine Vignette erläutert, welche die "Halle der zwiefachen Wahrheit", d. h. der Wahrheit und der Lüge, darstellt, in welcher Osiris, der Fürst der Unterwelt, thront; vor ihm sitzen die 42 Beisitzer des Gerichts, eine Straußfeder auf dem Haupt und ein Schwert in der Hand. Vor diese tritt der Verstorbene hin und spricht seine Beichte. Wir sehen ferner eine große Wage mit einem über dem Zünglein sitzenden Hundsaffen, auf der man die Thaten abwägt, deren Symbol das Herz des Verstorbenen ist, während ein Bildnis der Göttin der Wahrheit (Maat) auf der andern Schale als Gewicht dient. Letztere führt den Verstorbenen herzu, damit er zeige, ob er mit Wahrheit oder mit Lüge behaftet kommt. Nicht selten ist der Verstorbene von zwei Göttinnen der Wahrheit umgeben, von denen die eine schützend die Hände erhebt, während die andre gebieterisch Rechenschaft zu heischen scheint; manchmal werden dieselben durch Isis und Nephthys oder Hathor vertreten. Der Verstorbene tritt herzu, die Götter Anubis, der schakalköpfige, und Horus, der sperberköpfige, stehen prüfend an der Wage, während der ibisköpfige Thoth vor ihnen das Ergebnis auf seiner Schreibtafel verzeichnet. Hat der Verstorbene in der Halle der Doppelwahrheit vor Osiris bestanden, so stehen ihm die Pforten der unterirdischen Welt offen, während der, welcher nicht bestanden hat, ihren mannigfachen Schrecken überliefert wird. Derselbe Gedankengang

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Totengräber - Totensagen.

findet sich in der indischen, persischen, griechischen und römischen Mythologie, wo gewöhnlich der erste Mensch (Manu) oder der erste König (Minos oder Rhadamanthys) oder der Gott der Unterwelt (Hades) als Totenrichter fungiert. Die Darstellung des Erzengels Michael mit der Seelenwage auf altdeutschen Gemälden beruht auf einem ähnlichen Gedankengang.

Totengräber, s. Aaskäfer.

Totenhalle, Totenhaus, s. Leichenhaus.

Totenkäfer, s. Tenebrionen.

Totenkopf (Caput mortuum), s. Englischrot.

Totenkopf (Acherontia Atropos Ochs.), Schmetterling aus der Familie der Schwärmer (Sphingidae), 11,5 cm breit, mit kurzen, dicken Fühlern, sehr kurzen Tastern, schwach entwickelter Rollzunge und plumpem Hinterleib von 19,5 mm Querdurchmesser, auf dem dicht braun behaarten, blaugrau schimmernden Thorax mit ockergelber, einem Totenkopf ähnlicher Zeichnung und auf dem gelben, schwarz geringelten Hinterleib mit breiter, blaugrauer Längsstrieme. Die Vorderflügel sind tiefbraun, schwarz und ockergelb gewölkt mit zwei gelblichen Querbinden, die Hinterflügel ockergelb mit zwei schwarzen Querbinden. Der T. erzeugt, wenn er gereizt wird, einen pfeifenden, schrillenden Ton, indem er aus einer sehr großen Saugblase im Vorderteil des Hinterleibs Luft durch eine Rüsselspalte ausstößt. Er findet sich in Süd- und Mitteleuropa, Afrika, auf Java und in Mexiko, bei uns einzeln, vorübergehend und örtlich im Herbste. Die 13 cm lange, grünlichgelbe, schwarz-blau punktierte Raupe, mit blauen Winkelzeichnungen auf dem Rücken, findet sich bei uns im Juli und August auf Kartoffelkraut, Teufelszwirn, Stechapfel und verpuppt sich in der Erde. In Mittel- und Norddeutschland pflanzt sich der T. nicht fort, die dort gefundenen Raupen müssen von zugeflogenen Weibchen herrühren.

Totenköpfchen, Vogel, s. Fliegenfänger.

Totenleuchten, im Mittelalter auf Kirchhöfen (Begräbnisplätzen) errichtete Säulen mit laternenartigen Aufsätzen, in welchen ewige Lampen brannten. Eine mit Reliefs aus der Leidensgeschichte Christi geschmückte Totenleuchte von 1381 findet sich vor der Stiftskirche zu Klosterneuburg.

Totenmasken, s. Maske, S. 314.

Totenmesse, s. Requiem.

Totenmyrte, s. Vinca.

Totenopfer, s. Totenbestattung.

Totenorgel, s. Orgelgeschütz.

Totensagen. An die schon den rohesten Naturvölkern geläufigen Vorstellungen vom Fortleben nach dem Tod knüpfen sich eine Menge abergläubischer Gebräuche, Vorstellungen und Sagen, die sich zum Teil aus dem grauesten Altertum bis auf unsre Tage erhalten haben und jetzt durch den Spiritismus (s. d.) von neuem belebt werden. Man meint, daß die Seele, nachdem sie in Gestalt eines Wölkchens, Schmetterlings, einer Schlange etc. dem Mund entflohen, in ihrem neuen Zustand doch nicht ohne alle irdischen Bedürfnisse sei, auf deren Befriedigung verschiedene Bestattungszeremonien (s. Manendienst, Menschenopfer und Totenbestattung) abzielen. So werden die Fenster des Sterbezimmers geöffnet, um der Seele freie Bahn zu gewähren, und bei der Toteneinkleidung und -Einbettung bestimmte Rücksichten und wohl auch Vorsichtsmaßregeln gegen das Wiederkommen angewendet. Zu den einmaligen Pflichten kommen dauernde; es opferten die Römer z. B. den Verstorbenen von jeder Mahlzeit, indem sie von Speise und Trank etwas auf den Boden schütteten; die Katholiken lassen Messen für die Seelenruhe lesen, und auch durch zu vieles Weinen darf der Tote, der die Thränen im Krüglein sammeln muß, nicht gestört werden. Waren derartige Pflichten und Abfindungen versäumt worden, so glaubte man, daß der Tote keine Ruhe habe und die Nachgebliebenen beunruhige; so z. B. breiten die Samoaner, wenn ein in der Ferne Verstorbener kein ordentliches Begräbnis erhalten, ein Tuch aus und betrachten das erste Tier, z. B. ein Insekt, welches sich darauf setzt, als die umherirrende Seele, der dann die vorgeschriebenen Begräbniszeremonien erwiesen werden. Auch Menschen, die nicht ausgelebt haben und ermordet oder hingerichtet wurden, finden keine Ruhe, bis der Mörder entdeckt ist, bei dessen Annäherung ihre Wunden von neuem aufbrechen (s. Bahrrecht), oder bis ihre Verbrechen gesühnt sind. Aber auch unerfüllte kirchliche und bürgerliche Verpflichtungen rauben die Grabesruhe; die vor der Hochzeit gestorbene Braut besucht den Bräutigam in der griechischen, von Goethe umgedichteten Sage, die Wöchnerin das nachgelassene Kind. Besonders häßlich ist die noch immer sehr verbreitete Sage von den im Grab weiterlebenden Vampiren (s. d.), die ihren Angehörigen das Blut aussaugen, bis sie ihnen nachfolgen, wenn nicht besondere Vorsichtsmaßregeln gegen ihr Wiederkommen getroffen werden. Sind die Toten befriedigt, so ziehen sie in ein besseres Land (Elysium), welches in der Unterwelt oder da, wo die Sonne zur Ruhe geht, gedacht wird. Manche Völker erzählten von einer Toteninsel, zu der ein Fährmann (Charon) die Verstorbenen hinüberfährt, wo sie dann unter dem milden Zepter eines Totenkönigs ein schattenhaftes Dasein führen; anderwärts müssen sie einen Berg der Seligen (s. Glasberg) ersteigen. Aus dem Jenseits können sie nur durch besondere Totenbeschwörer (s. Nekromantie) oder durch spiritistische Veranstaltungen zurückgerufen werden, um den Lebenden Auskünfte, Orakel, Ratschläge etc. zu erteilen. Nur am Allerseelentag kommen sie freiwillig als langer "Zug des Todes", die Kinder in weißen Hemdchen unter Führung und Obhut der Totenmutter (Frau Holle), zur Erde, besuchen eine einsam gelegene, um Mitternacht erleuchtet erscheinende Kirche, worin der verstorbene Pfarrer Gottesdienst abhält, und die Gräber, auf welche dann vielfach brennende Lichter gestellt werden. So wurde schon im heidnischen Rom ein besonderes Laren- und Lemurenfest gefeiert, bei welchem man besondere Totenspeisen auftrug, weil dann die Unterwelt offen stand und die Toten scharenweise die Wohnungen besuchten. In Rußland trägt man noch heute am Allerseelentag Speise und Trank auf die Gräber. Man spricht auch von besondern Vorzeichen, die einer bestimmten Person den baldigen Tod verkünden sollen, von einem Anpochen des Todes an der Thür, von dem Ruf des Uhu als Totenvogel, von einer Totenuhr (s. Klopfkäfer), von einem freiwilligen Anschlagen der Glocken, wenn ein hoher Geistlicher sterben soll, von dem mahnenden Erscheinen einer weißen Frau (s. d.) in verschiedenen Fürstenhäusern, von einem Voraussehen des künftigen Leichenzugs (s. Zweites Gesicht), und in Dänemark nennt man gewisse Lähmungserscheinungen den Totengriff, gleichsam das erste Anpacken des Todesdämons. Überhaupt wurde der Tod früh personifiziert und als Dämon gedacht, der mit dem Erkrankten ringt und ihn endlich niederwirft. In Seuchezeiten wollte man ihn als von Ort zu Ort ziehenden oder auf lahmem Klepper durch das Stadtthor einziehenden Pestmann erblickt haben, der die

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Totenschau - Totentanz.

zum Tod Erwählten bloß mit seinem starren Blick ansah oder sie anblies, um sie sofort auf das Sterbebett zu werfen. Das Mittelalter war besonders reich an bildlichen Darstellungen vom "Triumph des Todes", zu denen Allegorie und Sage den Stoff lieferten (s. Totentanz). Eine reiche Fülle von T. findet man gesammelt bei Henne-Am Rhyn, Die deutsche Volkssage (2. Aufl., Wien 1879).

Totenschau (Leichenschau), die polizeiliche oder gerichtliche Besichtigung einer Leiche. Die erstere, die Ausstellung der Leichen verunglückter Personen oder von Selbstmördern behufs Rekognoszierung, wurde zuerst in Paris organisiert, wo man die Leichen in der Morgue öffentlich zur Schau stellte. In Berlin wurden von 1953 Leichen Erwachsener, welche 1856 bis 1866 in Polizeigewahrsam gelangten, 10 Proz., von 4314 Leichen, welche 1876-85 ausgestellt wurden, 8,2 Proz. unerkannt begraben. In dem in Berlin 1886 neuerrichteten öffentlichen Leichenschauhaus liegen die Leichen in gekühlten Räumen bei 0-2°, welche durch Glasscheiben von den für das Publikum bestimmten Räumen getrennt sind. Das Haus enthält außerdem Zimmer für bekannte Leichen, für Obduktionen, polizeiliche und gerichtliche Untersuchungen, für den wissenschaftlichen Unterricht in der gerichtlichen Medizin und Chemie, Räume zur Aufbewahrung und zum Verbrennen der Kleider der Leichen, Sargmagazin etc. Die T. zur Feststellung des Todes wird an solchen Orten vorgenommen, an welchen die Polizei die Ausstellung eines Totenscheins vom Arzt fordert; der letztere (Totenbeschauer, Schauarzt) hat sich von dem erfolgten Ableben zu überzeugen und sein Urteil über die Todesart abzugeben. Die T. zur Feststellung der Todesart wird von dem in der Regel beamteten Arzt auf polizeiliche oder gerichtliche Anordnung vorgenommen, um zu bestimmen, ob an der Leiche schon bei bloßer Besichtigung die Todesart erkannt werden kann (Strangmarke Erhängter etc.), oder ob dieselbe durch Sektion ermittelt werden muß. Im letztern Fall wird die gerichtliche Obduktion (s. d.) von der Gerichtsbehörde, nach der deutschen Strafprozeßordnung von der Staatsanwaltschaft, verfügt und von zwei Ärzten ausgeführt, die über den Befund ein Obduktionsprotokoll (Fundschein, Fundbericht, Visum repertum, Parere medicum) aufnehmen. Zur Erlangung einer zuverlässigen Statistik über die Todesarten, zur Gewinnung der Möglichkeit eines klaren Einblicks in die tödliche Krankheit, zur Aufdeckung von Verbrechen, zur Zerstreuung aller Besorgnisse vor dem Lebendbegrabenwerden ist die allgemeine Einführung der T. eventuell mit nachfolgender Sektion dringend wünschenswert, Vorurteil und falsch verstandene Pietät haben aber diesen Fortschritt bisher verhindert.

Totenstarre, s. Tod, S. 736, und Muskeln, S. 937.

Totentanz, seit dem 14. Jahrh. in Aufnahme gekommene bildliche Darstellungen, welche in einer Reihe von allegorischen Gruppen unter dem vorherrschenden Bilde des Tanzes die Gewalt des Todes über das Menschenleben veranschaulichen sollen. Ursprünglich ward dieser Stoff zu dramatischer Dichtung und Schaustellung benutzt und in kurzen, meist vierzeiligen Wechselreden zwischen dem Tod und anfangs 24 nach absteigender Rangfolge geordneten Personen verarbeitet. Wahrscheinlich war darin den sieben makkabäischen Brüdern mit ihrer Mutter und Eleasar (2. Makk. 6, 7) eine hervorragende Rolle zugeteilt, und es fand die Aufführung an deren Gedächtnisfest zu Paris im Kloster der unschuldigen Kindlein (aux Innocents) statt; daher der in Frankreich von alters her übliche lateinische Name Chorea Machabaeorum (franz. la danse Macabre). In Paris war bereits 1407 die ganze Reihe jener dramatischen Situationen nebst den dazugehörigen Versen an die Kirchhofsmauer des genannten Klosters gemalt, und hieran schlossen sich bald weitere Malereien, Teppich- und Steinbilder in den Kirchen zu Amiens, Angers, Dijon, Rouen etc. sowie seit 1485 auch Holzschnitt- und Druckwerke, welche die Bilder und Inschriften wiedergaben. Noch erhalten ist der textlose, aber die Dichtung illustrierende T. in der Abteikirche von La Chaise-Dieu in der Auvergne, dessen erster Ursprung in das 14. Jahrh. hinausreichen mag. Reime und Bilder des Totentanzes verpflanzten sich von Frankreich aus auch nach England; die mannigfaltigste und eigentümlichste Behandlung aber ward ihm in Deutschland zu teil, wo er mit wechselnden Bildern und Versen in die Wand- und Büchermalerei überging. Eine Darstellung in einer Kapelle der Marienkirche zu Lübeck, deren niederdeutsche Reime teilweise erhalten sind, zeigt den T. noch in seiner einfachsten Gestalt: 24 menschliche Gestalten, Geistliche und Laien in absteigender Ordnung, von Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König bis hinab zu Klausner, Bauer, Jüngling, Jungfrau, Kind, und zwischen je zweien derselben eine springende oder tanzende Todesgestalt als verschrumpfte Leiche mit umhüllendem Grabtuch; das Ganze durch gegenseitig dargereichte und gefaßte Hände zu einem einzigen Reigen verbunden und eine einzelne Todesgestalt pfeifend voranspringend (vgl. "Ausführliche Beschreibung und Abbildung des Totentanzes in der Marienkirche zu Lübeck", Lüb. 1831). Aus dem 14. Jahrh. (vielleicht von 1312) rührt der jetzt verwischte T. im Kreuzgang des Klingenthals, eines ehemaligen Frauenklosters der Kleinstadt Basel (Bilder und Reime bei Maßmann: "Baseler Totentänze", Stuttg. 1847) her. Hier ist die Zahl der Personen um einige neue, aus den niedern Ständen genommene vermehrt, auch das Ganze in einzelne Paare aufgelöst. Ein andrer wiederholt gedruckter T. mit 37 tanzenden Paaren ("der doten dantz mit figuren") zeigt sowohl in den Figuren als in den Strophen Nachahmung der erwähnten französischen Danse Macabre. Seit der Mitte des 15. Jahrh. werden die Bilder des Totentanzes immer mehr vervielfältigt, während die Verse wechseln oder ganz weggelassen werden, und zuletzt gestalten sich beide, Bilder und Verse, völlig neu. Zunächst ward der T. von Kleinbasel nach Großbasel, vom Klingenthal an die Kirhofsmauer des Baseler Predigerklosters (nicht vor der Mitte des 15. Jahrh.) übertragen, wobei Zahl und Anordnung der tanzenden Paare dieselbe blieben, aber am Anfang ein Pfarrer und ein Beinhaus und am Ende der Sündenfall hinzugefügt wurden, während die das Ganze beschließende Person des Malers vielleicht erst Hans Hug Kluber, welcher 1568 das Bild restaurierte, anhängte. Bei dem Abbruch der Kirchhofsmauer 1805 ist das Original bis auf geringe Fragmente zu Grunde gegangen; doch haben sich Nachbildungen nebst den Reimen erhalten, namentlich in den Handzeichnungen Em. Büchels (bei Maßmann a. a. O.). Der zum Volkssprichwort gewordene "Tod von Basel" gab neuen Anstoß zu ähnlichen Darstellungen, obschon die Dichtkunst den Stoff ganz fallen ließ. So ließ Herzog Georg von Sachsen noch 1534 längs der Mauer des dritten Stockwerks seines Dresdener Schlosses ein steinernes Relief von 24 lebensgroßen Menschen- und 3 Todesgestalten ausführen, ohne Reigen oder tanzende Paare und nach Auffassung wie nach Anordnung durchaus neu

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Totenuhr - Totes Rennen.

und eigentümlich. Dieses Bildwerk ward bei dem großen Brand von 1701 stark beschädigt, aber wiederhergestellt und auf den Kirchhof von Neustadt-Dresden übertragen (abgebildet bei Nanmann: "Der Tod in allen seinen Beziehungen", Dresd. 1844). Von der Baseler Darstellung abhängig ist das aus dem 15. Jahrh. herrührende Gemälde in der Predigerkirche zu Straßburg, welches verschiedene Gruppen zeigt, aus deren jeder der Tod seine Opfer zum Tanz holt (abgebildet bei Edel: "Die Neue Kirche in Straßburg", Straßb. 1825). Aus den Jahren 1470-90 stammt der T. in der Turmhalle der Marienkirche zu Berlin (hrsg. von W. Lübke, Berl. 1861, und von Th. Prüfer, das. 1876). Einen wirklichen T. malte von 15I4 bis 1522 Nikolaus Manuel an die Kirchhofsmauer des Predigerklosters zu Bern, dessen 46 Bilder, die jetzt nur noch in Nachbildungen vorhanden sind, bei aller Selbständigkeit ebensowohl an den Baseler T. wie an den erwähnten "doten dantz mit figuren" erinnern. Eine durchaus neue und künstlerische Gestalt erhielt aber der T. durch H. Holbein d. j. Indem dieser nicht sowohl veranschaulichen wollte, wie der Tod kein Alter und keinen Stand verschont, sondern vielmehr, wie er mitten hereintritt in den Beruf und die Lust des Erdenlebens, mußte er von Reigen und tanzenden Paaren absehen und dafür in sich abgeschlossene Bilder mit dem nötigen Beiwerk, wahre "Imagines mortis", wie seine für den Holzschnitt bestimmten Zeichnungen genannt wurden, liefern. Dieselben erschienen seit 1530 und als Buch seit 1538 in großer Menge und unter verschiedenen Titeln und Kopien (neue Ausg. von F. Lippmann, Berl. 1879). Holbeins "Initialbuchstaben mit dem T." wurden in Nachschnitten von Lödel neu herausgegeben von Ellissen (Götting. 1849). Daraus, daß Hulderich Frölich in seinem 1588 erschienenen Buch "Zween Todtentäntz, deren der eine zu Bern, der andre zu Basel etc." dem T. am Predigerkirchhof größtenteils Bilder aus Holbeins Holzschnitten unterschob und Mechel sie in sein Ende des vorigen Jahrhunderts erschienenes Werk "Der T." aufnahm, entstand der doppelte Irrtum, daß man auch den ältern wirklichen T. im Predigerkloster für ein Werk Holbeins hielt und des letztern "Imagines" ebenfalls T. benannte. Im Lauf des 16., 17. und 18. Jahrh. entstanden noch andre Totentänze in Chur (erzbischöflicher Palast mit Benutzung der Holbeinschen Kompositionen), Füssen, Konstanz, Luzern, Freiburg und Erfurt, und Holzschneide- wie Kupferstecherkunst nahmen den Stoff wieder auf, dessen sich auch die Dichtkunst wieder bemächtigte, z. B. Bechstein ("Der T.", Leipz. 1831). Auch in neuester Zeit hat man wieder Totentänze gezeichnet, so namentlich A. Rethel und W. Kaulbach. Vgl. Peignot, Recherches sur les danses des morts (Par. 1826); Douce, Dissertation on the dance of death (Lond. 1833); Langlois, Essai sur les danses des morts (Rouen 1851, 2 Bde.); Maßmann, Litteratur der Totentänze (Leipz. 1841); W. Wackernagel, Der T. (in "Kleine Schriften", Bd. 1, das. 1874); Wessely, Die Gestalten des Todes etc. in der darstellenden Kunst (das. 1877). Die reiche Litteratur findet sich verzeichnet in den "First proofs of the universal catalogue of books on art" (Lond. 1870).

Totenuhr, s. Klopfkäfer.

Totenvogel, s. Eulen, S. 906.

Toter Winkel, s. Bestreichen.

Totes Gebirge, Gebirgsgruppe der Salzkammergutalpen, durch die Ausseer Niederung vom Kammergebirge geschieden, mit dem Quellengebiet der Traun und Steyr, eine Hochebene mit den auffallendsten Kontrasten, meist kahl und zerrissen, dazwischen mit schönen Alpen, am Nordende im Großen Priel 2514 m hoch. S. Karte "Salzkammergut".

Totes Kapital, s. v. w. müßig liegendes, keinen Gewinn abwerfendes Kapital (s. d.).

Totes Meer, 1) (in der Bibel Salzmeer, Meer der Wüste, der Asphaltsee der Griechen und Römer, arab. Bachr Lût, "Lots Meer") Landsee im asiatisch-türk. Wilajet Surija (Syrien), an der Südostgrenze Palästinas, ist 76 km von N. nach S. lang und 3½-16 km breit und wird durch die an der Ostküste hervortretende Halbinsel Lisân ("Zunge") in zwei Becken geteilt (s. Karte "Palästina"). Es wird im O. und W. von steil abfallendem Hochtafelland begleitet, welches sich 700-800 m über den Wasserspiegel erhebt, und von welchem sich viele Thalschluchten (Wadis) herabziehen, in denen sich einige Vegetation zeigt, während die sonstige Umgebung meist steril ist. Die beiden Becken sind von verschiedener Tiefe; während diese im nördlichen Becken in der Mitte meist über 300 m (größte Tiefe unter 31° 36' nördl. Br. 399 m) und im gesamten Durchschnitt 329 m beträgt, scheint sie im südlichen Becken nirgends über 3,6 m zu messen. Doch schwankt der Seespiegel je nach der Jahreszeit und scheint im allgemeinen im Sinken begriffen zu sein. Das Wasser ist ziemlich hell und klar, aber so mit Mineralien gesättigt, daß hineingeworfenes Salz sich nicht mehr auflöst und weder Fische noch Schaltiere darin existieren können. Die salzigen Bestandteile (etwa 25 Proz.) sind Chlormagnesium, Chlorcalcium und Chlornatrium; dieselben verleihen dem Wasser ein spezifisches Gewicht von 1,166, so daß dasselbe weit größere Lasten als das gewöhnliche Seewasser trägt und der menschliche Körper darin nicht untersinkt. Jene Salze werden durch Verdunsten des Wassers in Gruben in Menge gewonnen. Der Boden des Sees besteht aus Sand, unter welchem sich eine Lage von Asphalt (Judenpech) befinden soll, der zuweilen in großen Stücken durch das Wasser aufgespült wird. Nach andern stammt der Asphalt von einer Breccie am Westufer des Sees her. Das Tote Meer liegt 394 m unter dem Spiegel des Mittelmeers und ist die tiefste bekannte Einsenkung der ganzen Erde. Es empfängt an seinem Nordende den Jordan (s. d.), außerdem mehrere Bäche, von denen die bedeutenden vom östlichen Hochland kommen. Ein sichtbarer Abfluß ist nicht vorhanden, und wenn trotzdem das Niveau des Sees immer ziemlich gleichbleibt, so rührt dies nur von der überaus starken Verdunstung her. Wegen der tiefen Lage des Sees herrscht im Bereich desselben eine außerordentliche Wärme, welche die Verdunstung sehr befördert. Nach der biblischen Sage entstand das Bassin des Toten Meers, welches einst die fruchtbare Ebene Siddim mit den Städten Sodom und Gomorrha einnahm, durch einen Schwefelregen (vulkanische Eruption). Vgl. Lynch, Bericht über die Expedition der Vereinigten Staaten nach dem Jordan und dem Toten Meer (deutsch, Leipz. 1850); Hull, Memoir on the geology and geography of Arabia Petraea etc. (Lond. 1886); Luynes, Voyage d'exploration à la Mer Morte (Par. 1871-76, 3 Bde.). -

2) S. Karkinitischer Meerbusen.

Totes Papier (franz. Valeur morte), ein Wertpapier, welches an der Börse zwar eingeführt ist, aber fast gar nicht gehandelt wird.

Totes Rennen (engl. Dead heat), ein Rennen, in welchem zwei oder mehrere Pferde so zu gleicher Zeit das Ziel passieren, daß ein Richter nicht im stande ist, den Sieger zu ermitteln.

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Tote Wechsel - Totpunkt.

Tote Wechsel, s. v. w. eigne Wechsel.

Totfall (unrichtig Todfall), s. Baulebung.

Tóth, 1) Koloman, ungar. Dichter, geb. 30. Juni 1830 zu Baja im Bács-Bodroger Komitat, veröffentlichte 1854 die erste Sammlung seiner Gedichte, die durch patriotische Tendenz und Gemütlichkeit beliebt wurden, und denen dann mehrere ähnliche Sammlungen aus seiner Feder folgten. Er schrieb auch verschiedene Dramen, von welchen "Egy királyné" ("Eine Königin") einen Preis der Akademie davontrug und "A nök az alkotmányban" ("Frauen im konstitutionellen Leben") mit großem Erfolg aufgeführt wurde. T. wurde 1860 von der Kisfaludy-Gesellschaft und 1861 von der Akademie zum Mitglied gewählt. Er starb 4. Febr. 1881 in Pest.

2) Eduard, ungar. Dramatiker, geb. 1844 zu Putnok im Gömörer Komitat, widmete sich dem Kaufmannsberuf, wirkte später als Schauspieler und Theaterdichter bei Provinzbühnen, wurde jedoch erst bekannt, als er 1871 mit seinem Volksstück "A falu roszsza" ("Der Dorflump", deutsch von A. Sturm) einen vom Pester Nationaltheater ausgeschriebenen Preis gewann. Er erhielt infolgedessen eine Anstellung an diesem Theater, starb aber schon 27. Febr. 1876. Andre namhafte Stücke von ihm sind das zweite preisgekrönte Volksstück, "A kintornás családsa" ("Die Familie des Leiermanns"), und das erst nach seinem Tod aufgeführte Drama "A tolonc" ("Der Schübling"), dessen Stoff gleichfalls dem Volksleben entnommen ist. T. zeichnete sich durch originelle Erfindung und poetisches Gemüt aus, war aber noch nicht zur vollen Beherrschung der dramatischen Form durchgedrungen.

Totilas, König der Ostgoten, ward 541 auf den Thron erhoben, eroberte in kurzer Zeit das von Belisar den Goten entrissene Italien wieder, 546 nach hartnäckiger Belagerung auch Rom, verlor es 547 wieder an Belisar, nahm es aber 549 zum zweitenmal ein und machte es zu seiner Hauptstadt. Auch Sizilien, Sardinien und Corsica brachte er wieder an das Gotenreich, erlitt aber im Juli 552 bei Tagina gegen Narses eine Niederlage, in welcher er selbst fiel.

Totis (ungar. Tata, lat. Theodatum), Markt im ungar. Komitat Komorn, Station der Ungarischen Staatsbahnlinie Budapest-Bruck, in ungemein quellenreicher Umgebung, besteht aus T. (Oberstadt) und Tóváros (Seestadt) an einem 4 km im Umfang messenden fischreichen See, mit Schloß u. Park des Grafen Esterhazy, großem Kastell, vielen Teichen, Kloster samt Gymnasium, Kapuzinerkloster, Bezirksgericht, großen Marmorbrüchen, römischen Altertümern und (1881) 6507 Einw., welche Spiritus-, Steingut- und Lederfabrikation und Weinbau treiben.

Totlaufen, sich, sagt man von einem Gesims, welches an einem Vorsprung endigt, ohne sich um denselben herumzuziehen (mit demselben zu verkröpfen); auch von einem Gang oder einer Straße, die an einem Ende keinen Ausweg haben.

Totleben (Todleben), Eduard Janowitsch, Graf von, russ. General, geb. 20. Mai 1818 zu Mitau als Sohn eines angesehenen Großhändlers, ward erst auf der Kadettenschule in Riga, dann 1832-36 auf der Ingenieurschule in Petersburg gebildet, trat 1837 als Unterleutnant in das Geniekorps, kämpfte 1847-50 im Kaukasus, nahm als Stabshauptmann an den Belagerungen der Tschetschenzenfestungen Salti und Tschoch teil und war dann 1854 als Oberstleutnant an der Seite des Generals Schilder-Schuldner bei der Belagerung von Silistria thätig. Darauf nach der Krim beordert, erwarb er sich durch schnelle Herrichtung von Verteidigungswerken auf der Südseite von Sewastopol, welche allein die lange Verteidigung ermöglichte, einen weit berühmten Namen. Am 20. Juni 1855 am Fuß verwundet, mußte er seine Wirksamkeit einstellen und ward dann zum Generalleutnant und Generaladjutanten des Kaisers sowie 1860 zum Direktor des Ingenieurdepartements im Kriegsministerium ernannt. Außerdem ward er Adjunkt des Großfürsten Nikolaus des ältern als Generalinspektor des Geniewesens. 1877 ward er erst im September auf den Kriegsschauplatz nach Bulgarien berufen und mit der Oberleitung der Belagerungsarbeiten vor Plewna betraut, nach dessen durch ihn bewirktem Fall in den Grafenstand erhoben, mit der Zernierung der bulgarischen Festungen und im April 1878 mit dem Oberbefehl in der Türkei beauftragt. 1879 wurde er Generalgouverneur von Odessa, 1880 von Wilna und starb 1. Juli 1884 in Bad Soden. Er schrieb "Défense de Séwastopol" (Petersb. 1864 ff.; deutsch von Lehmann, Berl. 1865 bis 1872, 2 Bde.). Vgl. Brialmont, Le général comte T. (Brüssel l884); Krahmer, Generaladjutant Graf T. (Berl. 1888).

Totliegendes, s. v. w. Rotliegendes, s. Dyasformation.

Totma, Kreisstadt im russ. Gouvernement Wologda, an der Suchona, mit Lehrerseminar, weiblichem Progymnasium und (1885) 3412 Einw. Dabei Salzquellen, deren eine jährlich 75,000 Pud Salz liefert.

Totnes, altes Städtchen in Devonshire (England), am Dart, mit (1881) 4089 Einw. Dabei Serge- und Wollwarenfabriken.

Totonicapan, Hauptstadt des gleichnamigen Departements im zentralamerikan. Staat Guatemala, liegt auf einer gut angebauten Hochebene und hat 25,000 Einw., meist Indianer, die sich neben Ackerbau mit Fabrikation von Wollzeugen, Töpferwaren und musikalischen Instrumenten beschäftigen.

Totpunkt, diejenige Stellung gewisser Mechanismen, in welcher eine eingeleitete Kraft keine Bewegung hervorzubringen vermag. Sehr verbreitete Mechanismen mit Totpunkten sind die gewöhnlichen Kurbelgetriebe. An jeder Drehbank oder Nähmaschine mit Fußbetrieb (Trittbrett, Lenkstange und Kurbel) lassen sich zwei Stellungen finden, von welcher aus die Maschinen mit dem Trittbrett allein nicht in Bewegung gesetzt werden können, vielmehr dazu einer Nachhilfe mit der Hand am Schwungrad etc. bedürfen. Es sind das die Totpunkte des Kurbelmechanismus, welche eintreten, wenn die Lenkstange und die Kurbel in einer geraden Linie liegen. Die Lenkstange zieht oder drückt hierbei nur in radialer Richtung an der Kurbel, so daß eine senkrecht zur Kurbel (also tangential zum Kurbelkreis) gerichtete Komponente, durch welche allein eine Kurbelbewegung möglich ist, nicht auftreten kann. Die Totpunkte müssen in der Technik einerseits häufig unschädlich, können aber anderseits geradezu nutzbar gemacht werden. Das erstere ist der Fall z. B. bei allen durch Kurbelantrieb in Bewegung gesetzten Maschinen (Dampf-, Heißluft-, Gaskraft-, Wassersäulenmotoren, Fußdrehbänken, Bohrmaschinen, Spinnrädern, Nähmaschinen etc.), und zwar werden die Totpunkte entweder durch Schwungräder oder dadurch überwunden, daß mehrere gleiche Mechanismen mit abwechselnd eintretenden Totpunkten angewendet werden, wobei sie sich gegenseitig über die Totpunte hinweghelfen (z. B. bei den Zwillingsdampfmaschinen). Nützliche Verwendung finden die Totpunkte be-

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Totreife - Toul.

sonders bei der Mehrzahl der durch Klemmung wirkenden Befestigungen und Verschlüsse, z. B. bei Gürtelschnallen, Feststellvorrichtungen für Rouleausschnüre, Hosenträger, Strumpfbänder etc. sowie bei Handschuh-, Portemonnaie- und Flaschenverschlussen etc.

Totreife, der Zustand der Getreidekörner, in welchem dieselben auf dem stehenden Halm völlig hart sind.

Totrokan (das antike Transmarisca), Kreishauptstadt in Bulgarien, an der Donau, zwischen Silistria und Rustschuk, mit Export von Rohprodukten und Holz und (1881) 7164 Einw. (viele Rumänen).

Totschlag, die widerrechtliche Tötung eines Menschen, welche zwar mit Vorsatz, aber nicht mit Überlegung ausgeführt wird. Durch das Vorhandensein der Tötungsabsicht unterscheidet sich das Verbrechen von der fahrlässigen Tötung (s. d.), durch den Mangel der Überlegung von dem Verbrechen des Mordes (s. d.). Der T. ist die im Affekt begangene absichtliche, widerrechtliche Tötung, welche, weil durch die leidenschaftliche Erregung das Bewußtsein des Thäters als getrübt erscheint, mit geringerer Strafe bedroht ist als der Mord. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch bestraft den Totschläger mit Zuchthaus von 5-15 Jahren. Dabei gilt es als Straferhöhungsgrund, wenn der T. an einem Verwandten aufsteigender Linie, oder wenn er bei Unternehmung einer strafbaren Handlung verübt wurde, um ein der Ausführung der letztern entgegentretendes Hindernis zu beseitigen, oder um sich der Ergreifung auf frischer That zu entziehen. Als strafmilderndes Moment wird es dagegen angesehen, wenn der Totschläger ohne eigne Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur That hingerissen worden war. In diesem Fall erscheint der bloße Versuch des Totschlags, welcher sonst mit Strafe bedroht ist, nicht als strafbar. Es soll auch in ebendiesem Fall, oder wenn sonstige mildernde Umstände vorliegen, nur auf Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren erkannt werden. Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 212 ff. - Das österreichische Strafgesetzbuch bezeichnet als T. die nicht absichtliche, aber als Folge einer sonstigen absichtlichen Feindseligkeit erscheinende Tötung und bedroht die im Affekt begangene absichtliche Tötung sogar mit Todesstrafe. Vgl. Österreichisches Strafgesetzbuch § 140 ff.

Tottenham, nördliche Vorstadt von London, 9 km von der Londonbrücke, mit Diakonissenanstalt und (1881) 46,441 Einw.

Totum (lat.), das Ganze.

Tötung (Tötungsverbrechen, Homicidium), das Verbrechen desjenigen, welcher widerrechtlicherweise den Tod eines andern Menschen verursacht. Hiernach fällt also der Selbstmord nicht unter den Begriff der strafbaren T., ebensowenig die T. im Krieg nach Kriegsrecht oder die rechtmäßige T. eines zum Tod Verurteilten und die T. im Fall der Notwehr (s. d.). Ebenso ist die Abtreibung der Leibesfrucht, welche ein erst im Werden begriffenes Menschenleben zerstört, hier auszuscheiden. Je nachdem nun der Tötende mit oder ohne Absicht handelte, wird zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger (kulposer) T. unterschieden. Letztere wird nach dem Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs (§ 222) mit Gefängnis bis zu drei Jahren und, wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er fahrlässigerweise aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufs oder Gewerbes besonders verpflichtet war, mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft. Bei der vorsätzlichen T. wird je nach der Verschiedenheit des Thatbestandes wiederum zwischen Mord (s. d.), Totschlag (s. d.) und Kindesmord (s. d.) unterschieden. Dazu kommt noch die T. im Zweikampf (s. d.) und die T. eines Einwilligenden, welch letztere nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 216), wofern der Thäter durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur That bestimmt worden war, mit Gefängnis von 3-5 Jahren geahndet wird. Das österreichische Strafgesetzbuch dagegen behandelt die T. eines Einwilligenden nicht als ein besonderes Vergehen. In allen diesen Fällen muß aber der Tod die zurechenbare Folge einer Handlung des Thäters sein. Die frühern Einteilungen in absolut und relativ, in notwendig und zufällig, in per se und per accidens tödliche (letale) Verletzungen sind heutzutage für den Begriff der T. indifferent, und die Unterscheidungen, welche die ältere Doktrin mit Rücksicht hierauf in Ansehung der Tödlichkeit (Letalität) von Verletzungen machte, werden nicht mehr berücksichtigt. Die sogen. tödliche Körperverletzung endlich, bei welcher der Tod des Verletzten die nicht beabsichtigte Folge der Verletzung ist, fällt nicht unter den Begriff der T., sondern unter den der Körperverletzung (s. d.). Vgl. Deutsches Strafgesetzbuch, § 2l1-222, 237 f.; Österreichisches, § 134-143, 335; Französisches, Art. 195-304, 319, 321-329; Brunnenmeister, Das Tötungsverbrechen im altrömischen Recht (Leipz. 1887).

Tot verbellen, das Anbellen eines verendeten Wildes durch den Schweißhund.

Touage (franz., spr. tu-ahsch), s. Tauerei.

Touchant (franz., spr. tuschang), ruhrend, bewegend; Touche, Berührung, Neckerei, Beleidigung (s. Tusch); touchieren, tastend berühren, untersuchen; in Rührung versetzen; beleidigen.

Toucouleurs (Tukulör), ein von den Franzosen den Bewohnern des untern und mittlern Senegal beigelegter Name, den man davon hat ableiten wollen, daß hier eine Mischung der verschiedenfarbigen Dscholof, Mandingo und Fulbe stattgefunden hat, während derselbe viel wahrscheinlicher von Tukurol, dem alten Namen des Landes, herstammt. Die Portugiesen nannten schon im 16. Jahrh. die Eingebornen Tacurores. Unter dem Einfluß des Islam erwuchs hier die Theokratie der Torodo, welche im 18. Jahrh. ihre Herrschaft über das ganze Senegalbecken ausdehnte und unter Othman Dar Fodie das große Fulbereich zwischen Niger und Tsadsee gründete. Sie haben den Franzosen häufig den entschiedensten Widerstand entgegengesetzt, doch wurde diesen bei der Feindseligkeit der einzelnen Stämme gegeneinander die Unterwerfung leicht gemacht.

Toucy (spr. tußi), Stadt im franz. Departement Yonne, Arrondissement Auxerre, an der Ouanne und der Eisenbahn Triguères-Clamecy, mit Schloß, Fabrikation von Wollenstoffen, Gerberei, Handel mit Vieh und Eisenwaren und (1881) 2125 Einw.

Toujours (franz., spr. tuschuhr), alle Tage, immer.

Toul (spr. tuhl), Arrondissementshauptstadt und Festung zweiter Klasse im franz. Departement Meurthe-et-Moselle, an der Mosel und am Marne-Rheinkanal, Station der Bahnlinie Paris-Avricourt (mit Abzweigung nach Frenelle la Grande), hat eine im 15. Jahrh. vollendete gotische Kathedrale mit zwei schönen Türmen, ein ansehnliches Stadthaus (früher Bischofspalast), Collège, Sekundärschule für Mädchen, Bibliothek und (1886) 7610 (Gemeinde 10,459) Einw., welche etwas Industrie (Stickerei, Hutfabrikation etc.) und Handel treiben. Seit 1871 ist die Festung T. durch einen Gürtel von Forts in einer Ausdehnung von

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Toulon.

35 km, darunter das starke Fort St.-Michel nordwestlich der Stadt, erweitert worden. T. ist Geburtsort des Marschalls Gouvion Saint-Cyr. - T., das Tullum Leucorum der Römer, Hauptstadt des gallischen Stammes der Leuci, ist eine sehr alte Stadt und gehörte unter den fränkischen Merowingern und Karolingern zum fränkischen Königreich Austrasien. 612 wurde der König Theuderich von Austrasien von Theoderich von Burgund bei T. besiegt. 870 fiel T. an das Deutsche Reich, wurde dann von eignen Grafen regiert und fiel nach deren Erlöschen 1136 an Lothringen, blieb aber deutsche Reichsstadt, über welche die Herzöge von Lothringen nur das Schirmrecht ausübten. Im J. 1552 ward die Stadt vom König Heinrich II. von Frankreich infolge seines Bundes mit dem Kurfürsten Moritz von Sachsen gegen Karl V. nebst Metz und Verdun besetzt und mit diesen Bistümern im Westfälischen Frieden 1648 definitiv an Frankreich abgetreten. Das um 410 gegründete Bistum T. bestand bis 1807. Im Krieg von 1870 ward T. 16. Aug. vom 4. deutschen Korps vergeblich berannt, vom 12. Sept. an vom 13. Korps unter dem Großherzog von Mecklenburg förmlich belagert, da es die einzige Eisenbahn vom Rhein nach Paris sperrte, u. am 23. nach nur achtstündigem Bombardement mit schwerem Geschütz zur Kapitulation gezwungen. Vgl. Thiery, Histoire de la ville de T.(Toul 1841, 2 Bde.); Daulnoy, Histoire de la ville et cité de T. (das. 1887 ff.); Pimoden, La réunion de T. à la France (Par. 1885); v. Werder, Die Unternehmungen der deutschen Armee gegen T. im J. 1870 (Berl. 1875).

Toulon (spr. tulong, T. sur Mer), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Var, nächst Brest der wichtigste Kriegshafen Frankreichs, Festung ersten Ranges und Hauptstation der französischen Mittelmeerflotte, liegt am Fuße steil abfallender Berge im Grund einer tiefen Bai des Mittelländischen Meers, deren Eingang südlich durch die Halbinsel Cépet geschlossen wird. Die eigentliche alte Stadt mit ihren engen Straßen hat, seit infolge des Dekrets von 1852 die Schanzmauern an der nördlichen Seite demoliert wurden, durch Erweiterung und Verschönerung sehr gewonnen. Die neue Umfassungsmauer zieht sich nun weiter hinaus und schließt ein neues Stadtviertel mit breiten Straßen und schönen Bauten ein. Die wichtigsten Straßen sind: der Boulevard, die Bahnhofsavenue, der Cours Lafayette mit Platanenallee, die Straße des Chaudronniers u. a. Hervorragende Gebände sind: die romanische Kathedrale Ste.-Marie Majeure (1096 gegründet), die Kirchen St.-Louis, St.-François de Paule und St.-Pierre, das protestantische Bethaus (Maison Puget), das Stadthaus am Hafen, das neue Theater und das Justizpalais. T. zählt (1886) 53,941 (Gemeinde 70,122) Einw. Abgesehen von den umfangreichen Werkstätten des Marinearsenals (s. unten), gibt es nur wenige industrielle Etablissements; auch der Handel ist hauptsächlich auf die Approvisionierung der Marine beschränkt, weshalb auch der Verkehr von Handelsschiffen ein sehr geringer ist (1887 sind 273 beladene Schiffe mit 78,672 Ton. eingelaufen). T. steht durch die Eisenbahn Marseille-Nizza mit dem französisch-italienischen Verkehrsnetz, dann durch regelmäßige Dampfschiffahrtslinien mit den Häfen des Mittelmeers in Verbindung. Der Hafen ist einer der sichersten, welche es gibt, und wird durch zahlreiche Forts, Batterien und feste Türme, welche die umliegenden Höhen und Vorgebirge krönen, geschützt; mehrere Leuchttürme sichern die Einfahrt. Er umfaßt die Darse vieille und die Darse neuve, welche den Kriegshafen bilden, und östlich davon den kleinen Handelshafen, vor welchem ein durch zwei Molen zu schützender äußerer Hafen mit Docks angelegt werden soll. Zum Kriegshafen gehört das Marinearsenal, welches, 1680 nach Vaubans Plänen erbaut, aus einer Reihe von Etablissements besteht, welche 270 Hektar einnehmen und 13,000 Arbeiter beschäftigen. Den Eingang bildet ein monumentales Thor (von 1738) mit Statuen von Mars und Bellona. Den Hof des Arsenals umgeben das große Magazin (für die Materialien zum Bau und zur Ausrüstung der Schiffe), die Seilerei, die Eisenguß- und Hammerwerke, der Uhrpavillon mit den Gebäuden für die Direktion, das Marinemuseum mit Modellen aller Arten von Fahrzeugen, der Waffensaal, die Waffenschmiede, Feilerei und Modellkammer. Zwischen dem alten und neuen Hafenbassin des Kriegshafens liegt eine Insel, welche durch eine drehbare Brücke über den Verbindungs-

[Karte der Umgebung von Toulon.]

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Toulon - Toulouse..

kanal mit dem Festland zusammenhängt und drei Docks, das Bagno und das Marinehospital enthält. Das Bagno wurde 1682 unter Colberts Verwaltung hergestellt und dient jetzt als Depot für die nach Cayenne und Neukaledonien zu deportierenden Verbrecher. An den Kriegshafen schließt sich westlich, durch den Quai de la Garniture (mit Magazinen) von demselben getrennt, das Hilfsarsenal von Castigneau mit einem Bassin an, welches mit dem Kriegshafen durch einen Kanal in Verbindung steht. Dieses Arsenal umfaßt eine Bäckerei, Fleischerei, eine Eisengießerei, Hammerwerke, große Viktualienmagazine und Kohlendepots. Noch weiter westlich ist das neue Bassin von Missiessy (mit Magazinen) hinzugekommen. In der südöstlichen Vorstadt Mourillon endlich liegt ein drittes Arsenal, welches große Magazine für Schiffbauholz und Metalle sowie verschiedene Werkstätten und Schiffbauplätze enthält. Zu den Marine-Etablissements gehört auch das unter Ludwig XIV. erbaute Marinehospital mit naturhistorischem Kabinett; einen Annex desselben bildet das Hospital von St.-Mandrier auf der Halbinsel Cépet. Bei letzterm befindet sich ein botanischer Garten und in der Nähe südöstlich eine Pyramide zum Andenken an den Admiral Latouche-Tréville und westlich das Quarantänelazarett. T. hat ein Lyceum, eine hydrographische Schule, Normalschule, Sekundärschule für Mädchen, eine Marineartillerieschule, eine Munizipalbibliothek (16,000 Bände), ein Museum, ein Observatorium, eine Börse, eine Filiale der Bank von Frankreich und ist der Sitz eines Marinepräfekten, eines Marinetribunals, der Direktion der Marineartillerie, eines Handelsgerichts und mehrerer Konsulate fremder Staaten. In der Vorstadt Mourillon befinden sich Seebäder. Schöne Punkte in der Umgebung sind das Fort Lamalgue mit prächtiger Aussicht, der nördlich aufsteigende Berg Faron (521 m), die westlich gelegene Halbinsel Sicié mit der Stadt La Seyne (s. d.), dem hoch gelegenen alten Ort Six Fours mit uralter Kirche und dem Vorgebirge Sicié mit Wallfahrtskirche, endlich im S. die Halbinsel Cépet (s. oben). - T. bestand schon im Altertum als griechische Kolonie Telonion (Telo Martius), war damals schon ein bedeutender Ort und namentlich durch seine Färbereien berühmt. Im 10. und 12. Jahrh. litt die Stadt sehr durch Einfälle der Sarazenen. Sie teilte dann die Schicksale der Provence. 1524 nahm sie der Connétable von Bourbon und 1536 Karl V. ein. Ludwig XIV. ließ durch Vauban die Stadt stark befestigen. Während des spanischen Erbfolgekriegs wurde sie 1707 von den Verbündeten unter dem Herzog Viktor Amadeus von Savoyen und dem Prinzen Eugen zu Land sowie von der englisch-holländischen Flotte zur See bombardiert und großenteils in Asche gelegt, aber nicht erobert. 1744 erfochten die Engländer zwischen T. und den Hyèrischen Inseln einen Seesieg über die spanisch-französische Flotte. Während der ersten französischen Revolution erhob sich die Bevölkerung von T. im Juli 1793 gegen den Konvent und übergab, nachdem der Konvent die Stadt geächtet und ein republikanisches Heer sie eingeschlossen hatte, im Einverständnis mit der Besatzung die Stadt 29. Aug. an die vereinigte englisch-spanische Flotte unter dem Admiral Hood. Darauf ward sie tapfer verteidigt, aber hauptsächlich infolge der Eroberung des Forts Mulgrave durch Bonaparte gelang es den Republikanern, die Engländer und Spanier 19. Dez. 1793 zum Abzug zu zwingen. Hierauf rückten die Konventstruppen in die Stadt, und die Konventskommissare Barras, Fréron und der jüngere Robespierre verhängten über sie ein furchtbares Strafgericht. 3000 Menschen wurden hingewürgt; die Einwohnerzahl sank von 28,000 auf 7000 herab. Vgl. Teissier, Histoire des divers agrandissements et des fortitications de la ville de T. (Par. 1874); Lambert, Histoire de T. (Toul. 1886 ff.).

Toulouse (spr. tuluhs'), Hauptstadt des franz. Departements Obergaronne, ehemals Hauptstadt von Languedoc, 133 m ü. M., in fruchtbarer, aber einförmiger Ebene, an der hier bereits schiffbaren Garonne, am Canal du Midi und an der Eisenbahn von Bordeaux nach dem Mittelmeer gelegen, die hier nach Albi, Foix, Bayonne und Auch abzweigt, ist der natürliche Mittelpunkt des ganzen obern Garonnebeckens, zu welchem Ariége und l'Hers sowie auch der Tarn vor seiner Abschwenkung nach NW. hinleiten; zugleich ist es der wichtigste Punkt an der alten historischen Straße vom Mittelmeer zum Ozean. Dieser Lage verdankt T. sein hohes Alter, die große Rolle, die es stets in der Geschichte gespielt hat, und seine jetzige Blüte. Die Stadt ist mit der auf dem linken niedern Ufer der Garonne gelegenen Vorstadt St.-Cyprien durch eine 1543-1626 erbaute Brücke sowie durch zwei Hängebrücken verbunden und bietet mit ihren einförmigen roten Backsteinhäusern und im allgemeinen engen Straßen keinen malerischen Anblick, hat aber namentlich durch die an Stelle der alten Wälle getretenen Boulevards und Alleen sowie durch die neuen in der innern Stadt ausgeführten Straßen ein modernes, großstädtisches Aussehen gewonnen. Zentrum der Stadt ist der Kapitolsplatz. Von den Kirchen sind besonders zu erwähnen: die Kathedrale St.-Etienne; die große fünfschiffige romanische Kirche St.-Saturnin (St.-Sernin) mit Krypte und 64 m hohem Turm; die Jakobinerkirche aus dem 14. Jahrh. (jetzt Dominikanerkirche) mit dazu gehörigem Kloster (jetzt Unterrichtsgebäude); die Kirche Dalbade (ehemalige Malteserkirche) in frühgotischem Stil mit reichem Renaissanceportal. Unter den übrigen Gebäuden sind die hervorragendsten: das Stadthaus (Kapitol genannt) mit mehreren schönen Sälen, darunter der Salle des Illustres und dem Festsaal der poetischen Blumenspiele (Jeux floraux); das ehemalige Augustinerkloster, welches mit seinen Kreuzgängen gegenwärtig als Antikenmuseum und Gemäldegalerie benutzt wird; der Justizpalast, mehrere schöne Renaissancegebäude, das große Theater, zwei Spitalgebäude aus dem 11. Jahrh. Die Zahl der Einwohner beträgt (1886) 123,040 (Gemeinde 147,617). Die Stadt hat sehr bedeutende Industrie, darunter an Staatsanstalten eine Artilleriewerkstätte, eine Pulver- und eine Tabaksfabrik, ferner Fabriken für Sicheln, Wagenfedern und Feilen, Wagen, Maschinen, Parkette, Papier, chemische Produkte etc. sowie zahlreiche Mühlen. Von großer Wichtigkeit ist auch der Handel, besonders mit Getreide, Mehl, Wein, Bauholz, Marmor, Branntwein, Wolle, Tuch, Vieh etc. Für den Lokalverkehr dient eine Pferdebahn; auch ist die Stadt mit einer ältern und einer neuen Wasserleitung versehen. T. hat Fakultäten für Rechte, philosophisch-historische und mathematisch-naturwissenschaftliche Disziplinen (zusammen mit 1100 Studierenden), eine freie katholische Universität, ein Lyceum, ein Collège, eine Tierarzneischule, ein großes und kleines Seminar, eine Normalschule, eine Kunstschule, ein Konservatorium der Musik, ein Taubstummen- und Blindeninstitut, eine Akademie der Wissenschaften wie auch andre gelehrte Gesellschaften, eine öffentliche Bibliothek von 60,000 Bänden, ein reichhaltiges Kunst- und Antikenmuseum, eine naturhistorische Sammlung, eine Sternwarte, einen botanischen Garten, 3 Thea-

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Toupet - Touristenvereine.

ter, ein Irrenhaus, eine Börse und eine Filiale der Bank von Frankreich. T. ist der Sitz der Präfektur, eines Erzbischofs (von T. und Narbonne), eines protestantischen Konsistoriums, eines Appell- und Assisenhofs, eines Handelsgerichts, einer Handelskammer und des 17. Armeekorpskommandos. - Zur Zeit der Römer hieß T. Tolosa, war die Hauptstadt der Volcae Tectosages und schon im 2. Jahrh. v. Chr. eine reiche Handelsstadt und Mittelpunkt des westeuropäischen Handels. In dem heiligen Teich des großen Nationalheiligtums war der ungeheure Schatz von 15,000 Talenten versenkt, durch dessen Raub der Prokonsul Cäpio das Aurum Tolosanum sprichwörtlich machte. Trotz mehrfacher Eroberungen und Plünderungen war es auch im 4. Jahrh. n. Chr. noch immer eine durch Handel, Reichtum und Wissenschaften blühende Stadt. 413 von den Westgoten eingenommen, wurde sie nun Residenz der Könige des westgotischen Reichs, bis Alarich II. sie 507 an den Frankenkönig Chlodwig verlor. Von da an wurde sie durch fränkische Grafen verwaltet und ward 631 Residenz der Herzöge von Aquitanien (s. d.). 721 wurden die Araber von Eudo von Aquitanien bei T. besiegt. Nach dem Untergang der Selbständigkeit Aquitaniens (771) war T. 778 wieder Sitz einer Grafschaft, deren Dynastengeschlecht die Landschaften Quercy, Albigeois sowie Teile der Graffch asten Auvergne und Aquitanien und der Provence mit T. vereinigte. Die Grafen von T. führten meist den Namen Raimund (s. Raimund von St.-Gilles), ihre Macht ging in den Albigenserkriegen zu Grunde. Des letzten Grafen, Raimunds VII., einzige Tochter, Johanna, vermählte sich mit Ludwigs IX. Bruder, dem Grafen Alfons von Poitiers, dem sie T. zubrachte. Als dieser 1271 nach einer kinderlosen Ehe starb, vereinigte Philipp III. die Grafschaft T. für immer mit der Krone Frankreich, nur den Titel eines Grafen von T. verlieh Ludwig XIV. seinem dritten Sohn von der Montespan, Louis Alexandre de Bourbon, Grafen von T. (geb. 6. Juni 1678, gest. 1. Dez. 1737). In der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1562 wurden in T. gegen 4000 Hugenotten ermordet. Am 10. April 1814 erfocht die vereinigte britisch-spanische Armee unter Wellington bei T. einen Sieg über die Franzosen unter Soult. Vgl. Catel, Histoire des comtes de T. (Toul. 1623); "T. Histoire, archéologie monumentale, facultés, etc." (das. 1887); Jourdan, Panorama historique de T. (2. Aufl., das. 1877).

Toupet (franz., spr. tupa), Haarbüschel, Bezeichnung einer namentlich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts üblichen Mode, die unmittelbar über der Stirn befindlichen Haare, auch die der Perücke, rückwärts in die Höhe gekämmt und gekräuselt zu tragen.

Tour (franz., spr. tuhr), Umlauf, Umdrehung, z. B. einer Welle; Wendung (beim Tanz etc., auch in der Rede); Spaziergang, Rundfahrt, Reise (daher Tourist, Vergnügungsreisender); gewandt ausgeführter Streich; falsche Haarfrisur.

Tour (La T. du Pin, spr. tuhr du pang), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Isère, an der Bourbre und der Eisenbahn Lyon-Grenoble, mit Lein- und Seidenweberei, Fabrikation von Handschuhen und Posamentierwaren und (1886) 3197 Einw.

Tour, Abbé de la, Pseudonym, s. Charrière.

Touraine (spr. turähn), ehemalige franz. Landschaft, von Orléanais, Berry, Poitou und Anjou begrenzt, umfaßte das jetzige Departement Indre-et-Loire und einen Teil des Departements Vienne. Sie bildete seit 941 eine besondere Grafschaft, kam 1045 an die Grafen von Anjou, dann an die Plantagenets und 1204 unter Philipp II. August an die Krone, ward 1360 zum Herzogtum erhoben und mehrmals an nachgeborne französische Prinzen verliehen, aber 1584 nach dem Tode des Herzogs Franz von Alençon, des Bruders Heinrichs III., wieder mit der Krone vereinigt. Wegen ihrer Fruchtbarkeit ward die Landschaft der Garten Frankreichs genannt. Vgl. Bourassé, La T., son histoire et ses monuments (Tours 1855); Carré de Busserolle, Dictionnaire géographique, historique et biographique de l'Indre-et-Loire et de l'ancienne province de T. (das. 1878-84, 6 Bde.).

Tourcoing (spr. turkoang), Stadt im franz. Departement Nord, Arrondissement Lille, Knotenpunkt der Eisenbahnen Lille-Mouscron und Somain-Menin, nahe der belgischen Grenze, Schwesterstadt von Roubaix, mit dem es immer mehr verwächst, mit Collège, Gewerbekammer, Filiale der Bank von Frankreich, zahlreichen Spinnereietablissements für Schafwolle, Baumwolle, Flachs und Seide (zusammen 400,000 Spindeln), Wollkämmereien, Webereien, Färbereien, Fabriken für Möbelstoffe, Teppiche und Wirkwaren, Seife, Maschinen und Zucker, lebhaftem Handel und (1886) 41,183 (Gemeinde 58,008) Einw. An hervorragenden Bauwerken ist die Stadt arm. Hier 17. und 18. Mai 1794 Sieg der Franzosen unter Pichegru über die Österreicher und Engländer unter Clerfait.

Tourenzähler, Apparat zum Zählen der Umdrehungen von Wellen, Rädern etc.

Touristenvereine (Gebirgsvereine) sind solche, deren Arbeitsfeld vorwiegend sich auf Mittelgebirge oder Vorberge der Hochalpen erstreckt, während Alpenklubs (vgl. Alpenvereine) sich ausschließlich mit Hochgebirgen befassen; strenge Grenzen lassen sich jedoch nicht ziehen. Die meisten T. sind in Zweigvereine (Sektionen) gegliedert, die über ein Vereinsgebiet zerstreut sind, und die durch eine Zentralgewalt zusammengehalten werden. Jede Sektion arbeitet selbständig; alle aber erstreben gemeinsam für ihr Gebiet das gleiche Ziel. Verkehrserleichterungen, Erschließung und Verschönerung von Aussichtspunkten und neuen Partien, Hebung der Regsamkeit und Wohlfahrt der Gebirgsbewohner; ferner pflegen sie kleinere populärwissenschaftliche Forschungen und gemeinsame Touren etc. Fast jeder Touristenverein gibt eigne Jahresberichte heraus; mehrere lassen vierteljährlich, monatlich oder halbmonatlich Zeitschriften, außerdem Karten, Panoramen, Jahrbücher, Spezialführer u. dgl. erscheinen. Die Summe, welche durch die Kassen aller Touristen- und Alpenvereine zusammengenommen ins Land fließt, beläuft sich pro Jahr auf ca. 400,000 Mk., ungerechnet die großen Umsätze, welche sie indirekt hervorrufen. Im Deutschen Reich bestehen zur Zeit über 40 T. mit ca 27,000 Mitgliedern (ohne die Sektionen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins mit ca. 8000 Mitgliedern) und zwar: Schwarzwaldverein (Freiburg i. Br., seit 1864, reorganisiert 1882, 2000 Mitglieder), Taunusklub (Frankfurt a. M., seit 1868, reorganisiert 1882, 1000 Mitgl.), Vogesenklub (Straßburg i. E., 1876, 3000 Mitgl.), Rhönklub (Fulda, 1876, 2000 Mitgl.), Freigerichtenbund (Maisenhaus, 1876), Gebirgsverein für die Sächsisch-Böhmische Schweiz (Dresden, 1877, 1500 Mitgl.), Vaterländischer Gebirgsverein Saxonia (Dresden 1879), Spessarttouristenverein (Hanau, 1879), Gebirgsverein Rathewalde (1879), Gebirgsverein Lusatia (Zittau, 1880, 1200 Mitgl.), Thüringerwaldverein (Eisenach, 1880, 2600 Mitgl.), Verein der Spessartfreunde (Aschaffenburg, 1880, 500 Mitgl.), Gebirgsverein Oybin (1880), Schlesischer Gebirgsverein für das

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Tourn. - Tournai.

Riesengebirge (Hirschberg, 1880, 4000 Mitgl.), Heideklub (Dresden, 1880), Gebirgsverein für die Grafschaft Glatz (Glatz, 1881, 950 Mitgl.), Taunusklub Wetterau (Nauheim-Friedberg, 1881), Gebirgsverein für Öderan im Erzgebirge (1881), Verband vogtländischer Touristenvereine (Plauen, 1881, 1000 Mitgl.), Vogelsberger Höhenklub (Schotten, 1881, 1000 Mitgl.), Verschönerungsverein für das Siebengebirge (Bonn etc., 1881), Touristenverein Annaberg-Buchholz (1881), Rheinischer Touristenklub (Mainz, 1882), Odenwaldklub (Erbach, 1882, 1200 Mitgl.), Rhein- und Taunusklub (Wiesbaden, 1882), Im Spreegebiet (Bautzen, 1882), Oberes Spreethal (Neusalza, 1882), Verband der Gebirgsvereine des Eulen- und Waldenburger Gebirges (Reichenbach i. Schl., 1882/83, 500 Mitgl.), Gebirgsverein Charlottenbrunn in den Sudeten (1882), Bayrischer Waldverein (Bodenmais, 1883, 500 Mitgl.), Verschönerungsverein Naturfreund (Meißen, 1881, 400 Mitgl.), Verein Wendelsteinhaus (München, 1881), Schweidnitzer Gebirgsverein (1883), Württembergischer Schwarzwaldverein (Stuttgart, 1884), der Harzklub (Goslar, 1887, mit 2400 Mitgl. in 23 Zweigvereinen), Westerwaldklub (Selters), Eifelverein (Trier); ferner T. in Offenbach, Stettin, Köln, Kassel, Potsdam, Bingen, Hannover etc. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie zählt über 25 T. mit ca. 20,000 Mitgliedern ohne folgende 3 alpine Vereine: Sektionen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (ca. 7000 Mitgl.), Österreichischer Alpenklub (ca. 600 Mitgl.), Società degli Alpinisti Tridentini (ca. 500 Mitgl.) und zwar: Österreichischer Touristenklub (Wien, 1869, ca. 10,000 Mitgl.), Steirischer Gebirgsverein (Graz, 1869, 2000 Mitgl.), Ungarischer Karpathenverein (Käsmark, 1873, 3000 Mitgl.), Kroatischer Gebirgsverein (Agram, 1874, 450 Mitgl.), Lehrer-Touristenklub (Wien, 1874), Galizischer Tatraverein (Krakau, 1874, 2200 Mitgl.), Verein der Naturfreunde (Mödling, 1877, 400 Mitgl.), Nordböhmischer Exkursionsklub (Böhmisch-Leipa, 1878, 1350 Mitgl), Gebirgsverein für die Böhmische Schweiz (Tetschen, 1878, 350 Mitgl.), Böhmische Erzgebirgsvereine (Karlsbad, Görkau, Oberleutensdorf, Brüx, Komotau, Joachimsthal, Teplitz, Eger, Marienberg etc., seit 1879, ca. 2000 Mitgl.), Böhmischer Riesengebirgsverein (Hohenelbe, 1880, 600 Mitgl.), Siebenbürgischer Karpathenverein (Hermannstadt, 1880, 1500 Mitgl.), Sannthaler Alpenklub (Cilli, 1880), Gebirgsverein in Gmünd in Kärnten (1880), Gebirgsverein der mährisch-schlesischen Sudeten (Gräfenberg, 1881, 1600 Mitgl.), Alpenklub Salzburg (1881), Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs (Graz, 1881), Touristenverein Hermagor in Kärnten (1882), Plattenseeverein (1883), Società degli Alpinisti Triestini (Triest, 1883), Mittelgebirgsverein in Aussig in Böhmen (1883), Deutscher Böhmerwald-Bund (1884), Deutscher Gebirgsverein für das Jeschken- und Isergebirge (Reichenberg in Böhmen, 1884, 600 Mitgl.); ferner kleinere alpintouristische Privatkreise in Graz und Wien. In der Schweiz besteht außer dem Schweizer Alpenklub nur der Club jurassien (Neuchâtel, 1868). In Frankreich außer dem Club Alpin Français, der sich auch mit den Pyrenäen und dem Atlas Algeriens beschäftigt, und der Société Ramond in Bagnères de Bigorre (Oberpyrenäen, seit 1865): Société des Touristes du Dauphiné (Grenoble, 1875, 650 Mitgl.), Club Alpin International (Nizza, 1879, mehr ein Cercle für Kurgäste). In Italien außer dem Club Alpino Ita1iano und der Società Alpina Friulana (Udine, l874); Circulo Alpino dei Sette Comuni (Asiago), Club dei Monti Berici, Club Alpino di Garafagnana. In andern Ländern: Club Alpin Belge (Brüssel, 1883), Norske Turistforening (Christiania, 1868, 2000 Mitgl.), Associacio d'excursions Catalana (Barcelona, 1878, 500 Mitgl.), Himalaya-Club (Kalkutta, 1880), Appalachian Mountain-Club (Boston, 1876, 700 Mitgl.), Rocky Mountain-Club (Philadelphia, 1876), Alpine Club of Massachusetts (Williamstown, 1863), Krimscher Gebirgsklub (Odessa, 1889). Für das Deutsche Reich besteht seit 1883 ein Verband deutscher T. (Zentralsitz in Frankfurt a. M.), dem etwa 27 Vereine mit ca. 24,000 Mitgliedern angehören. Organ des Verbandet ist die Zeitschrift "Der Tourist" (Berl., seit 1887). Man kann auch in gewissem Sinn die lokalen Verschönerungsvereine unter die Gebirgsvereine, bez. T. rechnen, zumal sie, wie z. B. derzeit 1843 bestehende Verein zu Wiesbaden, neben dem Londoner Alpine Club (von 1857 bis 1861 unter dem Namen The Englishmen's Playground) zu den Vorläufern unsrer gesamten touristischen Vereinsbewegung zu zählen sind. Vgl. Köhler, Die touristischen Vereine der Gegenwart (Eisen. 1884); Nicol, Das touristische Vereinswesen (Wiesb. 1886).

Tourn., bei botan. Namen Abkürzung für Tournefort (s. d.).

Tournachon (spr. -schóng), Schriftsteller, s. Nadar.

Tournai (spr. turnä, vläm. Doornick), Hauptstadt eines Arrondissement und ehemalige Festung in der belg. Provinz Hennegau, an beiden Ufern der Schelde, Knotenpunkt der Eisenbahnen nach Gent, Brüssel, Valenciennes, Lille und Douai, hat sieben Vorstädte, breite Kais, regelmäßige Straßen, eine Kathedrale romanischen Stils aus dem 12. Jahrh. mit fünf Türmen, Gemälden von Jordaens, Rubens, Gallait u. a. und dem reichen Reliquienschrein des heil. Eleutherius, ersten Bischofs von T., die Kirche St.-Brice mit dem Grabmal des Frankenkönigs Childerich und viele andre Kirchen und Kapellen, einen alten, neuhergestellten Belfried und ein Stadthaus mit öffentlichem Garten. Den Marktplatz schmückt das von Dutrieux modellierte Bronzestandbild der Prinzessin Maria von Epinoy (s. unten). Die Bevölkerung zählte 1888: 34,805 Seelen. Die wichtigsten Industriezweige sind: Fabrikation von Teppichen, Leinen-, Wollen- und Baumwollenstoffen, Porzellan, Fayence und Bronzewaren, Mützen- und Strumpfwirkerei, Gerberei und Brauerei. Der lebhafte Handel wird durch die schiffbare Schelde begünstigt. T. hat ein geistliches Seminar, Athenäum, Industrieschule, Lehrerinnenseminar, eine Kunstakademie, öffentliche Bibliothek, ein naturhistorisches Museum, eine Entbindungsanstalt, ein Theater. Es ist Sitz eines Bischofs und eines Tribunals. - T. hieß im Altertum Civitas Nerviorum, Turris Nerviorum oder Tornacum, ward im 5. Jahrh. den Römern von den Franken abgenommen und teilweise zerstört, aber bald wieder aufgebaut und bis Chlodwig Sitz der merowingischen Könige. Später gehörte es zu Flandern, seit Philipp dem Schönen zu Frankreich, bis es im Frieden von Madrid 1526 an die spanischen Niederlande kam. Während der niederländischen Unruhen ward es 1581 von dem Herzog von Parma belagert, aber von der Prinzessin Maria von Evinoy tapfer verteidigt. 1667 von Ludwig XIV. erobert, wurde es im Aachener Frieden von 1668 förmlich an Frankreich abgetreten. Ludwig XIV. ließ die Festungswerke durch Vauban ansehnlich verstärken; dessenungeachtet ward der Platz 1709 von den Kaiserlichen unter Prinz Eugen und Marlborough wieder erobert und im Frieden von

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Tournantöl - Tours.

Utrecht mit den österreichischen Niederlanden vereinigt, doch erhielten die Holländer kraft des Barrieretraktats das Besatzungsrecht. Als Joseph II. 1781 den Barrieretraktat aufhob, wurde auch T. geschleift. Hier wurden 19. Mai 1794 die Engländer unter dem Herzog von York von den Franzosen unter Pichegru geschlagen. T. fiel nun an Frankreich, wurde im ersten Pariser Frieden von 1814 an Holland abgetreten und kam 1830 an Belgien. Vgl. Bourla, T.-guide, histoire etc. (Tourn. 1884); Cloquet, T. et Tournaisis (Lille 1885).

Touruantöl, s. Olivenöl.

Tourné (franz.), umgedreht, umgeschlagen! substantivisch: das als Trumpf aufgeschlagene Kartenblatt.

Tournebroche (franz., spr. turn'brósch), Bratenwender.

Tournedos (franz., spr. turn'doh), Lendenbratenschnitzel, welche vor dem Braten in einer Marinade von Provenceröl, Zitronensaft, Pfeffer etc. mariniert worden sind und mit Béarner, Scharlotten- oder Tomatensauce serviert werden. T. à la Rossini, berühmtes Gericht, zwei Lendenschnitzel, zwischen welchen Trüffel- und Gänseleberschnitte liegen.

Tournée (franz.), Rundreise (besonders amtliche).

Tournefort (spr. turnfor), Joseph Pitton de, Botaniker, geb. 5. Juni 1656 zu Aix, studierte bei den Jesuiten daselbst, ward 1683 Professor der Botanik am königlichen Pflanzengarten in Paris, bereiste von 1700 bis 1702 auf Kosten der Regierung Griechenland und Kleinasien, worüber er in "Voyage au Levant" (Par. 1717, 3 Bde.; deutsch, Nürnb. 1776) berichtete, und von wo er über 1300 neue Pflanzenarten mitbrachte. Er starb als Professor der Medizin am Collège de France 28. Nov. 1708 in Paris. Das in seinen "Institutiones rei herbariae" (Par. 1700, 3 Bde.; neue Aufl. von A. de Jussieu, Lyon 1719, 3 Bde.) aufgestellte Pflanzensystem, welches 22 Klassen umfaßte und sich aus den Bau der Blumenkrone gründete, fand trotz der geringen Berücksichtigung der natürlichen Verwandtschaft wegen der Handlichkeit des Buches in der Zeit vor Linné allgemeine Anerkennung. Auch war T. der erste vor Linné, welcher den Schwerpunkt der beschreibenden Botanik in die Charakteristik der Gattungen verlegte, wobei er freilich die spezifischen Verschiedenheiten innerhalb der Gattungen als Nebensache behandelte. Von seinen übrigen Werken sind noch zu nennen: "Histoire des plantes qui naissent aux environs de Paris" (Par. 1698; 2. Aufl. von Jussieu, 17.25); "Éléments de botanique" (Lyon 1694, 3 Bde. mit 489 Tafeln); "Traité de la matière médicale" (Par. 1717, 2 Bde.).

Tournesollappen, s. v. w. Bezetten (s. d.).

Tournesolpflauze, s. Crozophora.

Tournieren (franz.), drehen, wenden, z. B. im Kartenspiel (s. Skat); in der Kochkunst die Manipulation, mittels welcher man eine Speise ohne Rühren mit der Sauce mischt oder eine Flüssigkeit erhitzt, ohne daß sie am Boden des Gefäßes gerinnt; eine tournierte Suppe oder Sauce ist mit Ei vermischt, welches durch Kochen geronnen ist. Auch s. v. w. Drechseln, Drehen, daher das Ausschneiden oder Abdrehen von Rüben, Kartoffeln u. dgl. in Form von Kugeln etc. beim Garnieren großer Fleischschüsseln.

Tourniquet (franz., spr. turnikeh. Aderpresse), chirurg. Instrument zum Zusammenpressen von Arterien, um Verblutung bei Amputationen und sonstigen Blutungen zu verhüten. Dasselbe besteht (s. Figur) in einem Polster, welches oberhalb der Blutung (beim Bein in der Schenkelbeuge, beim Arm nahe der Achselhöhle) auf den Hauptstamm der Arterie gesetzt und mit einem 1 m langen Band mittels Knebels oder Schnalle um das Glied befestigt wird. - T. heißt auch eine drehbare Barriere (Drehkreuz) vor Billetschaltern etc.

Tournois (franz., spr. turnoa), altfranzösische, nach der Stadt Tours benannte Münzwährung, nach welcher bis 1795 und 1796 ganz Frankreich mit Einschluß der Kolonien rechnete. Der Livre t. hatte 20 Sous à 12 Deniers und stand um 1¼ Proz. im Wert niedriger als der heutige Frank, indem 81 Livres t. 80 Frank galten.

Tournon (spr. turnóng), Arrondiffementshauptstadt im franz. Departement Ardeche, am Rhone, über welchen zwei Hängebrücken nach der Stadt Tain hinüberführen, an der Eisenbahn Givors-La Voulte, hat ein Lyzeum, eine Bibliothek, ein Schloß, Seidenfilanden, Weinhandel und (1886) 3793 Einw.

Tournüre (franz., spr. turn-), gewandtes Benehmen; auch s. v. w. Cul de Paris.

Tournus (spr. turnüh), Stadt im franz. Departement Saône-et-Loire, Arrondissement Mâcon, an der Saône und der Eisenbahn Dijon-Lyon, hat eine Abteikirche, St.-Philibert, aus dem 11. und 12. Jahrh., ein Denkmal des hier gebornen Malers Greuze (von Falguière), ein Handelsgericht, Collège, Fabrikation von Rübenzucker, Maschinenbau, Seiden- und Weinbau und (1886) 4201 Einw.

Tourons (franz., spr. turóng), feines Gebäck aus Eiweißschnee, Zitronensaft und Mehl, welches noch warm um ein fingerdickes rundes Holz gewunden wird.

Tours (spr. tuhr), Hauptstadt des franz. Departements Indre-et-Loire und ehemalige Hauptstadt der Provinz Touraine, in fruchtbarer Ebene am linken Ufer der Loire, über welche eine 434 m lange, steinerne Brücke nebst zwei Hängebrücken führt, wichtiger Eisenbahnknotenpunkt (Linien über Vendôme nach Paris, nach Orléans, Vierzon, Châtellerault, Poitiers, Sables d'Olonne, Nantes, Le Mans), ist von Boulevards (an Stelle der alten Festungswerke) umgeben und hat sich im S. durch neue Stadtteile bis zum Ufer des Cher erweitert. Die schöne Rue Royale teilt die Stadt in zwei fast gleiche Teile. Die hervorragendsten Gebäude sind: die gotische Kathedrale (mit zwei 70 m hohen Türmen und prächtigem Portal), die Kirchen St.-Julien (mit schönen Fresken) und St.-Martin (mit zwei schönen Türmen), der erzbischöfliche Palast, die Präfektur, das Justizgebäude, das Rathaus und das Theater. Am Platz vor der Brücke

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV.Bd

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Tourtia - Towarczy.

das Denkmal Descartes' (von Nieuwerkerke). Die Stadt zählt (1886) 59,585 Einw., welche Industrie in Woll- und Seidenstoffen, Teppichen, Chemikalien etc., eine große Buchdruckerei, Wein- und Gemüsebau und starken Handel treiben. T. hat ein Lyceum, eine Vorbereitungsschule für Medizin und Pharmazie, ein Seminar, eine Maler- und Zeichenschule, Gewerbeschule, öffentliche Bibliothek (40,000 Bände), ein Gemälde- und Skulpturenmuseum, Antiquitäten-, Naturalien- und mineralogisches Kabinett, einen botanischen Garten, eine Irrenanstalt und mehrere gelehrte Gesellschaften. Es ist der Sitz des Präfekten, eines Erzbischofs, eines Assisenhofs und eines Handelsgerichts. 1853 ward hier ein großes römisches Amphitheater aufgefunden. - T. hieß zur Römerzeit Cäsarodunum, später Turones und war die Hauptstadt der Turones, kam dann unter westgotische und nachher unter fränkische Herrschaft und stand bis in das 11. Jahrh. unter eignen Grafen. 732 siegte Karl Martell in der Nähe von T. über die Araber. 853 wurde die Stadt von den Normannen geplündert und verbrannt. Karl VII. und Ludwig XI. residierten oft und gern in der Umgegend, letzterer im Schloß Plessis lès T. König Heinrich III. verlegte 1583 das Parlament hierher, wodurch die Stadt außerordentlich wuchs. Auch wurden hier die französischen Generalstaaten mehrmals zusammenberufen sowie mehrere Konzile abgehalten. 1870 war T. vom 11. Sept. bis 10. Dez. Sitz der Delegation der Regierung der Nationalverteidigung. Am 19. Jan. 1871 ward es vom Generalleutnant v. Hartmann besetzt. Vgl. Giraudet, Histoire de la ville de T. (Tours 1874, 2 Bde.); Grandmaison, T. archéologique (das. 1879).

Tourtia, s. Kreideformation, S. 183.

Tourville (spr. turwil), Anne Hilarion de Contentin, Graf von, franz. Seeheld, geb. 24. Nov. 1642 auf dem Schloß Tourville bei Coutances (La Manche), trat 1656 in den Malteserorden, kämpfte ruhmvoll gegen die Barbaresken, nahm 1660 Dienste in der französischen Marine, ward 1667 Schiffskapitän und befehligte von 1672 bis 1674 ein Linienschiff im Kriege gegen die Holländer und Spanier im Mittelländischen Meer. 1675 diente er erst unter dem Chevalier de Valbette, dann unter Duquesne; auf der Rückkehr von Agosta, wo er mit Auszeichnung gefochten, nach Frankreich vernichtete er 1677 bei Palermo zwölf Schiffe der holländisch-spanischen Flotte. 1680 zum Generalleutnant der Seetruppen ernannt, bombardierte er 1682, 1683 und 1688 Algier und nahm 1684 an der Beschießung Genuas teil. 1689 zum Vizeadmiral des Levantischen Meers erhoben, befehligte er 1690 mit d'Estrées die Flotte, welche die Unternehmung Jakobs II. in Irland unterstützte. Als Oberbefehlshaber der im Kanal aufgestellten französischen Flotte errang er in der Seeschlacht bei Beachy Head in der Nähe der Insel Wight im Juli 1690 den Sieg über die aus 112 Segeln bestehende britisch-holländische Flotte. Um die beabsichtigte Landung der Jakobiten an der britischen Küste zu ermöglichen, mußte er 29. Mai 1692 auf der Höhe des Kaps La Hougue die 88 Segel starke britisch-holländische Flotte unter dem Admiral Russell mit 44 Schiffen angreifen, geriet aber zwischen zwei Feuer und ward geschlagen. 1693 zum Marschall von Frankreich erhoben, nahm er im Juni beim Kap St.-Vincent von einer britisch-holländischen Handelsflotte 27 Handels- und Kriegsfahrzeuge weg und zerstörte 45 bei der Verfolgung. Er starb 28. Mai 1701. Die "Mémoires de T." (Amsterd. 1758, 3 Bde.) sind unecht. Vgl. Delarbre, T. et la marine de son temps (Par. 1889).

Toury (spr. turi), Dorf im franz. Departement Eure-et-Loir, Arrondissement Chartres, an der Eisenbahn Paris-Orléans, ward gelegentlich der Operationen des Generals v. d. Tann und des Großherzogs von Mecklenburg gegen die französische Loirearmee genannt. Nach T. ging 10. Nov. 1870 der Rückzng v. d. Tanns, und hier vereinigte der Großherzog einige Tage später seine Armeeabteilung.

Toussaint, Gertruide, s. Bosboom.

Toussaint-Langenscheidtsche Unterrichtsmethode, s. Langenscheidt u. Sprachunterricht, S. 185.

Toussaint l'Ouverture (spr. tussäng luwärtühr), Obergeneral der Neger auf Haïti, geb. 1743 als Sklavenkind auf einer Pflanzung des Grafen Noé unweit des Kaps François, erwarb sich als Kutscher eines Plantagenaufsehers durch Benutzung von dessen Bibliothek eine gewisse Bildung. Als im August 1791 die erste Negerempörung auf Haïti ausbrach, brachte T. seinen Herrn auf das Festland von Amerika in Sicherheit und nahm dann bei dem Negerheer Dienste. Als dasselbe in spanische Dienste gegen die franzöfsische Republik trat, wurde er zum spanischen Obersten ernannt; doch ging er 1794 mit einem Teil der Armee zu den Franzosen über und ward vom Konvent für seine Verdienste bei der Vertreibung der Spanier und der Unterdrückung eines Mulattenaufstandes (1795) zum französischen Brigadegeneral, 1797 zum Divisions- und endlich zum Obergeneral aller Truppen auf Haïti ernannt. Er stellte Ordnung und Disziplin wieder her, machte sich aber 1800 unabhängig und ließ sich zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen. Leclerc, der 1801 mit einem französischen Heer landete, zwang ihn zur Kapitulation. Nachdem er hierauf einige Zeit auf seinem Gut gelebt, ward er 1802 plötzlich verhaftet und nach Frankreich in das Fort Joux bei Besançon gebracht, wo er 27. Juli 1803 starb. Vgl. Gragnon-Lacoste, T. L. (Par. 1877); Schölcher, Vie de T. L. (das. 1889).

Tout (franz., spr. tu), das Ganze, Alles.

Tout comme chez nous (franz.), ganz wie bei uns.

Tovar, serb. Gewicht, = 100 Oken.

Tovar, deutsche Kolonie in der südamerikan. Republik Venezuela, eine Tagereise westlich von Caracas, am südlichen Abhang des Küstengebirges gelegen, ward 1843 auf einem von der Familie Tovar unentgeltlich abgetretenen Terrain gegründet, zählt aber jetzt nur noch 20-30 Familien.

Tow (spr. toh), engl. Name für Werg. Die in allen deutschen Handelsnotizen vorkommenden Towgarne sind aus Flachswerg gesponnen.

Towarczy (slaw., "Kamerad"), früher in Rußland und Polen aus dem kleinen Adel hervorgegangene Soldaten, die weder zu den Offizieren noch Unteroffizieren gehörten u. zu verschiedenen Malen als Truppe im brandenburgisch-preußischen Heer, zuerst 1675 als zwei Kompanien Reiter, vorkommen. Um in Preußen die große Zahl kleiner adliger Grundbesitzer in den ehemals polnischen Provinzen, welche mangelnder Bildung und Mittel wegen nicht als Offiziere, ihrer Standesvorurteile wegen aber auch nicht als Gemeine zu verwerten waren, unterzubringen, versuchte man Ende vorigen Jahrhunderts eine mit Lanzen bewaffnete Reitertruppe aus ihnen zu bilden und wandelte 1800 das Regiment Bosniaken in T. um. Den Plan, sie den Husaren zuzuteilen, vereitelte das Jahr 1806; nachdem die T. 1807 tapfer mitgefochten, wurden sie nach dem Friedensschluß wegen Abtretung ihrer Kantone in Ulanen umgewandelt.

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Tower - Trabea

Tower (engl., spr. tauer), die Gesamtbezeichnung für einen ausgedehnten Komplex von Türmen, Festungswerken, kirchlichen und profanen Gebäuden in der Altstadt von London, dessen Geschichte mit derjenigen der englischen Krone selbst für lange Jahrhunderte eng verbunden ist. Der älteste Teil dieser merkwürdigen Festung ist der sogen. weiße Turm (White T.), den Wilhelm der Eroberer durch den Bischof Gundulf von Rochester errichten ließ; daß dies auf Grundlage älterer römischer oder angelsächsischer Anlagen geschehen sei, ist nicht zu erweisen. Weitere Werke wurden unter Wilhelm II. Rufus und Stephan hinzugefügt, unter denen die innere Reihe der Befestigungsanlagen im wesentlichen vollendet wurde. Später hat sich besonders Heinrich III., der den T. 1217 in seine Hände bekam, des Ausbaues derselben angenommen und durch seinen Architekten Adam von Lamburn die äußere Reihe der Werke entwerfen und zum größten Teil ausführen lassen; einzelne Gebäude, so die jetzige St. Peterskirche, sind noch später unter Eduard I. hinzugefügt worden. Seit den ersten normännischen Königen war der T. Residenz der englischen Könige, die sich oft genug hierher vor drohenden Gefahren zurückzogen und die Festung durch eine ständige Besatzung unter einem Constable (das Amt war zuerst der Familie de Mandeville anvertraut) schützten, zugleich aber auch Schatzkammer, Sitz der obersten Behörden und ein sicheres Staatsgefängnis, das die Gefangenen oft genug nur verließen, um auf einem offenen Platz innerhalb der Festung, dem Tower-hill, ihr Leben unter dem Beil des Henkers zu beschließen. Hier wurde Johann ohne Land von seinen Baronen belagert, hier Richard II. zum Verzicht auf die Krone gezwungen, hier Heinrich VI. ermordet und der Herzog von Clarence im Wein ertränkt, hier starben Eduard V. und sein Bruder Richard von York eines geheimnisvollen Todes. Zu den Gefangenen des Towers gehören die erlauchtesten Namen der englischen Geschichte, und unter den Enthaupteten von Tower-hill sind Graf Warwick, der letzte Plantagenet, Bischof Fisher von Rochester und Sir Thomas More, Anna Boleyn, Katharina Howard und Jane Grey, der Protektor Somerset und Elisabeths Günstling, Graf Essex, Sir Walter Raleigh und Graf Strafford, Algernon Sidney und der Herzog von Monmouth, der natürliche Sohn Karls II. Als königliche Residenz für längere Zeit hat der T. zuletzt unter Heinrich VII. gedient; von da ab begaben sich die Herrscher nur noch im Beginn ihrer Regierung hierher, um von hier aus den feierlichen Krönungszug durch die City nach Westminster anzutreten. Erst Jakob II. hat diesen Brauch aufgegeben, und unter ihm sind die königlichen Wohngemächer abgerissen worden. Seit der Mitte des 18. Jahrh. sind keine Hinrichtungen auf Tower-hill mehr vorgenommen, seit 1820 dient er nicht mehr als Staatsgefängnis und wird gegenwärtig nur als Arsenal und Kaserne benutzt, obwohl noch 1792 einmal, aus Furcht vor revolutionären Bewegungen in London, seine Werke verstärkt und in Verteidigungszustand gesetzt worden waren. Vgl. Bayley, History and antiquities of the T. of London (2. Aufl., Lond. 1830); de Ros, Memorials of the T. of London (das. 1866); W. H. Dixon, Her Majesty's T. (7. Aufl., das. 1884; deutsch, Berl. 1870, 2 Bde.).

Tower Hamlets (spr. tauer hämmlets), ein Parlamentswahlbezirk der Stadt London, die östlich vom Tower liegenden Stadtteile (ehemalige "Weiler") umfassend, mit (1881) 439,137 Einw.

Towianski, Andreas, poln. Mystiker, geb. 1. Jan. 1799 zu Antoszwiniec in Litauen, war 1818-26 Advokat zu Wilna und begab sich, nachdem er mittlerweile auf seinem väterlichen Gut gelebt hatte, 1835 nach Paris, wo er den Saint-Simonismus kennen lernte. Ebendahin kehrte er 1840 zurück und eröffnete 27. Sept. 1841 seine mystischen Vorträge, deren Tendenz auf eine totale Umgestaltung des gesamten sozialen Zustandes der Menschheit durch beständige Begeisterung hinauslief. Für diese Ideen gewann er den Dichter Mickiewicz und andre Vertreter der polnischen Romantik. Vgl. Mickiewicz, L'Église of officielle et le Messianisme (Par. 1842-43, 2 Bde.). Der Meister selbst hat dem System keinen authentischen Ausdruck verliehen; 1842 und dann wieder 1848 aus Frankreich verwiesen, ging er über Rom nach der Schweiz, wo er 13. Mai 1878 in Zürich starb. Vgl. Semenko, T. et sa doctrine (Par. 1850).

Tow Law (spr. tau lah), Stadt in der engl. Grafschaft Durham, 16 km westlich von Durham, hat Kohlengruben, Eisenhütten, Kalksteinbrüche und (1881) 5005 Einw.

Town (engl., spr. taun), Stadt.

Township (engl., spr. taunschip), in England Kirchspiel oder Teil eines solchen, mit eigner Armenverwaltung; in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Name der Unterabteilung der Counties, auch Hauptsektion der vermessenen Ländereien, = 23,040 Acres.

Towyn (spr. tohwin), Stadt in Merionethshire (Nordwales), an der Cardiganbai, hat Schieferbrüche, eine Mineralquelle, Seebäder und (1881) 3365 Einw.

Toxichämie (griech.), Blutvergiftung, bei welcher das Blut nicht nur als Transportmittel für aufgenommene Gifte dient, sondern durch letztere selbst (namentlich der Inhalt der roten Blutkörperchen) verändert wird.

Toxikologie (griech.), die Lehre von den Giften (s. d.).

Toxoceras, s. Tintenschnecken.

Toxonose (griech.), durch Einwirkung von Giften hervorgerufene Krankheit.

Toxteth Park, Wohnstadt im S. von Liverpool in Lancashire (England), mit (1881) 10,368 Einw.

Tr., bei Alkoholometerangaben die Skala nach Tralles; bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Friedr. Treitschke, geb. 1776 zu Leipzig, gest. als Hoftheaterökonom in Wien (Schmetterlinge).

Trab, Traben, s. Gangarten des Pferdes und Laufen; über das Trabrennen s. d.

Trabakel, zweimastiges Fahrzeug mit luggerartiger Takelung, an den österreichischen Küsten des Adriatischen Meers im Gebrauch.

Trabanten (ital. trabanti, v. deutsch. traben, lat. Satellites), dienende Begleiter, Leibwächter zu Fuß, waren schon im Altertum, besonders aber im Mittelalter üblich und dienten teils als Schutzwache fürstlicher Personen und hoher Beamten, der Landsknechtobersten, teils als Vollstrecker ihrer Befehle. Die Trabantengarden bildeten häufig den Stamm der Haustruppen (s. d.) oder auch der Feldtruppen, wie in Brandenburg. Aus den zwei Kompanien T. des Großen Kurfürsten, welche 1675 bei Fehrbellin mitfochten, gingen 1692 die heutigen Gardes du Corps (s. d.) hervor. - In der Astronomie ist Trabant s. v. w. Nebenplanet (s. d.).

Trabea (lat.), ein mit Purpurstreifen gesäumtes, mantelartiges Obergewand aus altrömischer Zeit, welches auch später noch das Amtskleid der Ritter und Augurn blieb. Die T. ist mit der Toga praetexta (s. Tafel "Kostüme I", Fig. 6) in Form und Bedeutung verwandt.

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Traben - Tracheen.

Traben, Marktflecken im preuß. Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Zell, an der Mosel, am Trabenberg und an der Linie Reil-T. der Preußischen Staatsbahn, 97 m ü. M., hat Obst- und vortrefflichen Weinbau, große Weinhandlungen und (1885) 1704 meist evang. Einwohner. Gegenüber am rechten Moseluser die Stadt Trarbach (s. d.).

Traber, Pferderassen, bei denen der Trab bis zur größten Vollkommenheit ausgebildet ist. Die berühmten russischen Orlowtraber werden auf den Gestüten Chränowoi und Tschesmenka gezüchtet, doch liefert in neuester Zeit auch Nordamerika ausgezeichnete T. Vgl. Trabrennen.

Träber, s. Treber.

Traberkrankheit (Gnubberkrankheit, Wetzkrankheit, Schruckigsein), langwierige, fieberlose Krankheit der Schafe, die vorzugsweise zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr mit gesteigerter Empfindlichkeit und Schwäche, endlich Lähmung des Hinterteils ausfritt und meist unter fortschreitender Abzehrung zum Tod führt. Die noch vielfach rätselhafte Krankheit entwickelt sich unter wenig auffälligen Erscheinungen: die Schafe zeigen dummen, stieren Blick, scheues, furchtsames Wesen, Schüchternheit, Schreckhaftigkeit beim Ergreifen und Festhalten (Schruckigsein) und beginnende Muskelschwäche. Nach 4-8 Wochen tritt Schwäche im Hinterteil hervor, die Tiere gehen schwankend, mit kurzen, trippelnden, trabartigen Schritten (Traber), und allmählich breitet sich die Schwäche auch auf die vordere Körperhälfte aus. Meistens besteht dabei juckende Emfindung der Haut, namentlich in der Kreuzbein- und Lendengegend, welche die Tiere zu fast fortwährendem Scheuern und Nagen an diesen Stellen veranlaßt (daher Gnubber- oder Wetzkrankheit). Unter zunehmender Schwäche und Hinfälligkeit, die sich bis zur völligen Lähmung des Hinterteils steigern (Kreuzdrehen, Kreuzschlagen), tritt allgemeine Abmagerung ein, und nach monatelanger Krankheitsdauer gehen die Tiere an Erschöpfung zu Grunde. Genesungsfälle von der ausgebildeten Krankheit kommen nicht vor. In den Kadavern findet man nur am Rückenmark und an dessen Häuten höhere Rötung, Erweichung, Schwund, Wassererguß, in manchen Fällen jedoch gar nichts, woraus die Erscheinungen im Leben zu erklären wären. Nachweislich ist in Deutschland die Krankheit bereits vor Einführung der spanischen Schafe beobachtet worden; aber erst seit Einführung der Zucht feiner Schafe hat sie jene Verbreitung erlangt, in der sie gegenwärtig den größern Schäfereien oft ganz erhebliche Verluste bereitet. Die Krankheitsanlage wird unzweifelhaft ererbt, kann aber auch durch organische Schwäche des Nervensystems wie des gesamten Körperbaues bedingt sein, daher die Krankheit in überfeinerten, verzärtelten Herden häufig ist. Ebenso werden zu früher und zu starker Gebrauch der Zuchttiere, namentlich der männlichen, angeklagt. Ansteckend ist die T. nicht. Heilmittel sind bisher ohne Erfolg angewendet worden, frühzeitiges Schlachten der Erkrankten ist daher anzuraten. Die viel wichtigere Vorbauung gegen die aus einer Herde nur schwer wieder zu beseitigende Krankheit beruht auf Herstellung eines kräftigen und von erblicher Anlage freien Stammes, daher auf Ausschließung der Tiere von der Zucht, die aus traberkranken Familien abstammen oder bereits traberkranke Nachkommen erzeugt haben, nicht zu früher Benutzung der Tiere zur Zucht, Schonung der Böcke und rationeller Ernährung.

Trabrennen, früher besonders in Holland gebräuchliche Rennen, wo ein guter Stamm von Traberpferden (s. Traber) existierte: mit diesen und mit dem Entstehen der Orlowrasse übernahm Rußland die Pflege der T.; in neuerer Zeit ist auch in Frankreich und Deutschland die Neigung für diesen Sport rege geworden, indessen behauptet Amerika zur Zeit den ersten Platz mit seinen Pferden (Hardtrabers) im T. Die bisher erreichte größte Geschwindigkeit amerikanischer Traber, welche entweder unter dem Sattel oder in zweiräderigen, ganz leichten Wagen gehen, ist 2 Minuten 12 Sekunden für die englische Meile. Als Regel gilt bei den T., daß Pferde, welche in Galopp fallen, eine Volte (eine Kreiswendung) machen müssen. Zu beachten bei den Zeitangaben für die Rennen ist, daß die Amerikaner einen sogen. fliegenden Ablauf (Start) haben, d. h. daß sie die Pferde schon im Trab befindlich ablaufen lassen, während in andern Ländern die Pferde aus dem ruhigen Stehen ablaufen; man rechnet 4 Sekunden als Differenz für diesen verschiedenartigen Ablauf.

Trace (franz., spr. traß), eigentlich die Spur, dann Absteckungslinie einer Verkehrslinie, z. B. einer Straße, einer Eisenbahn oder eines Kanals. Man versteht unter T. die Achse eines Verkehrswegs mit Einschluß aller seiner Krümmungen, Steigungen und Gefälle, welche sich durch einen Grundplan (Situationsplan) und einen Höhenplan (Längenprofil) darstellen läßt. Beim Abstecken läßt sich die T. zunächst nur auf der Terrainoberfläche fixieren, hiernach aber auf Grund eines Nivellements erst durch Auftrag und Abtrag des Bodens wirklich herstellen. Die Operation des Aufsuchens und Absteckens nennt man tracieren und unterscheidet die technische Tracierung von der kommerziellen, je nachdem man nur die rein technische oder die rein kommerzielle Seite der Aufgabe ins Auge faßt. Bei der erstern handelt es sich um die bei übrigens gleicher Solidität geringsten Baukosten, bei der letztern um die bei gleicher Transportmenge geringsten Betriebskosten: Gesichtspunkte, welche bei dem Aufsuchen der vorteilhaftesten T. stets gleichzeitig in Betracht zu ziehen sind. Näheres hierüber s. unter Eisenbahnbau. Tracieren, entwerfen, abstecken.

Tracee (franz. tracé, spr. traßé), Abriß, Grundrißform (besonders einer Festung).

Trachea (lat.), Luftröhre.

Trachea, s. Eulen, S. 908.

Trachealrasseln, helles rasselndes Atemgeräusch bei Ansammlung von viel Schleim in der Luftröhre und ihren ersten Verzweigungen; kommt meist nur bei Sterbenden vor.

Tracheen (griech.), Luftröhren, die Atmungsorgane der Tracheentiere, d. h. der Insekten, Spinnen etc. (s. unten). Die T. (Fig. 1 u. 2) sind dünne Röhren, deren Wandungen aus Zellen und einer von diesen abgeschiedenen Schicht eines hornartigen Stoffes (Chitin, s. d.) bestehen. Letztere ist in den feinsten Zweigen der T. glatt, in den gröbern aber mit spiralig angeordneten Verdickungen versehen und hält so die T. stets offen. Die T. beginnen in der Haut mit einer Öffnung, dem Stigma oder Luftloch, hinter dem sich gewöhnlich ein besonderer Verschlußapparat befindet, und verzweigen sich dann in einer bei den einzelnen Tieren verschiedenen Art im Innern des Körpers. Die allerfeinsten, auch bei starken Vergrößerungen nur schwierig sichtbaren Zweige umspinnen alle Organe und dringen in sie hinein, so daß die Atemluft überall hingeleitet wird. Die Luftlöcher wechsele sehr an Zahl, Größe und Form, doch befindet sich bei den Insekten wenigstens in der Regel an fast jedem Lei-

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Tracheentiere - Trachyte.

besring ein Paar. Manche Arten Insekten pumpen sich, bevor sie fliegen, den Körper voll Luft (das "Zählen" des Maikäfers) und haben darum an ihren T. noch bis zu mehreren Hundert kleiner Ballons (Tracheenblasen). Übrigens fehlen in einzelnen Fällen, namentlich an Larven von Wasserjungfern etc.,

Fig. 1. Larve einer Eintagsfliege mit 7 Paar Tracheenkiemen (Tk). - Fig. 2. Tracheensystem der Larve von Agrion (Wasserjungfer). Tst Seitliche Tracheenlängsstämme, D Darm, Tk. Tracheenkiemen.

die Stigmen vollständig, so daß das Tracheensystem zu einem geschlossenen im Gegensatz zum offenen, d. h. mit Stigmen versehenen, wird. Die Atmung geschieht in diesem Fall gewöhnlich so, daß ein Teil der T. in besonders dünnen Hautstellen, die über die Körperoberfläche oder am Darm blattartig hervorragen, angebracht ist; diese wirken, da die betreffenden Tiere in Wasser oder feuchter Luft leben, wie Kiemen (sogen. Tracheenkiemen). Bei den Spinnen sind die T. in eigentümlicher Weise angeordnet, indem die dicht nebeneinander entspringenden zahlreichen Zweige eines Astes wie die Blätter eines Buches abgeplattet zusammenliegen (sogen. Tracheenlungen oder Fächertracheen). Als Tracheentiere (Tracheata) bezeichnet man die mit T. versehenen Arthropoden oder Gliederfüßler (s. d.). Es sind dies die Insekten, Tausendfüße, Spinnen und Urtracheaten (Protracheata). Letztere wurden früher wegen ihrer Gestalt zu den Würmern gerechnet, bis man in neuester Zeit an ihnen die T. auffand. Augenscheinlich vermitteln sie den Übergang zwischen den schon lange als Tracheaten bekannten Insekten etc. und den Ringelwürmern und sind daher für den Zoologen sehr interessante Tiere. Zu ihnen gehört nur die Gattung Peripatus, deren Arten in den Tropen an feuchten Orten leben. Wegen der übrigen Tracheentiere s. die einzelnen Artikel über die genannten Gruppen.- In der Pflanzenanatomie bezeichnet man mit dem Namen T. die Gefäße (s. d., S. 1005).

Tracheentiere, s. Tracheen.

Tracheiden, in der Pflanzenanatomie gefäßartige Zellen, welche sich von den Tracheen oder echten Gefäßen nur durch ihr völliges Geschlossensein unterscheiden; sie bilden den Hauptbestandteil des Holzes bei Koniferen und Cykadeen sowie der Gefäßbündel vieler Monokotylen und Farne.

Tracheitis (griech.), Luftröhrenkatarrh.

Trachenberg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, Kreis Militsch, an der Bartsch, Knotenpunkt der Linien Berlin-Posen und T.-Herrnstadt der Preußischen Staatsbahn, 94 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht, 2 Zuckerfabriken, eine Dampfmahlmühle, Leinweberei und (1885) 3570 meist evang. Einwohner. T. erhielt 1253 deutsches Stadtrecht. Dabei das gleichnamige Schloß des Fürsten von Hatzfeld-T., in welchem 12. Juli 1813 der von Knesebeck entworfene Kriegsplan von König Friedrich Wilhelm III., Kaiser Alexander und dem Kronprinzen von Schweden unterzeichnet ward.

Tracheobronchitis (griech.), Katarrh der Luftröhre und der Bronchien.

Tracheoskopie (griech.), Untersuchung der Luftröhre vermittelst des Kehlkopfspiegels.

Tracheostenose (griech.), Luftröhrenverengerung.

Tracheotomie (griech.), s. Luftröhrenschnitt.

Trachom (griech.), s. Ägyptische Augenentzündung.

Tracht, s. Kostüm.

Tracht, in der Jägersprache die Gebärmutter des Mutterwildes.

Trächtigkeit, s. Schwangerschaft, S. 685.

Trachydolerit, s. Andesite.

Trachyte (Trachytgesteine), gemengte kristallinische Gesteine, gewöhnlich aus mehreren Feldspaten (vorwiegend Sanidin), Hornblende, Augit, Glimmer zusammengesetzt, bald quarzführend, bald quarzfrei. Es sind jungvulkanische Gesteine mit hohem Gehalt an Silicium (60-80 Proz. SiO2), teils Laven jetzt noch thätiger Vulkane, teils Eruptionsmaterial, welches während der Diluvial- und Tertiärperiode geflossen ist. Zu ihnen gehören neben den Trachyten im engern Sinn Quarztrachyt, Domit und als glasartige Modifikationen Trachytpechstein (s. d.), Obsidian(s. d.), Perlstein (s. d.) und Bimsstein (s. d.). Die typischen Varietäten des Quarztrachyts (Liparit, felsitischer Rhyolith, Trachytporphyr) besitzen phorphyrische Struktur: in einer felsitischen Grundmasse, die sich unter dem Mikroskop als aus Quarz, Sanidin, wenig Oligoklas und Hornblende neben nicht individualisierter Glasmasse zusammengesetzt zeigt, liegen Quarz-, Glimmer- und Hornblendekristalle. Die Grundmasse ist weißlich, gelblich, hellgrau oder rötlich gefärbt, mitunter rauh, zellig oder porös, die Wandung der Hohlräume mit Quarzvarietäten überkleidet. Das Gestein kommt an einigen Stellen des Siebengebirges, häufiger in den Euganeen, auf Island, in Siebenbürgen vor, ist aber als Lava jetzt thätiger Vulkane nicht bekannt. Domit ist eine durch matte, sehr feinkörnige und wenig glasige Grundmasse ausgezeichnete Varietät des Quarzporphyrs (Auvergne, namentlich Puy de Dôme). Quarzfreier Trachyt besitzt ebenfalls gewöhnlich porphyrische Struktur, und zwar sind es meist die Sanidinkristalle (bis 8 cm groß), welche die Porphyrstruktur

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Trachytpechstein - Traduzianismus.

hervorrufen. Es gibt Trachyt, welcher fast nur aus Sanidin (Sanidintrachyt, Sanidinit) mit wenig Hornblende, Glimmer und Oligoklas besteht. Tritt der letztere Bestandteil, namentlich als Einsprengling, mehr hervor, so unterscheidet man die Varietät als Oligoklas-Sanidintrachyt. Andre Varietäten (Augittrachyte) führen Augit. Die Grundmasse der T. besteht nach der mikroskopischen Untersuchung aus denselben Mineralien, welche auch mikroskopisch beobachtbar sind, dazu Glassubstanz, Magneteisen, wohl auch Tridymit, der aber besonders häufig als Auskleidung der Hohlräume auftritt. Quarzfreie T. kommen sowohl als Laven, in historischen Zeiten geflossen, wie auch als solche älterer Vulkane (Siebengebirge, Westerwald, Rhön, Monte Olibano bei Neapel u. a. O.) vor. Hierher gehören auch die Auswürflinge (Lesesteine) des Laacher Sees, die sich durch ihren Reichtum an accessorischen Bestandteilen (Nephelin, Hauyn, Nosean, Titanit, Olivin, Zirkon, Saphir, Spinell etc.) auszeichnen. Als Trümmergesteine der T. treten Trachytkonglomerate, Trachytbreccien und Trachyttuffe auf. Zu letztern zählen unter andern die opalführenden Gesteine von Kaschau in Ungarn, die Bimssteintuffe Ungarns und der Auvergne, der Traß (Duckstein) vom Niederrhein, die Puzzolane und der Pausilipptuff von Neapel, die Tosca von Teneriffa, sämtlich zur Herstellung von hydraulischen Mörteln geeignet. Auch der Alaunstein (Alunit, s. d.) ist ein Zersetzungsprodukt trachytischer Gesteine. Der Verwitterung gegenüber verhalten sich die T. je nach physikalischer Beschaffenheit und je nach der Natur der Bestandteile äußerst verschiedenartig. Während die glasigen Modifikationen den Atmosphärilien einen hartnäckigen Widerstand entgegenstellen, sind die weniger geschlossenen hinfälliger und zerfallen schließlich zu einer vom Kaolin oft wenig verschiedenen Masse, gewöhnlich noch mit Sanidinsplittern untermengt. T. dienen oft als Baumaterialien, die quarzführenden und porösen als Mühlsteine (Mühlsteinporphyr); die Tuffe werden zur Herstellung hydraulischer Mörtel und zu feuerfesten Mauerungen (Backofenstein) benutzt.

Trachytpechstein, Gestein, in mineralogischer und chemischer Hinsicht mit Pechstetn (s. d.), der glasartigen Modifikation des Porphyrs, identisch, genetisch aber nicht mit Porphyr, sondern mit den jüngern (tertiären) Trachyten zu vereinen. Die Pechsteine Ungarns, der Euganeen, der vulkanischen Gebiete Frankreichs und Islands gehören hierher.

Tracieren (franz., spr. traßieren), s. Trace.

Tractus (lat.), Kanal, Gang, z. B. T. alimentarius, Verdauungskanal.

Tractus cantus (lat., "gezogener", d. h. langsamer, Gesang), der Gesang der römischen Kirche, welcher in der Fastenzeit und bei andern Trauerfesten der Kirche im Choralgesang an Stelle des (ursprünglich jubelnd vorgetragenen) Halleluja tritt.

Trade (engl., spr. trehd), Handel, Gewerbe; Tradedollar, Silberdollar (Handelsmünze); Trademark, Fabrikzeichen; Tradesales, im englischen Buchhandel Versteigerung von Auflageresten.

Traders (engl., spr. trehders, "Händler"), im brit. Nordamerika Pelzhändler im Dienste der Hudsonbaikompanie, zugleich untere Verwaltungsbeamte.

Tradescantia L., Gattung aus der Familie der Kommelinaceen, krautartige Pflanzen, von denen T. guianensis Miq., aus Mittelamerika, mit langen, hängenden Zweigen, eiförmigen, zugespitzten, stengelumfassenden Blättern und selten erscheinenden, weißen Blüten als Ampelpflanze, zur Bildung eines grünen Grundes in Terrarien, Gewächshäusern und im Zimmer kultiviert wird und auch als Vogelfutter benutzt werden kann. T. zebrina hort., der vorigen ähnlich, aber mit braunen, weiß gestreiften Blättern, ist etwas empfindlicher. T. discolor Sm., aus Brasilien, mit dickem, aufrechtem Stengel, lanzettförmigen, oben grünen, unten violetten Blättern und weißen Blüten, gedeiht auch im Zimmer. T. virginica L., 60-80 cm hoch, mit linienlanzettförmigen Blättern und violettblauen Blüten in dichten Dolden, wird in Gärten als Zierpflanze kultiviert.

Trades' Unions (engl., spr. trehds juhnjons), s. Gewerkvereine.

Tradition (lat.), Überlieferung, Übergabe. In der Rechtswissenschaft versteht man unter T. die Übertragung des Besitzes an einer Sache seitens des bisherigen Besitzers (Tradent) an einen andern. Soll durch die T. das Eigentum an der zu übergebenden Sache auf den Empfänger übergehen, so ist es nötig, daß dem Tradenten selbst das Eigentum daran zusteht, da niemand mehr Recht auf einen andern übertragen kann, als er selbst hat. Erfolgt die Übertragung des Eigentumsbesitzes an den dermaligen Inhaber (natürlichen Besitzer) der Sache, so spricht man von einer Traditio brevimanu (s. Besitz). Bei Grundstücken sind an die Stelle der T., welche nach älterm deutschen Rechte durch symbolische Handlungen erfolgte (s. Effestukation), die gerichtliche Auflassung (s. d.) und der Grundbuchseintrag getreten.

T. bezeichnet ferner die der geschriebenen Geschichte entgegengesetzte, nur durch die mündliche Überlieferung auf die Nachwelt gelangende Kunde, insbesondere die jüdischen und christlichen Satzungen und Lehren, die nicht in der Bibel schriftlich fixiert sind, sich aber durch mündliche Überlieferung in Synagoge und Synedrion (s. d.) oder in der Kirche erhalten und fortgepflanzt haben. Die Sicherheit dieser T., deren sich die römisch-katholische Kirche nicht nur zur Begründung von Lehren, geschichtlichen Thatsachen und Gebräuchen, sondern auch zur Rechtfertigung der hergebrachten Schriftauslegung bedient, weshalb eine dogmatische, rituelle, historische und hermeneutische T. unterschieden wird, wurde von den Reformatoren angefochten, welche höchstens die T. der ersten christlichen Jahrhunderte beachtet, aber auch diese der Heiligen Schrift untergeordnet wissen wollten. Dagegen setzte die römisch-katholische Kirche auf dem Konzil von Trient die T. ausdrücklich der Schrift als ebenbürtig an die Seite, und Gleiches ist auch die Voraussetzung der griechischen Dogmatik, während die protestantische Dogmatik der T. nur insofern eine prinzipielle Bedeutung beilegen kann, als sie für ihre Aussagen sich nicht bloß auf die in der Heiligen Schrift unmittelbar bezeugte Glaubenserfahrung der ersten Generationen der werdenden Christenheit zurückzubeziehen, sondern auch die ganze Glaubenserfahrung der geschichtlich gewordenen Christenheit kritisch in sich aufzunehmen und dabei besonders die grundlegende, symbolbildende Epoche des Protestantismus selbst zu berücksichtigen hat. Vgl. Weiß, Zur Geschichte der jüdischen T. (Wien 1871-76); Holtzmann, Kanon und T. (Ludwigsb. 1859).

Traditionell (franz.), durch Tradition (s. d.) überkommen.

Traditor (lat.), Überlieferer, Auslieferer (besonders der Heiligtümer bei den Christenverfolgungen unter Diokletian); im Festungswesen der in den Kehlgraben vorspringende Teil von Kehlreduits in Forts, zur Kehlbestreichung dienend.

Traduzianismus (lat.), die in der Dogmatik im

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Traduzieren - Träger.

Gegensatz zum Kreatianismus (s. d.) auftretende Lehre, nach welcher bei der Entstehung des menschlichen Lebens auch die Seele nur als mittelbare göttliche Schöpfung in Betracht kommt. So lehren nach dem Vorgang Tertullians und im Interesse an der Erbsünde die Lutheraner, doch nicht in dem Sinn einer Entstehung der Seelen aus physischer Zeugung (ex traduce), sondern nur mittels derselben als Fortleitung des in Adam eingesenkten Keims (per traducem).

Traduzieren (lat.), hinüberführen, übersetzen.

Traëtto (jetzt Minturno), Stadt in der ital. Provinz Caserta, Kreis Gaeta, nahe dem Garigliano, hat Reste eines Aquädukts und eines Theaters (der antiken Stadt Minturnä, s. d.) und (1881) 4394 Einw.

Trafalgar (sonst Junonis promontorium), Vorgebirge an der Küste der span. Provinz Sevilla, am Atlantischen Meer, nahe der Straße von Gibraltar, berühmt durch die Seeschlacht 21. Okt. 1805 zwischen der englischen Flotte unter Nelson und der vereinigten französisch-spanischen unter Villeneuve und Gravina. Letztere, mit 33 Linienschiffen vor Cadiz ankernd, ließ sich von Nelson, der 27 Linienschiffe hatte, durch scheinbaren Rückzug in das offene Meer locken und wurde dann 21. Okt. beim Kap T. angegriffen. Die drei Stunden lange Linie der spanisch-französischen Flotte ordnete sich bei Annäherung der in zwei Kolonnen geteilten englischen Schiffe in einen Halbkreis, ward aber bald auf zwei Punkten durchbrochen. Es entspann sich nun ein furchtbarer Kampf zwischen den hart aneinander liegenden Schiffen, der nach drei Stunden zu gunsten der Engländer entschieden war. Die spanisch-französische Flotte verlor 19 Schiffe; Admiral Villeneuve ward gefangen, Gravina starb an seinen Wunden. Es war dies Nelsons glorreichster und letzter Sieg; er fiel durch die Kugel eines feindlichen Scharfschützen, der ihn an seinen Orden erkannt hatte.

Trafik (v. ital. traffico), Handlung, Verschleiß, insbesondere Detailhandel, in Österreich namentlich auf die Tabaksverkaufsstellen angewendet.

Trafoi, kleine Alpenansiedelung (85 Einw.) in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Meran, in großartiger Landschaft am Fuß der Ortlergruppe an der Straße über das Stilfser Joch gelegen.

Tragaltar, s. Altar, S. 413.

Tragánt (Gummi Tragacanthae), aus dem Stamme mehrerer vorderasiatischer Arten von Astragalus (s. d.) freiwillig oder nach zufälligen oder absichtlichen Verletzungen ausschwitzendes Gummi, bildet flache, gedrehte oder gekrümmte, von verdickten, konzentrischen, halbkreisförmigen Striemen durchzogene, farblose oder gefärbte Stücke. Er ist hornartig, fast durchscheinend, zäh, geruchlos, schwillt im Wasser stark auf, gibt gepulvert mit 20 Teilen Wasser einen derben Schleim und besteht aus Bassorin, löslichem Gummi, Stärkemehl und mineralischen Stoffen. Im Handel unterscheidet man: Blätter- oder Smyrnaer T., aus großen, flachen, platten oder bandförmigen Stücken mit dachziegelförmig übereinander geschobenen Schichten bestehend, als beste Sorte; Morea-T. (Vermicelli), in unförmlichen, wulstigen oder nudelförmigen, gewundenen oder gedrehten Stücken; syrischen oder persischen T., in stalaktitenförmigen oder flachen, gewundenen oder gedrehten, mitunter sehr großen Stücken. Man benutzt T. in der Zeugdruckerei und Appretur, zu Wasserfarben, zu plastischen Massen, als Bindemittel zu Konditorwaren und in der Medizin. Über das dem T. sich anschließende Kuteragummi s. Cochlospermum. - T. war bereits den Alten bekannt, ebenso den spätern Griechen und den Arabern des frühen Mittelalters. In Deutschland wurde er im 12. Jahrh. zu Arzneiformen benutzt, auch fand er bald technische Verwendung.

Tragelaphos (Tragelaph, griech., "Bockshirsch"), phantastisch gebildetes Tier, das den Griechen nur aus Abbildungen auf Teppichen und andern Kunsterzeugnissen des Orients bekannt war (Persien und Babylon) und nur auf hochaltertümlichen Vasen nachgeahmt ist. Es war eine Hirschgestalt mit Bart und Zotteln am Bug.

Traeger, Albert, Dichter, geb. 12. Juni 1830 zu Augsburg, von wo sein Vater nach einigen Jahren nach Naumburg übersiedelte, studierte 1848-51 in Halle und Leipzig Rechts- und Staatswissenschaften und wurde 1862 Rechtsanwalt und Notar zu Kölleda in Thüringen, von wo er 1875 in gleicher Eigenschaft nach Nordhausen übersiedelte. T. ist seit 1871 zugleich Reichstagsabgeordneter und gehört als solcher der deutschen freisinnigen Partei an. Als talentvoller Lyriker bewies er sich in seinen "Gedichten" (Leipz. 1858, 16. vermehrte Auflage 1884). Außerdem veröffentliche er "1870", sechs Zeitgedichte (Berl. 1870); die Novelle "Übergänge" (Leipz. 1860); "Tannenreiser", Weihnachtsarabesken (Tropp. 1864); "Die letzte Puppe" (Soloszene, Wien 1864); "Morgenstündchen einer Soubrette", dramatisches Genrebild (mit Em. Pohl, Berl. 1879); ferner die illustrierten Sammelwerke: "Stimmen der Liebe" (Leipz. 1861) und "Deutsche Lieder in Volkes Mund und Herz^ (das. 1864). Auch gab er 1865-83 das Jahrbuch "Deutsche Kunst in Bild und Lied, Originalbeiträge deutscher Dichter, Maler und Tonkünstler", heraus.

Träger, im Bauwesen wagerechter, zum Tragen von Lasten bestimmter Bauteil aus Stein, Holz, Eisen oder Holz und Eisen, welcher auf zwei (abgesetzter T.) oder mehreren (fortgesetzter, kontinuierlicher T.) Stützen ruht oder an einem Ende befestigt ist (Krag- oder Konsolträger). T. aus Stein sind vierkantige, prismatische Balken, T. aus Holz entweder einteilige und mehrteilige (verzahnte, Fig. 1 [S. 792], verdübelte, Fig. 2) Balken mit rechteckigem Querschnitt, oder aufgeschlitzte und gespreizte (Fig. 3, Lavessche, Fig. 4) Balken, oder gegliederte, aus Fachwerk (Fachwerkträger, Fig. 5) oder Netzwerk oder Gitterwerk (Netzwerkträger, Gitterträger) bestehende Balken, während T. aus Eisen die mannigfaltigste Ausbildung zeigen. Nach der Form derselben unterscheidet man Dreieckträger (Fig. 8), Rechteck- (Parallel-) T. (Fig. 10 u. 11), Trapezträger (Fig. 9), Vieleck- (Polygonal-) T. und unter den letztern Parabel- (Fig. 12), Halbparabel- (Fig. 13), Hyperbel- und Ellipsenträger (Fischbauch- und Fischträger, Fig. 14 u. 15). Nach ihrer Zusammensetzung unterscheidet man wieder massive (gewalzte und Blechträger) und gegliederte T. (Fachwerk- und Netzwerkträger, Fig. 10 u. 11). Im Hochbau werden die T. zur Unterstützung, vorzugsweise der Decken, und zwar als hölzerne oder eiserne Unter- oder Oberzüge, ferner zur Unterstützung von Balkonen, Galerien und Erkern als Konsolträger, im Brückenbau zur Herstellung des Überbaues als Hauptträger, Querträger, Schwellenträger, Konsolträger verwandt, wo sie aus Eisen und nur für vorübergehende Zwecke aus Holz oder aus Holz und Eisen konstruiert werden. T., welche man gekuppelt, d. h. dicht nebeneinander liegend, verwendet, nennt man, besonders wenn sie aus Walzeisen bestehen, Zwillingsträger, während man die Walzeisenträger selbst, je nachdem sie einen T- oder I-förmigen Querschnitt besitzen, kurzerhand mit T-T. und I-T. be-

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Trägerrecht - Tragisch.

[Abbildungen mit Unterschriften]

zeichnet. Armierte T. sind hölzerne oder eiserne Balken, welche zur Erhöhung ihrer Tragfähigkeit künstlich, z. B. durch einfache Häng- oder Sprengwerke (Fig. 6 u. 7), verstärkt werden. Vgl. die Artikel "Balken", "Brücke", "Decke" und "Eisenbau".

Trägerrecht, s. Baurecht, S. 526.

Trägheit, im physikalischen Sinn s. v. w. Beharrungsvermögen (s. d.); im psychologischen Sinn das aus dem Unlustgefühl, welches durch die Vorstellung der Bewegung hervorgerufen wird, entspringende Bestreben, in dem gegebenen Ruhezustand zu beharren.

Trägheitsmoment, in der Mechanik diejenige ideale Masse, welche, in der Entfernungseinheit von der Drehungsachse eines rotierenden Körpers konzentriert gedacht, bei gleicher Winkelgeschwindigkeit dieselbe lebendige Kraft (s. Kraft, S 132) besitzt wie der rotierende Körper. Bezeichnet man die Winkelgeschwindigkeit, d. h. die Geschwindigkeit in der Entfernung 1 von der Drehungsachse, mit w, so würde demnach das T. (T) diejenige Größe sein, welche, mit ½ w² multipliziert, die gesamte lebendige Kraft des rotierenden Körpers ergibt. Diese letztere aber ist gleich der Summe der lebendigen Kräfte aller seiner Massenteilchen. Sind m, m', m''... solche einzelne Massenteilchen, welche bez. um r, r', r''... von der Drehungsachse abstehen, so bewegen sich dieselben bez. mit den Geschwindigkeiten rw, r'w, r''w... und besitzen die lebendigen Kräfte ½ mr²w², ½ m'r'²w², ½ m''r''²w²...; die gesamte lebendige Kraft des rotierenden Körpers ist demnach = ½w²(mr²+m'r'²^+m''r''²+...), wenn die eingeklammerte Summe über sämtliche Massenteilchen des Körpers erstreckt gedacht wird. Mit dieser Summe, welche kurz durch sum(mr²) ausgedrückt wird, muß also, wie man sieht, ½w² multipliziert werden, um die lebendige Kraft des rotierenden Körpers zu erhalten, d. h. diese Summe ist dem T. gleich oder T = ^sum(mr²). Man findet demnach das T. eines Körpers, indem man die Summe bildet aus den Produkten aller Massenteilchen mit den Quadraten ihrer Abstände von der Drehungsachse.

Tragikomisch (griech.), Verschmelzung des Tragischen mit dem Komischen, gewöhnlich von Ereignissen gebraucht, die in ihrer ganzen Entwickelung einen tragischen Ausgang erwarten ließen, allein plötzlich eine Wendung zu einem komischen Ende nehmen.

Tragikomödie (griech.), die dramatische Darstellung einer tragikomischen Handlung; im weitern Sinn eine Tragödie, welche, wie z. B. die alten spanischen und englischen Tragödien, neben den tragischen auch komische Bestandteile enthält.

Tragisch (griech.) heißt nach Aristoteles ein Ereignis, welches zugleich Mitleid (mit dem von demselben Betroffenen) und Furcht (für uns selbst) erweckt. Dasselbe muß einerseits ein Leiden sein, weil dessen Anblick sonst nicht selbst ein Leid wecken könnte; aber es darf kein verdientes (nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens) sein, denn ein solches bedauern wir zwar, aber bemitleiden es nicht. Dasselbe muß anderseits furchtbar sein, weil wir es sonst nicht (weder für andre, noch für uns) fürchten, und es muß willkürlich (ohne Rücksicht auf Schuld oder Unschuld) verhängt sein, weil wir es sonst nicht für uns ebensogut wie für den Schuldigen fürchten würden. Nur das mehr oder minder unverdiente Leiden, sei es nun, daß das vermeintliche Verbrechen eine Helden- oder Wohlthat, der rächende Gott oder das launenhafte Fatum der eigentliche Verbrecher sei (der Feuerraub des Prometheus, der dafür von dem neidischen und fürchtenden Zeus an den Felsen geschmiedet wird), sei es, daß der vermeintlich Schuldige nur halb schul-

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Tragkraft - Tragopogon.

dig, die "himmlischen Mächte", welche "den Armen haben schuldig werden lassen", die eigentlich Schuldigen seien (Ödipus, den die tyrannischen Götter schon im Mutterleib zum künftigen Vatermörder und Muttergemahl ausersehen haben; Wallenstein, von dessen Schuld "unglückselige Gestirne" die "größere Hälfte" tragen), ist wirklich t., das gänzlich unverdiente (das Martyrium der Unschuld, die Passion Christi) nicht t., sondern gräßlich. Das Tragische ruht daher ebenso wie das Komische (s. d.) auf einem Kontrast desjenigen, was wirklich geschieht (des Ungerechten im Tragischen, des Ungereimten im Komischen), mit dem, was (nach der Forderung der sittlichen Vernunft [der Gerechtigkeit] im Tragischen, des Verstandes [der Klugheit] im Komischen) eigentlich geschehen sollte, nur mit dem Unterschied, daß dasjenige, was wirklich geschieht, im Tragischen ein Leiden, also schädlich, im Komischen dagegen nur eine Thorheit, also unschädlich, ist. Da nun der Eindruck des Tragischen, wie jener des Komischen, wesentlich durch die Einsicht in obigen Kontrast entsteht, so muß er, wie bei diesem, als gemischter ausfallen. Das wirklich Geschehende, das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Fatums oder der "neidischen" Götter, ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das "zermalmende" Gefühl menschlicher Schwäche und Ohnmacht dem "großen, gigantischen Schicksal" gegenüber hervor. Die Verurteilung dessen, was wirklich geschieht, durch den Richterspruch der Vernunft (in uns oder im Helden), welche sich selbst durch den nahen und sichern Untergang wie durch die Übermacht des feindlichen Schicksals in ihrer Festigkeit nicht erschüttern und nicht dazu zwingen läßt, das Unverdiente für verdient, den ungerechten Gott als gerechten anzusehen, ist der Triumph der Gerechtigkeit und erzeugt als solcher das "erhebende" Gefühl menschlicher Hoheit und Überlegenheit gegenüber dem grausamen Schicksal, welches "den Leib töten, aber die Seele nicht töten kann". In ersterer Hinsicht ist der Eindruck des Tragischen (der tragische Affekt) jenem des Grausamen (der blinden Naturnotwendigkeit), welches Verzweiflung, in dieser jenem des (nach Kant: moralisch) Erhabenen (der sittlichen Freiheit) verwandt, welches Bewunderung erzeugt. Werden beide Seiten des (tragischen) Kontrastes an verschiedene Personen verteilt, so daß das (zermalmende) Gefühl des Unterliegens unter das Schicksal in die tragische Person, das (erhebende) der (moralischen) Erhabenheit des Menschen über dasselbe in den Zuschauer verlegt wird, so entsteht das Naiv- oder Objektiv-Tragische; werden beide dagegen in der (tragischen) Person vereinigt, welche sodann, während sie (physisch) dem Schicksal unterliegt, (moralisch) als tragischer "Held" dasselbe besiegt, so entsteht das Bewußt- oder Subjektiv-Tragische. Jenes, bei welchem die tragische Person sich leidend (passiv) verhält, wirkt vorzugsweise ergreifend, dieses, bei welchem dieselbe, wenigstens moralisch, thätig (aktiv) auftritt, vorzugsweise erhebend. Die Eigentümlichkeit des erstern besteht darin, daß der tragische Held dem Beschauer, die des letztern darin, daß er sich selbst t. erscheint, Mitleid und Furcht nicht bloß andern, sondern sich selbst (für sich) einflößt. Iphigenia, Antigone, Thekla (im "Wallenstein") beklagen ihr Geschick. Das Subjektiv-Tragische ist durch die Gemütsstimmung des Helden, welche aus Mitleid mit sich, der dem Schicksal unterliegt, und Hohn über den Gegner, der (nur scheinbar) triumphiert, zusammengesetzt ist, dem Humor (s. d.) und zwar, weil der (physische) Untergang unvermeidlich ist, dem bösen Humor (Weltschmerz) verwandt und heißt um dieser Verwandtschaft willen Humoristisch-Tragisches. Je nachdem in dem Eindruck des Tragischen das "zermalmende" oder das "erhebende" Element als das stärkere erscheint, wird das Rührend-Tragische vom Pathetisch-Tragischen unterschieden. Durch Kombination beider Einteilungen entstehen als Unterarten des Rührend-Tragischen das Rührende, bei welchem das mitleiderregende, und das Schreckliche, bei welchem das furchterweckende Element des Ergreifenden überwiegt; als Unterarten des Pathetisch-Tragischen das humoristische Pathos, bei welchem die Klage über sein Schicksal, und der tragische Humor, bei welchem der Hohn über dasselbe im Helden die Oberhand gewinnt; jene machen uns weinen, diese "unter Thränen lächeln". Die Auflösung des Tragischen erfolgt, wie die des Komischen, durch die Aufhebung des Kontrastes, indem entweder das (anscheinend) Ungerechte als gerecht (der anscheinend Schuldlose oder nur halb Schuldige als wirklich Schuldiger) erkannt, oder das vermeintlich durch blinden Willen oder feindselige Absicht herbeigeführte Leiden als das Werk des Zufalls oder eines mechanischen Naturprozesses (natürlicher Tod) anerkannt wird, welche als völlig heterogen, mit der Vernunft nicht vergleichbar, also auch nicht als Kontrast zu derselben betrachtet werden können. Vgl. Bohtz, Die Idee des Tragischen (Götting. 1836); R. Zimmermann, Über das Tragische und die Tragödie (Wien 1856); Baumgart, Aristoteles, Lessing und Goethe. Über das ethische und ästhetische Prinzip der Tragödie (Leipz. 1877); Duboc, Die Tragik vom Standpunkt des Optimismus (Hamb. 1885); Günther, Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechen entwickelt (Leipz. 1885).

Tragkraft, s. v. w. rückwirkende Festigkeit, s. Festigkeit, S. 176.

Tragödie (griech., Trauerspiel), die dramatische Darstellung einer tragischen, d. h. (nach Aristoteles) einer ernsten, Mitleid für den Helden und Furcht für uns selbst erweckenden Handlung (s. Tragisch). Dieselbe steht als Darstellung eines tragischen Vorganges der Komödie (s. d.), als Drama mit (für den Helden) unglücklichem Ausgang dem (gleichfalls ernsten) Schauspiel gegenüber. Als Untergattung des Dramas (s. d.) gilt von der T. alles, was von diesem als solchem gilt. Als tragisches Drama entlehnt die T. ihre Gesetze und Einteilung vom Tragischen. Da die "erhebende" Wirkung des Tragischen desto stärker ausfällt, je mächtiger vorher dessen "zermalmende" Wirkung gewesen ist, so geht das Streben der T. vor allem dahin, das Leiden der Helden und die Gewalt des Schicksals so schrecklich zu schildern, daß der Sieg über dasselbe desto erhabener erscheint. Die Einteilung der T. erfolgt nach den Gattungen des Tragischen in die rührende T., in welcher das ergreifende, und in die pathetische T., in welcher das erhebende Element des Tragischen vorherrscht, welche mit der in antike T., in welcher das Schicksal die (physische) Übermacht über den Helden, und moderne T., in welcher der Held die (moralische) Übermacht über das Schicksal behauptet, zusammenfällt. Über die Bedeutung des Wortes und die Geschichte der T. s. Drama.

Tragopogon L. (Bocksbart, Haferwurzel), Gattung aus der Familie der Kompositen, zwei- oder mehrjährige, kahle oder flockig-wollige Kräuter mit abwechselnden, lineallanzettlichen, ganzrandigen, zugespitzten, am Grund scheidigen Blättern, einzeln endständigen Blütenköpfen, gelben oder blauen Blüten und längsrippigen, lang geschnäbelten Früchten mit

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Tragus - Trajanswall.

mehrreihigem Pappus. Etwa 40 Arten in Europa, Nordafrika und Asien. Die sechs deutschen Arten haben genießbare Wurzeln und Blätter. T. porrifolius L., mit violetten Blüten, in Südeuropa, schon den Griechen bekannt, wird als Wurzelgemüse kultiviert.

Tragus (lat.), die vordere Ohrecke, welche mit der gegenüberliegenden hintern (antitragus) vor der Öffnung des äußern Gehörganges steht.

Tragzapfen, Zapfen, bei welchen der Druck größtenteils in der Richtung rechtwinkelig gegen die Achse derselben wirkt (vgl. Zapfen).

Traiguen (spr. traighen), Hauptstadt der Provinz Cautin der südamerikan. Republik Chile, am gleichnamigen Nebenfluß des Rio Cauto, mit 3000 Einw. Die Gründung deutscher Kolonien in der Nähe ist beabsichtigt. Das gleichnamige Departement hat (1885) 24,408 Einw.

Traille (franz., spr. traj), Fähre, fliegende Brücke. Bisweilen fälschlich für Tralje (s. d.).

Train (franz., spr. träng), das Fuhrwesen der Heere, welches diesen Bedürfnisse jeder Art nachzuführen hat, u. zwar nennt man T. sowohl die einem Heer oder einer einzelnen Truppe folgenden Fahrzeuge (T. eines Bataillons etc.) mit den zugehörigen Leuten (Trainsoldaten) und Pferden als auch die besondere Truppengattung. Hiernach unterscheidet man Verpflegungs-, Sanitäts-, Administrations-, Feldbrücken- und Belagerungstrains. Die beiden erstern, mit der Truppe in engster Verbindung stehend, sind zur Erhaltung der Schlagfertigkeit derselben von höchster Bedeutung, müssen daher eine größere Bewegungsfähigkeit zur Anpassung an die Operationen der kämpfenden Truppen besitzen und werden deshalb auch von den Trainbataillonen als Truppenteile formiert. In Deutschland hat jedes Trainbataillon (also pro Armeekorps) 5 Proviantkolonnen, 1 Feldbäckereikolonne, ein Pferdedepot, 3 Sanitätsdetachements und 5 Fuhrparkskolonnen bei der Mobilmachung zu formieren, für welche das Material im Frieden bei den Traindepots bereit gehalten und verwaltet wird. Die Administrations-, Feldbrücken- und Belagerungstrains sind im allgemeinen nur Transporttrains, erstere gehören zu den von den Armeekorps beider Mobilmachung aufzustellenden Branchen und zwar zu den Intendanturen, der Korpskriegskasse, dem Haupt-, 4 Feldproviantämtern, 12 Feldlazaretten, dem Feldpostamt, 4 Feldpostexpeditionen. Jedes mobile Pionierbataillon formiert ein Korps- und 2 Divisionsbrückentrains. Außerdem werden von den Pionieren die Pionier-, von der Fußartillerie die Artilleriebelagerungstrains aufgestellt, letztern sind die Munitions- Fuhrparkskolonnen beigegeben. Während der T. bei den Römern, namentlich seit Cäsar, auf das beste ausgerüstet und geschult wurde, blieb er in Deutschland, dessen Heeresverfassung entsprechend, ein ungeheurer Troß von Fahrzeugen (bei einem Heer von 20,000 Mann oft 8000-10,000), geführt von nicht militärischen Troßknechten und begleitet von zahllosen Dirnen, Troßbuben und Gesindel aller Art. Der Große Kurfürst verbesserte zwar das Armeefuhrwesen, doch blieb die militärische Organisation desselben Friedrich d. Gr. vorbehalten, welcher auch die Bezeichnung T. einführte. 1778 gehörten zu einer Armee von 30,000 Mann 6 Proviantkolonnen, eine Feldbäckerei, ein Feldlazarett, eine Feldapotheke und der T. für die Beamten. Der T. als Friedensformation (ein Stamm) trat erst 1853 ins Leben, welcher 1856 vergrößert und 1859 die Organisation erhielt, welche die Grundlage der jetzigen bildet. Vgl. Schäffer, Das deutsche Heerfuhrwesen (Berl. 1881); Derselbe, Der Kriegstrain des deutschen Heers (das. 1883); Kiesling, Geschichte der Organisation des Trains der königlich preußischen Armee (das. 1889).

Trainieren (engl., spr. treh-), in die Länge ziehen, abrichten, einüben; die Vorbereitung zu einer hervorragend körperlichen Leistung, besonders bei Pferden Vorbereitung zum Wettrennen (training), welche in besondern Anstalten (Trainieranstalten) und von speziell für diese Kunst ausgebildeten Leuten (Trainer) geleitet wird, beruht auf einer methodischen Ausbildung der Muskelkraft bei sehr intensiver, aber nicht fett machender Ernährung. Die Füllen werden schon im Alter von 18-20 Monaten angeritten oder eingebrochen (break); sie erhalten anfangs Belegung im Schritt und Trab, später im langsamen und raschen Galopp, am besten unter Leitung eines ältern Pferdes, des Führpferdes. Überflüssiges Fett der Pferde sucht man, soweit dieses nicht durch die Arbeit möglich ist, durch das Verabreichen von Abführpillen (Physic) und durch Schwitzen unter Decken zu entfernen. Das Gewicht des Reiters darf für junge Pferde nicht zu groß sein, deshalb werden nur Knaben oder sehr leichte Männer zu Reitern in den Trainierställen verwendet. Als Futter benutzt man Hafer von möglichst schwerer Qualität mit Zusatz von Bohnenschrot für Rennpferde und vermeidet möglichst alles, was Volumen oder Fett erzeugt. Vgl. die Schriften von Digby Collins (Lond. 1865), Hochwächter (3. Aufl., Neuw. 1867), v. Heydebrand (2. Aufl., Leipz. 1882), Silberer und Ernst (Wien 1883) und Graf Wrangel (Stuttg. 1889).

Traisen, rechter Nebenfluß der Donau in Niederösterreich, berührt St. Pölten und mündet unterhalb des Fleckens Traismauer; 80 km lang.

Trait (franz., spr. trä), Gesichts-, Charakterzug.

Traité (franz., spr. träté), s. v. w. Traktat (s. d.).

Traiteur (franz., spr. trätör), Speisewirt.

Trajanspforte, s. Roterturmpaß.

Trajanssäule (Columna Trajana), die dorische Ehrensäule Trajans auf dessen Prachtforum in Rom, einer Schöpfung des Architekten Apollodoros von Damaskus. Sie befindet sich noch an ihrer ursprünglichen Stelle, zur Seite der Reste der Basilica Ulpia, kolossaler, jetzt wieder aufgerichteter Granitsäulen. Ihre Erbauung fällt in das Jahr 113 n. Chr. Sie mißt mit dem 5 m hohen Postament 39 m; der untere Durchmesser beträgt 4 m, der obere 3,3 m. Zusammengesetzt ist sie aus 34 Blöcken weißen Marmors, wovon 23 auf den Schaft kommen; dieser ist mit spiralförmig um die Säule sich windenden Reliefs bedeckt, welche die Feldzüge des Kaisers gegen die Dacier darstellen und 2500 menschliche Figuren von 60-75 cm Höhe enthalten. Das vierseitige Piedestal, zugleich das Grabmal für die Aschenurne des Kaisers, ist mit Trophäen geschmückt und trägt die Weihinschrift. Die Stelle der kolossalen Statue des Kaisers nimmt seit 1587 die des Apostels Petrus ein. Eine Schneckentreppe von 184 in die Marmorblöcke eingehauenen Stufen führt im Innern bis auf die Plattform. Vgl. Fröhner, La colonne Trajane (Par. 1871-74, 220 Tafeln).

Trajanswall, eine von den Römern herrührende Befestigungslinie in der Dobrudscha (Mösien), welche sich in zwei-, auch dreifacher Wiederholung von der Donau zwischen Rassowa und Tschernawoda 48 km östlich bis Constanza (s. d.) am Schwarzen Meer erstreckt, aus einem 2,5-3 m, an manchen Stellen 5,8 m hohen Erdwall besteht und im Krieg von 1854 eine gewisseg Bedeutung hatte.

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Trajanus - Traktieren.

Trajanus, Marcus Ulpius T., nach der Adoption durch Nerva in der Regel Nerva T. genannt, röm. Kaiser, geboren wahrscheinlich 56 n. Chr. zu Italica (in der Nähe des heutigen Sevilla) in Spanien, war 91 Konsul und kommandierte 97 die Legionen am Niederrhein, als er von Nerva adoptiert und zum Mitregenten erklärt wurde. Im J. 98 durch Nervas Tod zur Herrschaft gelangt, war er während seiner ganzen Regierung unablässig bemüht, die Wohlfahrt und den Glanz des Reichs zu erhöhen. Wie groß seine Sorgfalt für die Verwaltung des Reichs, seine Milde, seine Einsicht und seine Gerechtigkeit waren, geht am deutlichsten aus dem Briefwechsel mit dem jüngern Plinius hervor, als dieser 111-113 in besonderm Auftrag die Verwaltung von Bithynien führte; nur den Christen gegenüber, die er mit Strenge verfolgt wissen wollte, da er in ihrer Ausbreitung eine Gefahr für das Reich sah, kann man diese Milde vermissen. Zu seinen wohlthätigen Einrichtungen gehören namentlich auch die Anstalten, die er in Rom und in Italien für die Erziehung mittelloser Kinder durch die Verwilligung reicher Mittel und die Bestellung geeigneter Aufsichtsbehörden traf. Eine besondere Hervorhebung verdienen unter seinen Friedenswerken noch die großartigen Bauten, die auf seine Veranlassung ausgeführt wurden, namentlich der Bau der Brücke, die 104 über die Donau unterhalb der Stromschnellen derselben geschlagen wurde, die Herstellung eines neuen nach ihm benannten Forums, die Errichtung der noch jetzt vorhandenen, 39 m hohen, mit den Reliefs von Kriegsszenen aus den dacischen Kriegen gezierten Trajanssäule, die Erweiterung des Circus Maximus, der Bau eines Odeums, eines Gymnasiums in Rom und viele andre Bauten. Seine friedliche Thätigkeit wurde zuerst durch die beiden dacischen Kriege, 101-102 und 105-106, unterbrochen, durch die der dacische König Decebalus völlig besiegt und Dacien zur römischen Provinz gemacht wurde. Hierauf unternahm T. 113 noch einen großen Feldzug nach dem Osten, der hauptsächlich gegen die Parther gerichtet war, und auf dem er Armenien und Mesopotamien zu römischen Provinzen machte und über den Tigris bis nach Ktesiphon vordrang. Während er aber im fernen Osten weilte, erhoben sich in seinem Rücken mehrfache Aufstände, namentlich auch unter den Juden in Ägypten und Kyrene, und ehe er dieselben völlig unterdrücken konnte, wurde er 117 zu Selinus in Kilikien vom Tod ereilt. Wie sehr seine Verdienste anerkannt wurden, geht auch daraus hervor, daß ihm der Senat den Beinamen des Besten (Optimus) beilegte und spätere Kaiser mit dem Zuruf begrüßt wurden: "Sei glücklicher als Augustus und besser als T." Vgl. Francke, Zur Geschichte Trajans (2. Ausg., Quedlinb.1840); Dierauer, Beiträge zu einer kritischen Geschichte Trajans (Leipz. 1868); de La Berge, Essai sur le règne de Trajan (Par. 1877).

Rrajectum, lat. Name für Utrecht.

Trajekt (lat.), Überfahrt (von Ufer zu Ufer); Trajektschiff, s. Dampfschiff, S. 485.

Trajektorie (neulat.), in der Geometrie eine ebene krumme Linie, die alle einzelnen Kurven eines gegebenen Systems unter demselben Winkel schneidet; so ist z. B. für alle Ellipsen, welche dieselben Brennpunkte haben, eine beliebige Hyperbel mit denselben Brennpunkten die orthogonale T., d. h. sie schneidet alle diese Ellipsen rechtwinkelig. In der Mechanik ist T. die Bahn eines unter dem Einfluß einer Kraft sich bewegenden Punktes, z. B. die Bahn eines schräg in die Höhe geworfenen Körpers (Wurflinie).

Trakasserie (franz.), Plackerei, Stänkerei.

Trakehnen, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Gumbinnen, Kreis Stallupönen, 5 km vom Bahnhof T. an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen der Preußischen Staatsbahn, hat ein königliches Hauptgestüt (1732 von Friedrich Wilhelm I. gegründet), zu dem 12 Vorwerke gehören, mit einem Areal von 4151 Hektar und 1070-1250 Pferden, eine Ziegelei und (1885) 1837 Einw. Vgl. Frenzel, Über Landespferdezucht im Regierungsbezirk Gumbinnen (Berl. 1875).

Trakehner, Pferdestamm, s. Pferd, S. 948.

Trakt (lat.), Zug, Ausdehnung in die Länge, z. B. Eisenbahntrakt; Strecke Landes; katholischer Festgesang nach dem Graduale, bestehend aus einigen Schriftversen ohne Hallelujah (so genannt von der langsamen, gedehnten Sangweise, in der er früher vorgetragen wurde).

Traktabel (lat.), fügsam; umgänglich.

Traktament (mittellat.), Behandlung, Behandlungsweise; Bewirtung, Gastmahl; Löhnung, Sold.

Traktarianer, s. v. w. Puseyiten, s. Pusey.

Traktat (lat.), Unterhandlung wegen eines abzuschließenden Vertrags; auch der Vertrag selbst; sodann Abhandlung über einen Gegenstand, insbesondere Bezeichnung für kleine im Sinn einer bestimmten religiösen Richtung geschriebene Flugschriften (Traktätchen). Besondere Traktatengesellschaften hat die sogen. Innere Mission (s. d.) ins Leben gerufen.

Traktatshäfen (Vertragshäfen), die in China dem Verkehr mit dem Ausland durch besondere Abmachungen geöffneten Häfen. Bis 1842 war den Fremden nur Kanton und auch dies nur unter Beschränkungen und ohne sichere Gewährleistung geöffnet. Durch den am 29. Aug. 1842 abgeschlossenen Vertrag wurden aber außer Kanton noch die Häfen Amoy, Futschou, Ningpo und Schanghai dem britischen Handel geöffnet. Durch den Friedensschluß von Tiëntsin (1860) und später kamen Swatau, Taiwan, Takao, Tamsui, Kelung, Tschinkiang, Kiukiang, Hankeou, Tschifu, Niutschuang, Tiëntsin, Kiungtschau, Itschang, Wuhu, Wentschou und Pakhoi hinzu. Außer mit England und Frankreich schloß China einen Vertrag mit Preußen zu Tiëntsin 2. Sept. 1861, der für alle Zollvereinsstaaten Gültigkeit hatte und mit der Gründung des Deutschen Reichs auf dieses überging. Ähnliche Verträge wurden 1862 mit Spanien, Portugal und Belgien, 1863 mit Dänemark geschlossen. Gegenwärtig stehen die oben genannten T. allen Nationen offen. Der Handelsverkehr in denselben bezifferte sich 1887 auf 190,3 Mill. Haikuan Tael (Einfuhr 104,4, Ausfuhr 85,9 Mill. Haikuan Tael), wovon auf Schanghai allein nicht weniger als 96,2 Mill. Haikuan Tael entfallen. Den Hauptanteil (über zwei Drittel) vermitteln Großbritannien und Hongkong. In diesen Häfen verkehrten 28,244 Schiffe von 21,755,760 Ton. (davon 23,262 Dampfer von 20,619,615 T.). Auf die englische Flagge entfielen 14, auf die chinesische 5,4 Mill. T. In den T. bestanden 1885: 396 fremde Firmen (233 englische, 57 deutsche, 27 amerikanische, 23 französische, 24 japanische, 15 russische etc.) und lebten 6698 Fremde (2534 Briten, 761 Amerikaner, 638 Deutsche, 443 Franzosen, 747 Japaner etc.). In den Häfen von Niuts, Tiëntsin, Tschifu, Hankeou, Kiukiang, Wuhu, Tschinkiang, Schanghai, Ningpo, Futschou, Tamsui, Amoy, Swatau, Kanton und Pakhoi bestehen Zolldirektionen mit Europäern als Vorständen, welche sämtlich dem Generalzollinspektor (Sir Robert Hart) in Peking untersteht sind.

Traktieren (lat.), behandeln; ein Gastmahl geben, bewirten; auch s. v. w. unterhandeln.

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Traktorie - Transbaikalien.

Traktorie (neulat., Zuglinie), eine ebene Kurve, bei welcher alle Tangenten vom Berührungspunkt bis zum Schnittpunkt mit einer gegebenen geraden oder krummen Linie, der Direktrix, gleich lang sind. Die einfache T. mit geradliniger Direktrix ist schon von Huygens ("Hugenii Opera varia", Teil 2, Seite 617) untersucht worden.

Traktur (lat.), in der Orgel die innern Teile des Regierwerkes, besonders der Abstrakten.

Tralee (spr. tralih), Hauptstadt der irischen Grafschaft Kerry, an der Mündung des Lee in die Traleebai des Atlantischen Ozeans und mit seinem Außenhafen Blennerville durch einen Schiffskanal verbunden, hat ein Dominikanerseminar, Fischerei (442 Boote), lebhaften Handel und (1881) 9910 Einw.

Tralje (holl.), Gitterstab an Fenstern.

Tralles, Johann Georg, Physiker, geb. 15. Okt. 1763 zu Hamburg, studierte seit 1782 in Göttingen, ward 1785 Professor der Mathematik und Physik zu Bern, 1810 Professor der Mathematik in Berlin, starb 19. Nov. 1822 in London. Er erfand das nach ihm benannte Alkoholometer (s. d.) und schrieb "Untersuchungen über die spezifischen Gewichte der Mischungen aus Alkohol und Wasser" (Leipz. 1812).

Trambahnen, s. v. w. Straßeneisenbahnen.

Trametes Fr., Pilzgattung aus der Unterordnung der Hymenomyceten, von der Gattung Polyporus nur darin verschieden, daß die Röhren keine von der Substanz des Huts verschiedene Schicht bilden, sondern gleichfalls in dieselbe eingesenkt sind, weil letztere zwischen die Röhren hinabsteigt. Es sind holzbewohnende Schwämme mit stiellosem, halbiertem Hute. T. pini Fr. (Kiefernschwamm), mit polsterförmigen, 7-14 cm breiten, bis 11 cm dicken, sehr harten, korkig-holzigen, schmutzig braunschwarzen, tief gefurchten, meist dachziegelförmig übereinander wachsenden Hüten mit rötlichgelben Röhren, wächst an Kiefernstämmen und verursacht die Rotfäule und Ringschäle der Kiefern. Letztere Krankheit zeigt sich an den obern Stammteilen und stärkern Ästen und besteht darin, daß das dunkler gefärbte Kernholz mürbe wird und ringförmige Zonen von weißen Flecken bekommt, welche aus dem Pilzmycelium bestehen, dessen Fäden die Holzzellen nach und nach verzehren. Nur an alten Aststümpfen bildet der Pilz die oft über 50 Jahre alt werdenden Fruchtkörper. Die Infektion des Baums findet nur von abgebrochenen oder abgesägten Ästen aus und erst bei 40-50jährigen Bäumen statt, da der Pilz mit seinem Mycelium nur im Kernholz wuchert.

Tramieren (franz.), anzetteln.

Tramin, Marktflecken in Südtirol, Bezirkshauptmannschaft Bozen, am Abhang des Mendelgebirges, hat eine alte Pfarrkirche, berühmten Weinbau und Weinhandel (von hier stammt die Traminer Rebe), Seidenfilande und (1880) 1798 Einw.

Tramontane (ital.), jenseit der Berge, d. h. in Italien von Norden her wehender Wind, Nordwind; auch s. v. w. Polarstern.

Trampeltier, s. Kamel, S. 420.

Trampoline (it.), Schwungbrett für Kunstspringer.

Tramrecht, s. Balkenrecht und Baurecht.

Tramseide (Trama), s. Seide, S. 825.

Tramway (engl., spr. -ueh), s. Straßeneisenbahnen.

Tramwaylokomotive, s. Lokomotive, S. 890.

Trance (engl., spr. tränns), Verzückung, Entrückung (bei den Spiritisten gebräuchlicher Ausdruck).

Trancheekatze (Trancheekavalier), s. Kavalier.

Tranchcen (franz., spr. trangsch-), s. Laufgräben.

Tranchen (franz., spr. trangschen), die "Schnitte" beim Tranchieren von Fleisch und Fisch.

Tranchieren (franz., spr. trangsch-), zerschneiden, besonders das Zerlegen der Fleischspeisen (Braten) in einzelne Stücke mit dem Tranchiermesser und der zweizinkigen Tranchiergabel, am besten auf einer hölzernen Platte. Vgl. Grimod de la Reynière, Manuel des amphitryons (Par. 1808); Bernardi, L'écuyer tranchant (das. 1845); Klein, Die Tranchierkunst (2. Aufl., Hildburgh. 1886).

Trani, Stadt in der ital. Provinz Bari, Kreis Barletta, am Adriatischen Meer und an der Eisenbahn Ancona-Brindisi, ist Sitz eines Erzbistums, eines Appellhofs und eines Zivil- und Korrektionstribunals, hat ein Gymnasium, eine technische Schule, ein Seminar, eine schöne Kathedrale (aus dem Anfang des 12. Jahrh., mit großer Unterkirche, einem fünfgeschossigen normannischen Turm und bronzenen Thürflügeln von 1175), alte Basteien, einen stark versandeten Hafen, bedeutenden Handel mit Landesprodukten, starke Fischerei u. (1881) 25,173 Einw. T. hatte im Mittelalter große Bedeutung als Handelsplatz nach dem Orient, verlor dieselbe aber infolge Verschüttung des Hafeneinganges durch die Venezianer.

Trankebar (Tarangambadi), kleine Hafenstadt der britisch-ind. Präsidentschaft Madras, an der Koromandelküste, mit (1881) 6189 Einw., ist jetzt ein verfallener Platz, war aber unter dänischer Herrschaft (1616-1845) Hauptort der dänischen Kolonien in Indien; 1845 wurde es für 20,000 Pfd. Sterl. an die Britisch-Ostindische Kompanie verkauft. In T. wurde 1706 die erste protestantische Mission in Indien angelegt, die noch heute besteht und eine Schule und Druckerei besitzt; in letzterer werden Werke in Tamil gedruckt. Die Europäer wohnen in dem alten dänischen Fort am Strand.

Tranksteuer, s. v. w. Getränkesteuer (s. d.).

Tranquillität (lat.), Ruhe, Gelassenheit.

Tranquillo (ital., auch Tranquillamente), ruhig.

Trans (lat.), über, jenseit, kommt häufig in Zusammensetzungen vor, bei geographischen Namen dem Cis entgegengesetzt.

Transactions (engl., spr. tränsacksch'ns), Abhandlungen, besonders Titel für die periodischen Publikationen der gelehrten Gesellschaften in England.

Transaktion (lat.), Verhandlung; Unterhandlung zur Beilegung von Streitigkeiten; Vergleich, Übereinkunft; auch Handelsunternehmung.

Transalpinisch (lat.), jenseit der Alpen gelegen.

Transanimation (neulat.), Seelenwanderung.

Transatlantisch (lat.), jenseit des Atlantischen Meers gelegen.

Transbaikalien, russ. Gebiet im Generalgouvernement Ostsibirien, zwischen dem Baikalsee, China, der Amurprovinz und dem Gebiet Jakutsk, 603,228 qkm (10,955 QM.) mit (1885) 530,896 Einw., zur Hälfte Russen und Sibiriaken, außerdem 122,000 Buräten, 5600 Tungusen, 2000 Polen, ferner Chinesen, Juden u. a. Das Land ist vorwiegend gebirgig und wird vom Jablonowoigebirge mitten durchzogen, im NW. breitet sich das große, unwirtliche Witimplateau aus. Unter den zahlreichen Flüssen sind die namhaftesten Selenga mit der Uda, Ingoda und Schilka, der Witim bildet die Nordgrenze. Die mittlere Jahrestemperatur schwankt zwischen -1,7° und +4° C., die Niederschläge zwischen 300 und 762 mm. Daher ist vielfach künstliche Bewässerung zur Erzeugung von Pflanzenwuchs nötig, und dichter Wald wechselt mit nackten Steppen. Der Ackerbau hat durch die Förderung der Regierung neuerdings zugenommen, viel bedeutender ist aber die Viehzucht; man zählt 400,000 Pferde, ½ Mill. Rinder, 1 Mill. Schafe, in der Steppe

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Transcendent - Transfusion.

dient das Kamel als Lasttier. Fischerei, Bienenzucht und Jagd (Hermelin, Zobel, Wiesel) liefern gute Erträge. Eine große Bedeutung hat T. durch seinen großen Mineralreichtum (1880: 2483 kg); Gold, dann Silber, Blei, Eisen, Kupfer, Graphit, Zinn, Zink, Steinkohlen, Asphalt und Salz werden gefunden, doch ist der frühere großartige Bergbau- und Hüttenbetrieb in den letzten Jahren so gesunken, daß von den ehemaligen sieben Hüttenwerken jetzt nur noch zwei bestehen. Die Salzproduktion beträgt 204,000 kg im Jahr. Das Land wird von dem Sibirischen Trakt durchzogen, hat gute Poststraßen, und der Transithandel nach China, der Amurprovinz, Nord- und Westsibirien ist ein bedeutender. Sitz der Verwaltung ist Tschita, Mittelpunkt der Montanindustrie Nertschiusk, andre nennenswerte Orte sind Kiachta und Werchne-Udinsk. Vgl. Wenjukow, Die russisch-asiatischen Grenzlande (deutsch, Leipz. 1874).

Transzendént und Transcendental (lat.), wissenschaftltche Kunstausdrücke, die besonders in der Mathematik und Philosophie gebräuchlich sind. In der Mathematik heißt nach der von Leibniz eingeführten Bezeichnung alles das transcendent, was über die Algebra hinausgeht. Transcendente Operationen sind daher solche, welche nicht zu den als algebraische bezeichneten gehören, z. B. die Ermittelung des Logarithmus einer Zahl, einer trigonometrischen Funktion zu einem Winkel; Logarithmen und trigonometrische Funktionen heißen deshalb auch transzendente Funktionen. In der Philosophie heißt transcendental nach der von Kant eingeführten Terminologie alle Erkenntnis, die nicht sowohl mit den Gegenständen selbst als vielmehr mit der Art ihrer Erkenntnis sich beschäftigt; transcendent dagegen das, was die durch die Natur des erkennenden Wesens gegebenen Grenzen der Erkenntnis übersteigt und dadurch überschwenglich wird.

Transcendénz (neulat.), im Gegensatz zur Immanenz, welche ein Innewohnen in einem andern (z. B. Gottes in der Welt: Pantheismus) bezeichnet, der Ausdruck des vollkommenen Außer- oder Über einem andern Seins (z. B. des Seins Gottes außer und über der Welt: Theismus).

Transeat (lat.), es gehe vorüber, weg damit; substantivisch (das T.) s. v. w. Verwerfung (im Gegensatz zu Placet, s. d.).

Transept (Transsept, lat.), in der Baukunst jeder Querbau (z. B. das Kreuzschiff der großen mittelalterlichen Kirchen), welcher die Längenausdehnung des Gebäudes unterbricht und Querflügel bildet.

Transeúndo (lat.), im Vorübergehen.

Transeunt (lat., "übergehend") heißt eine Wirksamkeit, durch welche das Wirksame über sich hinaus auf ein andres übergeht, im Gegensatz zu immanenter Wirksamkeit, bei welcher das Wirksame innerhalb seiner selbst auf sich selbst als andres wirkt.

Transferieren (lat.), übersetzen (aus einer Sprache in die andre); versetzen, verschieben; übertragen, überschreiben (in der Geschäftssprache oft im Sinn von cedieren gebraucht); Transferierung im Staatshaushalt s. v. w. Virement (s. d.).

Transfert (lat.), die Übertragung von Nervenreizen, Schmerzempfindungen, Lähmungen u. dgl. bei somnambulen und hypnotisierten Personen von der einen Körperhälfte auf die andre (s. auch Metallo-Therapie); im Börsenwesen (engl. transfer) die Übertragung des Eigentums an Renten oder Stocks (Consols) auf einen Dritten unter bestimmten Formen, in Paris in das Livre des mutations, in London in das Transfer book.

Transfiguration (lat.), Verklärung, besonders diejenige Christi auf dem Berg Tabor (Matth. 17), zu deren Andenken die griechische und römische Kirche 6. Aug. ein besonderes Fest feiern. Berühmt ist Raffaels Gemälde, welches die T. Christi darstellt; andre Darstellungen lieferten Fiesole, Bellini, Perugino und Holbein der ältere.

Transformationstheorie, s. Evolutionstheorie und Deszendenztheorie.

Transformatoren (sekundäre Generatoren, Sekundärinduktoren), Induktionsrollen zur Umwandlung hochgespannter Wechselströme in solche von geringerer Spannung, aber größerer Stromstärke, wobei durch passende Wahl der Widerstandsverhältnisse und Windungszahlen beider Spiralen die Spannung in den sekundären Kreisen dem Bedürfnis angepaßt werden kann. Sie finden in der elektrischen Beleuchtung Anwendung, um die Kosten der Leitungsanlage zu verringern, da die hochgespannten Ströme des primären Kreises auf verhältnismäßig dünnen Drähten fortgeleitet werden können, und ermöglichen die gleichzeitige Speisung von Bogen- und Glühlampen aus derselben Stromquelle. Die T. von Gaulard u. Gibbs bestehen aus einer großen Anzahl radial geschlitzter dünner Kupferscheiben, welche durch isolierende Zwischenschichten voneinander getrennt und an vorragenden Ansätzen untereinander dergestalt in leitende Verbindung gebracht sind, daß die Scheiben mit ungeraden Nummern eine fortlaufende Spirale, die primäre Spule, bilden. während die Scheiben mit geraden Nummern der sekundären Spirale zu mehreren, in der Regel zu sechs, nebeneinander geschaltet werden können. Die säulenförmig übereinander geschichteten Scheiben sind in der Mitte mit einer kreisförmigen Öffnung versehen und umgeben einen zur Verstärkung der Induktionswirkung dienenden Eisenkern; bei den neuern T. sind zwei Säulen mit in sich geschlossenem Eisenkern zu einem Apparat vereinigt. Die T. von Zipernowsky u. Deri enthalten die Kupfer- und Eisenmassen in umgekehrter Anordnung. Um ein ringförmiges Bündel, in welchem die isolierten Kupferdrähte der primären und sekundären Spirale vereinigt sind, werden mit Baumwolle umsponnene oder mit einem Lacküberzug versehene Eisendrähte in dichten Lagen so gewickelt, daß keine Streuung der magnetischen Kraftlinien eintreten kann und die schädliche Bildung Foucaultscher Ströme vermieden wird. In den ähnlich konstruierten T. von Westinghouse kommt ein flach gedrückter Doppelring von isolierten Drähten zur Anwendung, der mit passend ausgeschnittenen Scheiben von Eisenblech umgeben ist. Vgl. Uppenborn, Geschichte der T. (Münch. 1888).

Transformieren (lat.), umbilden, umgestalten; einer Funktion, einer Gleichung etc. eine andre Gestalt und Form geben, ohne ihren Wert zu ändern; daher Transformation, Umgestaltung.

Transfundieren (lat.), hinübergießen.

Transfusion (lat.), Überführung von frischem lebensfähigen Blut eines gesunden Menschen in das Gefäßsystem eines Kranken nach lebensgefährlichem Blutverlust oder nach tiefgreifender Beeinträchtigung der Lebensfähigkeit der Blutkörperchen, wie z. B. nach Kohlenoxidvergiftung. Die T. wurde zuerst 1667 von Denis ausgeführt, geriet aber bald in Mißkredit und wurde vom Parlament und vom Papst verboten. Im zweiten und dritten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts führten sie Blundell, Dieffenbach und Martin wieder in die Praxis ein, und später schufen ihr Panum und Ponfick eine feste wissenschaftliche Basis. Danach

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Transigieren - Translator.

handelt es sich darum, nur solches Blut anzuwenden, dessen Blutkörperchen überhaupt lebensfähig sind, und welches auch auf dem fremden Boden, auf den es verpflanzt wird, gedeihen kann. Man darf deshalb bei Menschen nur Menschenblut, aber niemals Tierblut benutzen. Man wendet die T. an nach schweren Blutverlusten bei Entbindungen, Verletzungen, Operationen und bei Kohlenoxidvergiftung. Hauptregel ist, die Einführung von Fibringerinnseln und Luftblasen, die plötzlichen Tod herbeiführen können, sorgfältig zu vermeiden. Zur Ausführung der T. wird einem gesunden, kräftigen Menschen ein Aderlaß von 200-250 g gemacht. Das in einem reinen Glas aufgefangene Blut wird gequirlt oder mit einem Stäbchen geschlagen, bis keine Abscheidungen mehr erfolgen, und darauf durch saubere feine Leinwand filtriert, um die abgeschiedenen Fibrinflocken zu entfernen. Durch das Quirlen, resp. Schlagen ist das Blut auch von seiner Kohlensäure befreit und sauerstoffreich gemacht worden. Es ist ziemlich gleichgültig, ob man das Blut weiterhin auf 35° künstlich erwärmt oder bei gewöhnlicher Temperatur stehen läßt. Nunmehr wird bei dem Kranken eine Vene, gewöhnlich eine oberflächliche Armvene, freigelegt und geöffnet. (Die sogen. arterielle T. hat keine besondern Vorteile.) Im Fall einer Kohlenoxidvergiftung muß dem Patienten vor der Einspritzung des neuen Bluts ein adäquates Quantum eignen Bluts entzogen werden, um einer schädlichen Überfüllung des Gefäßsystems vorzubeugen. Handelt es sich um einen Fall von Blutverlust, so erfolgt die Einspritzung sofort. Das neue Blut wird in eine Spritze aufgesogen und, nachdem die etwa mit eingedrungene Luft ausgetrieben, vermittelst einer in das geöffnete Venenlumen eingeführten feinen Kanüle in das Gefäß langsam und vorsichtig eingespritzt. Aveling, Landois und Roussel haben Apparate angegeben, um das Blut direkt aus der Vene des spendenden Individuums in die des Kranken überzuleiten. Wird die T. rechtzeitig ausgeführt, und gelingt sie, was immerhin von einer gewissen technischen Gewandtheit abhängt, so hebt sich bei dem durch Blutverlust lebensgefährlich geschwächten Kranken der Puls bald wieder, die Leichenblässe des Gesichts schwindet, das Bewußtsein kehrt wieder; der Kohlenoxydvergiftete erwacht allmählich aus seinem tiefen Sopor, wird wieder willkürlicher Thätigkeiten fähig und geht, wenn auch oft langsam, der Genesung entgegen. Vgl. Gesellius, Die T. des Blutes (Petersb. 1873); Landois, Die T. des Blutes (Leipz. 1875); Berns, Beiträge zur Transfusionslehre (Freiburg 1874); Hasse, Lammbluttransfusion beim Menschen (Petersb. 1874).

Transigieren (lat.), verhandeln, Vergleichsverhandlungen pflegen; transigendo, auf dem Wege gütlichen Vergleichs; transigibel, worüber verhandelt (transigiert) werden kann.

Transit (ital.), s. Durchfuhr.

Transition (lat.), Übergang, Übergehung; transitiv, übergehend; Transitivum, s. Verbum.

Transitlager, s. Zollniederlagen.

Transitorisch (lat.), vorübergehend, nur für eine Übergangszeit geltend; daher Transitorien, im Budget die Posten, welche vorübergehend verwilligt sind und später von selbst in Wegfall kommen.

Transitverbot, das Verbot der Durchfuhr fremder Waren durch ein Land (f. Durchfuhr).

Transitwechsel, solche von einem fremden Land auf ein drittes gezogene Wechsel, für welche das Inland nur zur Vermittelung dient. Dieselben sind in Deutschland steuerfrei.

Transitzölle, s. v. w. Durchfuhrzölle (s. Durchfuhr und Zölle).

Transkai, Dependenz des brit. Kaplandes an der Südostküste zwischen dem Großen Kaifluß und dem Bashee, 6565 qkm (119 QM.) groß mit (1885) 119,552 Einw., worunter nur 820 Weiße.

Transkaspisches Gebiet, Gebietsteil der russ. Statthalterschaft Kaukasien, 1881 aus der transkaspischen Militärsektion (die Kreise Manyschlak und Krassnowodsk) und dem Gebiet der Tekke-Turkmenen gebildet, grenzt im W. an das Kaspische Meer, im N. an das Gouvernement Uralsk, im O. an das Chanat Chiwa, im S. an Afghanistan und Persien und hat einen Umfang von 550,629 qkm (9990 QM.) mit (1885) 301,476 Einw. Die Küste des Kaspischen Meers wird von zahlreichen Buchten zerschnitten. Im N. bilden der Mertwyi-Kultukbusen und die Kaidakbai die Halbinseln Busatschi und Manyschlak, dann folgen die Kinderkibucht, der große Busen von Karabuges, die Balkan- und die Hassankulibai. Das Land ist größtenteils Wüste und Steppe; den nördlichen Teil nimmt die wasserlose, felsige Hochebene des Ust-Urt, den großen südöstlichen die Sandwüste Karakum ein. Die mittlere Temperatur des Sommers ist 29° C., während im Winter oft weite Strecken des Kaspischen Meers sich mit Eis bedecken. Regen fällt nur ausnahmsweise, im Winter herrschen in den Wüsten oft furchtbare Schneestürme. Der Wassermangel ist groß; von Flüssen sind nur der einen Teil der Südgrenze bildende Atrek zu nennen und im SO. der Herirud und Murghab, die sich beide in der Karakumwüste verlieren. Wo aber Wasser vorhanden ist, bringt der Boden reiche Ernten an Baumwolle, Reis, Mais, Hirse, Melonen, Gurken, auch Fruchtbäume (Kirschen, Granaten, Pfirsiche, Aprikosen) finden sich an begünstigten Orten, Produkte aus dem Mineralreich sind Salz, Erdöl (allein auf der Insel Tschalcken im Schwarzen Meer gewinnt man 115,000 Pud jährlich), Schwefel, Steinkohlen. Als Haustiere sind besonders hervorzuheben: das Kamel, das Pferd (von bewundernswerter Leistungsfähigkeit und Genügsamkeit), das Schaf; von wilden Tieren finden sich Tiger, Leoparden, wilde Katzen, Füchse, Wölfe, Schakale, wilde Schweine, auf dem Ust-Urt wilde Pferde, wilde Esel u. a. Die Bewohner, Turkmenen, sind erst in den letzten Jahren durch die Russen unterworfen worden. Dieselben setzten sich zuerst 1869 am östlichen Ufer des Kaspischen Meers fest, indem sie an der Stelle eines kosakischen Fischerdorfs die Militärstation Krassnowodsk gründeten; 1871 nahmen sie Tschikisliar an der Mündung des Atrek, gaben diese Niederlassung aber bald wieder auf; doch machte Lazarew diesen Hafenplatz 1878 zum Ausgang seiner unglücklichen Expedition. Skobelew nahm 1881 Gök-Tepe, und damit kam das Tekke-Turkmenengebiet unter russische Herrschaft, 1884 unterwarf sich Merw freiwillig; durch Abkommen mit England wurde die Grenze gegen Afghanistan geregelt. Die aus Anlaß der Expedition gegen die Tekke-Turkmenen gebaute Transkaspische Eisenbahn, welche von Michailow über Kisil Arwat, Askabad, Merw nach Tschardschui führt, bietet den Russen eine vortreffliche Operationsbasis für weiteres Vorgehen nach S. Hauptort und Sitz der Verwaltung ist Askabad. Vgl. Heyfelder, Transkaspien und seine Eisenbahn (Hannov. 1887).

Transkaukasien, Gebietsteil der russ. Statthalterschaft Kaukasien (s. d.).

Transkolation (neulat.), Durchseihung.

Translation (lat.), Übertragung, Verlegung.

Translator, Übersetzer (insbesondere ein vereideter

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Transleithanien - Transmontan.

zur Übersetzung von Dokumenten etc.); translatorisch, übertragend.

Transleithanien, s. Leitha.

Translozieren (lat.), an einen andern Ort versetzen; Translokation, Versetzung.

Translunarisch (lat.), jenseit des Mondes.

Transmarin (neulat.), überseeisch.

Transmigration (lat.), Übersiedelung.

Transmission (lat.), Übersendung; im Erbrecht die Übertragung einer angefallenen, aber von dem Erben noch nicht angetretenen Erbschaft auf die Erben dieses Erben (successio in delationem); in der Technik eine Vorrichtung zur Übertragung von Kraft (Energie) von einem Motor auf eine Arbeitsmaschine oder auch von einer Kraftquelle auf einen Motor. Kraft kann auf verschiedene Weise und durch verschiedene Mittel übertragen werden, von denen einige eine Kraftübertragung auf weite Entfernungen gestatten während andre nur auf kurze Entfernungen hin Kraft abzugeben geeignet sind. Folgende Arten der T. sind in Gebrauch: 1) T. aus festen (starren oder biegsamen) Körpern: a) Wellenleitungen (mit Riementrieben, Hanfseiltrieben, Zahnrädern, Kurbeln, Exzentriks, Stangen etc.) können zur Kraftübertragung auf große Entfernungen nicht benutzt werden, weil die Kraftverluste durch Reibung mit der Entfernung so stark wachsen, daß etwa auf 2000 m Entfernung die ganze eingeleitete Kraft durch Reibung aufgezehrt wtrd, also die übertragene Kraft = 0 ist. Dagegen sind sie zur Verteilung der Kraft der Motoren auf die einzelnen Arbeitsmaschinen innerhalb der Fabriken u. Werkstätten fast ausschließlich in Anwendung (T. im engern Sinn, Fabriktransmission). b) Gestänge, d. h. lange, aus vielen Teilen zusammengefügte Stangen, welche hin und her bewegt werden, sind gleichfalls zur Fernleitung von Kraft nicht geeignet, weil sie, vertikal verwendet, zu schwer werden und als horizontale oder geneigte Gestänge vieler Unterstützungen durch Rollen oder schwingende Stangen bedürfen, welche teils die Anlage kompliziert machen, teils große Reibungsverluste herbeiführen. Sie finden zur vertikalen Kraftübertragung in Bergwerken als Pumpengestänge und Gestänge der sogen. Fahrkünste Verwendung (in ältern Bergwerken sind auch noch horizontale Gestange vorhanden). c) Der Drahtseiltrieb (s. Seiltrieb) eignet sich sowohl zur T. innerhalb einer Fabrik als auch zur Kraftübertragung in die Ferne (von einer Kraftstätte nach verschiedenen Fabriken hin bis zu 10,000 m). Seine Verwendbarkeit ist jedoch durch seine tief herabhängenden Seiltrümmer in den Fällen beschränkt, wenn diese entweder zu hohe und kostspielige Pfeiler für die Leitrollen verlangen oder über belebte Gegenden (besonders Städte) hinweggeführt werden müßten. Mit den Seiltrieben nahe verwandt sind die Seilbahnen und die Seilförderungen. d) Die Kettentransmission kann auf mäßige Entfernungen, wie sie bei Berg- und Hüttenwerken zum Materialtransport (horizontale und geneigte Kettenförderungen) vorkommen, sehr gut verwendet werden. 2) T. durch Flüssigkeiten (tropfbare oder luftförmige): a) Druckwasser, wie es entweder durch natürliche Gefälle oder durch Druckpumpen erzeugt und in Röhren bis zum Verwendungsort geführt wird, bietet ein vorzügliches Mittel zur Übertragung eines großen Druckes auf bedeutende Entfernungen dar, welches in Verbindung mit einem Akkumulator (s. d.) noch den besondern Vorzug hat, die Arbeit von verhältnismäßig wenig leistungsfähigen Motoren eine Zeitlang in solcher Menge aufspeichern zu können, daß danach auf kurze Zeit sehr hohe Leistungen hervorgebracht werden können. Hieraus erklärt sich die ausgebreitete Verwendung der hydraulischen T. bei Bahnhofs-, Hafen-, Speicheranlagen, Bessemerwerken etc. zum Betrieb von Aufzügen, Kränen, Schiebebühnen etc. Auch in Bergwerken leistet die hydraulische T. teils als hydraulische Gestänge für Pumpen, teils zum Betrieb unterirdischer Maschinen (Pumpen, Fördermaschinen, Bohrmaschinen) gute Dienste. b) Komprimierte Luft ist als kraftübertragendes Mittel für weite Entfernungen besonders da zu empfehlen, wo die Luft nach der Arbeitsleistung noch eine weitere Verwendung zur Ventilation finden kann, also besonders bei dem Bau von Tunnels und beim Bergbau zum Betrieb von Gesteinsbohrmaschinen. Ein Nachteil der Lufttransmission, welcher nicht unbedeutende Arbeitsverluste zur Folge hat, ist der Umstand, daß die Expansionswirkung der Luft in den Arbeitsmaschinen nur in beschränktem Maß angewendet werden kann, weil sonst leicht Eisbildung störend auftritt. c) Verdünnte Luft kann wegen ihres geringen nutzbaren Druckes (etwa ¾ Atmosphäre) nur für mäßige Leistungen und geringe Entfernungen zur Verwendung kommen. Mit Vorteil wird sie bei kontinuierlichen Eisenbahnbremsen gebraucht. d) Die Verwendung von gespanntem Dampf zur Kraftübertragung ist in Fabrikanlagen, also auf verhältnismäßig geringe Entfernungen, sehr gebräuchlich, aber auch für weitere Entfernungen bis 1500 m anhängig, obwohl dabei ziemlich bedeutende Kondensationsverluste auftreten. Außer bei unterirdischen Bergwerksmaschinen werden lange Dampfleitungen in amerikanischen Städten zur Kraftverteilung benutzt, in welch letzterm Fall der Vorteil erreicht wird, daß der Dampf entweder direkt oder nach der Wirkung in den Maschinen auch zu Heizzwecken Verwendung finden kann. e) Leuchtgas ist bezüglich seiner Verwendung zur Krafttransmission wegen seines hohen Preises als ein Notbehelf anzusehen. Voraussichtlich wird jedoch in Zukunft durch billiges Heizgas (Wassergas) ein vorteilhafter Ersatz geschaffen werden. 3) Die Elektrizität erscheint als das Mittel, welches von allen auf die weitesten Entfernungen Kraft übertragen kann. Dennoch sind die Entfernungen auch bei ihr nicht unbegrenzt. Auch ist die Elektrizität wegen der an den Maschinen auftretenden Funken nicht überall verwendbar (z. B. in Bergwerken mit schlagenden Wettern). Der Gesamtnutzeffekt der wichtigsten Transmissionsarten beträgt nach Lauriol:

Länge der Transmission in Metern

Art der Transmission

Elektrizität Druckwasser Komprimierte Luft Drahtseil

Nutzeffekt

100 0,647 0,54 0,45 0,96

500 0,646 0,52 0,45 0,93

1000 0,642 0,51 0,45 0,90

5000 0,610 0,47 0,42 0,60

10000 0,570 0,39 0,38 0,36

20000 0,500 0,22 0,35 0,13

Die Kosten der T. sind im allgemeinen nicht anzugeben, da sie in zu hohem Maß und in jedem einzelnen Fall von lokalen Verhältnissen abhängig sind. Vgl. Meißner-Hartmann, Die Kraftübertragung auf weite Entfernungen (Jena 1887); "Anleitung zur Einrichtung von Triebwerken" (Braunschw. 1889).

Transmissionsriemen, s. Treibriemen.

Transmitter (engl., "übersender"), s. v. w. Mikrophonsender.

Transmittieren (lat.), überschicken, übertragen.

Transmontan (lat.), jenseit der Berge, besonders der Alpen, daher s. v. w. ultramontan.

800

Transmutation - Transportschraube.

Transmutation (lat.), Umwandlung; Transmutationshypothese, s. Deszendenztheorie.

Transmutieren (lat.), umwandeln; davon transmutabel, veränderlich, umwandelbar.

Transoxanien, Land, s. Bochara, S. 97.

Transpadanische Republik, der von Bonaparte 1796 nach der Schlacht bei Lodi (10. Mai) jenseit des Po (d. h. von Italien aus, also nördlich desselben) aus der österreichischen Lombardei nach dem Muster der französischen Republik errichtete Freistaat, ward schon im Juli 1797 mit der Cispadanischen Republik zur Cisalpinischen Republik (s. d.) vereinigt.

Transparént (franz.), durchscheinend, halbdurchsichtig; besonders von Gemälden, Sprüchen etc. auf Papier oder feinem weißen Baumwollenzeug gebraucht, das, mit Öl getränkt, mittels dahinter zweckmäßig angebrachter Erleuchtung in hell glänzenden Farben erscheint.

Transparénz (lat.), s. Durchsichtigkeit.

Transpiration (neulat.), s. v. w. Hautausdünstung; transpirieren, schwitzen.

Transplantation (lat.), die Überpflanzung von Geweben auf andre Körperstellen behufs Anheilung. Die T. wird entweder bei unvollständiger oder bei vollständiger Trennung vom Mutterboden ausgeführt. Im erstern Fall vermittelt ein Stiel, welcher die Blutgefäße enthält, die vorläufige Ernährung des losgetrennten Gewebstücks, wie bei vielen "plastischen Operationen" (s. d.), z. B. der künstlichen Nasenbildung. Im andern Fall heilen die Teile auf einem geeigneten Boden ohne weiteres an und werden durch Gefäße ernährt, welche sich von dem neuen Mutterboden aus in dasselbe entwickeln. Es ist seit alters bekannt, daß ein Hahnensporn sich auf einer wund gemachten Stelle des Hahnenkammes anheilen läßt, und die Chirurgie hat von dieser Erfahrung den Gebrauch gemacht, Hautstückchen oder Haarwurzeln auf Wundflächen überzupflanzen, um diese dadurch zum Überhäuten zu bringen. Das Verfahren findet bei Unterschenkelgeschwüren ausgebreitete Anwendung. In neuester Zeit ist sogar die T. ausgeschnittener Nervenstücke an Tieren geglückt, ein Erfolg, dessen Verwertung für den Menschen ausgezeichnete Aussichten für die Heilung mancher Lähmungen eröffnet.

Nach dem Volksglauben werden auch menschliche Schwächen und Krankheiten auf Tiere und Pflanzen übertragen. Die Juden legten beim jährlichen Versöhnungsopfer alle Sünden des Volkes auf einen "Sündenbock" und jagten denselben in die Wüste. In ähnlicher Weise wurden die Teufel, welche die Besessenheit erzeugten, auf Säue übertragen, und ähnliche Zeremonien der Sünden- und Krankheitsübertragung findet man noch heute in Sibirien, China, Amerika etc. Bei den Totenfeierlichkeiten der Drawida legt man die Sünden des Verstorbenen und seines ganzen Geschlechts auf zwei Büffelkälber, die man ebenfalls in die Wüste jagt. Im Mittelalter bildete sich die Lehre von der T. zu einer besondern Heilmethode aus. Man legte kleine Tiere auf Geschwülste u. dgl. und nahm Hunde ins Bett, damit sie den "Krankheitsstoff" oder die als persönliches dämonisches Wesen gedachte Krankheit an sich ziehen sollten. Besonders üblich war aber die T. auf Pflanzen und Bäume. So glaubte man Fieber und andre Krankheiten durch bestimmte Zeremonien in hohle Bäume (Holunder) einsperren zu können, indem man das zu diesem Zwecke gebohrte Loch nachher sorgfältig zupflöckte. Auch konnte die Überweisung durch einen bloßen Spruch geschehen, oder man knüpfte die Krankheit in drei Knoten eines lebenden Weidenzweigs. Besonders üblich war das Durchkriechen (s. d.) durch zu diesem Zweck gespaltene Bäume oder durch die Wurzeln oder durch enge Spalten megalithischer Denkmäler, in dem Glauben, daß dadurch das Siechtum gleichsam von dem Baum etc. abgestreift und behalten werde. Im übrigen kam es darauf an, daß die Pflanze, welche die Krankheit übernommen hatte, lebenskräftig blieb, weil sonst ein Rückschlag zu befürchten stand, weshalb man vielfach die sehr zählebige Fetthenne (Sedum Telephium) hierzu wählte. Der Kranke mußte sie mit einem Spruch ausreißen und dann zwischen seinen Beinen wieder einpflanzen.

Transponieren (lat.), an eine andre Stelle versetzen; in der Mathematik: die Glieder einer Gleichung von der einen Seite mit entgegengesetzten Zeichen auf die andre bringen; in der Musik: ein Tonstück mit strenger Beibehaltung aller Tonverhältnisse aus einer Tonart in eine andre übertragen.

Transponierende Instrumente, solche Blasinstrumente, für welche diejenige Tonart als C dur (ohne Vorzeichen) notiert wird, welche ihrer Naturskala (Obertonreihe) entspricht. T. I. sind die Hörner, Trompeten und Klarinetten unsers Orchesters. Auf einem Horn in D klingt der als c'' notierte Ton wie d', auf einer B-Klarinette dasselbe c'' wie b'. Das Umstimmen einzelner oder aller Saiten der Violine (meist um einen Halbton nach oben), welches einige Violinvirtuosen angewendet haben (die sogen. Scordatura), verwandelt die Violine ganz oder teilweise in ein transponierendes Instrument.

Transpórt (lat.), die Fortschaffung, Wegführung von Dingen von einem Ort zum andern; in der Buchhaltung s. v. w. Übertrag (Vortrag) der Summe einer Seite auf die andre.

Transportausweis, der amtlich ausgestellte Schein, welcher Ausweis über auf dem Transport befindliche und einer besondern Steuer- oder Zollkontrolle unterstellte Waren gibt (vgl. Passierzettel).

Transporteur (franz., spr. -tör), ein mit Gradeinteilung versehener (quadrierter) Viertel-, Halb- oder Vollkreis von Metall, Papier, oft durchsichtig von Horn oder Glas, zum Nachmessen und Ablesen oder Auftragen von Winkelgraden beim geometrischen Zeichnen, auch Hilfsinstrument bei der topographischen Aufnahme mit der Bussole; oft auch wohl mit einem System von Linealen verbunden, durch deren Öffnung gleichzeitig der am Gradbogen ablesbare Winkel graphisch auftragbar gegeben wird.

Transporthäuser dienen in Österreich zum vorübergehenden Aufenthalt für Mannschaften auf Reisen von und zu ihren Truppenteilen. Die Garnison- und im Krieg auch die Feldtransporthäuser stehen unter eigner Verwaltung, während die Truppentransporthäuser von den betreffenden Truppen verwaltet werden.

Transportpapier, s. Warenpapier.

Transportschiffe, Schiffe einer Kriegsmarine, welche bestimmt sind, Truppen und Kriegsmaterial über See zu transportieren. Seemächte mit vielen und wichtigen Kolonien bedürfen derselben am meisten; gegebenen Falls werden geeignete Handelsdampfer, die bereits in Friedenszeiten zu dem Zweck designiert sind, als solche requiriert.

Transportschraube, in horizontaler oder wenig geneigter Lage in einen Kasten eingeschlossene Schraube mit steilen Schraubenflächen aus Eisen- oder Zinkblech, welche die Wand des entsprechend geformten Kastens nahezu berühren. Der Kasten besitzt an beiden Enden eine Öffnung, und die durch eine Riemenscheibe in langsame Rotation versetzte Schraube