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Staatsforstwissenschaft - Staatsrat.

Staatsforstwissenschaft, die Lehre von dem Verhältnis des Staats zu den Forsten. Zur S. gehören die Forstpolitik, welche lehrt, wie dies Verhältnis sein soll, und das Forstverwaltungsrecht, welches das rechtlich geordnete Verhältnis, wie es ist, darstellt. S. Forstpolitik u. Forstverwaltung.

Staatsgarantie, die von der Staatsregierung übernommene Bürgschaft, vermöge deren sie für die vertragsmäßige Rückzahlung und Verzinsung einer von einem Dritten gewirkten Schuld einsteht. Der hauptsächlichste Fall einer solchen S. ist der, daß der Staat, um das Zustandekommen eines im öffentlichen Interesse wünschenswerten Eisenbahnbaues zu ermöglichen, den Aktionären eine bestimmte Dividende "garantiert", d. h. alljährlich für einen gewissen Prozentsatz einsteht, für welchen er dann selbst aufzukommen hat, wenn und soweit die Einnahmen der Bahn nicht ausreichen. Auch kommt es vor, daß der Staat für die Verzinsung und Amortisation einer Anleihe einsteht, welche im Interesse einer Eisenbahnanlage kontrahiert wird. Zuweilen wird eine solche Eisenbahngarantie seitens des Staats nur auf eine bestimmte Reihe von Jahren übernommen, auch kommt dabei eine sogen. Rückgarantie vor, welche darin besteht, daß gewisse bei dem Bahnbau besonders interessierte Gemeinden, Korporationen etc. sich verpflichten, den Staat für den Fehlbetrag, für welchen er eventuell aufzukommen hat, ganz oder teilweise schadlos zu halten. In konstitutionellen Staaten ist zur Übernahme einer S. die Zustimmung der Volksvertretung nötig.

Staatsgefangene, Gefangene, welche nicht wegen eines begangenen Verbrechens durch gerichtliches Urteil der Freiheit beraubt waren, sondern die man eingekerkert hatte, weil es das Interesse des Staats oder Fürstenhauses zu fordern schien.

Staatsgerichtshof, derjenige Gerichtshof eines Landes, welcher über die gegen einen Minister erhobene Anklage wegen Verfassungsverletzung zu entscheiden hat. In England ist die Peerskammer der S., während in den meisten deutschen Staaten das oberste Gericht des Landes die Funktionen des Staatsgerichtshofs auszuüben hat oder, wie in Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg, ein besonderer Gerichtshof in solchem Fall niedergesetzt wird, und zwar in der Weise, daß Krone und Stände gleichmäßig dessen Besetzung bewirken. S. wird auch die zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden bestellte Behörde genannt, endlich auch das zur Aburteilung schwerer politischer Verbrechen bestellte Ausnahmegericht. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz (§ 136) verweist Verbrechen der letztern Art, sofern sie gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind, vor das Reichsgericht.

Staatsgewalt, s. Staat, S. 195.

Staatsgrundgesetz, s. Staatsverfassung.

Staatsgut, s. v. w. Domäne (s. d.).

Staatshandbuch (Staatsadreßbuch, Staatskalender), Namensverzeichnis der Beamten eines Staats, insbesondere die offizielle Darstellung eines Hof- und Staatswesens unter Aufführung aller oder doch der höhern Staats- und Hofbeamten unter Hinzufügung genealogischer und statistischer Notizen. Wahrscheinlich ist der französische "Almanach royal" (1679 von dem Buchhändler Laurent Houry in Paris gegründet) der Vorläufer der Staatshandbücher. Im 18. Jahrh. erschienen ähnliche Almanache nach und nach in allen, selbst in den kleinsten, europäischen Staaten sowie in den verschiedenen Gebieten des damaligen Deutschen Reichs. Die ersten darunter waren: das "Namensregister für die vereinigten Niederlande" (1700), der "Preußisch-brandenburgische Staatskalender" (seit 1704), der "Regensburger Komitialkalender" (seit 1720), der "Kursächsische Staatskalender" (seit 1728), der englische "Royal calendar" (seit 1730) etc. Auch der "Gothaische Genealogische Hofkalender" nebst "Diplomatisch-statistischem Jahrbuch" (1889 im 126. Jahrgang erscheinend) ist hier zu nennen. Wie jetzt für die meisten europäischen Staaten amtlich redigierte Staatshandbücher herausgegeben werden, z. B. für Preußen das "Handbuch über den königlich preußischen Hof und Staat", so wird auch ein "Handbuch für das Deutsche Reich" (Berl. 1876 ff.) vom Reichsamt des Innern herausgegeben.

Staatshaushalt, s. Finanzwesen und Budget.

Staatshaushaltskontrolle, die Gesamtheit derjenigen Einrichtungen, durch welche festgestellt werden soll, ob die Finanzverwaltung des Staats unter Beobachtung des Etatsgesetzes und der sonstigen gesetzlichen Schranken erfolgt ist. Die Befugnis der Volksvertretung, nach Ablauf der Budgetperiode die Staatsrechnungen zu prüfen und die Entlastung der Staatsregierung auszusprechen, ist eine notwendige Folge des Budgetrechts selbst. Dieser parlamentarischen S. geht aber regelmäßig eine Prüfung der Staatsrechnungen durch eine unabhängige Revisionsbehörde voraus, so z. B. in Preußen durch die Oberrechnungskammer (s. d.), welche auch als Rechnungshof für das Deutsche Reich fungiert. In manchen Kleinstaaten findet diese Vorprüfung durch einen Finanzausschuß des Landtags unter Zuziehung eines Finanzministerialbeamten statt.

Staatshoheit (Souveränität), die dem Staat als solchem zukommende Unabhängigkeit, vermöge deren er selbst sich die Gesetze seines Handelns gibt und an fremden Staaten nur die gleiche Unabhängigkeit zu achten hat. Die S. ist mit dem Dasein des Staats selbst gegeben, ohne daß es der völkerrechtlichen Anerkennung bedarf; vielmehr kann und muß jeder Staat die Achtung seiner S. von andern Staaten fordern. Thatsächliche Verhältnisse haben aber zur Bildung halb souveräner Staaten geführt, welche der Oberhoheit (Suzeränität) eines andern unterworfen sind; auch kommen in den sogen. zusammengesetzten Staaten Beschränkungen der S. der Einzelstaaten im Interesse des Gesamtstaats vor (s. Staat).

Staatskreditzettel, s. v. w. Schatzscheine (s. d.).

Staatskunst, s. Politik.

Staatsministerium, s. Minister.

Staatsnotrecht, s. Notrecht.

Staatspapiere nennt man alle Schuldverschreibungen, welche über die Einzelbeträge ausgestellt sind, in die eine vom Staat aufgenommene Schuld zerlegt ist. Im weitern Sinn umfassen sie auch die unverzinslichen Papiere (Papiergeld oder Staatsnoten, Kassenanweisungen), im engern nur die verzinslichen (Staatsobligationen, Staatseffekten, Schatzscheine), bez. mit Gewinnaussicht verbundenen (Prämienscheine, Losbriefe). Vgl. Staatsschulden.

Staatspraxis, s. v. w. praktische Politik.

Staatsrat, Kollegium, welches die wichtigsten Staatsangelegenheiten in gutachtliche Beratung zieht und sich über die Grundsätze für deren weitere Behandlung ausspricht. Durch das Vertrauen des Fürsten aus hochgestellten und erfahrenen Personen berufen, hat der S. die Aufgabe, Einheit in die Maßregeln der einzelnen großen Verwaltungszweige zu bringen und demnach teils die Organisation der Staatsverwaltung im ganzen, teils die Grundlagen der Gesetzgebung, teils die auswärtigen Verhältnisse

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Staatsrechnungshof - Staatsromane.

zu beraten. In Preußen (Verordnungen vom 20. März 1817 und 6. Jan. 1848) war der S. bis 1848 eine wichtige Institution, deren Bedeutung jedoch mit der Entwickelung des Konstitutionalismus nahezu aufhörte, wenn auch ein Erlaß vom 12. Jan. 1852 eine Wiederbelebung versucht hat. Auch der 1884 gemachte Wiederbelebungsversuch und die Übertragung des Vorsitzes auf den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm hatten keinen nennenswerten Erfolg. Der S. setzt sich zusammen aus den Prinzen des königlichen Hauses, sobald sie das 18. Lebensjahr erreicht haben, und aus den Staatsdienern, welche durch ihr Amt zu Mitgliedern des Staatsrats berufen sind, nämlich dem Präsidenten des Staatsministeriums, den Feldmarschällen, den aktiven Staatsministern, dem Chefpräsidenten der Oberrechnungskammer, dem Geheimen Kabinettsrat und dem Chef des Militärkabinetts. Ferner haben die kommandierenden Generale und die Oberpräsidenten, wenn sie in Berlin anwesend sind, Sitz und Stimme im S. Dazu kommen dann diejenigen Staatsdiener, welchen aus besonderm königlichen Vertrauen Sitz und Stimme im S. beigelegt ist. Derartige Ernennungen erfolgten 1884 in beträchtlicher Anzahl. Auch in Bayern, Elsaß-Lothringen, Sachsen und Württemberg besteht ein S. Vgl. Sailer, Der preußische S. (Berl. 1884). In der absoluten Monarchie, insbesondere in Rußland, ist der S. (in Rußland "Reichsrat") eine Art Ersatz der Volksvertretung. In manchen Staaten ist S. auch Titel für höhere Staatsbeamte, namentlich für die verantwortlichen Vorstände von Ministerialabteilungen, in Rußland auch für verdiente Gelehrte.

Staatsrechnungshof, s. Oberrechnungskammer.

Staatsrecht (Jus publicum) im weitern Sinn s. v. w. öffentliches Recht; im engern und eigentlichen und zwar im subjektiven Sinn wird damit unter Ausscheidung des Straf- und Prozeßrechts, des Kirchen- und Völkerrechts der Inbegriff der Rechte und Pflichten bezeichnet, welche durch das Staatswesen für die Regierung und für die Regierten im Verhältnis zueinander und für die letztern untereinander begründet, im objektiven Sinn die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundsätze, durch welche jene Rechte und Pflichten normiert werden. Je nachdem nun diese Grundsätze unmittelbar aus dem Begriff und aus dem Wesen des Staats überhaupt abgeleitet und entwickelt werden, oder je nachdem es sich um die positiven Satzungen eines bestimmten Staats, z. B. des Deutschen Reichs, handelt, wird zwischen allgemeinem (philosophischem, natürlichem) und besonderm (positivem, historischem) S., z. B. dem S. des Deutschen Reichs, unterschieden. Ferner unterscheidet man nach den Gegenständen, auf welche sich jene Satzungen beziehen, zwischen äußerm und innerm S., je nachdem es sich um die äußern Verhältnisse und um die Stellung des Staats andern Staaten gegenüber oder um innere Staatsangelegenheiten handelt. Für Deutschland insbesondere war zur Zeit des frühern Deutschen Reichs die Einteilung in Reichsstaatsrecht und Territorial- oder Landesstaatsrecht von Wichtigkeit, indem man damit die auf Verfassung und Regierung des Reichs bezüglichen Satzungen den für die einzelnen Territorien besonders gegebenen staatsrechtlichen Bestimmungen gegenüberstellte, eine Einteilung, welche nach der Errichtung des neuen Deutschen Reichs, und nachdem so die bisherige Einteilung in Bundesrecht und Landesstaatsrecht hinweggefallen, wiederum praktische Bedeutung gewonnen hat. Ferner pflegt man neuerdings aus dem S. das Verwaltungsrecht auszuscheiden, als den Inbegriff derjenigen Rechtsgrundsätze, nach welchen sich die Thätigkeit der Verwaltungsorgane in den einzelnen Fällen richtet. Dem S. (Verfassungsrecht) verbleibt alsdann die Lehre von dem Herrschaftsbereich und von der Organisation der Staatsgewalt (Monarch, Volksvertretung, Behörden, Kommunalverbände), von ihren Funktionen und von den Rechtsverhältnissen der Unterthanen. Die staatsrechtliche Litteratur, namentlich die deutsche, ist eine sehr reichhaltige. Die zahlreichen Publizisten des 16. und 17. Jahrh., unter denen besonders Pufendorf, Leibniz, Cocceji und Thomasius zu nennen sind, wurden von J. J. Moser durch die Gründlichkeit, womit er in seinen zahlreichen Schriften die verschiedenen Zweige des Staatsrechts behandelte, und von Pütter, dem größten Staatsrechtslehrer des vorigen Jahrhunderts, übertroffen, welcher auf historischer Grundlage zuerst einer systematischen Bearbeitung des Staatsrechts die Bahn eröffnete. Unter den neuern Systemen des Staatsrechts sind die von Zachariä (3. Aufl., Götting. 1865-67, 2 Bde.), Zöpfl (5. Aufl., Leipz. 1863), Held (Würzb. 1856-57, 2 Bde.), Gerber (3. Aufl., Leipz. 1880), Laband (Tübing. 1876-82, 3 Bde.), G. Meyer (2. Aufl., Leipz. 1885), Zorn (Berl. 1880-83, 2 Bde.), H. Schulze (Leipz. 1881), Kirchenheim (Stuttg. 1887) und Gareis u. Hinschius (Freib. 1887) hervorzuheben. Unter den Bearbeitungen des partikulären Staatsrechts, von welchen besonders die von Schulze (Preußen), Mohl (Württemberg), Pözl (Bayern), Milhauser (Sachsen) und Wiggers (Mecklenburg) zu nennen sind, steht Rönnes "S. der preußischen Monarchie" (4. Aufl., Leipz. 1882 ff., 5 Bde.) obenan. Ebenso ist unter den systematischen Bearbeitungen des deutschen Reichsstaatsrechts der Gegenwart das Werk von Rönne (2. Aufl., Leipz. 1877) wegen seiner Reichhaltigkeit und Gründlichkeit von Bedeutung. Um die Bearbeitung des allgemeinen Staatsrechts hat sich namentlich Bluntschli verdient gemacht, welcher in der "Deutschen Staatslehre für Gebildete" (2. Aufl., Nördling. 1880) auch eine populäre Darstellung des Staatsrechts zu geben versuchte. Vgl. außer den angeführten Lehr- u. Handbüchern des Staatsrechts: Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (Stuttg. 1875 ff.), Bd. 1. "Allgemeine Staatslehre", Bd. 2: "Allgemeines S." (6. Aufl. des frühern Werkes, welches unter diesem Titel erschien), Bd. 3: "Politik"; Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege (Tübing. 1880); Marquardsen, Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (in Einzelbeiträgen, Freib. 1885 ff.); Hirth, Annalen des Deutschen Reichs (Leipz. 1871 ff.). Encyklopädische Werke: Rotteck u. Welcker, Staatslexikon (3. Aufl., Leipz. 1856-66, 14 Bde.); Bluntschli und Brater, Staatswörterbuch (Stuttg. 1856-70, 11 Bde.); kleinere Lexika von K. Baumbach (Lpz. 1882), Rauter (Wien 1885) u. a.

Staatsromane, Schriften, welche in der Form eines Romans die Zustände und Einrichtungen eines Staats behandeln, und zwar indem sie "den realen Erscheinungen des staatlichen Lebens gegenüber ein Ideal aufstellen, welchem sie das Gewand der Wirklichkeit geben". Werke ähnlicher Art finden sich schon bei den Griechen; wir erinnern nur an Platons "Republik" und Xenophons "Kyropädie". In der modernen Litteratur eröffnete den Reigen der S. Thomas Morus' "Beschreibung der Insel Utopia (1515), der sich ein Jahrhundert später des Dominikanermönchs Thomas Campanella "Sonnenstaat" ("Civitas solis", 1620; deutsch von Grün, Darmst. 1845), J. Valentin Andreäs "Reipublicae christiano-poli-

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Staatsschatz - Staatsschulden.

tanae descriptio" (1619), Bacons "Nova Atlantis" (geschrieben um 1624), Harringtons "Oceana" (1656) u. a. anreihten. Aus späterer Zeit sind hervorzuheben: Fénelons "Télémaque" (1700) nebst Ramsays "Voyages de Cyrus" (1727); Holbergs "N. Klimii iter subterraneum" (1741); Morellys "Naufrage des îles flottantes, ou la Basiliade" (1753) und "Code de la nature" (1755); Stanislaus Leszczynskis "Entretien d'un Européen avec un insulaire du royaume de Dimocala" (1756); Fontenelles (?) "République des philosophes" (1768); Albr. v. Hallers Romantrilogie "Usong" (1771), "Alfred, König der Angelsachsen" (1773) und "Fabius und Cato" (1774); Wielands "Goldener Spiegel" (1772); Cabets "Voyage en Icarie" (1840) u.a. Vgl. R. v. Mohl, Die S. (in seiner "Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften", Bd. 1, Erlang. 1855).

Staatsschatz, s. v. w. Staatskasse, insbesondere ein Vorrat an barem Geld, welcher vom Staat für außergewöhnliche Bedürfnisse, vornehmlich zur Deckung der ersten großen Ausgaben vor Ausbruch und bei Beginn eines Kriegs zurückgelegt und unter besonderer Verwaltung gehalten wird. Ein solcher Schatz wurde früher von Herrschern im dynastischen Interesse (Perser, orientalische Fürsten) erhalten. Gegenwärtig hat nur das Deutsche Reich einen S. von Bedeutung. In Preußen, wo Friedrich Wilhelm I. einen ansehnlichen S. bildete, mußten Etatsüberschüsse, sofern über dieselben nicht anderweit durch Gesetz verfügt war, in den S. abgeliefert werden, ohne daß für die Höhe eine Grenze gesetzt war. 1866 wurde, nachdem der vorhandene Schatz für Kriegszwecke verwandt worden war, ein neuer S. im Betrag von 30 Mill. Thlr. gebildet. An dessen Stelle ist 1871 der Reichskriegsschatz (s. d.) getreten. Die volkswirtschaftlichen, teilweise aus merkantilistischen Überschätzungen des Geldes hervorgegangenen Bedenken, welche man früher gegen den S. hegte, als werde durch denselben dem Verkehr produktives Kapital entzogen, halten nicht Stich gegenüber dem Bedürfnis, bei unvermutetem Ausbruch eines Kriegs auf eine bereite Summe rasch zurückgreifen zu können, ohne durch sofortige Ausschreibung von Kriegssteuern Mißtrauen zu erregen oder sich der Gefahr auszusetzen, bei Auflegung eines Anlehens nicht die ganze gewünschte Summe zu erhalten oder dasselbe zu allzu niedrigem Kurs begeben zu müssen. Wie viele andre Güter, welche für den Fall eines Bedürfnisses bereit gehalten werden müssen, ist der S., auch wenn er keine Zinsen trägt, keineswegs als totes Kapital zu betrachten, sobald er nur seinen Zweck erfüllt. Übrigens ist die Notwendigkeit der Ansammlung eines Staatsschatzes eine durchaus relative, indem sie durch die politische Stellung des Staats, Beschaffenheit des Staatsgebiets, Ausbildung des Kreditwesens etc. bedingt ist.

Staatsschrift, s. Deduktion.

Staatsschuldbuch, amtliches Register, in welches Darlehnsforderungen an die Staatskasse in der Form von Buchschulden eingetragen werden können. Nach dem preußischen Gesetz vom 20. Juli 1883 kann der Inhaber einer Schuldverschreibung der konsolidierten Staatsanleihe gegen Einlieferung des Schuldbriefs die Eintragung dieser Schuld in das bei der Hauptverwaltung der Staatsschulden geführte S. beantragen. Dadurch entsteht eine Buchschuld des Staats auf den Namen des eingetragenen Gläubigers. Dieser Eintrag vertritt die Stelle einer Obligation. Der Gläubiger erhält zwar über den erfolgten Eintrag eine Benachrichtigung, allein diese Benachrichtigung ist auch nichts weiter als eine solche; sie repräsentiert nicht wie die Staatsobligation die Forderung selbst. Da noch ein zweites Exemplar des Staatsschuldbuchs an einem andern Ort geführt wird, so ist durch das S. der Vorteil einer absoluten Sicherheit gegeben. Das S. ist so für Stiftungen, Fideikommisse, vormundschaftliche und ähnliche Vermögensverwaltungen, aber auch für einzelne Privatpersonen von großer Wichtigkeit. Durch Löschung der Buchschuld und Ausreichung eines neuen Inhaberschuldbriefs kann der betreffenden Forderung die Zirkulationsfähigkeit wiedergegeben werden. Vgl. "Amtliche Nachrichten über das preußische S." (3. Ausg., Berl. 1888). In Frankreich wurde ein S. (Grand-livre de la dette publique) schon durch Gesetz vom 24. Aug. 1793 eingeführt.

Staatsschulden. Auch bei durchaus geordnetem Staatsleben ist eine unmittelbare Deckung der erforderlichen Ausgaben nicht immer möglich. Oft können Leistung und Gegenleistung der Natur der Sache nach sich nicht sofort begleichen, und es sind infolge dessen Kreditverträge unvermeidlich. Hieraus entspringen die sogenannten Verwaltungsschulden, d. h. diejenigen, welche aus der Wirtschaftsführung der einzelnen Verwaltungszweige hervorgehen, und die innerhalb des Rahmens der diesen Zweigen überwiesenen Kredite oder ihrer eignen Einnahmen ihre Tilgung finden (A. Wagner). Zu unterscheiden hiervon sind die Finanzschulden, d. h. solche, welche die allgemeine Finanzverwaltung macht. Dieselben werden zum Teil nur zu dem Zweck aufgenommen, um in einer Finanzperiode den Etat kassengeschäftlich durchzuführen. Einnahmen und Ausgaben sind in einer solchen Periode nicht immer gleich hoch, wenn sie sich auch summarisch begleichen. Erfolgen die Einnahmen erst später, während vorher die entsprechenden Ausgaben zu bestreiten sind, so kann man sich durch Aufnahme einer vorübergehenden Anleihe, einer sogen. schwebenden Schuld (franz. dette flottante, engl. Floating debt, flottierende Schuld, auch unfundierte Schuld genannt) helfen, deren Rückzahlung mit Hilfe jener bestimmten Einnahmen in Aussicht genommen werden kann. Die übliche Form solcher Schulden ist die Ausgabe von verzinslichen, zu festgesetzter Zeit wieder einlösbaren Schatzscheinen (s. d.). Dem Wesen nach sind hierher auch alle diejenigen Schulden zu rechnen, welche dazu dienen, um Störungen infolge unerwarteter Mindereinnahmen oder Mehrausgaben zu begleichen, die in der folgenden Finanzperiode ihre Deckung finden sollen und meist ebenfalls durch Begebung von Schatzscheinen aufgenommen werden können. Solche schwebende Schulden werden oft prolongiert und dadurch thatsächlich zu dauernden. Sie werden aber auch oft, wenn die Finanzverwaltung mehr nur die Bedürfnisse der Gegenwart ins Auge faßt, formell in bleibende oder fundierte Schulden umgewandelt. Überhaupt gehören zu den schwebenden Schulden alle kurzfristigen und stets fälligen Verbindlichkeiten, insbesondere die verschiedenen Depositenschulden, welche in Frankreich (Caisse des depôts et des consignations) einen hohen Betrag ausmachen. Ursprünglich bezeichnete man als fundierte Schulden solche, für deren Verzinsung und Tilgung bestimmte Einnahmen vorgesehen oder auch verpfändet waren. Heute, wo diese Art der Fundierung meist außer Gebrauch gekommen ist, nennt man fundierte Schulden schlechthin solche, für welche eine rasche Rückzahlung nicht vorgesehen oder eine bestimmte Tilgungspflicht nicht übernommen wird. Da grund-

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Staatsschulden (Arten der Staatsanleihen, Emission).

sätzlich die ordentlichen Ausgaben durch ordentliche Einnahmen gedeckt werden sollen, so dürfte die Aufnahme von dauernden Schulden nur in Frage kommen, wenn es sich darum handelt, Mittel zur Ermöglichung außergewöhnlicher Aufwendungen zu beschaffen, wie sie im Interesse des Schutzes und der Selbsterhaltung (Krieg) oder in demjenigen einer positiven Wohlfahrtsförderung durch Ausführung kostspieliger Unternehmungen (Meliorationen, Flußregulierungen, Bahnbau etc.) nötig werden. Da nun in solchen Fällen alle Aufwendungen tatsächlich jetzt schon gemacht werden, so sind auch alle Opfer von der Gesamtheit heute schon zu tragen, sie können nicht der Zukunft durch Aufnahme von Anlehen zugewälzt werden. Dieser Umstand gab zur Forderung Veranlassung, es sollten auch alle außerordentlichen Ausgaben durch Besteuerung gedeckt werden. Man übersieht jedoch hierbei, daß alle Ausgleichungen von Störungen des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts mit Opfern verknüpft sind, ferner daß, wenn auch bei der Steuer wie beim Anlehen die jetzt aufzulegende Last die gleiche ist, doch nicht in beiden Fällen die gleichen Personen als Träger derselben erscheinen. Die Steuer muß von allen Staatsangehörigen entrichtet werden ohne Rücksicht darauf, ob die Summen überall gleich verfügbar sind. Bei dem freiwilligen Anlehen werden dagegen vorwiegend die disponibleren Summen angeboten. Strömt bei demselben auch Kapital aus dem Ausland zu, so führt die augenblickliche örtlich-persönliche Übertragung der Last auch für das ganze Volk zu einer zeitlichen, indem die jetzige Aufwendung von einer spätern Generation bei der Tilgung getragen wird. Was hier von Volk zu Volk, das tritt im andern Fall von Klasse zu Klasse ein. Insofern kommt auch hier eine zeitliche Überwälzung der Last vor. Eine solche Überwälzung ist an und für sich gerechtfertigt, wenn den spätern Steuerträgern auch die Vorteile der außerordentlichen Aufwendung zu gute kommen. Zu ungunsten der Besteuerung kann noch weiter der Umstand sprechen, daß die Veranlagung derselben praktisch immer unvollkommen ist, Ungleichmäßigkeiten aber um so schwerer empfunden werden, je höher die Steuer ist. Hiernach kommen bei der Frage, ob Anlehen oder Besteuerung, im wesentlichen die Wirkung der Steuerauflegung und die der außerordentlichen Aufwendung in Betracht. Ist letztere sehr hoch, und kommt sie den spätern Staatsangehörigen vorzüglich zugute, so ist das Anlehen, im andern Fall die Besteuerung am Platz. Da nun ersteres die Möglichkeit der Lastenüberschiebung bietet, so gibt es allerdings leicht Veranlassung zu unwirtschaftlichen Mehrausgaben, welche unterblieben wären, wenn man sie sofort hätte decken müssen. Für das Anlehen wird weiter geltend gemacht, daß dasselbe Gelegenheit zu sicherer Kapitalanlage biete, infolgedessen zu Fleiß und Sparsamkeit anrege und in den Gläubigern konservative staatserhaltende Kräfte schaffe, während freilich damit auch die Bildung müßiger Rentnerexistenzen veranlaßt wird.

Arten der Staatsanleihen. Emission.

Man unterscheidet freiwillige und erzwungene oder Zwangsanleihen. Zu letztern rechnet man die Einziehung von Bank- und Kautionskapitalien, Einstellung fälliger Zahlungen, erzwungene Steuervorschüsse, die eigentlichen Zwangsanleihen mit Zins- und Tilgepflicht, dann auch die Ausgabe von Papiergeld. Die eigentlichen Zwangsanleihen, früher auch patriotische Anleihen genannt, kommen beider heutigen Kreditentwickelnng nur noch selten vor, und man greift in der Not schon lieber zum Mittel der Ausgabe von Papiergeld (s. d.). Letzteres bildet jedoch als unverzinsliche Schuld ein verlockendes, deshalb aber auch gefährliches Mittel. Der Verkehr wird jeweilig bis zu einer gewissen Menge Papiergeld willig annehmen, ohne daß der Kurs unter pari sinkt. Dies geschieht jedoch, sobald jene Grenze überschritten wird, ohne daß dafür gesorgt ist, daß die überschüssige Menge bei vorhandenen Einlösungsstellen wieder zurückfließen kann. Der Zwangskurs führt somit von jener Grenze ab zur Entwertung, welche für Geldwesen, Verkehr und Staatskredit gleich schädlich ist. Die freiwilligen Anlehen sind innere, wenn sie im Inland aufgelegt werden, was jedoch nicht ausschließt, daß sich bei denselben auch fremdes Kapital beteiligt. Die äußern Anlehen werden im Ausland aufgenommen und lauten dann auf fremde Währung oder auf mehrere in ein festes Verhältnis zu einander gesetzte Geldsorten. Bei unentwickeltem Kredit müssen den Gläubigern besondere Sicherheiten bestellt werden. Dies geschah früher durch Verpfändung von Domänen und Landesteilen, durch "Radizierung" von Verzinsung und Tilgung auf bestimmte Einnahmequellen, welche auch oft den Gläubigern zur eignen Verwaltung überwiesen wurden. In modernen Kulturstaaten mit entwickeltem Kredit ist die Verpfändung nicht mehr nötig. An ihre Stelle tritt der allgemeine auf Reichtum des Volkes u. Vertrauenswürdigkeit seiner Regierung gegründete Staatskredit, von dessen Höhe Zins und Emissionskurs abhängen.

Die Begebung (Emission) von Staatsanleihen erfolgt entweder auf direktem Weg, indem der Staat sich unmittelbar an die Kapitalisten wendet, oder indirekt, indem der Staat sich der Zwischenhändler bedient. Im erstern Fall kann der Staat die Anlehenspapiere (Staatsschuldscheine, Staatspapiere) auf eigne Rechnung durch Agenten und Makler gegen Provision verkaufen (Kommissionsanleihe, weil das Zusammenbringen der Zeichnungen in Kommission gegeben wird), was bei kleinen Beträgen anwendbar ist, bei großen leicht einen Kursdruck bewirkt, oder er befolgt das französische System des beständigen Rentenverkaufs durch Hauptsteuereinnehmer, welche das Recht haben, Inskriptionen im großen Buch vorzunehmen und Schuldtitel auszustellen, oder endlich, er beschreitet bei großem Bedarf den Weg der Auflegung zur allgemeinen öffentlichen Subskription. Bei letzterer werden die Kapitalbesitzer unmittelbar aufgefordert, an bestimmten Stellen (Zeichen-, Subskriptionsstellen) ihre Erklärung zur Beteiligung an dem Anlehen in vorgeschriebener Weise kundzugeben und gegen meist ratenweise Einzahlung die betreffenden Dokumente in Empfang zu nehmen. Wird der geforderte Betrag überzeichnet, so findet gewöhnlich eine Reduktion nach Verhältnis der gezeichneten Summen statt. Die indirekte Emission (Negoziation) kommt meist in der Form der Submission vor. Der Staat fordert größere Geldinstitute, bez. Bereinigungen von solchen (Konsortien) auf, ein Angebot zu stellen, leiht die erforderliche Summe von demjenigen, welcher sich unter sonst gleich günstigen Bedingungen mit dem geringsten Gewinnsatz begnügt, also den höchsten Kurs zahlt, und überliefert ihm hierauf die bedungenen Obligationen, welche der Darleiher bei dem Publikum durch Subskription, Verkauf an der Börse oder sonst unter der Hand zu möglichst hohem Kurs auf eigne Rechnung unterzubringen sucht. Der gewöhnlich in Prozenten des Anleihekapitals ausgedrückte Gewinn, den hierbei der Übernehmer der Anleihe er-

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Staatsschulden (Kündigung, Tilgung, Konversion).

zielt, heißt Bonus. Derselbe kann um so kleiner sein, je größer der Staatskredit und je mehr Kapital auf dem Geldmarkt zur Verfügung steht. Auch können die Unternehmer, statt unmittelbar die Obligationen an den Staat zu bezahlen, die Garantie für ein bestimmtes Minimalerträgnis übernehmen. Diese Form der Emission bietet den Vorteil, daß die gewünschte Summe vollständig beschafft wird und alle einzelnen Punkte in Bezug auf Zahlung, Raten und Fristen von vornherein festgestellt werden können. Dagegen kommt sie leicht sehr teuer, wenn die Darleiher wegen hohen Risikos auf hohen Gewinn rechnen müssen. Darum wird, wenn die Summe nicht plötzlich ihrem vollen Betrag nach aufzubringen ist und der Kredit des Darlehensnehmers einen hohen Emissionskurs anzusetzen gestattet, ohne daß aus einem submissionsweisen Unterbieten erhebliche Vorteile zu erwarten wären, die direkte Emission am Platze sein. In besonders kapitalreichen Ländern, welche der Garantie durch Bankiers nicht bedürfen, werden mit der Subskription überhaupt leicht günstigere Erfolge erzielt.

Die Anlehenspapiere werden meist unter pari begeben, so daß der wirkliche Zinssatz unter den Nominalzinsfuß zu stehen kommt. Je höher der vom Nominalbetrag gewährte Zins, um so höher kann der Emissionskurs sein. Ob nun ein niedriger Nominalzinsfuß mit geringem oder ein hoher mit hohem Kurs vorzuziehen ist, hängt im wesentlichen von der Art der Tilgung und den Schwankungen des landesüblichen Zinssatzes ab. Ist ein Sinken des Zinses wahrscheinlich und Gefahr vorhanden, daß der Staat kündigt, sobald der Kurs über pari gestiegen ist, so wird die Neigung größer sein, Papiere zu nehmen, die zu geringem, als solche, die zu hohem Nominalzins ausgeboten werden. Infolgedessen werden Papiere der erstern Art zu verhältnismäßig höherm Kurs begeben werden können. Allerdings wird damit auch die Tilgung erschwert, indem bei der Einlösung der Nennbetrag zurückzuzahlen ist.

Die Staatsschuldscheine lauten entweder auf den Inhaber oder auf Namen. Im letztern Fall werden die Namen der Besitzer im Staatsschuldbuch (s. d.) eingetragen. Die Übertragung auf Dritte erfolgt durch Umschreibung, kann aber auch durch Ausgabe von Certifikaten (s. d.) erleichtert werden. Einzelne Staaten besorgen auf Wunsch die Umwandlung von Inhaberpapieren in Namenpapiere und umgekehrt (vgl. Außerkurssetzung). Die Papiere selbst bestehen aus der eigentlichen Schuldurkunde und, wenn sie periodisch auszuzahlende Zinsen tragen, aus dem meist mit einem Talon versehenen Kouponbogen (s. Koupon). Der Nominalbetrag lautet auf abgerundete Summen, und zwar sind die Appoints so zu wählen, daß auf genügende Beteiligung desjenigen Publikums gerechnet werden darf, dessen Zuziehung als erwünscht erscheint.

Kündigung. Tilgung.

Die Staatsschuld kann sein 1) eine von beiden Seiten aufkündbare. Eine solche kann zur Bedrängnis der Finanzverwaltung führen. Sie ist deshalb um so weniger zu empfehlen, als die Erfahrung lehrt, daß den Gläubigern ein freies Kündigungsrecht nicht eingeräumt zu werden braucht; 2) eine von beiden Seiten unaufkündbare und zwar entweder mit festem Rückzahlungstermin oder ohne solchen. In die letztere Klasse gehört die echte ewige Rente, welche nur dadurch getilgt werden kann, daß die Rententitel an der Börse zurückgekauft werden; in die erstere Klasse gehören die temporären oder Zeitrenten, wie die eigentlichen Zeitrenten oder Annuitäten (s. d.), durch deren Zahlung in bestimmter Frist das Kapital verzinst und getilgt wird, dann dem Wesen der Sache nach die Leibrenten und Tontinen (s. Rente), ferner die Lotterieanlehen (s. Lotterie) sowie diejenigen Obligationen, bei denen bestimmte Tilgungstermine festgesetzt sind und durch Verlosung die zu tilgenden Serien und Nummern festgestellt werden. Die Schuld kann endlich auch sein 3) eine nur vom Staat, nichts aber auch vom Schuldner jederzeit aufkündbare (terminable, amortisierbare Anlehen, deren Titel gewöhnlich schlechthin Obligationen genannt werden). Hierher sind auch viele Rentenschulden zu rechnen wie z. B. die englischen Konsols, deren Rentenverschreibungen (bonds) sich auf eine bestimmte Kapitalsumme beziehen, zu welcher der Staat jederzeit einlösen kann. Bisweilen wird auch eine Minimal- und eine Maximalfrist für die Rückzahlung bestimmt, innerhalb deren die Verwaltung freie Hand hat. Eine Verpflichtung zur Tilgung zu bestimmter Zeit kann für die Finanzverwaltung sehr lästig werden. Die Tilgung kann dann leicht zu einem Zeitpunkt stattfinden, in welchem keine Mittel verfügbar oder gar zu großen außerordentlichen Aufwendungen Anlehen aufgenommen werden müssen. Alsdann kann leicht der Fall eintreten, daß nicht allein neue Schulden lediglich zu dem Zweck gemacht werden müssen, um alte heimzuzahlen, sondern daß auch neue Anlehen unter ungünstigern Bedingungen abgeschlossen werden. Aus diesem Grund empfiehlt es sich auch nicht, einen besondern Tilgungsfonds (s. d.) zu bilden, sondern vielmehr jeweilig Tilgungen vorzunehmen, wenn die Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Allerdings wäre im Interesse eines geordneten Staatshaushalts schon bei Aufstellung des Budgets darauf zu sehen, daß auch wirklich vorteilhafte Tilgungen stattfinden können. Andernfalls würde Schuld auf Schuld gehäuft und eine unbillige Lastenabwälzung bewirkt. Für die technische Erledigung der Geschäfte, welche sich an die Staatsschulden anknüpfen, sind besondere Stellen erforderlich, und zwar können hierfür entweder besondere Behörden und Kassen (Staatsschuldenverwaltung, Amortisations-, Schuldentilgungskasse) eingerichtet oder auch Banken mit der Besorgung beauftragt werden. Für Kontrolle der Staatsschuldenverwaltung werden in mehreren Staaten aus den Mitgliedern der Volksvertretung besondere Staatsschuldenkommissionen gebildet. Ist der Staat nicht durch einen Verlosungsplan oder überhaupt durch einen Vertrag an die Tilgung gebunden, und hat er freies Kündigungsrecht, so kann er Obligationen aufrufen und zum Nominalbetrag heimzahlen oder dieselben durch Agenten an der Börse aufkaufen lassen. Ersteres empfiehlt sich, wenn bei sinkendem Zinsfuß der Kurs der Papiere über pari steigt, letzteres, wenn bei niedrigem Kurs verfügbare Geldbestände in der genannten Weise vorteilhaft verwendet werden können.

Konversion. Statistisches.

Kündigungen sind nicht allein am Platz, wenn Schulden getilgt werden sollen, sondern auch wenn der Staat in der Lage ist, neue Anlehen zu günstigern Bedingungen aufzunehmen, insbesondere wenn der Staatskredit gestiegen oder der landesübliche Zinsfuß gesunken ist. In diesem Fall kann der Staat Zinsherabsetzungen (Zinsreduktionen), bez. Schuldumwandlungen (Konversionen, Rentenkonversionen) durch Änderung von Schuldbedingungen, welche die Zinsenlast verringern, vornehmen. Solche Konversionen oder Reduktionen sind dann angezeigt, wenn bei gu-

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Staatssekretär - Staatsverbrechen.

tem Kredit des Staats der Kurs über pari gestiegen, mithin Geld zu einem niedrigern Zins zu haben ist. Zur sichern Durchführung der genannten Maßregel ist es nötig, daß die Finanzverwaltung der Einwilligung der meisten Gläubiger gewiß ist und die nötigen Mittel bereit gehalten werden, um die erforderlichen Heimzahlungen vollständig bewirken zu können. Hierauf werden die Gläubiger öffentlich aufgefordert, ihren Willen zu erklären. Diejenigen, welche den neuen Bedingungen zustimmen, erhalten für die alten Obligationen, falls dieselben nicht nur einfach abgestempelt werden, neue mit entsprechenden Kouponbogen, die übrigen Schuldtitel werden gegen bar eingelöst. Meist wird, um die Gläubiger der Konversion geneigt zu stimmen, noch eine besondere Konversionsprämie in einem Prozentsatz der umzutauschenden Summe zugestanden. Solche Konversionen sind dann unmöglich, wenn der Staat sich an einen bestimmten Tilgungsplan gebunden hat oder die Kündigung überhaupt ausgeschlossen ist; sie werden unvorteilhaft, wenn das Anlehen zu einem zu niedrigen Nominalzinsfuß und damit auch zu niedrigem Kurs begeben worden ist. Die Zinsreduktionen werden oft mit der Konsolidation oder Schuldzusammenziehung verbunden, d. h mit Operationen, durch welche mehrere Anlehen verschiedener Benennung und mit verschiedenen Nominalzinsfüßen in eine einzige mit nur einem Zinsfuß zusammen verbunden werden. Dieser Umstand hat dazu Veranlagung gegeben, daß die Worte Konversion, Zinsreduktion und Konsolidation oft als gleichbedeutend gebraucht werden. Die Konvertierung kann auch unter der Form der Arrosierung auftreten. Unter letzterer ist jede Nachzahlung zu verstehen, welche zu dem Zweck gemacht wird, um bereits bestehende Ansprüche behaupten zu können. So verlangte Österreich 1805 und 1809 Nachzahlungen von den Inhabern von Schuldscheinen, welche ihrer Forderungsrechte überhaupt nicht verlustig gehen wollten. Die Arrosierungsanlehen können jedoch auch den Charakter freier Übereinkunft behaupten. Steigt der Zinsfuß erheblich, während der Kurs vorhandener, zu niedrigem Nominalzinsfuß abgeschlossener Anlehen stark sinkt, so kann die Möglichkeit einer spätern Zinsreduktion und einer Tilgung dadurch geschaffen werden, daß der Nominalzinsfuß erhöht wird und zudem Ende die Gläubiger zu Zahlungen aufgefordert werden. Gewaltsame Ermäßigung von Zins und Schuldsumme ohne Einverständnis der Gläubiger nennt man Staatsbankrott (s. d.).

In den meisten Ländern ist bei der gegebenen Lage der Finanzverwaltung (fortwährend steigende Ausgaben) an eine erfolgreiche Tilgung der Schulden nicht zu denken. Letztere sind vielmehr seit Ende vorigen Jahrhunderts stetig gestiegen. Eine genaue Vergleichung der Schulden verschiedener Länder und Zeiten ist zwar unmöglich; doch bieten die Zahlen nachfolgender Tabelle immerhin einen brauchbaren Inhalt für die Beurteilung im allgemeinen. Unter der Hauptsumme von 91,794 Mill. Mk. (für 1880) sind 6984 Mill. Mk. Eisenbahnschulden. Auf Deutschland allein entfallen davon 2700 Mill. Mk., so daß unter den Großstaaten Deutschland verhältnismäßig am günstigsten gestellt ist. Die Ausgaben für Verzinsung und Tilgung der[e] Schuld waren in Millionen Mark 1885: in Frankreich 1067, England 591, Rußland 521, Italien 436, Österreich-Ungarn 372, Spanien 219, Vereinigte Staaten 201, Niederlande 58, Preußen 182, Bayern 51, Sachsen 31, Württemberg 17, Deutsches Reich 17. Es betrugen die S. (in Millionen Mark) in:

Länder...................1787 1816 1846 1874 1880

Frankreich.............1500 1680 3300 18126 24798

Großbritannien.......4800 16990 16080 15690 14834

Spanien..................600 2250 3600 7200 10333

Italien.....................240 900 1200 7830 10006

Österreich-Ungarn... 690 1800 2490 7290 7992

Rußland...................600 2400 1800 6700 7211

Türkei - - - 2250 5727

Deutschland ...........240 1020 900 3150 4821

Portugal ..................60 240 480 2160 1745

Belgien .................. - - 450 564 1633

Niederlande...........1500 2700 2400 1520 1579

Rumänien..............- - - 120 377

Griechenland..........- - 120 212 277

Schweden................18 24 30 144 220

Dänemark................46 108 330 270 194

Serbien...................- - - - 28

Norwegen................- 26 16 40 17

Zusammen:............10294 30058 33196 75266 91794

Regelmäßige Angaben über die S. aller Länder der Erde liefert das "Diplomatisch-statistische Jahrbuch des Gothaischen Hofkalenders". Vgl. Nebenius, Der öffentliche Kredit (2. Aufl., Karlsr. 1829); Baumstark, Staatswissenschaftliche Versuche über Staatskredit, Steuern und Staatspapiere (Heiden. 1833); Hock, Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Eug. Richter, Das preußische Staatsschuldenwesen (Bresl. 1869); Salings Börsenpapiere, finanzieller Teil (12. Aufl., Berl. 1888).

Staatssekretär, der Chef eines Verwaltungsressorts. Wenn man auch den Ausdruck S. vielfach gleichbedeutend mit Minister gebraucht, so besteht zwischen beiden im konstitutionellen Staatswesen doch ein wichtiger Unterschied, indem der Minister der Volksvertretung verantwortlich ist, der S. nicht. Der Minister hat eine politische, der S. eine geschäftliche Stellung. Im Deutschen Reich ist der Reichskanzler der alleinige verantwortliche Minister. Die Chefs der einzelnen Reichsämter, die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Reichsamtes des Innern, des Reichsjustizamtes, des Reichsschatzamtes und des Reichspostamtes haben keine selbständige politische Stellung. Den Staatssekretären des Auswärtigen und des Innern sind Unterstaatssekretäre beigegeben. In Preußen führen die Vertreter der verantwortlichen Minister den Amtstitel Unterstaatssekretär. In Elsaß-Lothringen führt der unter dem Statthalter stehende Chef des Ministeriums den Titel S. Die Chefs der einzelnen Ministerialabteilungen heißen Unterstaatssekretäre.

Staatsservituten (öffentliche Servituten), dauernde Beschränkungen der Staatshoheit eines unabhängigen Staatswesens im Interesse und zugunsten eines andern Staats oder sonstigen Berechtigten. In diesem Sinn wurde früher z. B. das dem Haus Thurn und Taxis zustehende Postrecht in den einzelnen deutschen Staaten als Staatsservitut bezeichnet. Auch die Verpflichtung, fremde Truppen auf bestimmten Etappenstraßen durch das eigne Staatsgebiet marschieren zu lassen, gehört hierher.

Staatssozialismus, diejenige soziale Richtung, welche unter Befestigung der Machtstellung der Monarchie von der letztern eine Hebung der Lage der Arbeiter, insbesondere aber eine Einschränkung der Herrschaft der Bourgeosie und des beweglichen Kapitals erwartet. Vgl. Arbeiterfrage, S. 752, und Sozialismus.

Staatsstreich, s. Revolution.

Staatsverbrechen, s. Majestätsverbrechen.

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Staatsverfassung - Stabel.

Staatsverfassuug, Inbegriff der Bestimmungen, welche den Zweck eines Staats (s. d.), die dazu bestehenden Einrichtungen, Formen, Grenzen und Inhaber der Staatsgewalt und deren Verhältnisse zu den Staatsbürgern bezeichnen und regeln; dann Bezeichnung eines umfassenden Gesetzes (Konstitution, Charte, Grundgesetz), in welchem die Staats- und Regierungsform eines Landes verbrieft, auch der Urkunde selbst, welche darüber aufgenommen ist. Je nachdem eine solche S. einseitig von dem Staatsbeherrscher gegeben oder nach vorgängiger Vereinbarung mit Vertretern des Volkes erlassen worden ist, wird zwischen oktroyierter und paktierter (vereinbarter) Verfassung unterschieden. Insbesondere spricht man in der konstitutionellen Monarchie im Gegensatz zur absoluten von der bestehenden S., wonach der Monarch in der Gesetzgebung an die Zustimmung von Vertretern der Staatsbürger gebunden ist, sei es, daß diese nur für einzelne bevorrechtete Klassen (ständische Verfassung) oder daß sie zur Vertretung des ganzen Volkes berufen sind (Repräsentativsystem). Über die verschiedenen Arten der S. (Staatsformen) s. Staat.

Staatsvertrag, das zwischen zwei selbständigen Staaten getroffene völkerrechtliche Übereinkommen. Ein solches kann verschiedene Angelegenheiten betreffen, in welchen befreundete Staaten miteinander in Beziehung treten, so z. B. Rechtshilfe, Auslieferung von Verbrechern u. dgl. Besonders wichtig sind die Handels- und Schiffahrtsverträge. In konstitutionellen Staaten ist zum Abschluß von Staatsverträgen in der Regel die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich. Nach der deutschen Reichsverfassung bedürfen Verträge über Gegenstände, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, zu ihrem Abschluß der Zustimmung des Bundesrats und zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung des Reichstags.

Staatsverwaltung, s. Verwaltung.

Staatswirtschaft, die Wirtschaft des Staats, umfaßt alle Thätigkeiten und Veranstaltungen, welche zur Befriedigung von Staatsbedürfnissen dienen, wird im engern Sinn auch oft als mit der Finanzverwaltung identisch betrachtet (vgl. Finanzwesen).

Staatswirtschaftslehre, Lehre von der Wirtschaft des Staats, Finanzwissenschaft, auch als gleichbedeutend mit Volkswirtschaftslehre (s. d.) gebraucht.

Staatswissenschaften (Kameralwissenschaften), im allgemeinen Bezeichnung für diejenigen Wissenschaften, deren Gegenstand der Staat ist. Sie sind teils erzählende und beschreibende (historische), teils erörternde (dogmatische), teils philosophische und teils politische. Zu der erstern Kategorie gehören die Statistik oder Staatenkunde, welche dermalige Zustände und Einrichtungen schildert, und die Staatengeschichte. Die staatswissenschaftliche Dogmatik dagegen behandelt systematisch Zweck, Wesen und Eigenschaften des Staats und seine rechtlichen Beziehungen, und zwar sowohl diejenigen unter den Staaten selbst (Völkerrecht) als diejenigen zwischen der Staatsgewalt und den Staatsangehörigen sowie zwischen den letztern untereinander (Staatsrecht). Sie handelt ferner von den Mitteln zur Erreichung des Staatszwecks (Verwaltungsrecht, Polizei- und Finanzwissenschaft). Die dogmatische Staatswissenschaft hat einen gegebenen Staat und dessen positive Satzungen zum Gegenstand, während die Staatsphilosophie nicht das, was ist, sondern das, was nach der Staatsidee sein soll, ins Auge faßt, und so entsteht namentlich der Gegensatz zwischen positivem und allgemeinem philosophischen Staats- und Völkerrecht. Die politische Behandlungsweise endlich betrachtet den Staat, seine Mittel und seine Zwecke vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit aus, und eben dadurch wird das Gebiet der Politik ebenso wie dasjenige der Volkswirtschaftslehre (Nationalökonomie) staatswissenschaftlich abgegrenzt.

Stab (lat. Scipio), im Altertum Auszeichnung für ältere Personen oder Könige (s. Zepter); außerdem war der S. in besonderer Form auch gewissen Priesterschaften, namentlich den Augurn, die damit die Weltgegenden bezeichneten, beigelegt, worauf ihn später in der christlichen Kirche der Bischof symbolisch als Hirt der Gemeinde trug (Hirtenstab, Bischofstab). Den S. als Attribut und Gerät der Zauberer (Zauberstab) führte schon im alten Chaldäadie "Dame (Göttin) des magischen Stabes", sodann Moses, Zoroaster und in der griechischen Mythe Hermes, der mit Hilfe desselben "Schlummer gibt und enthebt". Auch ist der S. Zeichen der richterlichen und oberherrschaftlichen Gewalt und trägt dann an der Spitze die Hand als Schwur- oder Machtsymbol. - Als Ellenmaß war ein S. in Frankreich = 1,188 m, in Berlin = 1,75 Ellen, in Frankfurt a. M. = 2,166 Ellen. - In der Baukunst, und im Kunsthandwerk (Möbeltischlerei) ist S. ein rundes Glied von verschiedener Form: als Astragal, Rundstab, gebrochener S. (s. Figur), gewundener S., gewunden mit Hohlkehlen etc. (vgl. Viertelstab).

[Gebrochener Stab.]

Stab (franz. État-major), die zu dem Kommando eines Truppenteils gehörigen Personen. Man unterscheidet den Oberstab (Offiziere und im Offiziersrang stehende Beamte), z. B. beim Bataillon: den Kommandeur, den Adjutanten, Arzt und Zahlmeister, und den Unterstab: die Schreiber, Ordonnanzen, Büchsenmacher u. dgl. Höhere Stäbe sind diejenigen der Armeen, Korps und Divisionen, welche neben einer größern Zahl von Offizieren etc. noch Geistliche, Auditeure, Post-, Kassen-, Proviant- und andre Beamte, dann zum Botendienst im Frieden die Stabsordonnanzen, zur Sicherung im Felde die Stabswachen umfassen. Vgl. Generalstab.

Stabat mater (lat., "die Mutter [Jesu] stand [am Kreuz]"), Anfangsworte eines geistlichen Textes in lateinischen Terzinen, der als sogen. Sequenz (s. d.) in der katholischen Kirche, besonders am Feste der sieben Schmerzen Mariä, gesungen wurde und wahrscheinlich von dem Minoriten Jacopone da Todi herrührt. Von den Kompositionen desselben sind die berühmtesten die von Palestrina, Pergolese und Astorga, aus neuerer Zeit die von Jos. Haydn, Winter und Rossini. Vgl. Lisco, Stabat mater (Berl. 1843).

Stäbchenalgen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen, s. Algen, S. 343.

Stäbchenbakterie, s. Bacterium.

Stabeisen, Schmiedeeisen in Stabform, auch Eisen- oder Stahlstangen von gleichmäßigem Querschnitt.

Stabel, Anton von, bad. Staatsmann, geb. 9. Okt. 1806 zu Stockach, studierte in Tübingen und Heidelberg die Rechte und trat 1828 in den Staatsjustizdienst. 1832 wurde er zum Obergerichtsadvokaten und Prokurator in Mannheim, 1838 zum Mitglied des dortigen Hofgerichts, 1841 zum Hofgerichtsrat und in demselben Jahr zum Professor der Jurisprudenz in Freiburg ernannt. 1845 wurde er Hofgerichts-

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Staberl - Stachel.

präsident in Freiburg, 1847 Vizekanzler des Oberhofgerichts in Karlsruhe und 1849 Präsident der Ministerien des Innern und der Justiz im sogen. Reaktionsministerium; er machte sich um die Reform der Justiz sehr verdient. Nachdem er 1850 Mitglied des Erfurter Parlaments gewesen, trat er 1851 wieder als Oberhofrichter an die Spitze des obersten Gerichtshofs und ward 1853 zum Mitglied und Vizepräsidenten der Ersten Kammer ernannt. Als Berichterstatter der Kommission der Ersten Kammer über das Konkordat in der Landtagssession 1859-1860 wies er nach, daß für dasselbe gemäß der Verfassung die ständische Zustimmung unerläßlich sei. Als infolgedessen das Konkordatsministerium Meysenbug-Stengel stürzte, ward S. im April 1860 zum Minister der Justiz und des Auswärtigen und 1861 zum Präsidenten des Ministeriums und Staatsminister ernannt. Er leitete nun die badische Kirchengesetzgebung und schuf die vortreffliche badische Gerichtsverfassung. Im Juli 1866 in Ruhestand versetzt, trat er Anfang 1867 nochmals als Justizminister in das Ministerium Mathy ein, schied aber nach dessen Tod 1868 wieder aus und zog sich in das Privatleben zurück. 1877 in den erblichen Adelstand erhoben, starb er 22. März 1880 in Karlsruhe. Er verfaßte mehrere bedeutende juristische Schriften: "Vorträge über das französische und badische Zivilrecht" (Freiburg 1843); "Vorträge über den bürgerlichen Prozeß (Heidelb. 1845); "Institutionen des französischen Zivilrechts" (Mannh. 1871, 2. Aufl. 1883) u. a.

Staberl, stehend gewordene Figur der Wiener Lokalposse, welche einen Wiener Bürger des Mittelstands (Parapluiemacher) darstellt, der sich in fremdartigen Verhältnissen zwar ungelenk benimmt, aber durch Mutterwitz sich immer zu helfen weiß; von A. Bäuerle (s. d.) erfunden.

Stabheuschrecken, s. Gespenstheuschrecken.

Stabiä, alte Stadt in Kampanien, zwischen Pompeji und Surrentum, beim heutigen Castellammare (s. d.), wurde im Bundesgenossenkrieg von Sulla zerstört, dann als Badeort wiederhergestellt, der bei dem Ausbruch des Vesuvs mit Herculaneum und Pompeji zugleich verschüttet ward. Einige Gebäude der alten Stadt wurden im vorigen Jahrhundert (seit 1749) ausgegraben; die aufgefundenen Kunstwerke befinden sich in Neapel.

Stabil (lat.), beständig, nicht veränderlich; stabilieren, festigen, fest begründen; Stabilismus, das Beharren beim Bestehenden, Herkömmlichen.

Stabilität (lat.), in der Mechanik das Vermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüber selbständig zu behaupten, s. Standfähigkeit. Allgemeiner gebraucht man S. für Beständigkeit, Unveränderlichkeit, Beharren in dem Bestehenden.

Stablo, belg. Stadt, s. Stavelot.

Stabmessung (Stäbchenmessung), s. v. w. Bakulometrie (s. d.).

Stabrecht, das (zuweilen dem Gutsherrn oder der Gemeinde zustehende) Recht, fremde Schafe hüten, weiden und düngen zu lassen, während man mit Stabgemeinschaft lediglich das Verhältnis derjenigen bezeichnet, welche sich für ihre Schafe gemeinschaftlich einen Hirten halten.

Stabreim, s. Allitteration.

Stabsapotheker, s. Feldapotheker.

Stabschrecken, s. v. w. Stabheuschrecken.

Stabsführer, s. Führer.

Stabskapitän, früher militär. Rangklasse, etwa dem heutigen 13. Hauptmann entsprechend.

Stabsoffiziere, militär. Rangklasse, welche die Obersten, Oberstleutnants und Majore, in der Marine den Kapitän zur See und Korvettenkapitän umfaßt.

Stabsquartier, s. v. w. Hauptquartier.

Stabswachen, beim Militär die den mobilen höhern Stäben dauernd zugeteilte Mannschaft zum Sicherheits- und Ordonnanzdienst: bei der Division 8 Mann Infanterie, 4 Reiter; beim Armeekorps 1 Offizier, 52 Mann, 26 Reiter.

Stabtierchen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen (s. Algen, S. 343).

Stabübungen, den Freiübungen verwandte Turnübungen mit einem jetzt meist eisernen Stab von 1 m Länge und 1½ -2 cm Stärke, hauptsächlich durch Otto Jäger (s. d. 4) zu mannigfaltiger Verwendung gekommen, besonders im Schulturnen. Über das Springen mit langen Stäben s. Stangenspringen. Vgl. Zettler, Die Schule der S. (Leipz. 1887); Mayr, Übungen mit langen Stäben (Hof 1887).

Stabwurz, s. Artemisia.

Stabziemer, s. Drossel.

Staccato (ital., abgekürzt stacc., "abgestoßen"), eine musikalische Vortragsbezeichnung, welche fordert, daß die Töne nicht direkt aneinander geschlossen, sondern deutlich getrennt werden sollen, so daß zwischen ihnen wenn auch noch so kurze Pausen entstehen. Über die verschiedenen Arten des S. beim Klavierspiel, Violinspiel etc. s. Anschlag und Bogenführung. Das S. beim Gesang besteht in einem Schließen der Stimmritze nach jedem Ton; seine virtuose Ausführung ist sehr schwer. Entsprechend wird das S. bei den Blasinstrumenten durch Unterbrechung des Atemausflusses (stoßweises Blasen) hervorgebracht.

Stachel (Aculeus), in der Botanik jede mit einer starren, stechenden Spitze versehene, durch Umwandlung aus Haargebilden, Blättern oder ganzen Sprossen hervorgehende Bildung, auch die Dornen (spinae) umfassend. Die Stacheln treten bald nur als Anhangsgebilde fertig angelegter Organe an Blättern oder Stengeln auf (Haut- oder Trichomstacheln), oder sie entstehen durch Umwandlung von ganzen Blättern oder Blattteilen (Blatt- oder Phyllomstacheln), oder sie stellen selbständig umgewandelte Sprosse (Dornen oder Kaulomstacheln) dar. Die Hautstacheln sind bald einzellige Haarbildungen, bald vielzellige Gewebekörper oder Zwischenbildungen beider; bald gehen sie nur aus der Epidermis hervor, wie bei der Brombeere, bald beteiligt sich auch das unter der Oberhaut liegende Rindengewebe, das Periblem, an ihrer Bildung, wie bei dem S. der Rose. In den meisten Fällen sind die Hautstacheln gefäßlos, bisweilen, z. B. bei den Stacheln auf den Kapfeln des Stechapfels und der Roßkastanie, führen sie Gefäßbündel. Übergangsbildungen zwischen den Haut- und Blattstacheln finden sich bei den Kakteen, deren Stacheln aus den Vegetationspunkten der Achselknospen wie wahre Blätter, jedoch ohne deren Entwickelungsfähigkeit, hervorgehen. Unter den Blattstacheln bilden sich einige durch Metamorphose von Nebenblättern, z. B. die Stacheln der Robinie; andre gehen aus umgewandelten Blattteilen hervor (Blattzahnstacheln), wie die Stacheln der Stechpalme, welche Gefäßbündel und Blattparenchym enthalten. Eine dritte Gruppe besteht aus denen, die durch Umwandlung eines ganzen Blattes entstehen, wie die gefiederten Stacheln von Xanthium oder die dreigeteilten Stacheln der Berberitze, aus deren Achseln Laubsprosse entspringen. Ebenso verschieden ist auch der Ursprung der Kaulomstacheln oder Dornen; es können überzählige Knospen, wie bei Genista, Ulex, Gleditschia, oder auch normale Achselknospen, wie bei Ononis, zu Stacheln auswachsen

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Stachelbeerstrauch - Stachelschwein

Die höchste Form der Stachelbildung tritt bei vielen Pomaceen und Amygdalaceen, besonders bei Arten von Crataegus und Prunus ein; hier wandelt sich ein ganzer blatttragender Zweig in einen S. um. Auch kann umgekehrt durch Kultur der S. wieder als blatttragender Zweig erscheinen. Auch der Hauptsproß erzeugt unter Umständen, wie bei Rhamnus cathartica, durch Verholzung des Vegetationspunktes einen endständigen S. Im allgemeinen zeigt sich, daß der Begriff des Stachels durchaus nicht durch ein einheitliches morphologisches Merkmal zu bestimmen ist, sondern daß hier wie überall die Pflanze die verschiedensten morphologischen Glieder demselben physiologischen Zweck anzupassen weiß. Die biologische Aufgabe der Stacheln besteht teils darin, als Schutzorgan der Pflanze gegen die Angriffe weidender Tiere zu dienen, teils in der Rolle eines Verbreitungsmittels, insbesondere bei stachligen Früchten, die in dem Haar- oder Federkleid von Tieren hängen bleiben und dadurch weiter transportiert werden; endlich sind auch Beziehungen zwischen stacheltragenden Pflanzen und insektenfressenden Vögeln, wie den Würgerarten, bekannt, die ihre Beute an den Stacheln von Dornsträuchern aufzuspießen pflegen. Vgl. Delbrouck, Die Pflanzenstacheln (Bonn 1875). Bei Tieren ist der S. eine Waffe zur Verteidigung oder zum Angriff, aber auch zur Anbohrung von Pflanzen, Erdreich etc., um die Eier hineinzulegen (Legestachel). Besonders verbreitet bei den Insekten (Bienen, Wespen etc.): häufig fließt durch ihn ein in besonderer Drüse bereitetes Gift in die Wunde (Giftstachel); stets sitzt er am Ende des Hinterleibes, nie am Munde (die Stechvorrichtungen der Mücken, Wanzen etc. sind Mundteile und heißen Stechborsten, nicht Stacheln). Beim Stachelschwein sind die Stacheln Haargebilde, bei Fischen umgewandelte Flossenstrahlen. Vgl. auch Echinodermen.

Stachelbeerstrauch (Ribitzel, Grossularia Mill.), Untergattung der Gattung Ribes (Familie der Saxifragaceen), Sträucher mit sehr verkürzten Zweigen, meist dreiteiligen Dornen an der Basis derselben, büschelförmig gestellten Blättern und einzeln oder in arm-, selten reichblütigen Trauben stehenden Blüten. Der gemeine Stachelbeerstrauch (Krausbeere, Klosterbeere, R. Grossularia L.), mit meist dreiteiligen Stacheln, drei- bis fünflappigen Blättern, 1-3 grünlichgelben Blüten an gemeinschaftlichem Stiel und grünlichweißen oder roten Früchten, ist wahrscheinlich im nordöstlichen Europa heimisch, wo er in Norwegen bis 63° nördl. Br. vorkommt, und findet sich bei uns vielfach verwildert. Linné u. a. unterscheiden drei Arten: R. uva crispa, mit schließlich unbehaarten, grünlichen oder gelben Früchten, im Norden; R. Grossularia, niedriger, behaart, sehr stachlig, mit behaarten, grünlichen oder gelben Früchten, in den Alpen, in Griechenland, Armenien, auf dem Kaukasus, Himalaja, seltener bei uns verwildert; R. reclinatum, mit roten, glatten Früchten, aus dem Kaukasus, vielleicht bei uns verwildert. Die meisten Kultursorten dürften von der ersten Art abstammen, die roten von den letztern; doch werden auch viele Blendlinge kultiviert. Der S. wächst am besten in lockerm, nahrhaftem Boden in freier, aber geschützter Lage; man pflanzt ihn meist auf Rabatten, doch darf er nicht zu dicht und nicht unter hohen Bäumen stehen. Im Spätherbst oder im zeitigen Frühjahr schneidet man allzu lange oder schlecht gestellte Zweige wie auch Wurzelschößlinge fort, nach dem Fruchtansatz gibt man zweimal einen Düngerguß und pflückt zu dicht hängende Beeren aus; man vermehrt ihn durch Stecklinge aus vorjährigen, im Herbst geschnittenen Trieben oder durch Wurzelausläufer und gewinnt die besten Früchte von einstämmig erzogenen Kronenbäumchen, welche durch Unterdrücken der Seitentriebe und Wurzelsprosse, sehr gut und dauerhaft durch Okulieren und Kopulieren auf R. aureum zu erziehen sind. Empfehlenswerte Sorten sind: rote: Alexander, Blood hound, Farmer's Glory, Jolly Printer, Over all; grüne: Early green hairy, Freecost, Green Willow, Nettle green; gelbe: Britannia, Bumper, Golden, Smiling Beauty, Yellow Lion; weiße: Balloon, Large hairy, Ostrich White. Queen Mary, Sämling von Pausner. Über die Zusammensetzung der Stachelbeeren s. Obst. Der Strauch wird zuerst in einem französischen Psalmenbuch des 12. Jahrh. als Groisellier, die Frucht vom Trouvère Rutebeuf im 13. Jahrh. erwähnt. Gegenwärtig ist die Stachelbeere eine Lieblingsfrucht der Engländer, welche vorzügliche Sorten erzogen haben. Man benutzt sie auch viel zur Bereitung von Obstwein. Mehrere amerikanische Stachelbeersträucher werden bei uns als Ziersträucher kultiviert.

Stachelbeerwein, s. Obstwein.

Stachelberg, Bad im schweizer. Kanton Glarus, in romantischer Lage des Linththals, 664 m ü. M., mit heilkräftiger Schwefelquelle (7,7° C.), jetzt zugänglicher durch die Bahnlinie Glarus-Schwanden-Linththal. Vgl. König, Bad S. (Zürich 1867).

Stachelflosser, s. Fische, S. 298.

Stachelhäuter, s. Echinodermen.

Stachelkümmel, s. Cuminum.

Stachelmohn, s. Argemone.

Stachelnuß, s. Datura.

Stachelschwamm, s. Hydnum.

Stachelschwein (Hystrix L.), Gattung aus der Ordnung der Nagetiere und der Familie der Stachelschweine (Hystrichina), sehr gedrungen gebaute Tiere mit kurzem Hals, dickem Kopf, kurzer, stumpfer Schnauze, kleinen Ohren, kurzem, mit hohlen, federspulartigen Stacheln besetztem Schwanz, verhältnismäßig hohen Beinen, fünfzehigen Füßen, stark gekrümmten Nägeln und ungemein stark entwickeltem Stachelkleid. Das gemeine S. (Hystrix cristata L., s. Tafel "Nagetiere II"), 65 cm lang, mit 11 cm langem Schwanz, 24 cm hoch, hat auf der Oberlippe glänzend schwarze Schnurren, längs des Halses eine Mähne aus starken, rückwärts gerichteten, sehr langen, gebogenen, weißen oder grauen Borsten mit schwarzer Spitze, auf der Oberseite verschieden lange, dunkelbraun und weiß geringelte, scharf gespitzte, leicht ausfallende Stacheln und borstige Haare, an den Seiten des Leibes kürzere und stumpfere Stacheln, am Schwanz abgestutzte, am Ende offene Stacheln, an der Unterseite dunkelbraune, rötlich gespitzte Haare. Die dünnen, biegsamen Stacheln werden 40 cm, die starken nur 15-30 cm lang, aber 5 mm dick; alle sind hohl oder mit schwammigem Mark gefüllt. Das S. stammt aus Nordafrika und findet sich jetzt auch in Griechenland, Kalabrien, Sizilien und in der Campagna von Rom. Es lebt ungesellig am Tag in langen, selbstgegrabenen Gängen, sucht nachts seine Nahrung, die in allerlei Pflanzenstoffen besteht. Alle Bewegungen des Stachelschweins sind langsam und unbeholfen, nur im Graben besitzt es einige Fertigkeit. Im Winter schläft es tagelang in seinem Bau. Vollkommen harmlos und unfähig, sich zu verteidigen, erliegt es jedem geschickten Feind. Es ist stumpfsinnig, aber leicht erregbar. Gereizt grunzt es, sträubt die Stacheln und rasselt mit den-

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Stachelschweinaussatz - Stadion.

selben, wobei oft einzelne ausfallen, was zu der Fabel Veranlassung gegeben hat, daß es die Stacheln fortschießen könne. In der Not rollt es sich wie ein Igel zusammen. Die Paarung erfolgt im Frühjahr, und 60-70 Tage nach der Begattung wirft das Weibchen in einer Höhle 2-4 Junge, deren kurze, weiche Stacheln sehr bald erhärten und ungemein schnell wachsen. In der Gefangenschaft wird es leicht zahm, hält sich gut, pflanzt sich auch fort, bleibt aber stets scheu und furchtsam. Italiener ziehen mit gezähmten Stachelschweinen von Dorf zu Dorf. Man ißt sein Fleisch und benutzt die Stacheln zu mancherlei Zwecken. Die Bezoarkugel eines ostindischen Stachelschweins war früher als Heilmittel hochgeschätzt. Stachelschweine mit Wickelschwanz, welche andern Gattungen angehören, leben als Baumtiere in Amerika.

Stachelschweinaussatz, s. v. w. Fischschuppenkrankheit (s. d.).

Stachelschweinholz, s. Cocos.

Stachelschweinmenschen, an Ichthyosis oder Fischschuppenkrankheit (s. d.) Leidende.

Stachelzaundraht, Drahtlitzen mit in kurzen Abständen eingeflochtenen kurzen, spitzigen Draht- oder Blechstückchen oder aus zackig ausgeschnittenem Bandeisen, dient zu billigen Einfriedigungen.

Stachine, Fluß, s. Stikeen.

Stackelberg, Otto Magnus, Freiherr von, Archäolog und Künstler, geb. 25. Juli (a. St.) 1787 zu Reval, studierte in Göttingen, machte hierauf eine Kunstreise durch Südfrankreich, Oberitalien und sein eignes Vaterland, ging 1808, um die Malerei zu erlernen, nach Dresden, dann nach Rom und unternahm von da aus 1810-14 mit Brönstedt u. a. eine Expedition nach Griechenland und Kleinasien, auf der er mit seinen Gefährten die äginetischen Statuen und die Reste des Apollontempels zu Bassä (Phigalia) auffand. Seine Zeichnungen des letztern samt der Umgebung sind seinem Werk "Der Apollotempel zu Bassä (Berl. 1826) beigefügt. Eine andre Frucht dieser Reise sind die "Costumes et usages des peuples de la Grèce moderne" (Rom 1825). Von Rom aus unternahm er später Reisen nach Großgriechenland, Sizilien und Etrurien, wo er 1827 die etrurischen Hypogäen von Corneto entdeckte, bereiste dann Frankreich, England und die Niederlande und starb 27. März 1837 in Petersburg. Noch sind von seinen Arbeiten hervorzuheben: "La Grèce, vues pittoresques ettopographiques" (Par. 1830, 2 Bde.); "Trachten und Gebräuche der Neugriechen" (Berl. 1831-1835, 2 Abtlgn.) und besonders "Die Gräber der Hellenen in Bildwerken und Vasengemälden" (das. 1836-37, mit 80 Tafeln). Eine Biographie Stackelbergs nach seinen Tagebüchern und Briefen veröffentlichte seine Tochter Natalie v. S. (Heidelb. 1882).

Slackh., bei botan. Namen Abkürzung für John Stackhouse, geb. 1740, gest. 1819 in Bath (Algen).

Stade, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks der preuß. Provinz Hannover, an der schiffbaren Schwinge und der Eisenbahn Harburg-Kuxhaven, hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, verbunden mit Realprogymnasium, ein Schullehrerseminar, eine Taubstummenanstalt, einen Historischen Verein (für Bremen und Verden), eine königliche Regierung, ein Konsistorium, ein Landratsamt, ein Landgericht, ein Hauptsteueramt, einen Ritterschaftlichen Kreditverein, eine Handelskammer, Eisengießerei, Maschinen-, Schiff- und Mühlenbau, Tabaks- und Zigarrenfabrikation, Brennerei, Bierbrauerei, Färberei, Ziegeleien, Schiffahrt, lebhaften Handel und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbataillon Nr. 75 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 9) 9997 meist evang. Einwohner. In der Nähe viele Ziegeleien sowie ein Gipslager und bei dem Dorf Kampe eine Saline. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die elf Amtsgerichte zu Bremervörde, Buxtehude, Freiburg, Harburg, Jork, Neuhaus a. O., Osten, Otterndorf, S., Tostedt und Zeven. - S. erscheint schon im Anfang des 10. Jahrh. als der Stammsitz eines gräflichen Geschlechts, das 1056 auch in den Besitz der sächsischen Nordmark gelangte, sie fast ein Jahrhundert behielt und 1168 ausstarb. Von den Welfen Kaiser Otto IV. und seinem Bruder, dem Pfalzgrafen Heinrich, ward S. 1202 erobert, fiel aber um 1204 an Bremen zurück, nachdem es von Otto IV. umfangreiche Freiheiten erhalten hatte. In diese Zeit fällt die Einführung des Elbzolles. 1648 im Westfälischen Frieden ward es Schweden zuerkannt und zur Hauptstadt des Fürstentums Bremen gemacht. 1676 von den Hannoveranern, 1712 von den Dänen erobert, kam es 1719 nebst dem Bistum Bremen an Hannover. 1807 ward es Westfalen einverleibt, 1810 von Napoleon I. in Besitz genommen, 1813 aber von den Alliierten an Hannover zurückgegeben und von diesem wieder zur Festung gemacht und 1816 neu befestigt. Hannover mußte den Elbzoll durch Vertrag vom 22. Juni 1861 gegen eine Entschädigung von 2,857,338 Thlr. aufheben (s. Elbe, S. 503). Am 18. Juni 1866 wurde die Festung S. von den Preußen ohne Kampf genommen und fiel dann mit dem übrigen Hannover an Preußen. Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Hannover etc.") umfaßt 6786 qkm (123,25 QM.), zählt (1885) 325,916 Einw. (darunter 320,329 Protestanten, 4118 Katholiken und 1126 Juden) und besteht aus den 14 Kreisen:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Achim 286 5,19 19973 70

Blumenthal 174 3,16 19224 110

Bremervörde 579 10,52 16760 29

Geestemünde 630 11,44 33656 53

Hadeln 326 5,92 17086 52

Jork 167 3,03 21097 126

Kehdingen 378 6,87 20214 53

Lehe 633 11,50 28797 45

Neuhaus a. Oste 522 9,48 28474 55

Osterholz 479 8,70 27736 58

Rotenburg i. Hann 816 14,82 19282 24

Stade 725 13,17 34536 48

Verden 409 7,43 25257 62

Zeven 662 12,02 13824 21

Stadel, in Süddeutschland s. v. w. Scheune; auch Vorrichtung zum Rösten der Erze (s. Rösten).

Städelsches Institut, s. Frankfurt a. M., S. 500.

Staden, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, Kreis Friedberg, an der Nidda, hat eine evang. Kirche, ein Schloß und (1885) 376 Einw. Stadion, uraltes Adelsgeschlecht, dessen Stammschloß S. ob Küblis in Graubünden jetzt Ruine ist, und das sich später in Schwaben an der Donau niederließ; von Walter von S. (Stategun) an, der als habsburgischer Landvogt von Glarus 1352 im Kampf gegen die Glarner fiel, läßt sich die Geschichte des Geschlechts genau verfolgen. Die bemerkenswertesten Sprößlinge desselben sind: Christoph von S., Bi-

211

Stadium - Stadt.

schof von Augsburg, geb. 1478, ein Freund Kaiser Maximilians I. und Ferdinands I., aber auch Melanchthons, mit dem er in Verkehr wegen der Reformation der Kirche und Wiedervereinigung der beiden christlichen Kirchen stand; starb 1543. Johann Kaspar von S., Hochmeister des Deutschen Ordens, österreichischer Kriegspräsident und Feldzeugmeister, zeichnete sich besonders 1634 in der Schlacht bei Nördlingen aus. Johann Philipp von S., Staatsminister von Kurmainz, geb. 1652, war die Seele aller Reichsgeschäfte, 1711 Botschafter bei der Wahl Karls VI. und Gesandter des rheinischen Kreises beim Utrechter und Badener Friedenskongreß. Mit ihm ward das Geschlecht 1705 in den Reichsgrafenstand erhoben. Er starb 1741 und ward durch seine beiden Söhne der Stifter der jetzt noch blühenden Fridericianischen und Philippinischen Linie. Ersterer gehörte an Johann Philipp Karl Joseph, Graf von S., geb. 18. Juni 1763. Derselbe hatte auf deutschen Hochschulen eine tüchtige Bildung erhalten, war 1788 österreichischer Gesandter zu Stockholm, 1790 bis 1792 zu London, trug 1797 nicht wenig dazu bei, die durch die polnischen Teilungen zwischen Österreich und Preußen entstandene Spannung zu heben, betrieb, seit 1804 Botschafter in Petersburg, eifrig die Bildung der dritten Koalition und folgte 1805 dem Kaiser Alexander I. zur Armee. Von reichsritterlichem Stolz und echt deutschem Patriotismus erfüllt, haßte er Napoleon aus ganzer Seele. Nach dem Preßburger Frieden mit dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten betraut, hatte er die Absicht, Österreich im Innern zu reorganisieren, seine äußere Macht wiederherzustellen und es an die Spitze des wieder befreiten Deutschland zu bringen. Er löste die drückenden Geistesfesseln, förderte den Gemeinsinn und betrieb vor allem die Reform des Heerwesens und die Bildung einer Landwehr. Das plötzliche Erscheinen eines deutschen Patriotismus in Österreich beim Beginn des auf seinen Antrieb unternommenen Kriegs von 1809 war Stadions Werk. Der unglückliche Ausgang des Kriegs nötigte ihn, dem Grafen Metternich im Ministerium Platz zu machen; doch ward er schon 1812 wieder nach Wien berufen und erhielt nach der Schlacht bei Lützen eine Sendung zu Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. Nach dem Frieden mußte er sich abermals dem schwierigen Auftrag der Herstellung der Finanzen unterziehen. Die Ausgaben des Staats wurden beschränkt und genau bestimmt und die Steuerverfassung nach vernünftigen Grundsätzen geregelt. Er starb 18. Mai 1824 in Baden bei Wien. Franz Seraph, Graf von S., zweiter Sohn des vorigen, geb. 27. Juli 1806, trat früh in den Staatsdienst ein und zeichnete sich namentlich als Administrativbeamter aus. In Triest und Galizien, wo er 1846 an die Spitze der Verwaltung trat, sicherte er sich ein dankbares Andenken. Nach Niederwerfung der Wiener Revolution trat er mit Schwarzenberg und Bach ins Ministerium vom 21. Nov. 1848 und vertrat hier die freisinnigere Richtung. Schon im Mai 1849 aber mußte er wegen eines Körperleidens zurücktreten; er starb in Geisteszerrüttung 8. Juni 1853. Vgl. Hirsch, Franz Graf S. (Wien 1861). Sein Neffe Philipp, Graf von S., geb. 29. Mai 1854, ist jetzt das Haupt der Fridericianischen Linie; die Philippinische wird repräsentiert durch Friedrich, Grafen von S., geb. 13. Dez. 1817, erblichen Reichsrat der Krone Bayern.

Stadium (griech. Stadion), bei den Alten Längenmaß, eine Strecke von 600 griech. Fuß, aber thatsächlich von schwankender Länge; das Itinerarstadium (s. d.) war jedenfalls kleiner, und man kann es bis in die Mitte des 2. Jahrh. v. Chr. auf etwa 1/50 geogr. Meile ansetzen. Das olympische S. betrug ungefähr 1/40 Meile. In der römischen Kaiserzeit rechnete man 7,5 Stadien auf eine römische Meile. Ursprünglich bezeichnete das Wort die für den Wettlauf bestimmte Rennbahn von der angegebenen Länge, namentlich die zu Olympia (s. d., mit Plan), nach der die andern eingerichtet wurden. Die Konstruktion des Stadiums erkennt man deutlich aus vielen noch vorhandenen Ruinen. Demnach war es der Länge nach durch mehrere Richtungssäulen in zwei Hälften geteilt und eine oder mehrere Seiten desselben oft mit Benutzung des Terrains mit aufsteigenden Sitzreihen versehen. An einem der schmalen Enden wurde die Bahn in der Regel von einem Halbkreis eingeschlossen, in dem sich die Plätze für die Kampfrichter (Hellanodiken) und die vornehmern Zuschauer befanden, und wo auch die übrigen Wettkämpfe stattfanden. Bei den Römern kamen die Stadien zu Cäsars Zeit auf und wurden hier auch zu andern Vergnügungen, namentlich zu Tierhetzen, benutzt. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet man mit S. jeden einzelnen Abschnitt in dem Verlauf oder der Entwickelung einer Sache.

Stadler, Maximilian, Abbe, Kirchenkomponist, geb. 7. Aug. 1748 zu Melk in Unterösterreich, genoß seine musikalische Ausbildung vorwiegend als Zögling des Wiener Jesuitenkollegiums, trat dann in das Benediktinerstift seines Geburtsorts, ward 1786 zum Abt von Lilienfeld und drei Jahre später zum Abt und Kanonikus von Kremsmünster ernannt. Nachdem er 1791 von dieser Stelle freiwillig zurückgetreten war, lebte er bis zu seinem Tod 8. Nov. 1833 in Wien, als Mensch und Künstler hochgeachtet und mit allen musikalischen Berühmtheiten seiner Zeit in lebhaftem Verkehr stehend. Unter seinen zahlreichen durch kontrapunktische Gewandtheit ausgezeichneten Kompositionen sind besonders sein Oratorium "Die Befreiung Jerusalems", ein großes Requiem und Klopstocks "Frühlingsfeier" hervorzuheben.

Stadt (Stadtgemeinde), größere Gemeinde mit selbständiger Organisation und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten. Verschiedene Merkmale, welche früher für den Unterschied zwischen S. und Dorf oder zwischen Stadt- und Landgemeinde von Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wie die alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welche früher einem Ort im Gegensatz zum platten Lande den städtischen Charakter verliehen, so hat sich auch der Unterschied zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung des städtischen Bürgers und des Landmanns mehr und mehr verwischt. Die Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehr schlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sind heutzutage volkreicher als kleine Landstädtchen mit vorwiegend landwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger. Beseitigt sind ferner durch die moderne Gesetzgebung die einstige Ausschließlichkeit des zunftmäßigen Gewerbebetriebs innerhalb des städtischen Weichbildes und das Recht der Stadtgemeinde, innerhalb der städtischen Bannmeile jeden für den städtischen Verkehr nachteilige Gewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst den städtischen Gemeinden ausschließlich zukam, ist jetzt auch größern Landgemeinden (Marktflecken) zugestanden. Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet des Handels und der Industrie findet sich nicht mehr ausschließlich und in manchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in den Städten. Dagegen besteht noch in verschiedenen Staaten in Ansehung der Gemeindeverfassung ein

14*

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Stadt (Entwicklung des Städtewesens).

erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); doch auch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr oder weniger beseitigt.

Die Entwickelung des Städtewesens.

Die ersten Städte wurden unter den mildern Himmelsstrichen Asiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens gegründet. In Griechenland erhielten sie sich meist ihre volle Selbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten. Bei den Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als feste Plätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Bei den Etruskern und Latinern gab es schon früh städtische Niederlassungen, zunächst mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet und durch Bündnisse geeint, bis sich Rom zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzen zivilisierten Welt machte und unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reich zu führen wußte. Während bei den Kelten, ja auch bei den Slawen die Sitte des städtischen Zusammenwohnens von Anbeginn wohlbekannt war, fehlte den alten Germanen jede Neigung zum Stadtleben. Die ersten Städte in Deutschland verdankten vielmehr den Römern ihre Entstehung; sie erwuchsen meist aus den am Rhein und an der Donau angelegten Lagern und Kastellen. So entstanden: Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Bingen, Koblenz, Remagen, Bonn, Köln, Xanten, Utrecht, Leiden im Rheinthal; im Gebiet der Donau: Augsburg, Regensburg, Passau, Salzburg und Wien.

Später ging mit der Ausdehnung des Deutschen Reichs über den slawischen Osten die Entwickelung des Städtewesens Hand in Hand. Um die zum Schutz der deutschen Landschaft angelegten Burgen entstanden städtische Niederlassungen, wie sie zuerst Heinrich I., den man den Städtegründer genannt hat, begründete; ihm verdanken Quedlinburg, Merseburg und Goslar ihren Ursprung. Seinem Beispiel folgten die Markgrafen der östlichen Gebiete. Als Beamte erscheinen in größern Orten Burggrafen, in kleinern Schultheißen, in bischöflichen Vögte. In Orten, wo sich eine altfreie Einwohnerschaft erhalten hatte, erlangte diese in der Folgezeit das Übergewicht in der städtischen Verwaltung. Hier übten Schöffen die Rechtspflege aus; es gab einen Rat mit einem Schultheißen oder, wie in Köln, mit zwei Bürgermeistern an der Spitze. Die Rechte des Reichs nahm daneben ein Burggraf wahr, wozu in Bischofstädten noch der Vogt trat. Die glänzendste Entwickelung aber haben die königlichen Pfalzstädte genommen, aus deren bevorrechteter Stellung allmählich die Reichsfreiheit erblühte (s. Reichsstädte). Dagegen blieben die fürstlichen Städte, welche meist von den Fürsten selbst gegründet waren, noch lange und viele für immer unter der Territorialhoheit derselben. Doch auch hier besteht wenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihren Schultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo dann die herzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben und Sachsen, haben sich die fürstlichen Städte zur Reichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängiger die Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb des Reichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei der Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, so war die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge. Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen und schwäbischen Städte und besonders die Hansa, welche sogar den Norden Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehen vermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne Klassen durch Handel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern ab und suchten möglichst allein die Leitung der städtischen Angelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge, daß die Handwerker sich in Zünfte organisierten und um Beteiligung am Stadtregiment sich bemühten. Sie erhielten denn auch meist einige Stellen oder eine besondere Bank im Rat. An den deutschen Reichstagen nehmen die Reichsstädte vereinzelt schon seit Wilhelm von Holland teil; Ludwig der Bayer hat sie mehr herangezogen, doch wird ihre Beteiligung an jenen Versammlungen erst seit 1474 regelmäßig. Seit dem 16. Jahrh. bilden die Reichsstädte neben den Kurfürsten und Fürsten eine besondere Körperschaft auf den Reichstagen. Die Auffindung des Seewegs nach Ostindien und die Entdeckung Amerikas habenden deutschen Handel schwer geschädigt und den Mittelpunkt der merkantilen Interessen nach dem Westen, nach Spanien, Holland und England, verlegt. Verheerend schritt dann der Dreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, und unter seiner blutigen Geißel erstarb die Blüte der einst so mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verloren ihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte der Fürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergang entgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen Revolution gab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nach der Auflösung des Deutschen Reichs bis auf vier, 1866 bis auf drei, Hamburg, Bremen und Lübeck, welche noch jetzt selbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren. Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte der Fürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller und glänzender entwickelte, je entschiedener die Fürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland wurde. Im 19. Jahrh. aber hat nicht nur der Bau von Eisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau, in der Fabrikthätigkeit und im Handel dem Städtewesen in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte, welche im Mittelpunkt wichtiger Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau- und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung bisweilen verzehnfacht.

Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesen frühzeitig in Italien genommen. Die einzelnen Einwohnerklassen traten in Vereinigungen zusammen, so in Mailand die vornehmen Lehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben zu Ende des 11. Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung und Gerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte den Anspruch erhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zu ernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 das Wahlrecht der Konsuln zugestehen. Diese wurden dann vom König oder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit den Regalien belehnt. Neben jenen Beamten finden sich häufig ein Rat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeine Bürgerversammlung (parlamentum). Seit dem 13. Jahrh. wurde es Sitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter dem Titel "Podestà" die militärische und richterliche Gewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien, ein Großer und ein Kleiner Rat, fungierten. Auch die Handwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten, bildeten Innungen und organisierten sich unter Consules oder einem eignen Podestà oder Capitano del popolo als besondere Gemeinde neben den Adelsgeschlechtern. Diese Rivalität unter den einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impuls durch die Parteiungen der Guelfen und Ghibellinen.

213

Stadt (Bevölkerungsverhältnisse).

In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtische Freiheit

verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen in Italien wiederum

einen erfreulichen Aufschwung.

In Südfrankreich findet anfangs eine

ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibt es Consules,

Ratskollegien und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auch die

erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter sind die Baillis, denen

die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In den bischöflichen

Städten von Nordfrankreich traten die untern Stände zu Vereinigungen

(Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfe auf und fanden

dabei bei den Königen lebhafte Unterstützung. Diese vertraten den

wohlwollenden Grundsatz, daß jede "Kommune" unter dem König stehe,

obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (des alten Francien)

nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte finden sich in diesen Städten:

ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Als die Macht des

Königtums wuchs, wurde die städtische Selbstverwaltung mehr und mehr

eingeschränkt.

In England sind die Städte teils auf keltischen, teils

auf römischen Ursprung zurückzuführen. Sie besaßen in der

angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit und Selbständigkeit, berieten

ihre Angelegenheiten in eigner Versammlung und standen unter

Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerung haben sich schon früh

Vereinigungen (Gilden) gebildet, welchen die Pflicht gegenseitiger

Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hatten Statuten und

eigne Vorsteher. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen wurden

die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerieten in Abhängigkeit

von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15. Jahrh. erhielten

sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch haben sie auch

schon früher bei der eigenartigen Entwickelung der englischen Verfassung

Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten gewonnen. Ihnen wurden

bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihre Zustimmung

auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnen selbst

überlassen. In der Magna Charta ist jedoch nur London und sieben andern

Städten oder Häfen ein Recht der Teilnahme am Parlament

zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städte bisweilen auf 200, doch

hing die Berufung der städtischen Abgeordneten von der Willkür der

Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam für die Vertreter der

Städte die Bezeichnung "Gemeine" (communitas totius regni Angliae) auf;

sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälaten ein zweites

Kollegium und erhielten einen Sprecher. Ihr Hauptrecht war die

Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen, andre zwei

Vertreter zur Versammlung der Gemeinen, wozu im 14. Jahrh. noch zwei

Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh., besonders

aber seit den Zeiten Elisabeths, hob sich mit dem wachsenden Wohlstand

der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischen Städte hat jedoch

erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt und Industrie

einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn noch zu Ende des

17. Jahrh. gab es außer London, das damals ½ Mill. Einwohner zählte,

nur zwei Städte (Bristol und Norwich) mit 30,000 und vier andre mit mehr

als 10,000 Einw.

Bevölkerungsverhältnisse.

Naturgemäß bildet die S. vorzüglich den Standort für Handel und Gewerbe,

welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinem Flächenraum nicht

allein gestatten, sondern in derselben eine vorzügliche Stütze für

Gedeihen und Weiterentwickelung finden, während die auf die Bebauung der

Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuung der

Bevölkerung über das ganze Land hin bedingt. Land und S. versorgen

einander gegenseitig. Demnach können große Städte, welche stets der

Zufuhr von Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.) bedürfen, nur

bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für sie genügend entwickelt

sind. Darum sind solche Städte früher vornehmlich an Meeresküsten und

schiffbaren Strömen entstanden. Zwar hatte auch das Altertum seine

Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nur verhältnismäßig klein

sein. Und im Mittelalter bis zum 19. Jahrh. trat in den meisten

europäischen Ländern die städtische Bevölkerung gegenüber der ländlichen

erheblich zurück. Eine wesentliche Änderung wurde in dieser Beziehung

durch die Fortschritte der modernen Technik und insbesondere des

Verkehrswesens herbeigeführt. Die städtische Bevölkerung wächst in

größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durch Zuzug als diejenige des

flachen Landes. Als Folge dieses Umstandes läßt sich in den Städten eine

stärkere Besetzung der Altersklassen von 15-35 Jahren wahrnehmen. So

enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter 15 Jahren im

Deutschen Reich 35, in einer Reihe größerer deutscher Städte nur 25; für

die Alter von 20-30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, für die Alter

von 30-40 Jahren: 13 u. 16, für die Alter über 40 Jahren dagegen: 25

u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallend erscheinen,

wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahl verhältnismäßig hoch

sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar vornehmlich, weil hier die

gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl der unehelichen

Geburten und der Sterbefälle in den meisten Städten relativ größer als

auf dem Land.

In Orten mit über 2000 Einw. leben Prozente von der

gesamten Bevölkerung: in den Niederlanden 80, Belgien 60, Großbritannien

und Irland 45, Spanien und Italien 43, Portugal 41, Deutschland 40

(Sachsen 52, Rheinland 60, Posen 22), Schweiz 39, Österreich-Ungarn 37,

Frankreich 30, Dänemark 22, Norwegen 15, Schweden 11, Rußland

11. Vorzüglich ist in den letzten Jahren die Bevölkerung der großen

Städte und zwar am meisten die der Städte mit mehr als 100,000

Einw. gewachsen. In geringerm Grad hat die der kleinern Städte

zugenommen, während in Orten von weniger als 3000 Seelen nicht selten

ein Rückgang zu beobachten war. Auf der ganzen Erde gibt es zur Zeit 206

Städte mit über 100,000 Einw. Hiervon entfallen je 2/5 auf Europa und

Asien. Von der gesamten Bevölkerung lebten 1881 in solchen Großstädten:

in England und Wales 33 Proz., Belgien u. Niederlande 12,5, Frankreich

7,7, Deutschland 7,1, Italien 6,7, Österreich-Ungarn 3,3, Rußland 1,7

Proz. Die Art des raschen Wachstums einiger Großstädte wird durch

nachstehende Zahlen verdeutlicht. Es hatten in Tausenden

Städte Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw.

London 1801 959 1851 2362 1875 3445 1886 4120

Paris 1817 714 1856 1171 1876 1989 1886 2345

Berlin 1801 173 1851 425 1875 967 1885 1315

Wien 1800 231 1857 476 1875 677 1880 726¹

New York - - 1850 516 1875 1029 1886 1439²

Leipzig 1801 32 1852 67 1875 127 1885 170

¹ Mit 35 angrenzenden Gemeinden 1888: 1,200,000.

² Mit Brooklyn, Jersey City und Hoboken 2¼ Mill.

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Stadt (Verfassungen).

Sind die Städte schon infolge davon in politischer und wirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend, daß in denselben das gesamte geistige Leben und der menschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihr Einfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weiter gesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eine Reihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oder doch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und die vollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten der modernen Technik möglich wurde. So werden in unsern Millionenstädten großartige Aufwendungen gemacht im Interesse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit, für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung, Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen, Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staaten weit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: "Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten" ganz vorzüglich von den Städten, insbesondere von Großstädten, in welchen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann.

Städteverfassungen.

In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sich gegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systeme gegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß an die preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov. 1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß die Verfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene, und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltung eingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An der Spitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in der Regel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretung der Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seite steht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat (Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem ersten Bürgermeister (Stadtschultheißen), welcher in größern Städten den Titel Oberbürgermeister führt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten und in größern Städten aus einer Anzahl von besoldeten und unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen, Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nach Bedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitglieder für einzelne Zweige der städtischen Verwaltung (Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat ist das Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch die Handhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchen größern Städten, einer staatlichen Behörde (Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. Die Vertretung der Bürgerschaft ist die Stadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischer Ausschuß, Kollegium der Bürgervorsteher, Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). Diese Körperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung ist zur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigen Akten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß von Ortsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihre Funktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch die Bürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in der Regel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teils besoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeistern in den größern Städten gilt, teils fungieren sie im Ehrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bis sechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgt sie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeit zulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat die Regierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedoch verschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischen Magistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im Osten Deutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in den östlichen Provinzen Preußens und in den Provinzen Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnung vom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischen Städte von den beengenden Fesseln einer weitgehenden staatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierte Städteordnung vom 17. März 1831, welche die Möglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungen treffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch, die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weise zu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 für die östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern und Rügen für die dortigen Städte ihre auf besondern Bestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuern Verwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungen dieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von der Städteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Eine besondere Städteordnung ist 25. März 1867 für Frankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dort aus den von der S. präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14. April 1869 überweist die Verwaltung einem aus Bürgermeister und "Ratsverwandten" bestehenden Magistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover (Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebenso wie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialisch organisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern (Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen (revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), in Braunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe und Schaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht die Städteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung, ebenso in Mecklenburg.

Neben dem bisher erörterten System findet sich aber in Deutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich dem Einfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dies kennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen. Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte der S. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem oder mehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung ist Sache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in der Rheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in der bayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und in den reußischen und schwarzburgischen Fürstentümern vertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes System gilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier ist die Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sie nähert sich aber mehr der städtischen als der ländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand der Gemeinde noch einen Gemeinderat für die Verwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung der Bürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. In Elsaß-Lothringen besteht das französische System, doch ist seit 1887 die Änderung getroffen, daß der Bürgermeister und die Beigeordneten nicht

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Stadtältester - Stadtlohn.

mehr notwendig dem Gemeinderat zu entnehmen sind, wie dies früher vorgeschrieben war. Auch kann jenen Gemeindebeamten, entgegen den in Frankreich geltenden Bestimmungen, kraft ministerieller Anordnung eine Besoldung gewährt werden. Eine Entschädigung für Repräsentationsaufwand war schon nach französischem Recht zulässig. In Frankreich selbst erscheinen die Städte wesentlich als Verwaltungsbezirke, und von einer eigentlichen Selbständigkeit derselben ist nicht die Rede. Dagegen hat Schweden durch Gesetz vom 3. Mai 1862 seinen Städten die Selbstverwaltung verliehen. Auch in England ist die Städteverfassung von dem Regierungseinfluß möglichst unabhängig. Für Rußland ist eine Städteordnung 16. Juni 1870 erlassen.

[Litteratur.] Vgl. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869-71, 4 Bde.); Heusler, Der Ursprung der deutschen Städteverfassung (Weim. 1872); Hüllmann, Städtewesen des Mittelalters (Bonn 1825-29, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Brülcke, Die Entwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881); "Chroniken der deutschen Städte" (hrsg. von der Münchener Historischen Kommission 1862-89, Bd. 1-21); Lambert, Die Entwickelung der deutschen Städteverfassungen im Mittelalter (Halle 1865, 2 Bde.); v. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (Düsseld. 1888); Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende des Mittelalters etc. (Berl. 1886) und die Litteratur bei Art. Stadtrechte; ferner Steffenhagen, Preußische Städteordnung vom 30. Mai 1853 (6. Aufl., Demmin 1885); Derselbe, Handbuch der städtischen Verfassung und Verwaltung in Preußen (Berl. 1887-1888, 2 Bde.); Örtel, Städteordnung vom 30. Mai 1853 (Liegn. 1883, 2 Bde.); Kotze, Die preußischen Städteordnungen (2. Aufl., Berl. 1883); Ebert, Der Stadtverordnete im Geltungsgebiet der Städteordnung vom 30. Mai 1853 (2. Aufl., das. 1883); "Städteordnung für die Rheinprovinz" (3. Aufl., Elberf. 1882); v. Bosse, Die sächsische Städteordnung (4. Aufl., Leipz. 1879); Schwanebach, Russische Städteordnung (St. Petersb. 1874); Gneist, Selfgovernment (3. Aufl., Berl. 1871); Kohl, Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Leipz. 1874); Sitte, Der Städtebau (geschichtlich, Wien 1889).

Stadtältester, in Preußen Ehrentitel eines Magistratsmitglieds, welches sein Amt mindestens neun Jahre lang mit Ehren bekleidet hat; wird vom Magistrat in Übereinstimmung mit der Stadtverordnetenversammlung verliehen. In andern Staaten heißen die Stadtverordneten zuweilen Stadtälteste.

Stadtamhof, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberpfalz, an der Mündung des Regen in die Donau, Regensburg gegenüber, hat eine kath. Kirche, 2 Waisenhäuser, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, Schiffahrt, Speditionshandel und (1885) 3449 meist kath. Einwohner.

Stadtausschuß, s. Stadtkreis.

Stadtbahn, entweder das durch die Straßen einer Stadt gelegte, zum Befahren mit Pferdewagen oder Straßenlokomotiven bestimmte Schienennetz (s. Straßeneisenbahn) oder die zur Vermittelung des Lokalverkehrs und durchgehenden Eisenbahnverkehrs durch eine Stadt geführte Lokomotiveisenbahn.

Stadtberge, Stadt, s. Marsberg.

Stadtbücher, s. Grundbücher.

Städtebünde, die Verbindungen der Städte im Mittelalter zur Verteidigung ihrer Freiheiten gegen fürstliche Herrschaftsansprüche und in den Zeiten des Faustrechts zum Schutz ihres Handels und Verkehrs: so bildete sich in Italien der Lombardische Städtebund gegen Kaiser Friedrich I., in Deutschland im 14. Jahrh. der Rheinische und der Schwäbische Städtebund, in Norddeutschland vor allem die Hansa (s. d.), in Preußen im 15. Jahrh. der Westpreußische Städtebund u. a.

Städteordnung, die für Städte im Gegensatz zu den Landgemeinden gegebene Gemeindeordnung (s. Stadt, S. 214).

Städtereinigung, die Beseitigung aller Abfallstoffe aus den Städten zur Vermeidung schädlicher Zersetzungen derselben und einer Verunreinigung des Bodens und des Grundwassers mit fäulnisfähigen Substanzen, welche die Entwickelung krankheiterregender Organismen begünstigen. In den meisten ältern großen Städten ist der Boden durch Senkgruben, Schlachthäuser etc. arg verunreinigt, und an vielen Orten ist infolgedessen das Wasser aus den städtischen Brunnen nur noch für gewisse technische Zwecke brauchbar. Die moderne S. kann daher nur durch rationelle Abfuhr der Exkremente (s. d.), durch Kanalisation (s. d.), Zentralisation des Schlächtereibetriebs in öffentlichen Schlachthäusern etc. weiterer Verunreinigung vorbeugen und die Selbstreinigung des Bodens vorbereiten, für die Versorgung mit gutem Trinkwasser müssen Wasserleitungen angelegt werden. Wo S. konsequent durchgeführt ist, hat sich der Gesundheitszustand gehoben und ist die Sterblichkeit gesunken. Vgl. Varrentrapp, Entwässerung der Städte (Berl. 1868); "Reinigung und Entwässerung Berlins" (das. 1870-79, 13 Hefte); Pettenkofer, Kanalisation und Abfuhr (Münch. 1876); Sommaruga, Die Städtereinigungssysteme in ihrer land- und volkswirtschaftlichen Bedeutung (Halle 1874); kleinere Schriften von v. Langsdorff, Lorenz, Martini, Riedel, Stammer u. a.

Stadthagen, Stadt im Fürstentum Schaumburg-Lippe, Knotenpunkt der Linien Braunschweig-Hamm und S.-Osterholz der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein Landratsamt, ein Amtsgericht, Steinkohlengruben, Glasfabrikation, Gerberei, Holzschneiderei, Steinbrüche, Ziegeleien und (1885) 4394 meist evang. Einwohner.

Stadtilm, Stadt im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, Landratsamt Rudolstadt, an der Ilm, 348 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Hutfabrik, Gerberei, Orgelbau, Bierbrauerei und (1885) 3107 evang. Einwohner. 1599 ward hier der Hauptrezeß, betreffend die Teilung der schwarzburgischen Länder, geschlossen.

Stadtkreis, in Preußen der besondere Kreis- und Kommunalverband, welchen die sogen. großen Städte, d. h. diejenigen, welche mit Ausschluß der aktiven Militärpersonen mindestens 25,000 Einwohner haben, bilden können. Kleinere Städte können nur ausnahmsweise auf Grund königlicher Verordnung aus dem Kreisverband ausscheiden. Die Geschäfte des Kreistags und des Kreisausschusses, soweit sich die Thätigkeit des letztern auf die Verwaltung der Kreiskommunalsachen bezieht, werden von den städtischen Behörden wahrgenommen. Im übrigen besteht an Stelle des Kreisausschusses ein Stadtausschuß unter dem Vorsitz des Bürgermeisters oder seines Stellvertreters.

Stadtlohn, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Münster, Kreis Ahaus, an der Berkel, hat eine kath. Kirche, bedeutende Nesselweberei, Lein- und Halbleinweberei, Bleicherei, Thonwarenfabrikation und (1885) 2189 Einw. Hier 6. Aug. 1623 Sieg der Kai-

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Stadtmusikus - Stael-Holstein.

serlichen unter Tilly über Herzog Christian von Braunschweig und im August 1638 der Kaiserlichen (Hatzfeld) über die Schweden (King).

Stadtmusikus (Stadtpfeifer), s. Musikantenzünfte.

Stadtoldendorf, Stadt im braunschweig. Kreis Holzminden, an der Linie Holzminden-Jerxheim der Preußischen Staatsbahn, 195 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Sandsteinbrüche und (1885) 2571 Einw. Dabei das ehemalige Cistercienserkloster Amelunxborn mit einer berühmten Klosterschule von 1569 bis 1754.

Stadtprozelten, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken, Bezirksamt Marktheidenfeld, am Main, hat eine kath. Kirche, eine Burgruine, ein Amtsgericht, ein Forstamt, ein reiches Hospital, Obst- und Weinbau und (1885) 844 Einw. Dabei das Dorf Dorfprozelten mit 1017 Einw.

Stadtrat, städtische Kollegialbehörde, welcher die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten obliegt. Das vollziehende Organ ihrer Beschlüsse ist der Magistrat (Bürgermeisteramt). Mitunter wird aber auch der letztere S. genannt und für die Mitglieder desselben die Bezeichnung "Stadträte" (Magistratsräte) gebraucht. Vgl. Stadt, S. 215.

Stadtrecht (Weichbildrecht), ursprünglich das kaiserliche oder landesherrliche Privilegium, wodurch eine Gemeinde zur Stadt erhoben ward; dann Inbegriff der in einer Stadt gültigen Rechtssätze. Solche Stadtrechte entstanden in Deutschland seit dem 10. Jahrh., und es wurden dadurch nicht nur Privatrechtsverhältnisse, sondern auch Gegenstände des öffentlichen Rechts normiert. Oft ward das Recht einer Stadt mehr oder minder vollständig von andern rezipiert; so die Stadtrechte von Münster, Dortmund, Soest und andern westfälischen Städten, ganz besonders aber die Stadtrechte von Magdeburg, Lübeck und Köln. Das lübische Recht gewann die Küstenstriche von Schleswig ab bis zu den östlichsten deutschen Ansiedelungen, das Magdeburger die Binnenlande bis nach Böhmen, Schlesien und Polen hinein und verbreitete sich als Kulmer Recht über ganz Preußen. Infolge der Umgestaltung der Territorialverhältnisse sowie der Rechtsbegriffe machten sich Umänderungen der Stadtrechte notwendig, und so entstanden im Lauf des 15., 16. und 17. Jahrh. an vielen Orten verbesserte Stadtrechte, sogen. "Reformationen", wobei aber unter Einwirkung der Rechtsgelehrten mehr und mehr römisches Recht eingemischt ward bis zuletzt die alten Stadtrechte zugleich mit der eignen Gerichtsbarkeit und der Autonomie der Städte bis auf dürftige Reste der Autorität der Landesherren weichen mußten. Nur für das Familien- und Erbrecht haben sich einzelne Satzungen der alten Stadtrechte (Statuten) bis auf die Gegenwart erhalten.

Vgl. Gaupp, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (Bresl. 1851-52, 2 Bde.); Gengler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (neue Ausg., Nürnb. 1866); Derselbe, Codex juris municipalis Germaniae (Erlang. 1863-67, Bd. 1); Derselbe, Deutsche Stadtrechtsaltertümer (das. 1882).

Stadtreisender, s. Platzreisender.

Stadtsteinach, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, an der Steinach, hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein Forstamt, Eisensteingruben und (1885) 1490 meist kath. Einwohner.

Stadtsulza, s. Sulza.

Stadtverordnete, s. Stadt, S. 214.

Staël-Holstein (spr. stal), Anne Louise Germaine, Baronin von, berühmte franz. Schriftstellerin, geb. 22. April 1766 zu Paris, Tochter des Ministers Necker, entwickelte sich frühzeitig unter dem Einfluß einer streng protestantischen Mutter und der philosophischen Anschauungen, denen man im Haus ihres Vaters huldigte, verfaßte mit 15 Jahren juristische und politische Abhandlungen und verheiratete sich 1786 auf den Wunsch ihrer Mutter mit dem schwedischen Gesandten, Baron von S. Doch war diese Ehe nicht glücklich; 1796 trennte sie sich von ihrem geistig tief unter ihr stehenden Gemahl, näherte sich ihm aber 1798 wieder, als er krank wurde, um ihn zu pflegen, und blieb bei ihm bis zu seinem Tod (1802). Seit dem ersten Jahr ihrer Ehe entwickelte sie eine eifrige litterarische Thätigkeit. 1786 war ihr Schauspiel "Sophie, ou les sentiments secrets" erschienen, dem als letzter Versuch dieser Art 1790 die Tragödie "Jane Gray" folgte; sie sah ein, daß sie für Bühnendichtung nicht geschaffen war. Besser gelangen ihr die überschwenglich lobenden "Lettres sur les écrits et le caractère de J. J. Rousseau" (1788); doch fehlt die Kritik fast ganz. Das immer reichlicher fließende Blut ließ ihre anfängliche Begeisterung für die Revolution bald schwinden; ein Plan zur Flucht, den sie der königlichen Familie unterbreitete, wurde nicht angenommen; am 2. Sept. 1792 mußte sie selbst flüchten. Auch ihre beredte Schrift zu gunsten der Königin: "Réflexions sur le procès de la reine" (1793) hatte keine Wirkung. Dagegen erregte sie Aufsehen durch ihre Schriften: "Réflexions sur la paix, adressées à M. Pitt et aux Français" (Genf 1795) und besonders durch "De l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations" (Laus. 1796), ein Werk voll tiefer und lichtvoller Gedanken. Nach ihrer Rückkehr verfeindete sie aber ihr energisches Eintreten für konstitutionelle Ideen derart mit Bonaparte, daß sie auf 40 Stunden im Umkreis von Paris verbannt wurde. Sie ging nach Coppet, lebte aber meist auf Reisen. Ihr schriftstellerischer Ruf hatte sich inzwischen in weitern Kreisen verbreitet durch ihre Schrift "De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales" (1799, 2 Bde.) und durch den Roman "Delphine" (1802, 6 Bde., u. öfter; hrsg. von Sainte-Beuve, 1868; deutsch, Leipz. 1847, 3 Bde.), eine Schilderung ihrer eignen Jugend in Briefform. 1803 machte sie ihre erste Reise nach Deutschland, wo sie längere Zeit in Weimar und Berlin verweilte; 1805 bereiste sie Italien. Seit dieser Zeit war A. W. v. Schlegel, den sie in Berlin kennen gelernt hatte, ihr Begleiter, und sein Umgang ist nicht ohne Einfluß auf ihre Ansichten, besonders über Kunst und deutsche Litteratur, geblieben. Die Frucht ihrer Reise nach Italien war der Roman "Corinne, ou l'Italie" (1807, 2 Bde., u. öfter; deutsch von Fr. Schlegel, Berl. 1807; von Bock, Hildburgh. 1868), eine begeisterte Schilderung Italiens und das glänzendste ihrer Werke. 1810 ging sie nach Wien, um Stoff zu ihrem schon lange geplanten Werk "De l'Allemagne" zu sammeln, einem Gemälde Deutschlands in Beziehung auf Sitten, Litteratur und Philosophie; doch wurde die ganze Auflage auf Befehl des damaligen Polizeiministers Savary sogleich vernichtet und gegen die Verfasserin von Napoleon I. ein neues Verbannungsdekret erlassen, das sich auf ganz Frankreich erstreckte. Erst zu Ende 1813 erschien das Werk (3 Bde.) zu London, darauf 1814 auch zu Paris. So reich es an geistvollen Gedanken ist und so achtungswert durch die Wärme, womit es den Franzosen deutsche Art und Kunst empfiehlt, so enthält es doch auch viele schiefe Ansichten und erhebliche Unrichtigkeiten. Jedenfalls

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Stäfa - Staffordshire.

aber hat es den größten und dauerndsten Eindruck gemacht und muß darum als ihr Hauptwerk gelten. S. lebte in der nächsten Zeit wieder zu Coppet, wo sie sich insgeheim mit einem jungen Husarenoffizier, de Rocca, verheiratete. Von der französischen Polizei fort und fort verfolgt, begab sie sich im Frühjahr 1812 nach Moskau und Petersburg und von da nach Stockholm, wo ihr jüngster Sohn, Albert, im Duell blieb. Im Anfang des folgenden Jahrs ging sie nach England; erst nach Napoleons Sturz kehrte sie nach langer Verbannung, deren Ereignisse sie in "Dix années d'exil" (1821; deutsch, Leipz. 1822) teilweise erzählt, nach Paris zurück. Nach Bonapartes Rückkehr von Elba zog sie sich nach Coppet zurück. Nach der zweiten Restauration erhielt sie Vergütung für die alte Schuld von 2 Mill. Frank, die ihr Vater bei seinem Abschied im öffentlichen Schatze zurückgelassen hatte, und lebte fortan in einem glücklichen häuslichen Kreis und im engen Verkehr mit litterarischen und politischen Freunden in Paris, bis zu ihrer letzten Krankheit mit Ausarbeitung der trefflichen "Considérations sur les principaux événements de la Révolution française" (1818, 3 Bde.; neue Ausg. 1861; deutsch von A. W. v. Schlegel, Heidelb. 1818, 6 Bde.) beschäftigt. Sie starb 14. Juli 1817. Zu erwähnen sind noch die Werke: "Vie privée de M. Necker", an der Spitze der Ausgabe der Manuskripte ihres Vaters (1804); "Réflexions sur le suicide" (1813); "Zulma et trois nouvelles" (1813); "Essais dramatiques" (1821), eine Sammlung von 7 Stücken in Prosa, darunter das Drama "Sapho". Eine Ausgabe ihrer Werke (Par. 1820-21, 17 Bde.) veranstaltete ihr ältester Sohn, Auguste Louis, Baron von S. (geb. 1790), der sich selbst als Schriftsteller bekannt machte und 1827 starb (seine "OEuvres divers" gab seine Schwester, die Herzogin von Broglie, heraus, 1829, 3 Bde.). Vgl. Baudrillart, Éloge de Mad. de S. (1850); Norris, Life and times of Mad. de S. (Lond. 1853); Gérando, Lettres inédites et Souvenirs biographiques de Mad. Récamier et de Mad. S. (Par. 1868); Stevens, Mad. de S. (Lond. 1880, 2 Bde.); Lady Blennerhassett, Frau von S. und ihre Freunde (Berl. 1887-89, 3 Bde.); ferner "Correspondance diplomatique du baron de S., documents inédits" (hrsg. von Léouzon le Duc, Par. 1881).

Stäfa, Gemeinde im schweizer. Kanton Zürich, am rechten Ufer des Zürichsees, mit Weinbau, Baumwoll- und Seidenweberei und (1880) 3874 Einw., durch Dampfschiffahrt mit sämtlichen Uferorten verbunden.

Stafette (franz. Estafette), ein außerordentlicher reitender Bote, welcher Briefe so schnell wie möglich befördert, namentlich den Verkehr der Regierungen mit den obern Behörden und den Gesandtschaften vielfach unterhält. Seit der Entwickelung des Eisenbahn- und Telegraphenverkehrs ist die Sache und mit ihr das Wort sehr außer Gebrauch gekommen. Für Deutschland sind Bestimmungen über die Estafettenbeförderung in Abschnitt II, § 45 der Postordnung gegeben.

Staffa, eine der innern Hebriden, westlich von Mull, nur 360 Hektar groß, aber berühmt wegen ihrer Basaltsäulen und Höhlen, unter denen die Fingalshöhle (s. d.) die berühmteste ist.

Staffage (spr. -ahsche), Bezeichnung für einzelne Figuren oder ganze Gruppen von Menschen und Tieren, welche in einer Landschaft oder einem Architekturbild zur Belebung der Darstellung angebracht werden, jedoch ohne die Hauptsache derselben zu sein.

Staffelei, hölzernes Gestell, dessen sich der Maler beim Anfertigen seiner Bilder zum Aufstellen derselben bedient. Es hat an der Rückseite eine bewegliche Stütze zum Behuf einer willkürlich schrägen Stellung und an der Vorderseite ein bewegliches Querholz zum Höher- und Niedrigerstellen des Bildes, was durch eiserne oder hölzerne Bolzen erfolgt, welche in parallel angebrachte Öffnungen gesteckt werden, und auf denen das Querholz aufliegt. Daher Staffeleigemälde, kleinere Gemälde, welche auf der S. verfertigt werden, Gegensatz von Wandgemälden.

Staffelgiebel, die an den Seitenkanten durch stufenförmige Einschnitte gegliederten Hausgiebel, welche in der Profanbaukunst des Mittelalters häufig angewendet wurden, auch Katzentreppen (s. d.) und Treppengiebel genannt.

Staffelit, Mineral aus der Ordnung der Phosphate, nach dem Fundort Staffel in Nassau benannt, vielleicht nur eine Varietät des Phosphorits, bildet hellgrüne, traubige und nierenförmige, mikrokristallinische Aggregate und enthält bis zu 9 Proz. kohlensauren Kalk, etwas Wasser und Spuren von Jod.

Staffeln, s. v. w. Stufen, beim Militär die Teile von Truppenkörpern, die sich in gewissen Abständen folgen, z. B. bei der Artillerie die Wagenstaffeln der Batterien und Kolonnen. Über S. im taktischen Sinn s. Echelon.

Staffelngebete, s. Stufengebete.

Staffelrechnnng, s. Kontokorrent, S. 47.

Staffelrecht, s. Stapelgerechtigkeit.

Staffelschnitt, in der Heraldik die stufenförmige Teilung eines Wappenschildes.

Staffelstein, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, an der Lauter und der Linie München-Bamberg-Hof der Bayrischen Staatsbahn, 295 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Obst-, Wein- und Spargelbau, Bierbrauerei, 2 Kunstmühlen, Landesprodukten-, Gerberrinden-, Weidenreifen- und Holzhandel und (1885) 1837 Einw. Dabei der pittoreske Staffelberg (mit Kapelle), reich an Versteinerungen. S. war der Geburtsort des Rechenmeisters Adam Riese.

Staffieren (v. altfranz. estoffer), mit dem nötigen Stoff oder Zubehör versehen, verzieren, mit Beiwerk ausschmücken. Vgl. Staffage.

Stäffis am See, Ort, s. Estavayer le Lac.

Stafford, altertümliche Hauptstadt von Staffordshire (England), am Sow, der sich dicht bei der Stadt mit dem Trent vereinigt, hat 2 alte Kirchen, eine Grafschaftshalle (Shire Hall), ein Rathaus mit großer Markthalle, ein neues Schloß, Irrenhaus, Zuchthaus, große Stiefelfabriken, Gerberei, Brauereien und (1881) 19,977 Einw.

Staffordshire (spr. stäffordschir), engl. Grafschaft, von den Grafschaften Derby, Warwick, Worcester, Salop und Chester begrenzt, umfaßt 3022 qkm (54,9 QM.) mit (1881) 981,013 Einw. Der Norden des Landes besteht aus kahlem, unfruchtbarem, bis zu 552 m ansteigendem Hügelland mit großen Strecken Moorland; im O. liegt Needwood Forest, ein ausgedehnter Strich Heide; das Thal des Trent aber ist ungemein fruchtbar, und auch der wellenförmige Süden ist vorzüglich angebaut. Von der Oberfläche sind 39,7 Proz. unter dem Pflug, 56,8 Proz. bestehen aus Wiesen, und an Vieh zählte man 1887: 143,159 Rinder, 244,394 Schafe und 116,956 Schweine. Die wichtigsten Produkte des Bergbaues sind: Steinkohlen (1887: 12,853,000 Ton.), Eisen (938,018 T. Erz), Blei und Kupfer. Die Industrie ist ungemein entwickelt und liefert namentlich Eisenwaren, Töpferwaren (in dem

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Stage - Stahl.

als "Potteries" bekannten Bezirk), Glas, Seidenwaren, Baumwollwaren und Stiefel. Hauptstadt ist Stafford, die volkreichste Stadt ist Wolverhampton.

Stage, Taue aus Hanf oder Draht, welche von den Spitzen der Masten und Stengen schräg nach vorn und unten verlaufen, um den genannten Rundhölzern einen bessern Halt zu geben; sie gestatten die Anbringung von Stagsegeln.

Stageiros (Stagira), von Andriern im 7. Jahrh. v. Chr. gegründete Stadt im alten Makedonien, auf der Halbinsel Chalkidike, berühmt als Geburtsort des Aristoteles (daher der Stagirite), von Philipp II. 348 v. Chr. zerstört, aber später wieder aufgebaut. Heute Ruinen Lymbiada.

Stägemann, Friedrich August von, preuß. Staatsmann und Dichter, geb. 7. Nov. 1763 zu Vierraden in der Ukermark, studierte zu Halle die Rechte und ward 1806 Geheimer Oberfinanzrat, 1807 vortragender Rat bei dem nachmaligen Staatskanzler v. Hardenberg und nach dem Tilsiter Frieden Mitglied der zur Verwaltung des Landes niedergesetzten Immediatkommission, unter dem Ministerium Stein vortragender Rat, 1809 Staatsrat, in welcher Stellung er Hardenberg nach Paris, London und zum Wiener Kongreß begleitete. Er starb 17. Dez. 1840 in Berlin. Seine vaterländischen Gedichte, gesammelt als "Historische Erinnerungen in lyrischen Gedichten" (Berl. 1828), zum Teil in kunstvoller Odenform, spiegeln den idealistisch-patriotischen Geist, welcher zur Zeit der Befreiungskriege die gebildeten Kreise durchdrang. Dem Andenken seiner Gattin (gest. 1835) gewidmet ist die als Manuskript gedruckte Sonettensammlung "Erinnerungen an Elisabeth" (Berl. 1835); von ihr selbst erschienen: "Erinnerungen für edle Frauen" (Leipz. 1846, 3. Aufl. 1873). Vgl. auch "Briefe von S., Metternich, Heine und Bettina v. Arnim" (aus Varnhagens Nachlaß, Leipz. 1865).

Stagione (ital., spr. stadschohne), Jahreszeit, Saison.

Stagnation (lat.), Stillstand, Stockung.

Stagnelius, Erik Johan, schwed. Dichter, geb. 14. Okt. 1793 zu Gärdslösa auf Örland, studierte in Lund und Upsala und erhielt dann eine Anstellung in der königlichen Kanzlei. Seine Muße widmete er philosophischen Studien, namentlich suchte er Schellings Identitätslehre mit gnostischer Mystik zu verschmelzen. Finster und verschlossen, dabei maßlos ausschweifend, verfiel er in periodischen Wahnsinn und starb 23. April 1823. Seinen litterarischen Ruf begründete 1817 das epische Gedicht "Wladimir ten store", das von der schwedischen Akademie gekrönt wurde. Seine Hauptwerke aber sind der halb philosophische, halb religiöse Gedichtcyklus "Liljor i Saron" (1820), das antike Trauerspiel "Bacchanterna", die nordischen Tragödien "Visbur" und "Sigurd Ring", das Drama "Riddartornet", die Schauspiele "Gladjetlickan i Rom" und "Karlekena fter doden" und die religiöse Tragödie "Martyrerne", worin die Idee vom Leben als einer Strafe und einem Leiden in ergreifender Weise durchgeführt ist. Auch viele seiner kleinern, im Volkston gehaltenen Lieder sind vortrefflich. Seine "Gesammelten Schriften" gab zuletzt C. Eichhorn (Stockh. 1866-68, 2 Bde.) heraus; eine deutsche Übersetzung Kannegießer (Leipz. 1853, 6 Bde.).

Stagnieren (lat.), stillstehen, stocken.

Stagnone (spr. stanjohne), flacher Meerbusen an der Westseite Siziliens, zwischen Marsala und Trapani, welcher durch die niedrigen, fast ganz mit Salinen bedeckten Stagnoneinseln gegen das Meer geschlossen ist. Dieser Inseln sind drei: Borrone, Isolalonga und in der Mitte die kleine kreisrunde Insel San Pantaleone, berühmt als Sitz der karthagischen Stadt Motye, von der noch einzelne Reste vorhanden sind.

Stahl, s. Eisen, S. 418 ff.

Stahl, 1) Georg Ernst, Chemiker und Mediziner, geb. 21. Okt. 1660 zu Ansbach, studierte in Jena wurde 1687 Hofarzt des Herzogs von Weimar, 1694 Professor der Medizin in Halle, 1716 Leibarzt des Königs von Preußen; starb 14. Mai 1734 in Berlin. S. stellte eine Theorie der Chemie auf, welche bis auf Lavoisier allgemeine Geltung behielt und auf der Annahme des Phlogistons beruhte. Auch entdeckte er viele Eigenschaften der Alkalien, Metalloxyde und Säuren. Seine Hauptwerke sind: "Experimenta et observationes chemicae" (Berl. 1731) und "Theoria medica vera" (Halle 1707; Leipz. 1831-33, 3 Bde.; deutsch von Ideler, Berl. 1831-32, 3 Bde.), in welcher er Hoffmann bekämpfte und die Lehre vom psychischen Einfluß (Animismus, s. d.) aufstellte.

2) Friedrich Julius, hervorragender Schriftsteller im Fach des Staatsrechts und Kammerredner, geb. 16. Jan. 1802 zu München von jüdischen Eltern, trat 1819 in Erlangen zur protestantischen Kirche über, studierte in Würzburg, Heidelberg, Erlangen Rechtswissenschaft und habilitierte sich im Herbst 1827 als Privatdozent in München. In demselben Jahr erschien seine erste größere Schrift: "Über das ältere römische Klagenrecht" (Münch. 1827). Von Schelling angeregt, schrieb er: "Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht" (Heidelb. 1830-1837, 2 Bde. in 3 Abtlgn.; 5. Aufl. 1878), sein wissenschaftliches Hauptwerk, welches trotz großer Mängel epochemachend für die Geschichte der Staatswissenschaft ist. S. trat darin der naturrechtlichen Lehre schroff entgegen und begründete seine Rechts- und Staatslehre "auf der Grundlage christlicher Weltanschauung", indem er "Umkehr der Wissenschaft" zum Glauben an die geoffenbarte Wahrheit der christlichen Religion forderte. 1832 ward S. zum außerordentlichen Professor in Erlangen, im November zum ordentlichen Professor für Rechtsphilosophie, Pandekten und bayrisches Landrecht in Würzburg ernannt. Später kehrte er nach Erlangen zurück und lehrte hier Kirchenrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie. 1840 als Professor der Rechtsphilosophie, des Staatsrechts und Kirchenrechts nach Berlin berufen, 1849 von König Friedrich Wilhelm IV., der ihm seine Gunst zuwandte, zum lebenslänglichen Mitglied der damaligen Ersten Kammer, des spätern Herrenhauses ernannt, wurde S. der Hauptwortführer der Reaktion und der ritterschaftlichen Partei, der er bis zu seinem Ende treu geblieben ist. Auch auf kirchlichem Gebiet benutzte er seine Stellung als Mitglied des evangelischen Oberkirchenrats (I852-58) zur Lockerung der Union, zur Stärkung des lutherischen Konfessionalismus und zur Erneuerung der Herrschaft der orthodoxen Geistlichkeit über die Laienwelt. Der politische Umschwung infolge der Erhebung des Prinz-Regenten und der Sturz des Ministeriums Manteuffel brachen auch Stahls Herrschaft im Oberkirchenrat und veranlaßten 1858 seinen Austritt aus dieser Behörde. Seitdem setzte er den politischen Kampf gegen das "Ministerium der liberalen Ära" mit zäher Energie im Herrenhaus fort, drohend, "das Haus werde in seinem Widerstand gegen die neue liberale Richtung der Regierung vielleicht brechen, aber nicht biegen", erlebte jedoch nicht mehr den Umschlag der Regierung, welche nach schwachen liberalen Versuchen ihre Stütze wieder in dem Herrenhaus suchte. Er starb 10. August 1861 in Brückenau. Von seinen Schriften sind noch hervorzuheben: "Die Kirchenver-

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Stahlblau - Stahr.

fassung nach Lehre und Recht der Protestanten" (Erlang. 1840, 2. Aufl. 1862); "Über Kirchenzucht" (Berl. 1845, 2. Aufl. 1858); "Das monarchische Prinzip" (Heidelb. 1845); "Der christliche Staat" (Berl. 1847, 2. Aufl. 1858); "Die Revolution und die konstitutionelle Monarchie" (das. 1848, 2. Aufl. 1849); "Was ist Revolution?" (1.-3. Aufl., das. 1852); "Der Protestantismus als politisches Prinzip" (das. 1853, 3. Aufl. 1854); "Die katholischen Widerlegungen" (das. 1854); "Wider Bunsen" (gegen dessen "Zeichen der Zeit", 1.-3. Aufl., das. 1856); "Die lutherische Kirche und die Union" (das. 1859, 2. Aufl. 1860). Nach seinem Tod erschienen: "Siebenzehn parlamentarische Reden" (Berl. 1862) und "Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche" (2. Aufl., das. 1868). Vgl. "Pernice, Savigny, S." (Berl. 1862).

3) Karl, Pseudonym, s. Gödeke.

4) Pierre Jules, Pseudonym, s. Hetzel.

5) Arthur, Pseudonym, s. Voigtel.

Stahlblau, dunkelblaue Farbe, ähnlich dem angelaufenen Stahl, besonders wenn der so gefärbte Körper Metallglanz hat.

Stahlbrillanten (Stahldiamanten), Stahlstückchen mit vielen glänzenden Facetten, bisweilen als Köpfe von Stahlstiften mit Schraubengewinde.

Stahlbronze, s. Bronze, S. 460.

Stahleck, Burg bei Bacharach (s. d.).

Stahlfedern, Schreibfedern aus Stahl, werden dargestellt, indem man aus entsprechend dünnem Stahlblech Plättchen von der Gestalt der Federn mittels eines Durchstoßes ausschneidet, dann diese Plättchen unter einem andern Durchstoß mit dem Loch versieht, in welchem der Spalt endigt, und zugleich mit den beiden seitlichen Spalten, welche die Biegsamkeit der Feder erhöhen. Hierauf glüht man die Plättchen in eisernen Töpfen aus, versieht sie unter einem Fallwerk mit der Schrift und etwanigen Verzierungen und gibt ihnen auf einer Presse durch Hineintreiben in eine entsprechend konkave Stanze die rinnenförmige Gestalt. Die durch das Ausglühen sehr weich gewordenen Federn werden nun zum Zweck des Härtens in flachen, bedeckten Eisengefäßen rotglühend gemacht und schnell in Öl oder Thran geschüttet. Behufs ihrer Reinigung von dem Öl behandelt man sie dann mit Sägespänen in einer um ihre Achse rotierenden Trommel, scheuert sie durch eine ähnliche Prozedur mit zerstoßenen Schmelztiegelscherben und schleift sie nun einzeln auf der Außenseite ihres Schnabels durch fast nur augenblickliches Anhalten an eine schnell umlaufende Schmirgelscheibe. Die blau oder gelb angelaufenen S. erhalten diese Farbe durch Erhitzen in einer über Kohlenfeuer rotierenden Trommel aus Eisenblech. Diese Operation ist für alle S. erforderlich, da sie die Härte bestimmt, und es müssen daher diejenigen, welche nicht farbig in den Handel gebracht werden sollen, schließlich nochmals gescheuert werden. Zuletzt wird der Spalt mittels einer besonders gebauten kleinen Parallelschere erzeugt. Manche S. werden schließlich noch mit Schellackfirnis überzogen. Über die Erfindung der S. ist nichts Sicheres begannt. Die ersten S. soll auf Anregung des Chemikers Priestley der Metallwarenfabrikant Harrison in Birmingham hergestellt haben, aber erst sein Gehilfe Josiah Mason (gest. 1881) beutete die Erfindung aus und arbeitete Jahrzehnte für Perry, welcher als Begründer der Birminghamer Stahlfederindustrie gilt. Gegenwärtig gibt es 18 Stahlfedernfabriken: 13 in England, 2 in Nordamerika, 2 in Deutschland (Berlin und Plagwitz-Leipzig), 1 in Frankreich, welche zusammen wöchentlich 37½ Mill. Stück fabrizieren.

Stahlhof (Steelyard, wohl aus "Stapelhof" korrumpiert), die alte Faktorei der Hanseaten in London, die ihnen 1473 gegen eine Jahresmiete von 70 Pfd. Sterl. überlassen wurde und bis 1866 ihr Eigentum blieb, in welchem Jahr sie dieselbe an eine Eisenbahngesellschaft verkauften. Jetzt steht an der Stelle der Bahnhof in Canon Street.

Stahlquellen, s. v. w. Eisenquellen, s. Mineralwässer, S. 652.

Stahlrot, s. Englischrot.

Stahlrouge, s. Polierrot.

Stahlspiel, s. Lyra.

Stahlstein, s. Spateisenstein.

Stahlstich (Siderographie), die Vervielfältiggung von Bildwerken mittels geschnittener Stahltafeln, 1820 von dem Engländer Charles Heath erfunden. Das Verfahren dabei ist folgendes. Stahlblöcke oder Platten werden dekarbonisiert, d. h. des Kohlenstoffs beraubt, und dadurch bis zu dem Grad erweicht, daß sie sich beim Stich der Figuren noch besser behandeln lassen als Kupfer. Das Verfahren beim Stich ist dasselbe wie bei dem auf Kupfer, nur bedient man sich auf Stahl seltener und mit weniger Vorteil der kalten Nadel. Nach dem Stich wird durch ein chemisches Verfahren die Platte wieder gehärtet. Um den Stich auf andre Platten zu übertragen, schiebt man einen gleichfalls dekarbonisierten Cylinder von Stahl in die Übertragungspresse (transfer-press) und fährt damit über die eingeschnittenen Figuren der wieder gehärteten Stahlplatte hin. Die Einschnitte der Platte drücken sich hierbei dem Cylinder erhaben auf, und zwar wird es durch eine schwingende Bewegung der Presse und der Peripherie des Cylinders ermöglicht, daß sich immer eine neue Oberfläche zur Aufnahme des Stahlschnitts darbietet. Nachdem darauf der Cylinder ebenfalls gehärtet worden ist, drückt man damit auf neue dekarbonisierte Stahlplatten das ursprüngliche Bild der Originalplatte auf und druckt diese wie gewöhnlich ab. Auf diese Weise kann das Bild ins Unendliche vervielfältigt werden, so daß der 10,000. Abdruck nicht den geringsten Unterschied vom ersten zeigt. Dennoch ist für Kunstwerke höherer Gattung der Kupferstich in Geltung geblieben, da er größere Kraft, Sicherheit und Weichheit in der Linienführung gestattet, wogegen der S. besonders für solche Werke angewendet wird, welche einen starken Absatz versprechen, wie für Illustrationen, Veduten u. dgl. Der erste Stahlstecher in Deutschland war Karl Ludwig Frommel in Karlsruhe. Seit der Erfindung der Galvanoplastik, welche die Abnahme von Klischees von Kupferplatten gestattet, und der Verstählung von Kupferplatten ist der S. in Abnahme gekommen. Vgl. Kupferstecherkunst.

Stahlwasser, eisenhaltiges Mineralwasser.

Stahlweinstein, s. Eisenpräparate.

Stahr, Adolf Wilhelm Theodor, Schriftsteller, geb. 22. Okt. 1805 zu Prenzlau, widmete sich in Halle den klassischen Studien, ward 1826 Lehrer am Pädagogium daselbst und 1836 Konrektor am Gymnasium zu Oldenburg. Seine litterarische Thätigkeit erstreckte sich zunächst auf die Geschichte, Kritik und Erklärung der Schriften des Aristoteles. Hierher gehören seine "Aristotelia" (Halle 1830-32, 2 Bde.), ferner: "Aristoteles bei den Römern" (Leipz. 1834) und die Bearbeitung der Aristotelischen "Politik" (das. 1836 bis 1838), denen sich "Aristoteles und die Wirkung der Tragödie" (Berl. 1859) und die Übersetzungen von Aristoteles' Poetik, Politik, Rhetorik und Ethik (Stuttg. 1860-63) anschließen. Neben dieser philologischen Thätigkeit hatte sich S. frühzeitig auch den

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Stähr - Stair.

allgemeinen litterarischen Interessen zugewandt. Er gab eine Handschrift von Goethes "Iphigenia", die er in der Bibliothek zu Oldenburg entdeckt hatte, mit einem trefflichen Vorwort heraus, schrieb eine "Charakteristik Immermanns" (Hamb. 1842) und nahm an dem versuchten Aufschwung der Oldenburger Hofbühne lebhaften Anteil, den seine "Oldenburgische Theaterschau" (Oldenb. 1845, 2 Bde.) bethätigte. Einen Wendepunkt seines Lebens bildete seine Reise nach Italien, die er 1845 antrat und die er in seinem lebendig geschriebenen, farbenreichen und weitverbreiteten Buch "Ein Jahr in Italien" (Oldenb. 1847-50, 3 Bde.; 4. Aufl., das. 1874) eingehend schilderte. In Rom lernte er Fanny Lewald (s. d.) kennen, mit der er sich nach Trennung seiner ersten Ehe 1854 verheiratete. Schon vorher hatte er wegen Kränklichkeit seine Stellung am Oldenburger Gymnasium niedergelegt und sich 1852 in Berlin niedergelassen, wo er lebte, bis ihn Gesundheitsrücksichten nötigten, verschiedene Kurorte zu seinem Wohnsitz zu wählen. S. starb 3. Okt. 1876 in Wiesbaden. Seine litterarische Produktivität hatte während der Zeit seines Berliner Aufenthalts sich beständig gesteigert. Die poetischen Anläufe in dem Roman "Die Republikaner in Neapel" (Berl. 1849, 3 Bde.) und den Gedichten "Ein Stück Leben" (das. 1869) erwiesen keine eigentliche Produktionskraft. So wandte sich S. in zahlreichen Kritiken, Essays und selbständigen Werken zur Kunst- und Litteraturgeschichte. Seinem "Torso; Kunst, Künstler und Kunstwerke der Alten" (Braunschw. 1854- 55, 2 Bde.; 2. Aufl. 1878) folgten: "Lessing, sein Leben und seine Werke", eine populäre Biographie und Charakteristik, die raschen Eingang ins Publikum gewann (Berl. 1859, 2 Bde.; 9. Aufl. 1887); "Fichte", ein Lebensbild (das. 1862); "Goethes Frauengestalten" (das. 1865-68, 2 Bde.; 7. Aufl. 1882); "Kleine Schriften zur Litteratur und Kunst" (das. 1871-75, 4 Bde.). Aus Lebenserinnerungen, persönlichen Eindrücken, namentlich der zahlreichen Reisen, die er mit seiner Gattin unternahm, gingen die Bücher: "Die preußische Revolution" (Oldenb. 1850, 2 Bde.; 2. Aufl. 1852), "Weimar und Jena", ein Tagebuch (das. 1852, 2 Bde.; 2. Aufl. 1871), "Zwei Monate in Paris" (das. 1851, 2 Bde.), "Nach fünf Jahren", Pariser Studien (das. 1857, 2 Bde.), "Herbstmonate in Oberitalien" (das. 1860, 3. Aufl. 1884), "Ein Winter in Rom", gemeinsam mit Fanny Lewald (Berl. 1869, 2. Aufl. 1871), hervor, während er in der Schrift "Aus der Jugendzeit" (Schwerin 1870-77, 2 Bde.) seine Jugendtage schilderte. Heftigen Widerspruch erfuhren seine "Bilder aus dem Altertum" (Berl. 1863-66, in 4 Bänden), "Tiberius" (2. Aufl. 1873), "Kleopatra" (2. Aufl. 1879), "Römische Kaiserfrauen" (2. Aufl. 1880), "Agrippina, die Mutter Neros" (2. Aufl. 1880) enthaltend, in denen S. den Versuch unternahm, die bisherige historische Auffassung, namentlich des Tacitus, zu entkräften und die genannten historichen Gestalten zu reinigen und zu rechtfertigen.

Stähr, s. v. w. männliches Schaf, Bock.

Staigue-Fort (spr. stäckfort), vorgeschichtliches Festungswerk der Grafschaft Kerry (Irland), bestehend aus einer ohne Mörtel erbauten Ringmauer von 114 Fuß äußerm Durchmesser.

Stainer (Steiner), Jakob, berühmter Saiteninstrumentenmacher, geb. 14. Juli 1621 zu Absam bei Hall in Tirol, war ein Schüler von Amati zu Cremona. Im Leben von Sorgen und Mißgeschick heimgesucht, mußte er anfangs von seinen Violinen das Stück für 6 Gulden verkaufen. 1669 vom Erzherzog Leopold zum "Hofgeigenmacher" ernannt, wurde er gleichwohl von den Jesuiten als vermeintlicher Ketzer monatelang in Haft gehalten, verfiel in Wahnsinn und starb in größter Not 1683. Seine Geigen zeichnen sich durch besonders hohe Bauart und einen ganz vorzüglichen Ton aus und werden von Kennern jetzt teuer bezahlt. Auch sein Bruder Markus S. war als Instrumentenmacher bekannt. Vgl. Ruf, Der Geigenmacher J. S. (Innsbr. 1872).

Staines (spr. stehns), Stadt in der engl. Grafschaft Middlesex, 24 km westsüdwestlich von Hyde Park (London), an der Themse, hat lebhaften Produktenhandel und (1881) 4628 Einw. Die Jurisdiktion Londons über die Themse erstreckt sich seit 1280 bis hierher.

Stair (spr. stehr), 1) John Dalrymple, erster Graf von, brit. Staatsmann, geb. 1648, schloß sich wie sein als Jurist berühmter, 1690 zum Viscount S. erhobener Vater James Dalrymple (gest. 1695) Wilhelm III. von Oranien an, wurde 1691 zum Staatssekretär für Schottland ernannt, mußte aber wegen der von ihm 1692 angeordneten Niedermetzelung eines Clans jakobitischer Hochländer zu Glencoe, die das schottische Parlament für einen barbarischen Mord erklärte, 1695 seine Entlassung nehmen und wagte erst fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters im Oberhaus zu erscheinen. 1703 nichtsdestoweniger zum Grafen von S. ernannt, gehörte er zu den eifrigsten Vertretern der unter Königin Anna zu stande gebrachten Union zwischen England und Schottland und starb 18. Jan. 1707.

2) John Dalrymple, zweiter Graf von, Sohn des vorigen, brit. Staatsmann und Heerführer, geb. 1673 zu Edinburg, diente von 1702 bis 1709 unter Markborough in den Niederlanden und Deutschland und zeichnete sich in den Schlachten von Ramillies, Oudenaarde und Malplaquet aus. 1714 zum Gesandten in Paris ernannt, erlangte S. nach Ludwigs XIV. Tod bei dem Regenten so viel Einfluß, daß er den bourbonischen Familienbund zwischen Frankreich und Spanien sprengte und Frankreich vermochte, die Stuarts preiszugeben. 1720 aber erregte sein Widerstand gegen die Finanzpläne Laws den Unwillen der britischen Regierung und veranlaßte seine Zurückberufung. Erst nach dem Rücktritt Walpoles trat er wieder in den Staatsdienst, wurde Gesandter bei den Generalstaaten und 1742 Feldmarschall und Kommandeur der englischen Armee im österreichischen Erbfolgekrieg. Er drang mit seinem Heer bis Aschaffenburg vor und schlug 27. Juni 1743 die Franzosen unter Noailles bei Dettingen, verließ dann aber wegen Bevorzugung der hannoverschen Interessen und wegen Einmischung der Minister und Diplomaten die Armee. Infolge davon fiel er am Hof in Ungnade, bis der jakobitische Aufstand in Schottland (1745) ihn an die Spitze des in England aufgestellten Heers rief. Er starb 1. Mai 1747.

3) John Hamilton Dalrymple, achter Graf von, geb. 15. Juni 1771 aus einer Seitenlinie, diente seit 1790 in der britischen Armee, focht mit Auszeichnung 1794 und 1795 in Holland und Flandern und nahm 1807 an der Expedition nach Kopenhagen teil, worauf er zum Generalmajor befördert ward. 1832 wurde er ins Parlament gewählt, 1840 erbte er von seinem Vetter die Grafschaft S., und im April 1841 ward er als Lord Oxenfoord zum englischen Peer erhoben. In den Jahren 1840-41 und 1846-52 verwaltete er das Amt eines Großsiegelbewahrers für Schottland. Er starb 10. Jan. 1853 auf Oxenfoord Castle. Ihm folgten sein Bruder North Dalrymple, geb. 1776, gest. 9. Nov. 1864,

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Stake - Stallungen.

als neunter und dessen Sohn John, Viscount Dalrymple, geb. 1. April 1819, als zehnter Graf von S. Vgl. Graham, Annals and correspondence of the Viscount and the first and second Earls of S. (Edinb. 1875, 2 Bde.).

Stake, Wasserbaukunst, s. Buhne.

Stake (engl., spr. stehk), Einsatz, Einlage (beim Spielen, Wetten etc.).

Staket, Zaun aus Pfählen, Latten etc. (Staken).

Stakholz, s. Fachholz.

Stalagmiten und Stalaktiten, s. Tropfstein.

Stalaktitengewölbe, eine Gewölbeform des arabischen Baustils, welche durch Verbindung von einzelnen Gewölbstückchen den Eindruck von Tropfsteinbildungen hervorruft. S. Baukunst, S. 492.

Stalaktitenstruktur, s. Mineralien, S. 647.

Stalbent, Adriaen van, niederländ. Maler, geb. 1580 zu Antwerpen, wurde 1610 Freimeister daselbst und starb 1662. Er hat meist Landschaften andrer Künstler mit Figuren in der Art des H. van Balen staffiert, aber auch selbständige Landschaften in der bunten Manier der ältern vlämischen Schule und Figurenbilder gemalt. Werke von ihm befinden sich in den Galerien von Antwerpen, Kassel (Kirmes), Frankfurt a. M., Dresden (Midasurteil, Göttermahlzeit), Berlin und Schwerin.

Stalimene, Insel, s. Lemnos.

Stälin, Christoph Friedrich von, deutscher Geschichtsforscher, geb. 4. Aug. 1805 zu Kalw in Württemberg, studierte zu Tübingen und Heidelberg Theologie und Philologie, ward 1826 Bibliothekar in Stuttgart, 1846 Oberbibliothekar, 1869 Bibliothekdirektor und leitete die königliche Bibliothek diese lange Zeit mit großem Geschick und Erfolg. Auch die königliche Münz- und Medaillen-, ebenso die Kunst- und Altertümersammlung ordnete und verwaltete er. Er starb 12. Aug. 1873. Außer kleinern Arbeiten über württembergische Landeskunde verfaßte er die "Wirtembergische Geschichte" (Stuttg. 1841-73, 4 Bde.), sein Hauptwerk und die beste deutsche Provinzialgeschichte. Seit 1858 Mitglied der Historischen Kommission in München, redigierte er mit Waitz und Häusser die "Forschungen zur deutschen Geschichte". - Sein Sohn Paul, geb. 23. Okt. 1840, Archivrat in Stuttgart, schrieb "Geschichte Württembergs" (Gotha 1882 ff.).

Stall, s. Stallungen.

Stallbaum, Gottfried, Philolog und Schulmann, geb. 25. Sept. 1793 zu Zaasch bei Delitzsch, vorgebildet in Leipzig, studierte daselbst seit 1815, ward 1818 Lehrer am Pädagogium in Halle, 1820 an der Thomasschule zu Leipzig und 1835 Rektor dieser Anstalt. Seit 1840 auch außerordentlicher Professor an der Universität, starb er 24. Jan. 1861. S. hat sich besonders um Platon verdient gemacht, nicht bloß durch tüchtige Bearbeitung einzelner Dialoge, des "Philebus" (Leipz. 1820, 2. Ausg. 1826), "Euthyphro" (das. 1823), "Meno" (das. 1827, 2. Ausg. 1839), "Dialogorum delectus" (das. 1838, 2. Ausg. 1851), "Parmenides" (das. 1839, 2. Aufl. 1848), sondern vor allem durch seine Gesamtausgaben, die große kritische (das. 1821-25, 12 Bde.; der Text auch besonders in 8 Bänden), die kommentierte in der Jacobs-Rostschen "Bibliotheca graeca" (Gotha 1827-1860, 10 Bde.; zum Teil in wiederholten Auflagen, zuletzt von Wohlrab und Kroschel) und die Tauchnitzsche Stereotypausgabe (1 Bd., das. 1850 u. 1873; 8 Bde., 1850 u. 1866-74). Sonst sind zu nennen seine Ausgaben des Herodot (Gotha 1819, 3 Bde.; 2. Aufl. 1825-26) und des Kommentars zu Homer von Eustathios (das. 1825-30, 7 Bde.) sowie Bearbeitungen der Ruddimanschen "Institutiones grammaticae latinae" (das. 1823, 2 Bde.) und des Westerhofschen "Terentius" (das. 1830-31, 6 Bde.).

Stallfütterung, s. Futter, S. 811.

Stallungen, Wohnungen der landwirtschaftlichen Haustiere. Die Lage des Stalles muß leichte Ableitung der Flüssigkeiten gestatten und Ansammlungen von Grundwasser, welches, durch die Auswurfstoffe der Tiere verunreinigt, zum Träger von Krankheitserregern wird, vermeiden. Die Hauptfronte legt man gegen Osten und den Ausgang an diese Hauptfronte; Thüren an der Westseite erleichtern das Eindringen von Fliegen, die gegen Abend warme Stellen aufsuchen. In der Mitte der Höhe geteilte Thüren gestatten durch Öffnen der obern Thürflügel eine leichte und gründliche Ventilation. Der Feuersgefahr wegen bringt man zahlreiche Thüren an; um aber zu vermeiden, daß bei Öffnung derselben der Luftzug die Insassen trifft, stellt man die Thüren in der Regel an die Enden der sogen. Stallgasse, welche meist zugleich als Mistgang dient. Die Thürpfosten macht man rund oder doch an den Kanten abgerundet und versieht sie mit 1,5 m hohen senkrechten Walzen, um Beschädigungen der Tiere beim Aus- und Eindrängen in den Stall vorzubeugen; ebendeshalb müssen Thüren und Thürflügel sich stets nach außen öffnen und nicht von selbst zufallen. Gegenwärtig sind vielfach Schiebthüren in Gebrauch. Die Stallfenster bringt man womöglich hinter den Köpfen der Tiere an und so hoch, daß Lichtstrahlen wie Luftströmungen über den Tieren hinwegstreichen. Erlaubt dies die Anlage des Gebäudes nicht, dann verwendet man matt geschliffene oder blaue Glasscheiben und schützt diese gegen Zerbrechen durch Drahtgitter. Mit Oberlicht können Vorrichtungen zur Lufterneuerung verbunden werden, und mit teilweise beweglichen Fenstern kann man lüften, ohne das ganze Fenster zu öffnen, und ohne daß die eindringende kalte Luft die Tiere unmittelbar trifft. Die Fensterrahmen werden am besten von Eisen hergestellt. Zur Ventilation der S. dürften senkrechte, an dem First ausmündende Dunstkamine immer noch verhältnismäßig ebensoviel leisten wie die neuern kostspieligen Einrichtungen. Die Abzugskanäle bleiben in kleinern S. am besten offen, werden aber wasserdicht eingerichtet und mit Wasserleitungsröhren in Verbindung gebracht. Offene, nicht zu tiefe Stallrinnen sind der bequemen und gründlichen, auch leicht kontrollierbaren Reinigung wegen vorzuziehen. Die größte Dauer und die sicherste Abscheidung zwischen Stall und darüber gelegenen Räumen gewähren steinerne Gewölbe, doch benutzt man auch Konstruktionen mit Eisenbahnschienen; bei Anwendung von Holz ist für enge Verbindung der einzelnen Bretter (Einlegen in Falze) zu sorgen. Der Fußboden soll den Tieren eine bequeme und nicht abkühlende Lagerstätte bieten, er darf daher nach hinten nur geringen Fall haben und nicht aus guten Wärmeleitern hergestellt sein. Das beste Pflasterungsmaterial geben hartgebrannte Backsteine ab. Die sogen. Brückenstände, d. h. über flache Kanäle gelegte Dielenböden, sind teuer, nicht dauerhaft und unreinlich, geben aber allerdings die wärmste Unterlage.

Das Baumaterial für Ställe darf nicht porös sein, um die bei Zersetzung des Urins sich bildenden Stoffe nicht aufzusaugen. Die Bildung von Salpeter an den Stallwänden erhält diese stets feucht. Der Raumbedarf in den Ställen ist nach Tiergattung, Zahl der Tiere und den Nutzungszwecken äußerst verschieden zu bemessen. Man unterscheidet: a) freie,

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Stallupönen - Stamma.

offene Standplätze ohne Abgrenzung; b) Standplätze mit beweglichen Abscheidungen, den sogen. Latier- oder Raumbäumen, die an Säulen befestigt werden oder an Ketten hängen; c) Kastenstände, Standplätze mit festen Trennungsscheidewänden; d) Laufstände, Loose boxes, zur Aufnahme Eines frei gehenden Tiers ohne Raum zum Tummeln; e) Laufställe für mehrere frei gehende Tiere mit Raum zum Tummeln, für junge Tiere, Mutter mit Jungen etc.; f) Paddocks, Stallräume für einzelne Tiere, meist Pferde, z. B. Zuchtpferde, mit Ausgang in einen sicher abgegrenzten Hofraum, Tummelplatz oder in Weideabteilungen. Ein Pferd bedarf eines 1,70 m breiten und 3 m langen Standplatzes, nur bei beweglicher Abscheidung durch Latierbäume kann die Breite um 10-20 cm geringer sein; in Boxen berechnet man aufs Pferd 3 qm. Rindviehställe sollen Standplätze von 1,4 m Breite bei 2,8 m Länge haben, Kälber und Jungvieh solche von 2-3 qm. Bei Schafen veranschlagt man den Raum auf 2 für das einzelne Stück, für frei gehende auf 1 qm. Hinter den Standplätzen wird ein genügend breiter Stallgang eingerichtet (1,6-2,0-3,0 m breit), damit, namentlich in Pferdeställen, Menschen und Tiere ungefährdet verkehren können. In größern landwirtschaftlichen S. ist dieser Gang häufig breit genug, um das Einfahren von Futter- und Mistwagen zu gestatten. Stehen die Tiere in zwei Reihen mit den Köpfen einander gegenüber, wie vielfach in Rindviehställen, so wird dazwischen ein erhöhter Futtergang oder ein Futtertisch nötig; letzterer erleichtert die Fütterung erheblich. Zum Vorlegen des "Kurzfutters": Körner, Schrot, Häcksel, Wurzeln etc., vielfach auch zur Aufnahme des Getränks, dienen die Krippen. Abteilung der Krippe für die einzelnen Tiere (Krippenschüsseln für Pferde) gestattet die Zuteilung bestimmter Ration an jedes, zugleich auch die Kontrolle der Freßlust. Krippen aus weichem Holz sind schwer zu reinigen und begünstigen daher die Zersetzung des Futters; das beste Material sind: Granit, Jurakalk, gut gebrannte Backsteine, Zementguß; für Pferdeställe gußeiserne, innen gut emaillierte Krippenschüsseln. Hölzerne Krippen sowie hölzerne Krippenträger in Pferdeställen müssen zum Schutz gegen das Benagen durch die Tiere mit Eisenblech beschlagen werden. In den gewöhnlich oberhalb der Krippen angebrachten, meist leiter- oder korbförmigen Raufen wird das Lang- oder Rauffutter (fälschlich Rauh- oder Rauchfutter): Heu, Stroh, Grünfutter, verabreicht. Zur Vermeidung von Verletzungen an Kopf und Augen hat man die "Nischenraufe" empfohlen, bei welcher einige Zentimeter über der Krippe in einer Mauernische, vor der eine senkrechte Leiterraufe angebracht ist, das Langfutter dargereicht wird. Vgl. Rueff, Bau und Einrichtung der S. (Stuttg. 1875); Miles, Der Pferdestall (Frankf. a. M. 1862); Engel, Der Viehstall (2. Aufl., Berl. 1889); Derselbe, Der Pferdestall (das. 1876); Gehrlicher, Der Rindviehstall (Leipz. 1879); Wanderley, Die Stallgebäude (Karlsr. 1887).

Stallupönen, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Gumbinnen, an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen der Preußischen Staatsbahn, 80 m ü. M., hat ein Amtsgericht, ein Warendepot der Reichsbank, Maschinenfabrikation, Gerberei, Ziegelbrennerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Ulanen Nr. 12) 4181 meist evang. Einwohner.

Stalwarts (engl., "Starke", "Mutige"), in Nordamerika Name derjenigen Republikaner, welche die Herrschaft dieser Partei nach dem Bürgerkrieg rücksichtslos zu ihrem Vorteil ausbeuten wollten und deshalb 1879 für die dritte Wahl Grants zum Präsidenten, wiewohl vergeblich, eintraten; ihre Führer waren Conkling, Cameron und Logan. Ihre Gegner in der Partei, die zur Versöhnung mit den Demokraten geneigten, der Korruption feindlichen Republikaner (unter Schurz und Curtis), hießen Mugwumps.

Stalybridge (spr. stehlibriddsch), Fabrikstadt an der Grenze von Cheshire und Lancashire (England), am Tame, hat Baumwollmanufaktur, Maschinenbau, Nagelschmieden und (1881) 25,977 Einw.

Stambul, türk. Name für Konstantinopel.

Stambulow, St., bulgar. Staatsmann, geb. 1853 zu Tirnowa, studierte in Rußland die Rechte, erregte 1875 in Eski Zagra einen Aufstand gegen die Türken, mußte nach dessen Scheitern nach Bukarest fliehen, nahm 1877-78 als Freiwilliger am russisch-türkischen Krieg teil, ließ sich darauf in Tirnowa als Advokat nieder und ward Mitglied und bald Präsident der Sobranje. Als 21. Aug. 1886 der Staatsstreich gegen den Fürsten Alexander ausgeführt und eine revolutionäre Regierung eingesetzt wurde, stürzte er diese im Verein mit Mutkurow und Karawelow und bildete mit diesen eine neue Regierung, der nach der Abdankung Alexanders 7. Sept. die Regentschaft übertragen wurde. Er behauptete sich gegen alle Ränke seiner Nebenbuhler und die Wühlereien der russischen Agenten, besonders des Generals Kaulbars, und bewirkte 7. Juli 1887 die Wahl des Fürsten Ferdinand, nach dessen Regierungsantritt (14. Aug.) er an die Spitze des Ministeriums trat.

Stamen (lat.), Staubgefäß (s. d.).

Stamford, 1) Stadt in Lincolnshire (England), am schiffbaren Welland, hat mehrere alte Kirchen, ein Museum, Brauereien, Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Handel mit Malz, Kohlen und Bausteinen und (1881) 8773 Einw. 1572 ließen sich vlämische Weber hier nieder. -

2) Hafenstadt im nordamerikan. Staat Connecticut, am Long Island-Sound, hat Eisen-, Woll- und Farbefabriken und (1880) 2540 Einw.; beliebter Sommeraufenthalt.

Staminodie (lat.-griech.), die durch vor- oder rückschreitende Metamorphose bewirkte Umbildung eines Blütenteils in ein Staubblatt (s. Staubgefäß).

Stamm, in der Botanik im weitesten Sinn s. v. w. Stengel (s. d.); im engern Sinn derjenige Teil des Stengels, welcher als unmittelbare Fortsetzung der Wurzel nach oben sich vertikal erhebt und größern Umfang besitzt als die in einer gewissen Höhe seitlich von ihm ausgehenden Äste. In der Sprachlehre ist S. der Teil des Wortes, welcher nach Ausscheidung aller Beugungsformen übrigbleibt; z. B. Haus in Haus-es, ruf in ruf-en. Trennt man auch die Ableitungssilben ab, so erhält man die Wurzel, wie z. B. in er-wach-en "erwach" der S., "wach" die Wurzel ist. Häufig fällt indessen der S. mit der Wurzel zusammen. Ferner versteht man unter S. Menschen oder Familien und Geschlechter, welche ihre Abkunft von Einem Elternpaar (Stammeltern) in ununterbrochener Reihe abzuleiten vermögen. Im Militärwesen heißt S. der Teil einer Truppe, welcher bei der Fahne bleibt, während die andern in die Heimat entlassen und durch Rekruten ersetzt werden.

Stamma, Philipp, Schachmeister, gebürtig aus Aleppo in Syrien, ist der Verfasser eines der bekanntesten ältern Schachbücher, der "100 künstlichen Endspiele", 1737 zu Paris erschienen und herausgegeben von Bledow und O. v. Oppen (Berl. 1856). S. war der erste, welcher die jetzt bei uns gebräuchliche Notation mit Buchstaben und Zahlen anwendete.

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Stammakkord - Stampiglia.

Stammakkord, in der Harmonielehre der Gegensatz der abgeleiteten Akkorde. Man versteht unter S. meist einen in lauter Terzen aufgebauten Akkord, also Dreiklang, Septimenakkord oder Nonenakkord; die Umkehrungen dieser Akkorde (abgeleiteten Akkorde), bei denen die Terz, Quinte, Septime oder None tiefster Ton ist, sind Sextakkord, Quartsextakkord, Quintsextakkord, Terzquartsextakkord, Sekundquartsextakkord etc. Doch kann man die Bezeichnung S. auch als Gegensatz der durch Alteration oder Vorhalte veränderten reinen Harmonien gebrauchen.

Stammaktien, s. Aktie, S. 263.

Stammbaum, die Aufstellung der Nachkommenschaft einer bestimmten Persönlichkeit in männlicher Linie, in welcher die Töchter zwar aufgezählt werden können, aber (falls sie in ein andres Geschlecht heiraten) nicht deren Nachkommenschaft. Der Name S. rührt von dem Gebrauch her, die Aufstellung in der Form eines Baums zu entwerfen, an welchem die Zweige die verschiedenen Linien eines Geschlechts darstellen. Vgl. Genealogie.

Stammbuch, s. Album.

Stammeln, s. Stottern und Stammeln.

Stammgüter, im weitern Sinn diejenigen von den Vorfahren ererbten Immobilien, welche die Bestimmung haben, bei der betreffenden Familie zu bleiben. Im einzelnen wird aber dabei wiederum zwischen Stammgütern im engern Sinn, zwischen Familienfideikommiß- und Erbgütern unterschieden. Erstere (bona stemmatica) sind Familiengüter des höhern und niedern Adels, bei welchen die Erbfolge vermöge Herkommens nur auf Agnaten, d. h. auf die durch Männer miteinander verwandten männlichen Familienangehörigen, übergeht. Bei den Familienfideikommißgütern ist durch besondere Disposition bestimmt, daß dieselben stets bei der Familie bleiben sollen (s. Fideikommiß), während die Erbgüter endlich, welche sich früher auch beim Bürgerstand fanden, dadurch ausgezeichnet sind, daß ihre Veräußerung, abgesehen von besondern Notfällen, im Interesse der Intestaterben untersagt oder doch erschwert ist. Vgl. Bärnreither, Stammgütersystem und Anerbenrecht in Deutschland (Wien 1882).

Stammkapital, s. Aktie, S. 262.

Stammprioritäten, s. Aktie, S. 264.

Stammregister, s. v. w. Juxtabuch (s. d.).

Stammrolle, das für Aushebungszwecke geführte Verzeichnis aller im militärpflichtigen Alter stehenden Männer eines Ortes; auch die Liste der Mannschaften einer Kompanie, Eskadron etc.

Stammtafel, s. Genealogie.

Stammtöne, in der Musik die Töne ohne Vorzeichen, von denen alle übrigen durch ^[Kreuz], ^[B], ^[Doppelkreuz] und ^[Doppel-B] abgeleitet sind. Die Folge der S. in Sekundschritten (Grundskala) ist und war schon im Altertum die Folge von 2 Ganztönen, 1 Halbton, 3 Ganztönen, 1 Halbton, welche sich in allen Oktaven wiederholt:

^[siehe Bildansicht]

Eine Ausnahme machen nur die noch ältern fünftönigen Skalen (archaistische Tonleitern), welche sich der Halbtonschritte gänzlich enthalten und daher den untern oder obern Ton des Halbtonintervalls auslassen, so in uralter Zeit bei den Chinesen, aber auch bei den Griechen, Schotten (Tonleiter ohne Quarte und Septime) und vermutlich überall.

Stammzuchtbuch, s. Herdbuch.

Stamnos, altgriech. faßartiges Vorratsgefäß aus gebranntem Thon zur Aufbewahrung von Wein, Öl u. dgl. (s. Tafel "Vasen", Fig. 7).

Stampa (ital.), Gepräge, Stempel; Druck, Druckerei; Stampatore, Buchdrucker.

Stampa, Gaspara, ital. Dichterin, geb. 1524 zu Padua, wird nicht mit Unrecht die "Sappho ihrer Zeit" genannt, denn auch ihr bereitete eine verkannte, unerwiderte Liebe, deren Sehnsucht sich in ihren Liedern ergoß, ein frühes Grab. Sie starb 1554 in Venedig. Ihre Gedichte, die sie selbst auch zur Laute sang, haben einen musikalischen Charakter und zeichnen sich durch ungewöhnliche Innigkeit wie durch leidenschaftliches Pathos vorteilhaft aus. Sie erschienen Venedig 1554 (neuere Ausg., das. 1738).

Stampalia (griech. Astropalia, türk. Ustopalia), türk. Insel im Ägeischen Meer, südöstlich von Amorgos, 136 qkm (2½ QM.) groß, besteht aus zwei gebirgigen Hälften, die durch einen schmalen Isthmus verbunden sind, hat mehrere treffliche Häfen und Reste aus dem spätern Altertum und den ersten christlichen Zeiten. Auf dem Isthmus liegt die Stadt S., mit Bergschloß und 1500 Einw. Im Altertum hieß die Insel Astypaläa.

Stampfbau, s. Pisee.

Stampfen, die oszillierende Bewegung eines Schiffs um seine Querachse, bei welcher Bug und Heck abwechselnd aus- und eintauchen.

Stämpfli, Jakob, schweizer. Staatsmann, geb. 1820 zu Schupfen im Kanton Bern, widmete sich zu Bern juristischen Studien, ward 1843 Advokat und trat 1845 als Redakteur der "Berner Zeitung", des Organs der radikalen Partei, in Opposition zu der gemäßigt liberalen Fraktion, welche damals am Ruder war. In dem auf seinen Betrieb berufenen Verfassungsrat führte er neben Ochsenbein die Hauptstimme. Im Juli 1846 in den Regierungsrat berufen, übernahm er die Leitung der Finanzen und führte direkte Besteuerung, Aufhebung aller Feudallasten und Zentralisation des Armenwesens durch. 1849 wurde er Regierungspräsident, mußte aber 1850 beim Sturz der radikalen Partei ins Privatleben zurücktreten. 1849 von seinem Kanton in den schweizerischen Ständerat und 1850 in den Nationalrat gewählt, dem er 1851 und 1854 präsidierte, wurde er, nachdem er eben infolge der Fusion der beiden bernischen Parteien wieder in die Regierung des Kantons getreten war, im Dezember 1854 an Stelle Ochsenbeins in den Bundesrat berufen. 1856 und 1862 Bundespräsident, nahm er in der Neuenburger wie in der Savoyer Frage eine energische Stellung ein und forderte vergeblich den Bau und Rückkauf der Eisenbahnen durch den Staat, erfreute sich aber gerade deshalb außerordentlicher Popularität. 1863 schied er aus dem Bundesrat und stand 1865-78 der sogen. Eidgenössischen Bank vor. 1872 wurde er vom Bundesrat zum Mitglied des internationalen Schiedsgerichts in der Alabamafrage ernannt. Er starb 15. Mai 1879 in Bern.

Stampfmühle (Stampfwerk), Maschine, welche aus niederfallenden Stampfen besteht und zum Zerkleinern der Ölfrüchte in Ölmühlen, der Ingredienzien zur Anfertigung von Schießpulver, der Materialien in Porzellan-, Glas- und dergleichen Fabriken, der Hadern in Papierfabriken, der Mineralien (Pochen) etc., zum Boken des Hanfs, zum Kalandern der Leinengewebe, zum Klopfen des Leders etc. dient. Vgl. Pochwerke.

Stampiglia (ital., spr. -pillja), "Stempel", wel-

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Stams - Standesherren.

cher zum Abdruck des Titels einer Behörde, Anstalt, Firma etc. mittels Druckerschwärze oder Farbe aus Dokumenten, Briefen, Rechnungen u. dgl. benutzt wird.

Stams, Dorf in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Imst, im Oberinnthal, an der Arlbergbahn, hat (1880) 565 Einw. und eine berühmte Cistercienserabtei (1271 von Elisabeth, der Mutter Konradins, gegründet) mit Bibliothek, reichen Sammlungen und der Gruft tirolischer Fürsten in der Klosterkirche.

Stanco (türk. Istankoi, das alte Kos), türk. Insel im Ägeischen Meer, an der Südwestspitze von Kleinasien, 246 qkm (4½ QM.) groß, ist bergig, aber an der Nordküste eben und fruchtbar, liefert Südfrüchte (Export jährlich 10-20,000 Ztr. Rosinen), trefflichen Wein und Salz und hat ca. 11,000 Einw., meist Griechen. - Die gleichnamige Stadt, an der Nordostküste, ist Sitz eines Bischofs und eines türkischen Kaimakams, hat eine alte Citadelle, einen schlechten Hafen und 3000 Einw.

Stand, s. Stände.

Standard (engl., spr. stanndard), s. v. w. gesetzlich, normal, mustergültig, z. B. s. gold, Goldlegierung von dem Gesetz entsprechendem (11/12) Feingehalt.

Standard Hill, Hügel in der engl. Grafschaft Nork, bei Cutton, berühmt durch die Standartenschlacht zwischen Engländern und Schotten 22. Aug. 1138, in der 11,000 der letztern blieben.

Standard of life (engl., spr. leif, "Lebenshaltung"), dasjenige, was der Mensch zum Leben braucht, um die von ihm erreichte Kulturhöhe zu behaupten. Vgl. Existenzminimum.

Standarte (v. franz. étendard), ursprünglich das kaiserliche Reichsbanner, jetzt die Fahne der Kavallerie, mit kleinerm Tuch als die Fahne der Infanterie. Die Stange (Schaft) mit Metallbeschlägen steht mit der untern Spitze im Standartenschuh am rechten Steigbügel. Früher führte jede Eskadron eine S., jetzt hat in der Regel ein Kavallerieregiment nur eine Fahne. - In der Jägersprache heißt S. der Schwanz des Fuchses.

Standbein, in der Bildhauerkunst bei einer stehenden menschlichen Figur dasjenige Bein, auf welchem nach Maßgabe der gewählten Stellung die Hauptlast des Körpers ruht. Das andre heißt Spielbein.

Ständchen, s. v. w. Huldigungsmusik, Serenade, doch nicht wie letztere mit der Vorstellung einer bestimmten Tageszeit verknüpft, da es Abend- und Morgenständchen gibt. Der Form nach kann das S. in einem Lied bestehen, das der Liebhaber unter dem Fenster der Geliebten singt, aber auch aus größern Vorträgen vom Chor, ja Orchester.

Stände, im juristischen Sinn Bezeichnung für die verschiedenen Klassen von Personen, welchen entweder vermöge ihrer Geburt (Geburtsstände) oder infolge ihrer Berufsthätigkeit (Berufsstände, erworbene S.) gewisse besondere Befugnisse zustehen oder besondere Verpflichtungen auferlegt sind. Auf dem erstern Einteilungsgrund beruht der Unterschied zwischen Adligen und Nichtadligen (s. Adel), auf dem letztern derjenige zwischen Bürger- und Bauernstand, beide in rechtlicher Hinsicht jetzt nahezu bedeutungslos. Im gewöhnlichen Leben werden aber auch als S. gewisse Klassen von Personen bezeichnet, welche wegen Gleichartigkeit ihrer Interessen und ihrer Beschäftigung als zusammengehörig zu betrachten sind, wie man denn z. B. von dem Gelehrten-, Beamten-, Handwerkerstand etc. zu sprechen pflegt. Auch wird der Ausdruck S. zur Bezeichnung der Landstände (s. Volksvertretung) gebraucht.

Ständer, in der Heraldik eine gewöhnlich aus dem rechten Obereck des Schildes hervorkommende halbe Schräglinie, gegen welche eine halbe Teilungslinie von der Mitte des Schildrandes gezogen ist. Einen "geständerten" Schild s. Heroldsfiguren, Fig. 14. In der Jägersprache bezeichnet der Ausdruck S. die Füße des eßbaren Federwildes sowie der nicht zu den Schwimmvögeln gehörigen Wasservögel; ständern, die S. durch einen Schuß verletzen.

Standesamt, s. Personenstand.

Standesbeamter (Zivilstandsbeamter), der zur Beurkundung der Geburten, Heiraten und Sterbefälle bestellte staatliche Beamte (s. Personenstand).

Standeserhöhung, die Versetzung aus dem bürgerlichen Stand in den Adelstand oder die Erhebung von einer niedrigern Adelstufe zu einer höhern. S. Adel, S. 109.

Standesgehalt, in manchen Staaten, namentlich in Bayern, der feststehende und unwiderrufliche Gehalt des Staatsdieners, neben welchem ein mit den Jahren steigender Dienstgehalt besteht.

Standesherren (Mediatisierte), die Mitglieder derjenigen fürstlichen und gräflichen Häuser, welche vormals reichsunmittelbar waren und Reichsstandschaft besaßen, deren Territorien aber bei der Auflösung des frühern Deutschen Reichs andern deutschen Staaten einverleibt wurden (s. Mediatisieren); im engern Sinn die Häupter dieser Familien. Die zu dem vormaligen Deutschen Bund vereinigten Regierungen gaben den S. in der Bundesakte (Art. 14) die Zusicherung, daß diese fürstlichen und gräflichen Häuser zu dem hohen Adel Deutschlands gerechnet werden sollten, und daß ihnen das Recht der Ebenbürtigkeit (s. d.) verbleiben solle. Spätere Bundesbeschlüsse sicherten den Fürsten das Prädikat "Durchlaucht" und den Häuptern der vormals reichsständischen gräflichen Familien das Prädikat "Erlaucht" zu. Außerdem wurden den Mediatisierten folgende Rechte garantiert: Die unbeschränkte Freiheit, ihren Aufenthalt in jedem zu dem Bund gehörenden oder mit demselben in Frieden lebenden Staat zu nehmen; ein Vorrecht, welches mit der nunmehrigen allgemeinen Freizügigkeit gegenstandslos geworden ist. Ferner sollten die Familienverträge der S. aufrecht erhalten werden, indem den letztern zugleich die Befugnis zugesichert ward, über ihre Güter- und Familienverhältnisse, vorbehaltlich der Genehmigung des Souveräns, gültige Bestimmungen zu treffen. Hierüber sind jetzt die Landesgesetze der einzelnen deutschen Staaten maßgebend. Die den S. weiter für sich und ihre Familien garantierte Befreiung von der Wehrpflicht ist auch in dem Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 9. Nov. 1867, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst, anerkannt. Wenn aber den S. außerdem noch ein privilegierter Gerichtsstand sowie die Ausübung der bürgerlichen Rechtspflege und der Strafgerichtsbarkeit in erster und, wo die Besitzung groß genug, auch in zweiter Instanz sowie die Ausübung der Forstgerichtsbarkeit zugesichert ward, so sind die Überbleibsel dieser Gerechtsame durch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 beseitigt. Endlich sind auch die Zusicherungen, welche den S. in Ansehung der Ausübung der Ortspolizei und der Aufsicht in Kirchen- und Schulsachen erteilt worden waren, nach der modernen Gesetzgebung als hinfällig anzusehen. Überhaupt bedarf das Verhältnis der S. der anderweiten Regelung durch die Gesetzgebung derjenigen Staaten, welchen die S. im einzelnen angehören. Dies ist wenigstens die Auffassung des Bundesrats, und in diesem Sinn ist bereits Preußen z. B. mit der gesetzlichen Regelung

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Standesregister - Stang.

der Rechtsverhältnisse des vormaligen Herzogtums Arenberg-Meppen vorgegangen. Übrigens hatte die deutsche Bundesversammlung nachmals auch verschiedenen Familien, welche nicht zu den Mediatisierten im Sinn der Bundesakte gehörten, die Befugnisse der S. verliehen. Dies bezog sich jedoch nicht auf die Grundbesitzungen der Betreffenden, die damit nicht zu einer sogen. Standesherrschaft wurden, sondern nur auf die persönliche Stellung, weshalb man in solchen Fällen von standesherrlichen Personallisten sprach. Hervorzuheben ist endlich noch, daß den S. regelmäßig in den Staatsverfassungen der deutschen Länder die erbliche Mitgliedschaft in der Ersten Kammer eingeräumt ist. Vgl. Vollgraf, Die deutschen S. (Gieß. 1823); Vahlkampf, Die deutschen S. (Jena 1844); "Die Stellung der deutschen S. seit 1866" (2. Aufl., Berl. 1870); Heffter, Sonderrechte der souveränen und vormals reichsständischen Häuser Deutschlands (das. 1871).

Standesregister, s. Personenstand.

Ständeversammlung, s. v. w. Landtag.

Standfähigkeit (Stabilität) nennt man das Vermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüber zu behaupten. Auf einer wagerechten Ebene bleibt ein Körper stehen, wenn die durch seinen Schwerpunkt, in welchem das Gewicht des Körpers vereinigt zu denken ist, gezogene lotrechte Linie die Unterstützungsfläche des Körpers trifft. Stützt sich ein Körper nur in einzelnen Punkten auf die Unterlage, so ist als Unterstützungsfläche die Fläche anzusehen, welche man erhält, wenn man die äußersten Stützpunkte durch gerade Linien verbindet. Bei einem stehenden Menschen bilden nicht bloß die Fußsohlen, sondern auch der zwischen ihnen liegende Raum, welcher beiderseits von den Sohlen, vorn durch eine die Fußspitzen, hinten durch eine die Fersen verbindende gerade Linie begrenzt wird, die Stützfläche. Trägt ein Mensch eine Last, so muß er, um nicht zu fallen, seinen Körper derart neigen, daß die durch den gemeinsamen Schwerpunkt des Körpers und der Last gezogene Lotrechte den Boden innerhalb jener Stehfläche trifft. Um einen Körper umzuwerfen, muß man ihn um eine Kante oder einen Punkt (a der Figur) des Umfanges seiner Unterstützungsfläche so lange drehen, bis sein Schwerpunkt lotrecht über jener Kante oder jenem Punkt liegt; läßt man ihn los, ehe diese Lage erreicht ist, so fällt er in seine frühere Stellung zurück; dreht man ihn aber nur ein wenig über jene Lage hinaus, so stürzt er um und bleibt in einer neuen Stellung liegen. Soll das Umkanten durch eine wagerecht am Schwerpunkt (S) des Körpers angreifende Kraft (K) bewirkt werden, so muß das Drehungsbestreben dieser Kraft dem entgegengesetzten der Schwere (G) mindestens gleich sein, oder die Kraft K, multipliziert mit ihrer Entfernung (ab) vom Drehpunkt (d. h. mit der Höhe des Schwerpunktes über der Grundfläche), muß gleich sein der Kraft G oder dem Gewicht des Körpers, multipliziert mit ihrer Entfernung (ac) vom Drehpunkt (d. h. mit der halben Breite der Stützfläche). Die Standfestigkeit des Körpers, für welche die Kraft K das Maß darstellt, steht demnach im geraden Verhältnis zu dem Gewicht des Körpers und zur Breite seiner Stützfläche und im umgekehrten Verhältnis der Höhe des Schwerpunktes über der Grundfläche, oder ein Körper steht um so fester, je größer sein Gewicht und je breiter seine Stützfläche ist, und je tiefer sein Schwerpunkt liegt. Ein Körper, welcher um eine wagerechte feste Achse drehbar ist, befindet sich der Schwerkraft gegenüber in jeder beliebigen Lage im Gleichgewicht, wenn sein Schwerpunkt genau in der Drehungsachse liegt: man sagt alsdann, er befinde sich im "gleichgültigen" oder indifferenten Gleichgewicht. Liegt sein Schwerpunkt lotrecht über der Achse, so wird der Körper, sobald man ihn aus dieser Gleichgewichtslage nur ein wenig herausdreht, von der Schwere nach der Seite weiter gedreht, nach welcher er sich neigt; man nennt daher in diesem Fall sein Gleichgewicht unsicher, unbeständig oder labil. Er "schlägt um" und dreht sich so lange, bis sein Schwerpunkt lotrecht unter der Achse liegt; in dieser Lage ist sein Gleichgewicht sicher, beständig oder stabil, denn wird er aus dieser Lage herausgebracht, so wird er durch die Schwerkraft immer wieder dahin zurückgeführt.

Standgeld (Stättegeld), Vergütung für den dem Verkäufer für Aufstellung seiner Waren etc. überlassenen Raum auf Märkten, öffentlichen Plätzen etc.

Standgericht, früher Ausnahmegericht bei Unterdrückung von Empörungen und innern Unruhen, dessen Urteile der in einem Ort oder Lager anwesende oberste Befehlshaber sofort bestätigen und vollziehen lassen konnte. Das Standrecht proklamieren hieß der Einwohnerschaft und den Soldaten kundgeben, daß solche Ausnahmegerichte eingesetzt sind. Jetzt ist das S. in Deutschland im Gegensatz zu dem mit der höhern Gerichtsbarkeit betrauten Kriegsgericht das Organ der niedern Militärgerichtsbarkeit, zuständig über Unteroffiziere und Gemeine für Vergehen, auf die keine strengere Strafe gesetzt ist als Arrest und Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes.

Sündhaftigkeit heißt das geduldige Ertragen vermeidlicher Übel dann, wenn das Vermeiden derselben den Duldenden einem sittlichen Tadel aussehen würde.

Standia, Insel, s. Dia.

Standish (spr. stänndisch), Stadt in Lancashire (England), 5 km nordwestlich von Wigan, mit Kohlengruben und (1881) 4261 Einw. Hier Lancashire-Verschwörung zur Restauration der Stuarts.

Standrecht, s. Standgericht.

Standrede, kurze Rede aus dem Stegreif.

Standrohre, s. Handfeuerwaffen, S. 102.

Standtreiben, s. Treibjagd.

Standwild, das Wild, welches sich an gewissen Örtlichkeiten zu halten und von diesen nicht weit zu entfernen pflegt, im Gegensatz zu Wechselwild.

Stang, 1) F., norweg. Staatsmann, geb. 1810, trat 1845 als Chef des Departements des Innern in die norwegische Regierung ein, legte aber nach zehn Jahren 21. April 1856 sein Amt einer Nervenkrankheit wegen nieder. Nachdem er sich von derselben in der Schweiz erholt hatte, ward er 1857 während der Krankheit des Königs Mitglied der interimistischen Regierung und vertrat 1859-60 Christiania im Storthing. 1861 bildete er ein neues Ministerium, das er 1873 erneuerte, und war seitdem Staatsminister des Königreichs. Durch Beförderung der Eisenbahn- und Wegebauten sowie durch seine ausgezeichneten persönlichen Eigenschaften erwarb er sich große Sympathien und Anhänglichkeit, so daß er sich auch während des langjährigen Streits mit der radikalen Majorität des Storthings im Amt behauptenkonnte. Anfang Oktober 1880 erhielt er unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste vom König die

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Stange - Stanhope.

erbetene Entlassung. Das Storthing bewies ihm aber seine Feindseligkeit dadurch, daß es 1881 die für ihn beantragte Pension von 12,000 Kronen auf die Hälfte herabsetzte, obwohl S. 1856-60 eine höhere (10,000 Kronen) bezogen hatte. Eine bedeutende Geldsumme, welche die konservative Partei zur Entschädigung aufbrachte, verwandte S. zu wohlthätigen Zwecken. Er starb 8. Juni 1884.

2) Rudolf, Kupferstecher, geb. 26. Nov. 1831 zu Düsseldorf, bildete sich unter I. Keller auf der dortigen Akademie von 1845 bis 1856. Sein erstes größeres Werk war eine Madonna mit dem Kind nach Deger in ausgeführter Linienmanier. Die Verkündigung Mariä, nach Degers Freskobild auf Stolzenfels, trug ihm 1861 in Metz eine Medaille ein. Zu Goethes Frauengestalten, nach Kaulbach, stach er drei Blätter: die Muse, Mignon und Eugenie. 1865 ging er nach Italien, wo er eine Zeichnung nach Raffaels Sposalizio fertigte. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, vollendete er deren Stich 1873 und wurde in Anerkennung dieses vortrefflichen Blattes von den Akademien zu Berlin, München und Brüssel zum Mitglied ernannt; auch erhielt er vom König von Preußen den Professortitel. Von 1874 bis 1875 war er wieder in Italien, wo er Zeichnungen zu einem großen Stich des Abendmahls nach Leonardo da Vinci und einem kleinern Blatt, Fornarina, nach Raffael ausführte. 1876 fertigte er einen Stich nach Landelles Fellahmädchen, und 1881 wurde er als Professor der Kupferstecherkunst an die Akademie zu Amsterdam berufen, wo er den Stich nach Leonardos Abendmahl, sein Hauptwerk, 1888 vollendete.

Stange, schwed. Längenmaß, = 2,969 m; 10 Stangen = 1 Schnur.

Stangengehörn, s. Geweih, S. 285.

Stangenkohle, s. Braunkohle und Steinkohle.

Stangenkugeln, zwei durch eine eiserne Stange mit Gelenk verbundene Voll- oder Halbkugeln, die aus einem Geschütz großen Kalibers gegen breite Ziele, namentlich gegen die Takelage von Schiffen, ähnlich den Kettenkugeln, früher gebraucht wurden.

Stangenkunst, s. v. w. Kunstgestänge, s. Bergbau, S. 729.

Stangenpferde, die an der Deichsel gehenden Pferde eines Wagens; der auf dem Stangensattelpferd reitende Fahrer bei der Artillerie heißt Stangenreiter.

Stangenschörl, s. Turmalin.

Stangenspat, s. Schwerspat.

Stangenspringen (Stabspringen), das Springen mit Unterstützung durch eine 2½ - 4 m lange, bis 4 cm starke Stange. Während seine Pflege in der hellenischen Gymnastik zweifelhaft ist, ist es in manchen Gegenden volkstümlich im Gebrauch, in Deutschland z. B. in Marschgegenden an der Nordsee zum Überspringen der das Land durchziehenden Gräben mit den sogen. Klot- od. Pad- (Pfad-) Stöcken, die meist am untern Ende mit einer Vorrichtung gegen zu tiefes Einsinken in weichen Boden versehen sind. Die Turnkunst hat das S. seit Guts Muths und Jahn in den Bereich ihrer Übungen genommen und macht es neuerdings oft zum Gegenstand von Wettturnen. Vgl. I. K. Lion, Die Turnübungen des gemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876); Kluge, Anleitung zum S., in den "Zeitfragen aus dem Gebiete der Turnkunst" (Berl. 1881).

Stangenstein, s. Topas.

Stanhope (spr. stannop). 1) James, erster Graf von, engl. Staatsmann, aus der Familie der Grafen von Chesterfield stammend, geb. 1673, diente unter Wilhelm III. in Flandern mit Auszeichnung und erwarb sich den Rang eines Obersten. Unter der Königin Anna ward er Mitglied des Parlaments und später Gesandter bei den Generalstaaten. Im spanischen Erbfolgekrieg diente er unter General Peterborough in Spanien, eroberte 1708 als Generalmajor Port Mahon und die Insel Menorca, siegte, zum Oberbefehlshaber der englischen Truppen in Spanien befördert, im Sommer 1710 bei Almenara und Saragossa und führte den Erzherzog Karl nach Madrid, verzögerte dann aber durch seinen Eigensinn den notwendigen Rückzug und wurde mit 6000 Mann bei Brihuega im Dezember d. J. gefangen und erst 1712 ausgewechselt. König Georg I. ernannte S. 1714 zum Staatssekretär und Mitglied des Geheimen Rats. 1716 begleitete S. den König von Hannover und entwarf mit dem Abbe Dubois, Abgesandten Frankreichs, die Präliminarien zu der Tripelallianz, welche 4. Jan. 1717 im Haag zwischen England, Frankreich und den Generalstaaten abgeschlossen wurde; er wurde dafür 1717 zum ersten Lord des Schatzes, Kanzler der Schatzkammer und Peer von Großbritannien unter dem Titel Baron S. von Elvaston und Viscount S. von Mahon ernannt. 1718 vermittelte er als erster Staatssekretär mit Dubois die berühmte Quadrupelallianz und wurde hierauf zum Grafen von S. erhoben. Er starb 4. Febr. 1721 in London.

2) Charles, dritter Graf von, Enkel des vorigen, geb. 3. Aug. 1753 zu Genf, löste im Alter von 18 Jahren eine Preisaufgabe der Akademie zu Stockholm über die Pendelschwingungen, trat 1780 ins Parlament, wo er der Opposition angehörte, und nach seines Vaters Tod 1786 ins Oberhaus. Die Ideen der französischen Revolution hatten in ihm einen begeisterten Vertreter. Als die Habeaskorpusakte suspendiert ward, blieb er aus dem Parlament weg und erschien erst 1800 wieder. Er starb 15. Dez. 1816. S. erfand eine seinen Namen tragende eiserne Druckerpresse (s. Presse, S. 332), verbesserte die Stereotypie und schrieb mehrere Abhandlungen über Mathematik und Mechanik, die sich in den "Philosophical Transactions" finden.

3) Lady Esther, durch ihre Sonderbarkeiten bekannt gewordene Tochter des vorigen, geb. 12. März 1776 zu London. Von der Natur mit imposantem Äußern, scharfem Verstand und geistiger Energie ausgerüstet, erhielt sie keine geregelte Erziehung. Später leitete sie das Hauswesen ihres unverheirateten Oheims Pitt und führte dessen Briefwechsel. Nach Pitts Tod (1806) zog sie sich mit einem geringen mütterlichen Erbteil und einer Staatspension von 1200 Pfd. Sterl. nach Wales zurück. Nach mehrjährigen Reisen durch Griechenland und die Türkei beschloß sie, sich in Syrien eine neue Heimat zu gründen, litt aber bei der Überfahrt Schiffbruch, kehrte nach England zurück, verkaufte den Rest ihrer Güter und ging dann wirklich nach Syrien. Der Glanz, den sie um sich verbreitete, und ihr mysteriöses Wesen machten dort großen Eindruck. Anfangs wohnte sie in einem griechischen Kloster, später errichtete sie sich zu Dschihun unweit Sidon, mitten im Libanon, eine Wohnung. Die Syrer pflegten sie Königin von Tadmor, Zauberin von Dschihun und Sibylle des Libanon zu nennen und glaubten sie durch Verbindung mit der Geisterwelt im Besitz großer Schätze. Bei Ibrahim Paschas Einfall in Syrien spornte sie die Drusen zum Widerstand an und wußte jenem solchen Respekt einzuflößen, daß derselbe sie um Neutralität bat. Ein Haupthebel ihres Einflusses war ihre großartige

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Stanhopepresse - Stanislaus.

Wohlthätigkeit, bis sie später völlig verarmte, namentlich seit ihre Staatspension, um ihre Gläubiger zu befriedigen, innebehalten wurde. Von allen englischen Dienern verlassen, nur von einigen treuen Arabern umgeben, starb sie 22. Juni 1839 in Dschihun. Man setzte sie in der Gruft zu Mar Elias bei. Ihr Arzt veröffentlichte: "Memoirs of the Lady Esther S." (Lond. 1845, 3 Bde.; deutsch, Stuttg.1846).

4) Philip Henry, Viscount Mahon, fünfter Graf von, engl. Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 30. Jan. 1805 auf Walmer Castle, Enkel von S. 2), trat 1830 für den Flecken Wootton-Basset in das Parlament, wo er als strenger Tory die Reformbill heftig bekämpfte. Nach deren Annahme verlor er seinen Sitz im Unterhaus, wurde aber für Hertford wieder gewählt, bekleidete unter dem Ministerium Peel-Wellington vom Dezember 1834 bis April 1835 das Amt eines Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Departement, ward im Juli 1845 Sekretär des indischen Amtes, mußte aber beim Sturz des Ministeriums Peel im Juli 1846 zurücktreten und gehörte nun im Unterhaus zur Partei der Peeliten. 1855 trat er nach seines Vaters Tod ins Oberhaus, wirkte aber hauptsächlich in verschiedenen Kommissionen und gelehrten Gesellschaften, unter anderm als Präsident der Society of Antiquaries, als Lord Rektor der Universität Aberdeen, als Vorstandsmitglied des Britischen Museums etc., in höchst verdienstlicher Weise. Er starb 24. Dez. 1875 in Bornemouth. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Life of Belisarius" (Lond. 1829, 2. Aufl. 1848); "History of the war of the succession in Spain" (1834, neue Ausg. 1850); "History of England from the treaty of Utrecht to the peace of Aix-la-Chapelle" (1836, 2 Bde.; später fortgesetzt bis zum Frieden von Versailles, 5. Aust. 1858, 7 Bde.; deutsch von Steger, Braunschw. 1855, 8 Bde.); "Life of the Great Conde" (1840); "Life of William Pitt" (des jüngern, 4. Aufl. 1879, 3 Bde.); "History of England comprising the reign of Queen Anne" (1867; 4. Aufl. 1873, 2 Bde.); "Miscellanies" (1863, neue Folge 1872); "French retreat from Moscow and historical essays" (1876). Eine Auswahl seiner für die "Quarterly Review" gelieferten Artikel erschien unter dem Titel: "Historical essays" (Lond. 1848, neue Ausg. 1861). Er gab auch die "Letters of Philip Dormer S., Earl of Chestertield" (neue Ausg., Lond. 1853, 5 Bde.) und "Memoirs by Sir Robert Peel" (das. 1856-57, 2 Bde.) heraus. Als sechster Graf von S. folgte ihm sein Sohn Arthur Philip, geb. 13. Sept. 1838, 1868 bis 1875 Mitglied des Unterhauses, 1874-76 Lord des Schatzamtes im Ministerium Disraeli.

5) Edward, zweiter Sohn des vorigen, geb. 1840 zu London, erzogen in Harrow und Oxford, wurde 1865 Rechtsanwalt in London und 1874 für Lincolnshire als konservativer Abgeordneter ins Unterhaus gewählt. Er war Sekretär im Handelsamt vom November 1875 bis April 1878, Unterstaatssekretär für Indien vom April 1878 bis April 1880, Vizepräsident des Erziehungsrats vom Juni bis August 1885, Präsident des Handelsamtes von da an bis zum Februar 1886. Im August 1886 wurde er in Lord Salisburys zweitem Ministerium zum Staatssekretär für die Kolonien und 1887 zum Kriegsminister ernannt. 1888 legte er dem Parlament eine neue Landesverteidigungsbill vor.

Stanhopepresse, s. Stanhope 2).

Stanislau (Stanislawow), Stadt in Galizien, an der Bistritza, Knotenpunkt der Lemberg-Czernowitzer Bahn und der Staatsbahnlinie Stryi-Husiatyn, ist Sitz eines griechisch-katholischen Bistums, einer Bezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts und einer Finanzbezirksdirektion, hat ein Standbild Kaiser Franz I., ein Obergymnasium, Oberrealschule, Lehrerbildungsanstalt, große Eisenbahnwerkstätte, Ziegelfabrikation, Dampfmühle, Bierbrauerei, Gerberei, lebhaften Handel und (1880) 18,626 Einw. (darunter 10,023 Juden).

Stanislaus (Stanislaw), 1) Heiliger, geb. 1030 in Galizien, studierte zu Gnesen und Paris, wurde 1071 Bischof von Krakau, aber 1079 in der dortigen Michaeliskirche während der Messe zusammengehauen, weil er die Ausschweifungen des Königs Boleslaw des Kühnen gerügt und über denselben den Bann verhängt hatte. Von Papst Innocenz IV. 1253 heilig gesprochen, wird S. als Schutzpatron Polens verehrt. Sein Gedächtnistag ist der 7. Mai.

[Könige von Polen.] 2) S. L Leszczynski, geb. 20. Okt. 1677 zu Lemberg, Sohn Raphael Leszczynskis, Woiwoden von Posen, ward zum Starosten und Landboten und nach seines Vaters Tod vom König August II. zum Woiwoden von Posen und General von Großpolen ernannt. 1704 beteiligte er sich an der Konföderation, die auf Betrieb Karls II. von Schweden August II. absetzte, und ward hierauf durch des erstern Einfluß 12. Juni 1704 zum König von Polen erhoben und 7. Okt. 1705 nebst seiner Gemahlin Katharina Opalinska gekrönt. Er vermochte sich jedoch nur bis zur Schlacht von Poltawa (1709) in Polen zu halten, floh darauf nach Stettin und setzte 1711 nach Schweden über. 1712 kam er mit einem Heer zurück und stieß zur Armee des Generals Steenbock. Bereit, auf die Krone zu verzichten, unternahm er 1713, um Karls Zustimmung zu erhalten, eine Reise nach Jassy, ward aber vom Hospodar der Moldau nach Bender geschickt und erst 1714 gegen das Versprechen, das türkische Gebiet meiden zu wollen, freigegeben. Karl XII. trat ihm, bis er ihm den polnischen Thron wiedererkämpft hätte, das Fürstentum Zweibrücken ab. Nach dem Tod Karls XII. (1718) mußte S. hier dem Pfalzgrafen Gustav Samuel weichen und ging 1720 nach Frankreich, wo er seinen Aufenthalt erst in Weißenburg, dann in Bergzabern und, nachdem sich König Ludwig XV. mit seiner Tochter Maria Leszczynska vermählt hatte, in Chambord bei Blois nahm. Nach Augusts II. Tod (1733) machte S. seine Ansprüche auf die polnische Krone von neuem geltend, worin ihn Frankreich und Schweden unterstützen wollten, reiste heimlich nach Warschau und ward dort 11. Sept. zum zweitenmal zum König gewählt. Allein Rußland und Österreich zwangen den Polen den Kurfürsten von Sachsen, August III., zum König auf, und S. floh vor einem russischen und sächsischen Heer nach Danzig und, als er die Übergabe der Festung an die Russen nahe sah, nach Marienwerder. Durch den Wiener Frieden (3. Okt. 1735, ratifiziert 1738) ward endlich festgesetzt, daß S. auf die polnische Krone Verzicht leisten, aber den Titel eines Königs beibehalten und die Herzogtümer Lothringen und Bar vom Herzog Franz von Lothringen abgetreten erhalten sollte, die nach dem einstigen Absterben S. an Frankreich fallen sollten. Nachdem er die Revenuen seiner Herzogtümer gegen eine Pension von 2 Mill. Frank an Frankreich abgetreten hatte, residierte er teils zu Nancy, das er sehr verschönerte, teils zu Luneville und erwarb sich durch Wohlthätigkeit und Förderung der Wissenschaften und Künste die Liebe seiner Unterthanen. Er starb an den Folgen einiger am Kaminfeuer erhaltenen Brandwunden 23. Febr. 1766. Seine Schriften erschienen gesammelt

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Stanislausorden - Stanley.

unter den Titeln: "Oeuvres du philosophe bienfaisant" (Par. 1765, 4 Bde.; neue Ausg. von Migne, 1850); "Oeuvres choisies" (das. 1825).

3) S. II. August, der letzte König von Polen, Sohn des Grafen Stanislaus Poniatowski und der Fürstin Konstantia Czartoryiska, geb. 17. Jan. 1732 zu Wolczyn, trat zuerst 1752 auf dem Reichstag als Landbote auf. August III. sandte ihn an die Kaiserin Elisabeth nach Petersburg, wo er sich die Gunst der Großfürstin, nachherigen Kaiserin Katharina, erwarb, deren Liebhaber er mehrere Jahre war. Nach Augusts Tod brachte es diese durch ihren Einfluß dahin, daß S. 7. Sept. 1764 zum König von Polen gewählt und 25. Nov. in Warschau gekrönt wurde. Seine Stellung inmitten der Parteiungen des Adels und der Übermacht der Nachbarstaaten war eine schwierige. Der nötigen Energie ermangelnd, um den unabhängigen Adel zu zügeln und sich der schlauen russischen Politik zu entziehen, ward er bald mißliebig. Ja, 3. Nov. 1771 ward er von den Verschwornen aus Warschau entführt, doch auf seine beredten Vorstellungen wieder dahin zurückgeführt. Die erste Teilung Polens 1772 mußte er genehmigen. Er schloß sich dann den Bestrebungen, den zerrütteten Staat zu reformieren, an, vereitelte dieselben aber dadurch, daß er sich der Konföderation von Targowitz gegen die Konstitution vom 3. Mai 1791 anschloß und die abermalige Einmischung der Russen veranlaßte. Sein Widerspruch gegen die zweite Teilung Polens hatte zur Folge, daß Katharina ihn nach der Einnahme Warschaus durch Suworow nach Grodno bringen ließ, wo er den dritten Teilungsvertrag unterzeichnen und 25. Nov. 1795 dem Thron entsagen mußte. Er erhielt von Österreich, Rußland und Preußen 200,000 Dukaten Pension, die er anfangs in Grodno verzehrte. Paul I. berief ihn gleich nach dem Tod Katharinas nach Petersburg, wo er 12. Febr. 1798 unvermählt starb. Der von ihm gestiftete Stanislausorden ward 1816 vom Zaren Alexander erneuert. Vgl. "Mémoires secrets inédits de Stanislas II Auguste" (Leipz. 1862); "Correspondance inédite du roi S. Auguste Poniatowski et Mad. Geoffrin 1764-77" (1887).

Stanislausorden, russischer, ursprünglich poln. Verdienstorden, gestiftet von König Stanislaus II. 7. Mai 1765 für 100 Ritter, wurde nach der Teilung Polens nicht mehr verliehen; erst König Friedrich August von Sachsen, Herzog von Warschau, verlieh ihn wieder. Kaiser Alexander, als König von Polen, erneuerte ihn 1815 und teilte ihn in vier Klassen; Kaiser Nikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein und beschränkte ihn 1839 auf drei Klassen (die zweite mit zwei Unterabteilungen mit und ohne Krone). Er kommt im Rang nach dem St. Annenorden. Die Dekoration ist ein rot emailliertes achtspitziges Kreuz mit goldenen Kugeln und goldenen Halbkreisen zwischen den Spitzen sowie goldenen Adlern zwischen den Armen. Der weiß emaillierte Mittelschild, von grünem Lorbeer eingefaßt, trägt in Rot die Chiffer S. S. (Sanctus Stanislaus). Der Revers trägt dieselbe Inschrift auf Gold mit weißem Rande. Der achtstrahlige Silberstern trägt die Devise: "Praemiando incitat". Der Orden wird in der üblichen Weise an dunkelrotem Band mit doppelter weißer Einfassung getragen. Für eine bestimmte Anzahl von Rittern ist eine Pension mit dem Orden verbunden, dessen Fest 23. April gefeiert wird.

Staniza (russ.), s. v. w. Kosakenansiedelung.

Stankkugeln, Leinwandsäckchen, mit einem Brandsatz gefüllt, dem Federn, Hornspäne und ähnliche, beim Verbrennen stinkende Gegenstände beigemengt werden; früher angewendet, um den Feind aus Minengängen, Kasematten etc. hinauszuräuchern.

Stanley (spr. stännli), 1) Arthur Penrhyn, engl. Gelehrter, Sohn des Bischofs S. von Norwich und Vetter des Lords S. of Alderley, geb. 13. Dez. 1815, studierte Theologie in Oxford, wo er für sein Gedicht "The gipsies" einen Preis errang, wirkte dann von 1840 ab als Fellow am University College daselbst und wurde 1851 zum Kanonikus von Canterbury, 1858 zum Professor der Kirchengeschichte in Oxford erwählt. Daneben war er Kaplan des Bischofs von London und seit 1863 Dechant von Westminster. Vertreter einer milden Aufklärung innerhalb des Christentums, beteiligte er sich 1872 mit Lebhaftigkeit am Altkatholikenkongreß in Köln und wurde 1875 zum Lord-Rektor der Universität St. Andrews erhoben. Seine litterarische Thätigkeit hatte er mit der Biographie seines Jugendlehrers Th. Arnold (1844, 13. Aufl. 1882; deutsch, Potsd. 1846) begonnen. Es folgten: "Sermons and essays on the apostolical age" (1846, 3. Aufl. 1874); "Historical memorials of Canterbury" (1854, 10. Aufl. 1883); "Sinai and Palestine", die Frucht einer Reise nach dem Orient (1856, 4. Aufl. 1883); "Lectures on the history of the Eastern Church" (1861, 5. Aufl. 1883) u. a. Nachdem er 1862 als Begleiter des Prinzen von Wales eine zweite Reise nach dem Orient gemacht, veröffentlichte er: "Scenes of the East" (1863); "Lectures on history of the Jewish Church" (1862; 8. Aufl. 1884, 3 Bde.); "Historical memorials of Westminster Abbey" (5. Aufl. 1882); "Essays chiefly on questions of church and state from 1850-70" (1870, neue Aufl. 1884); "The Athanasian creed" (1871); "Lectures on the history of the Church of Scotland" (1872); "Christian institutions" (4. Aufl. 1883) u. a. Vielfach Unwillen erregte S. 1880 durch seinen hartnäckig festgehaltenen Plan, dem Sohne Napoleons III. ein Denkmal in der Westminsterabtei setzen zu lassen, bis ihn endlich der Wille des Parlaments zum Nachgeben nötigte. Er starb 18. Juli 1881 in London. Vgl. Grace Oliver, A. P. S. (3. Aufl., Lond. 1885).

2) Henry Morton (eigentlich James Rowland), berühmter Afrikareisender, geb. 28. Jan. 1841 bei Denbigh in Wales als Sohn des Farmers John Rowland, kam im Alter von drei Jahren ins Armenhaus von St. Asaph, woselbst er bis zum 13. Jahr blieb und eine gute Erziehung erhielt. Er wollte sich anfangs dem Lehrfach widmen, wurde dann aber Schiffsjunge und kam als solcher nach New Orleans. Hier fand er bei einem Kaufmann, Namens S., Beschäftigung, ward von demselben adoptiert und nahm dessen Namen an. Nach dem Tod seines Wohlthäters trat er 1861 beim Ausbruch des Kriegs in die Armee der Konföderierten, wurde aber gefangen genommen und der Marine der Vereinigten Staaten zugeteilt, in welcher er es bis zum Fähnrich brachte. Nach dem Frieden bereiste er 1865 die Türkei und Kleinasien und begleitete 1867-68 als Korrespondent des "New Vork Herald" die englische Armee nach Abessinien. Seinen Weltruf verdankte S. seinem kühnen Zug zur Auffindung Livingstones, während die Feststellung des Lualaba und Congostroms ihn zum ersten Afrikareisenden aller Nationen der Jetztzeit stempelte. Im Auftrag von J. G. Bennett (s. d.), dem Besitzer des "New York Herald", war S. nämlich im Okt. 1869 ausgeschickt worden, um den ganz verschollenen Livingstone aufzusuchen und ihm Hilfe zu bringen. Nachdem er zuvor als Berichterstatter des "Herald" der

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Stanley (Afrikareisender).

Einweihung des Suezkanals beigewohnt, dann einen Abstecher nach Persien und Indien gemacht hatte, langte er im Januar 1871 in Sansibar an, von wo er mit etwa 200 Mann (darunter 3 Weiße), vorzüglich ausgerüstet und aufs beste bewaffnet, einige Wochen später seinen Marsch ins Innere von Afrika antrat. Nach vielen zu überwindenden Schwierigkeiten war er endlich am Ziel: 10. Nov. hielt er seinen feierlichen Einzug in Udschidschi am Tanganjikasee, wo er in der That den tot geglaubten Livingstone fand. Daß S. in Großbritannien eine starke Anfeindung erfuhr, daß man seinen ganzen Bericht für eine Unwahrheit erklärte, daß später aber sich alles dies als bloße Verleumdung herausstellte, trug nur dazu bei, dem verdienten Manne noch größere Berühmtheit zu verschaffen. Nachdem er mit Livingstone sich noch der Erforschung des Tanganjika gewidmet, trat er im März 1872 seine Rückreise nach Sansibar und Europa an. Über seine Erlebnisse und die Resultate seiner Expedition, die dem Besitzer des "New York Herald" gegen 10,000 Pfd. Sterl. gekostet hatte, berichtete er in dem Werk "How I found Livingstone" (Lond. 1872; deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1885), worin er außer seinen eignen auch Livingstones Beobachtungen in dem See- und Flußsystem im SW. und W. des Tanganjikasees brachte. Darauf wohnte er 1873 bis 1874 dem Feldzug der Engländer gegen den König der Aschanti bei und berichtete darüber wie über den abessinischen Feldzug in "Coomassie and Magdala" (Lond. 1874). In noch großartigerer Weise nahm S. sodann seine Forschungen 1874 wieder auf und zwar zuerst auf Kosten des "New York Herald" und des Londoner "Daily Telegraph". Mit mehr als 300 Soldaten und Trägern verließ er im November 1874 Bagamoyo, erreichte 27. Febr. 1875 das südliche Ufer des Ukerewe oder Victoria Nyanza und umfuhr den ganzen See. Da S. nicht wußte, daß der Schwestersee des Ukerewe, der 1864 von Baker entdeckte Mwutan oder Albert Nyanza, bereits von dem Italiener Gessi bis zu seinem Südende befahren war, so versuchte er, diesen See zu erreichen. Vom Ukerewe sich westlich wendend, entdeckte er im Januar 1876 zunächst das 5000 m hohe, schneebedeckte Gambaragaragebirge. Unter 30° 20' östl. L. v. Gr. und dem Äquator stieß er alsdann auf einen großen Golf, den er Beatricegolf nannte und für einen Teil des Mwutan ansah. Nach spätern Aufnahmen des ägyptischen Obersten Mason Bei muß jedoch angenommen werden, daß S. hier einen neuen großen, noch unbenannten See entdeckt hat. Nun sich südlich wendend, erforschte er den Hauptzufluß des Ukerewe, den Kagera oder Kitangule, welchen er als einen bedeutenden, 20-40 m tiefen Strom schildert, und der aus einem gleichfalls von S. entdeckten See, dem Akanjaru oder Alexandrasee (zwischen 2-3° südl. Br. und 31° östl. L. v. Gr.), entspringt. S. wandte sich nun der Lösung des größten noch vorhandenen afrikanischen Problems zu. Er wollte zu ergründen suchen, wohin die ungeheuern Wassermassen der Seen und Ströme, die westlich vom Tanganjikasee liegen, sich ergössen, und ob dieselben, wie theoretisch bereits Behm nachgewiesen, den obern Lauf des Congo darstellten, von dem man nur die Mündung kannte. Am 27. Mai 1876 war S. wieder in Udschidschi am Ostufer des Tanganjikasees, machte auf demselben sein tragbares Boot flott und umfuhr in 51 Tagen zum erstenmal vollständig dieses große Wasserbecken. Auch den nach W. führenden "Abfluß" des Tanganjika, den von Cameron entdeckten Lukuga, fand S. wieder auf und fuhr denselben eine Strecke weit abwärts. Nach seinen Schilderungen ist der Lukuga jedoch nur ein sumpfiger Arm des Tanganjika, welcher bloß bei Hochwasser einen gelegentlichen Abfluß nach W. ausmacht. Nach Vollbringung dieser Aufgabe drang S. nach W. vor und erreichte unter großen Gefahren Nyangwe, den äußersten von Livingstone und Cameron erreichten Ort am obern Lualaba-Congo. Nachdem er seine zusammengeschmolzene Expedition wieder auf 200 Bewaffnete gebracht hatte, verließ er 15. Nov. 1876 mit 18 Kanoes Nyangwe, um eine der gefahrvollsten und merkwürdigsten Reisen anzutreten, von welcher die Geschichte aller Zeiten berichtet. Sowohl in seinem obern Lauf bis zum Äquator als in seinem untern zeigt der Lualaba-Congo zahlreiche bedeutende Wasserfälle, die zum großen Teil umgangen werden mußten, was meist unter Kämpfen mit den Eingebornen geschah. Einzelne Katarakte wurden durchschifft, doch verlor S. hierbei seinen treuen Diener Kalulu und seinen letzten weißen Gefährten, Francis Pocock. Drei Vierteljahre hatte diese gefahrvolle, abenteuerliche Reise gedauert, als S. mit seiner zusammengeschmolzenen Schar, dem Hungertod nahe, 8. Aug. 1877 in Boma an der Congomündung in den Bereich portugiesischer Herrschaft gelangte. Aber die Anstrengungen waren des Resultats wert. Der bisher unbekannte Riesenlauf des Congo konnte in die Karte eingetragen werden (s. Congo). S. stellte die ganze Länge des Stroms, für welchen er den nicht acceptierten Namen "Livingstone" vorschlug, auf 630 Meilen fest, von denen der 225 Meilen lange, oft seeartig erweiterte mittlere Teil für die größten Schiffe fahrbar ist, so daß hier dem Handel ein neues, ungeheuer großes Gebiet durch den kühnen Reisenden eröffnet wurde. Die Identität des Congo mit dem Lualaba war somit festgestellt und damit eine Wasserstraße ins Innere von Afrika von mehr als 4000 km Länge eröffnet, die nur an 2-3 Stellen von Katarakten unterbrochen wird. Bereits vier Monate nach seiner Rückkehr veröffentlichte er seinen Reisebericht "Through the dark continent" (Lond. 1878), der mehrmals aufgelegt wurde, ebenso wie die zu gleicher Zeit erschienene deutsche Übersetzung "Durch den dunkeln Weltteil" (2. Aufl., Leipz. 1881, 2 Bde.). Der großartige Erfolg Stanleys führte nach der Begegnung König Leopolds II. von Belgien mit dem Entdecker in Brüssel zur Gründung des Comité d'études du Haut-Congo, das es sich zur Aufgabe stellte, Zentralafrika dem Handel zu eröffnen. S. wurde mit der Leitung des Unternehmens betraut, er legte nicht allein längs des Congo, auch in dem später an Frankreich abgetretenen Gebiet des Kuilu eine Reihe von Stationen an bis zu den Stanleyfällen am obern Congo, entdeckte, den Kwa aufwärts fahrend, den großen See, welchem er den Namen Leopolds II. gab, und war mit kurzer Unterbrechung, als ihn seine geschwächte Gesundheit zur Reise nach Europa nötigte, bis 1884 unermüdlich im Congogebiet thätig. In diesem Jahr kehrte er endgültig nach Europa zurück, nahm als technischer Kommissar des Bevollmächtigten der amerikanischen Union an der Congokonferenz in Berlin teil und veranlaßte in England die Bildung einer Gesellschaft zur Erbauung einer Eisenbahn von der Congomündung bis zum Stanley Pool. Zu gleicher Zeit publizierte er "The Congo and the foundation of its free state", deutsch unter dem Titel: "Der Congo und die Gründung des Congostaats" (Leipz. 1885, 2 Bde.). Als Ende 1886 die ägyptische Regierung in Gemeinschaft mit einigen englischen Kapitalisten eine Expedition zum Entsatz Emin Beis auszusenden beschloß,

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Stanley Pool - Stans.

übernahm S. bereitwilligst die Führung dieses schwierigen und gefahrvollen Unternehmens, traf 24. Dez. 1886 von New York in London ein, das er 21. Jan. 1887 verließ, um sich nach Sansibar zu begeben, von wo er mit den dort von ihm angeworbenen Leuten um das Kap zum Congo fuhr. Dort traf er 18. März ein. Seine Begleitung bestand aus 9 Europäern, 13 Somal, 61 Sudanesen und 620 Sansibariten. Außerdem schloß sich der arabische Sklavenhändler Tippu Tip, welchen S. durch dessen Ernennung zum Gouverneur vom obern Congo mit einem Jahresgehalt gewonnen hatte, mit 40 Mann an; weitere Mannschaften vom Tanganjika und von Kassongo bei Nyangwe sollten bei den Stanleyfällen zu Tippu Tip stoßen. Da am Congo großer Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, war die Verproviantierung der großen Kolonne sehr schwierig, doch konnte sich S. 29. April von Stanley Pool auf vier Dampfern und mehreren großen Booten endlich einschiffen. Am 28. Mai erreichte er die Mündung des Aruwimi, wo er ein festes Lager errichtete, und bereits 2. Juni brach er mit 5 Europäern und 580 Mann nach O. auf. Am 20. Juni befand er sich an den Jambujafällen des Aruwimi, wo er ein festes Lager zum Schutz der unter Major Barttelot zurückbleibenden 100 Mann starken Besatzung errichtete. Von hier brach er 28. Juni mit 389 Mann auf, am linken Ufer des Flusses aufwärts ziehend. Der Name des Aruwimi ändert sich wiederholt, 140 km von Jambuja heißt er Lubali, dann Nevoa, nach seinem Zusammenfluß mit dem Nepoko heißt er No-Welle, 350 km vom Congo aber Ituri. Trotz der Feindseligkeiten der Eingebornen ging der Marsch ohne Schwierigkeit vor sich, bis man Anfang August ein Urwaldgebiet erreichte, wo der Expedition furchtbare Leiden harrten. Die Eingebornen widersetzten sich dem Vordringen Stanleys und erschossen 5 Mann mit vergifteten Pfeilen, auch Leutnant Stairs wurde schwer verwundet. Um den arabischen Sklavenjägern auszuweichen, hielt sich S. auf der Congostraße, stieß 31. Aug. aber doch auf eine Abteilung des Sklavenhändlers Ugarrowa, zu dem 26 Leute desertierten. Auch mußte S. 56 Invalide im Lager Ugarrowas zurücklassen. Mit 273 zog er weiter, schreckliche Leiden ausstehend in dem durch Sklavenjäger verwüsteten Land, so daß ein mitgebrachtes Boot mit 70 Warenladungen unter dem Wundarzt Parke und dem Kapitän Nelson, beide marschunfähig und verwundet, bei dem Sklavenhändler Kilonga-Longa zurückgelassen werden mußte. Endlich wurde Ibwiri erreicht, wo an Stelle des bisherigen dichten, dumpfen Waldes weite fruchtbare Ebenen traten und Lebensmittel im Überfluß waren. Zwar widersetzte sich der mächtige Häuptling Mogamboni Stanleys Vordringen, doch wurden alle Angriffe zurückgeschlagen. Am 14. Nov. erreichte S. den Albert Nyanza bei Kawalli, wo er ein verschanztes Lager errichtete, und da keine Nachricht von Emin Pascha eingelaufen war, marschierte S. die 200 km zu Kilonga-Longa zurück, um das Boot zu holen. Am 28. April 1888 traf S. endlich mit Emin und Casati zusammen, die ihn in dem Dampfer Khediv aufgesucht hatten. Emin blieb 26 Tage bei S., ohne sich bewegen zu lassen, nach Europa zurückzukehren. Darauf trat S. 16. Juni mit 111 Sansibariten und 101 ihm von Emin überlassenen Trägern seinen Rückmarsch an, fand indes von den zurückgelassenen 257 Mann nur noch 71 bei Bunalaya vor und schlug darauf einen kürzern Weg ein, um nach Fort Bodo bei Ibwiri, wo er seine Europäer gelassen zurückzukehren. Vgl. Rowlands, Henry M. S., record of his life (Lond. 1872); Volz, Stanleys Reise durch den dunkeln Weltteil, für weitere Kreise bearbeitet (3. Aufl., Leipz. 1885).

3) Frederik Arthur, Lord, engl. Staatsmann, jüngerer Bruder des Lords Derby, geb. 15. Jan. 1841, widmete sich der militärischen Laufbahn und avancierte zum Kapitän bei den Gardegrenadieren, trat aber dann zur Reserve über und wurde erst zum Major, dann zum Obersten eines Milizregiments ernannt. Seit 1865 gehörte er für Preston dem Unterhaus an, wo er sich, den Traditionen seiner Familie gemäß, der konservativen Partei anschloß. 1868 war er auf kurze Zeit jüngerer Lord der Admiralität, mußte aber im Dezember d. J. mit Disraeli zurücktreten. 1878-80 war S. Kriegsminister und leitete die Vollendung der Rüstungen gegen Rußland und die Okkupation Cyperns. Unter Salisbury war er im Juni 1885 bis Januar 1886 Staatssekretär für die Kolonien und seit August 1886 Handelsminister. Unter dem Titel Lord S. of Preston wurde er 1887 in den Peersstand erhoben.

Stanley Pool (spr. stännli puhl), das von H. M. Stanley entdeckte, ca. 40 km lange und 26 km breite, 348 m ü. M. gelegene Becken, welches der Congo unter 16° östl. L. und 4° südl. Br. oberhalb der Kallulufälle bildet. Am Nordufer liegt Brazzaville, im SW. des Sees die Station Leopoldville.

Stannate, s. Zinnsäure.

Stannin, s. Zinnkies.

Stanniol (Zinnfolie), sehr dünnes Zinnblech aus reinem Zinn oder einer Zinnlegierung mit 1-2 Proz. Kupfer (wodurch die Folie an Festigkeit gewinnt) durch Gießen, Walzen und Schlagen hergestellt. Man gießt das Metall in Platteneingüssen zu Platten von 10 mm Dicke aus und walzt diese Platten in einem Blechwalzwerk anfangs einzeln, dann mehrere aufeinander gelegt, zu Blechen bis zu einer Dicke von 0,1 mm. Noch dünneres S. wird aus diesen Platten durch Schlagen unter Hämmern auf die gleiche Weise wie das Blattgold (s. Goldschlägerei) hergestellt. Nach einem neuen Verfahren wird Zinn in einer flachen, 2,5 m langen eisernen Schale flüssig gehalten; über dieser Schale befindet sich eine 2,5 m lange Walze von 2 m Durchmesser, mit Leinwand überzogen. Diese Walze wird in das Zinn gesenkt und einmal umgedreht, wodurch sie sich mit einer dünnen Lage Zinn bedeckt, welche während einer Rückdrehung der gehobenen Walzen abgewickelt und auf einen polierten ebenen Stein gelegt wird. Auf diese Lage kommen noch 299 solche Blätter, die nun gemeinschaftlich von zehn Arbeitern bis zur gewünschten Dicke geschlagen werden. S. dient hauptsächlich zum Belegen der Spiegel und erhält für diesen Zweck eine Dicke von 0,038-0,5 mm. S. zum Einwickeln von Seife, Schokolade etc. ist 0,15-0,0077 mm dick. Auch bleihaltige Zinnfolie wird vielfach dargestellt und zwar entweder aus Legierungen oder aus Bleiplatten, die mit Zinn übergossen wurden. Um farbige, glänzende Zinnfolie zu bereiten, wird S. mit Baumwolle und Kreidepulver gereinigt, mit Gelatinelösung überzogen, mit Berberis-, Lackmus-, Orseille- oder Safranabkochung oder Anilinlösung gefärbt und nach dem Trocknen mit Weingeistfirnis überzogen.

Stannum (lat.), Zinn,

Stanowoi, Gebirge, s. Sibirien, S. 927.

Stans (auch Stanz), Flecken im schweizer. Kantor Unterwalden, Hauptort von Nidwalden, am Fuß des 1900 m hohen Stanser Horns, mit (1880) 2210 Einw. und einem Denkmal Arnolds von Winkelried.

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Stansfield - Stapelia.

Hier 9. Sept. 1798 Gefecht zwischen den Nidwaldnern und den Franzosen unter Schauenburg. Der Hafen des Orts, am Vierwaldstätter See, ist Stansstad (s. Alpnach), mit 763 Einw.

Stansfield (spr. stännsfild), James, engl. Staatsmann, geb. 1820 zu Halifax, studierte in London, wurde 1849 Barrister und trat 1859 für seine Geburtsstadt ins Unterhaus, wo er sich dem linken Flügel der liberalen Partei anschloß. 1863 wurde er zum Lord der Admiralität ernannt, schied aber schon 1864 wieder aus der Regierung, bei der sein intimes Verhältnis zu Mazzini Anstoß erregte. Trotzdem konnten die folgenden liberalen Regierungen bei dem Einfluß, den er im Unterhaus hatte, nicht umhin, ihn wieder in ihre Mitte aufzunehmen: er war Unterstaatssekretär unter Russell vom Februar bis Juni 1866 und Lord der Admiralität unter Gladstone vom Dezember 1868 bis Oktober 1869 sowie Sekretär des Schatzamtes unter demselben bis März 1871. Darauf erhielt er das Präsidium des Armenamtes und im August d. J. das Präsidium des neugegründeten Local-government-board. 1874 trat er mit Gladstone zurück; bei der Neubildung des liberalen Ministeriums im Frühjahr 1880 wurde S. übergangen.

Stante pede (lat.), stehenden Fußes, auf der Stelle, flugs, stracks.

Stanton, Edwin M., nordamerikan. Staatsmann, geb. 1815 zu Steubenville (Ohio), studierte die Rechte, wirkte als Advokat, seit 1857 in Washington, ward 1860 Generalstaatsanwalt, 1861 unter Lincoln Kriegsminister, weil er als einer der Führer der republikanischen Partei belohnt werden mußte, erwarb sich zwar durch rastlose Thätigkeit um die Organisation und Verpflegung des Heers während des Bürgerkriegs Verdienste, stiftete aber durch Nepotismus und Einmischung in die Kriegsoperationen auch Schaden, trat gegen Johnsons vermittelnde Politik auf, ward deshalb abgesetzt, was den Staatsprozeß gegen den Präsidenten zur Folge hatte, legte im Mai 1868 sein Amt nieder, war Richter am obersten Gerichtshof und starb 23. Dez. 1869.

Stanze (ital.), eigentlich Wohnung, Zimmer; dann s. v. w. Reimgebäude, Strophe; insbesondere das auch Oktave (ital. Ottava rima) genannte epische Versmaß der Italiener, eine aus acht fünffüßigen Jamben bestehende Strophe, in welcher die Verse so verschlungen sind, daß der 1., 3. und 5., dann der 2., 4. und 6., endlich der 7. und 8. aufeinander reimen und zwar ursprünglich nur mit weiblichem Reim, während in neuerer Zeit männlicher mit weiblichem Reim wechselt. Die Strophe findet sich bei den Italienern in allen größern epischen Gedichten (Ariosts "Rasender Roland", Tassos "Befreites Jerusalem") angewendet; auch Camoens hat seine "Lusiaden", Byron seinen "Don Juan" in dieser Form gedichtet sowie von neuern deutschen Dichtern E. Schulze seine "Bezauberte Rose", Lingg seine "Völkerwanderung". Indessen eignet sich die S. im Deutschen mehr zu Widmungsgedichten (z. B. in Goethes "Faust"), zu Prologen, gedankenreichen Apostrophen u. dgl. als zu größern epischen Gedichten, wo sie leicht monoton wird und ermüdend wirkt. Diese Erkenntnis regte Wieland (im "Oberon") zu einer freiern Behandlung derselben an, indem er die Zahl der Versfüße beliebig zwischen vier, fünf und sechs schwanken, die Reime aber ein- oder zweimal wiederkehren ließ und dabei willkürlich verband. Außer Wieland hat diese freiere Form, welche einen großen malerischen Reichtum zu entfalten gestattet, auch Schiller bei seiner Übersetzung des Vergil angewendet. Eine andre Abart der S. ist die Spenserstanze, die Spenser in seiner "Feenkönigin" und nach ihm Lord Byron in seinem "Childe Harold" zur Anwendung brachte. Sie ist neunzeilig, die Reimpaarung derartig, daß zuerst zwei Zeilen: die 1. und 3., dann vier: die 2., 4., 5. und 7., und zuletzt drei: die 6., 8. und 9., aufeinander reimen, und um dem Ganzen einen wuchtigen Abschluß zu geben, hat der letzte Vers stets einen Fuß mehr. - In der Kunstgeschichte heißen Stanzen ("Zimmer") vorzugsweise die von Raffael und seinen Schülern ausgemalten Räume des Vatikans in Rom.

Stanzen, in der Technik Stempel aus Stahl oder Bronze zur Verfertigung vertiefter Gegenstände aus Blech (Eßlöffel, Dosendeckel, Ornamente etc.). Man stellt sie durch Gravieren oder Gießen her und benutzt sie im Verein mit Gegenstempeln, indem man das Blech durch Fall- oder Prägwerke in die liegenden S. eintreibt. Die Gegenstempel werden aus weicherm Metall (Kupfer, Hartblei etc.) in die S. gegossen oder in dieselben eingeprägt.

Stanzer Thal, linksseitiges Nebenthal des Inn in Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Landeck, von der Rosanna durchströmt, heißt im obersten Teil Verwallthal und wird von der Straße und Eisenbahn über den Arlberg durchzogen. Den Namen trägt es vom Dorf Stanz bei Landeck (301 Einw.).

Stanzmaschine, s. Hobelmaschinen, S. 588.

Stapel, ein Haufe, eine Menge Dinge, besonders wenn sie in einer gewissen Ordnung aufgesetzt sind; vorzüglich eine Quantität gewisser trockner Waren, welche aufeinander geschichtet ist, z. B. Holz, Tücher etc., besonders Häute; Jahrmarkt, Messe, daher Stapelplatz, Ort oder Hafen mit Warenniederlagen (vgl. Stapelgerechtigkeit). Im Schiffbau nennt man S. in einer gewissen Ordnung aufeinander gelegte hölzerne Balken, die entweder bei Luftzutritt aufbewahrt werden sollen, oder mit deren Hilfe man eine ebene Plattform in einer gewissen Höhe und Neigung über dem Terrain gewinnen will, auf welcher ein neues Schiff erbaut wird. Wird ein fertiges Schiff ins Wasser gelassen, so verläßt es den S., daher Stapellauf (s. Ablauf).

Stapelartikel, solche Artikel, welche vornehmlich Handelsgegenstand eines Platzes und infolgedessen hier in größerer Menge aufgestapelt sind.

Stapelgerechtigkeit (Stapelrecht, Staffelrecht, Stapelfreiheit), ein in ältern Zeiten gewissen Städten bewilligtes Recht, wonach gewisse oder auch alle Waren, welche auf Straßen versandt wurden, an denen ein Stapelplatz gelegen war, in diesem abgeladen und daselbst eine gewisse Zeit (Stapelzeit) über zum Verkauf ausgestellt werden mußten, ehe man sie weiterbringen durfte.

Stapelholm, Landschaft in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Schleswig, östlich von Friedrichstadt, bildet einen Geestrücken zwischen Flußmarschen an der Eider, mit den Pfarrdörfern Süderstapel und Erfde mit (1885) 869 u. 1391 Einw.

Stapelia L. (Aaspflanze), Gattung aus der Familie der Asklepiadaceen, kaktusartige, blattlose Gewächse mit fleischigen, oft kantigen und an den Kanten gezähnelten Stengeln und Ästen, großen, radförmigen Blumenkronen, welche meist auf gelbem oder gelbgrünem Grund schwarzpurpurn oder violett gefleckt oder marmoriert sind, und fast cylindrischen Balgkapseln mit geschwänzten Samen. Die etwa 60 besonders in Südafrika heimischen Arten werden der Blüten halber als Zierpflanzen in Gewächshäusern kultiviert; die Blüten riechen indes höchst widerwärtig nach Aas. S. Tafel "Kakteen".

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Stapellauf - Star.

Stapellauf, s. Stapel

Stapelplatz, s. Stapel

Stapelrecht, s. v. w. Stapelgerechtigkeit.

Stapelstädte, in Schweden die Städte, welchen das Recht verliehen ist, auf eignen Schiffen Waren ein- und auszuführen.

Stapes (lat.), Steigbügel; in der Anatomie eins der Gehörknöchelchen.

Staphylea L. (Pimpernuß), Gattung aus der Familie der Sapindaceen, Sträucher mit gegenständigen, unpaarig gefiederten Blättern, gipfelständigen, meist überhängenden, weißlichen Blütentrauben und häutiger, ein- oder wenigsamiger, aufgeblasener Kapsel. S. pinnata L. (Klappernuß, Blasennuß, Paternosterbaum), 3-5 m hoch, mit fünf- bis siebenzählig gefiederten Blättern, länglich elliptischen Blättchen, rötlichweißen Blüten und hellbraunen, ölreichen Samen mit großem Nabelfleck (Ölnüßchen), in Gebirgswäldern Mitteleuropas und Vorderasiens, wird als Zierstrauch angepflanzt. Das weiße, feste Holz dient zu Drechslerarbeiten; die Samen sind eßbar und geben ein gutes Öl. Auch S. colchica Stev. (Hoibreghia formosa hort.), aus Transkaukasien, mit drei- bis fünfzählig gefiederten Blättern und weißen Blüten, und S. trifolia L., mit dreizähligen Blättern, aus Nordamerika, sind Ziersträucher.

Staphyleaceen, dikotyle Pflanzengruppe, eine Unterfamilie der Celastrineen (s. d.) bildend, von denen sie sich hauptsächlich durch die Lage des Blütendiskus, die blasig aufgetriebene Frucht und das Fehlen des Samenmantels unterscheiden.

Staphylhämatom (griech.), Blutgeschwulst am Zäpfchen, welche wahrscheinlich durch kleine Verletzungen beim Essen, Räuspern etc. entsteht und ohne schlimme Bedeutung ist.

Staphylinus, Staphylinidae, s. Kurzflügler.

Staphyloma (griech.), in der Augenheilkunde zwei wesentlich verschiedene Zustände: 1) Das S. der Hornhaut ist ein Auswuchs, der aus jungem Bindegewebe oder Narbenmasse besteht und seinen Ursprung einer geschwürigen Hornhautentzündung mit Vorfall der Iris verdankt. Dies S. wird mit dem Messer abgetragen und ist auf diesem Weg heilbar. 2) Das S. der Sklera, der harten weißen Haut, bedeutet eine Ausbuchtung derselben, oft verbunden mit Verdünnung und zunehmender Transparenz, welche entweder mehr allgemein ist, wie beim grünen Star (s. Glaukom), oder auf den hintern Umfang beschränkt, wie bei der Verlängerung des sagittalen Augendurchmessers kurzsichtiger Augen (S. posticum), oder an mehrfachen Stellen unregelmäßige Hervorwölbungen bedingen kann, die ihren Ursprung Entzündungen der Aderhaut oder Iris verdanken. Ist eine solche Ausstülpung einmal eingetreten, so können korrigierende Brillen oder die Operation beim Glaukom die Sehstörungen und die Vergrößerung das S. wohl beseitigen, aber nicht das Übel selbst heilen.

Staphyloplastik (griech.), künstliche Gaumenbildung.

Staphylorrhaphie, s. Gaumenspalte.

Stapß, Friedrich, bekannt durch seinen Mordversuch gegen Napoleon I., geb. 14. März 1792 zu Naumburg, erlernte die Kaufmannschaft und kam dann nach Leipzig in Stellung. Ein erbitterter Gegner Napoleons, beschloß er, denselben zu ermorden, und reiste zu diesem Zweck nach Wien und von da 13. Okt. 1809 nach Schönbrunn, wo jener Heerschau hielt. Der General Rapp, dem das Benehmen S.', der den Kaiser zu sprechen verlangte, verdächtig vorkam, ließ ihn festnehmen, und man fand bei ihm ein großes Küchenmesser. S. gestand unerschrocken seine Absicht und antwortete auf die Frage des Kaisers: "Wenn ich Sie nun begnadige, wie werden Sie mir es danken?" mit den Worten: "Ich werde darum nicht minder Sie töten". Er ward hierauf 17. Okt. erschossen.

Star, die Herabsetzung oder gänzliche Aufhebung des Sehvermögens eines oder beider Augen, sofern dieselbe auf Anomalien der lichtempfindenden Elemente (schwarzer S.) oder auf Trübung der Kristalllinse (grauer S.) beruht. Über den sogen. grünen S. oder das Glaukom s. d. Bei dem schwarzen S. unterscheidet man herkömmlich: Amblyopie, Stumpf- oder Schwachsichtigkeit, und Amaurose (besser Anopsie), völlige Blindheit. Beide kommen zu stande zum Teil in der Form von Hemiopie durch Erkrankung der Netzhaut oder des Sehnervs an irgend einer Stelle seines Verlaufs oder des Gehirns selbst. Liegt die erkrankte Stelle hinter dem Eintritt des Sehnervs in die Netzhaut, so läßt sich die Ursache des schwarzen Stars durch den Augenspiegel nicht erkennen. In den meisten Fällen hat der schwarze S. einen langsamen Verlauf, entsteht unmerklich, nimmt ganz allmählich zu und geht schließlich in vollständige Erblindung über; doch kommt es auch vor, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwickelung stehen bleibt oder selbst rückgängig wird. Selten bildet er sich in sehr kurzer Zeit aus oder tritt selbst plötzlich nach Art eines Schlaganfalls auf, namentlich dann, wenn sich die Netzhaut durch einen Bluterguß oder durch ein Entzündungsprodukt von der Gefäßhaut des Auges abgelöst hat, oder wenn Blutergüsse, schnell wachsende Geschwülste u. dgl. den Ursprung des Sehnervs im Gehirn zerstört haben. Der schwarze S. kommt bei beiden Geschlechtern und in jedem Alter, selbst angeboren vor; doch ist er bei Männern häufiger als bei Weibern und in dem Alter von 20-40 Jahren häufiger als im Greisenalter, hier aber häufiger als im Kindesalter. Vielfach ist erbliche Disposition vorhanden. Die Pupille pflegt erweitert oder wenig beweglich oder auch ganz starr zu sein, selbst wenn starkes Licht in das Auge fällt. Der Kranke hat einen stieren, nichtssagenden Blick; er büßt überhaupt mehr oder weniger die Herrschaft des Willens über die Bewegungen des Auges ein. Die Augenlider sind in der Regel weit geöffnet, der Augenlidschlag ist träge. Die Bewegungen eines an schwarzem S. Leidenden sind unsicher, seine Haltung ist ängstlich. Das wichtigste Symptom ist Schwachsichtigkeit. Jeder Versuch, kleinere Objekte deutlich zu sehen und anhaltend zu fixieren, kostet Anstrengung; das Auge ermüdet sehr schnell. Später geht auch der letzte Lichtschein, das Vermögen, Hell und Dunkel zu unterscheiden, verloren. Die meisten Fälle von schwarzem S. sind unheilbar oder sehr schwer zu heilen. Ein frisch entstandener Fall gibt eine bessere Prognose als ein solcher, der schon lange Zeit bestanden hat. Der schwarze S., welcher infolge von Sehnervenschwund, Netzhautablösung und von Zerstörungen des Gehirns auftritt, gibt die geringste Aussicht auf Heilung. Am ehesten lassen diejenigen Fälle eine Heilung zu, welche durch konstitutionelle und dyskrasische Leiden, durch Gicht, Syphilis, Nierenerkrankungen, Hysterie etc., sowie diejenigen, welche durch übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel (z. B. übermäßigen Genuß starker Zigarren, von Alkohol) entstanden sind. Oft wird nur das eine Auge geheilt, das andre nicht, oder der schwarze S. heilt nur auf einer Stelle der Netzhaut; völlige Heilung beider Augen ist selten. Die Behandlung ist je nach der Form des schwarzen Stars sehr verschieden. Die

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Star (Augenkrankheit) - Star (Vogel).

Funktionen des Körpers müssen durch eine angemessene Lebensordnung geregelt, die Verrichtungen des Auges sorgfältig überwacht, Anstrengungen desselben durchaus vermieden werden. Oft wird ein längerer Aufenthalt im Dunkeln, das Tragen dunkler Brillen etc. notwendig. Die spezielle Behandlung ist von einem Augenarzt zu leiten.

Der graue S. (Cataracta, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 10 u. 11) besteht in einer Trübung im Bereich des Linsensystems, d. h. der Linse selbst oder ihrer Kapsel, bez. beider, wodurch den Lichtstrahlen der Durchgang zu der lichtempfindenden Netzhaut verwehrt wird. Zuerst zeigt sich hinter der Pupille eine unbedeutende Trübung, welche allmählich zunimmt; der Kranke sieht wie durch ein trübes Glas, durch Nebel oder Rauch. Nach und nach wird der vor dem Auge schwebende Nebel dichter, und die Gegenstände erscheinen wie dunkle Schatten. Die Pupille bewegt sich meist frei, nur bei sehr großem S. verliert die Iris an Beweglichkeit und wird nach vorn gedrängt. Nur nach Verletzungen des Auges entwickelt sich der graue S. in wenig Tagen (Cataracta traumatica, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 12), meist bedarf er zu seiner Ausbildung Monate und Jahre. Nur Stare nach äußerer Verwundung beschränken sich auf Ein Auge. Selten bleibt der S. auf einer niedern Entwicklungsstufe stehen. Nach dem Sitz der Trübung unterscheidet man den Kapselstar und den Linsenstar. Der Kapselstar kommt viel seltener vor und erscheint als eine unsymmetrische, grauweiße, undurchscheinende Trübung nahe hinter der Iris. Der Linsenstar befällt am häufigsten alte Leute (Altersstar, Cataracta senilis) infolge des Sinkens der Ernährungsthätigkeit. Der Linsenstar ist bald ein Kernstar, bald ein Rindenstar; bald ist sowohl Kern als Rinde getrübt (totaler S.). Nach der Konsistenz der getrübten Linsenmasse teilt man die Linsenstare ein in harte und weiche Stare. Der harte S. ist von dunkler, bräunlicher Farbe, betrifft meist den Kern der Linse; dieselbe ist oft knorpelartig fest oder selbst in eine kalkartige oder steinige Masse (Cataracta gypsea) umgewandelt. Beim weichen S., welcher unter allen Starformen am häufigsten vorkommt, zeigt die Linse eine verminderte Konsistenz. Hinsichtlich der Entwicklungsstufe nennt man den S. reif, wenn die Trübung die ganze Linse einnimmt, dagegen unreif, wenn die Entartung noch im Fortschreiten begriffen ist und besonders die Linsenperipherie noch durchsichtige Stellen besitzt, überreif, wenn die schon lange getrübten Linsenmassen stellenweise oder ganz verhärtet und geschrumpft sind. Die Disposition zum grauen S. ist bei dem männlichen Geschlecht größer als bei dem weiblichen; Leute mit blauer oder grauer Iris werden viel häufiger davon betroffen als solche mit brauner Iris. Mitunter ist der graue S. angeboren (Cataracta congenita), sehr selten entwickelt er sich vor dem 7. Lebensjahr; von dieser Zeit an bis zum 60.-70. Lebensjahr wird er allmählich immer häufiger. Der graue S. tritt oft nach entzündlichen Augenkrankheiten auf und ist mit solchen kompliziert. Bei einfachen, nicht komplizierten Staren bleibt stets, auch wenn das Erkennen von Gegenständen längst unmöglich geworden ist, die Fähigkeit, Hell und Dunkel zu unterscheiden, z. B. eine vor dem Auge hin und her bewegte Lampenflamme zu erkennen, erhalten. Das einzige Mittel, das Sehvermögen wiederherzustellen, ist die Staroperation, deren Zweck darin besteht, durch Beseitigung der kranken Linse den Lichtstrahlen den Eintritt in das Innere des Auges wieder zu eröffnen. Dies kann auf dreifachem Weg erreicht werden: entweder indem man die getrübte Linse gänzlich und mit einemmal aus dem Auge entfernt (Extraktion des Stars); oder durch Lagenveränderung der Linse, indem man sie aus der Sehachse entfernt und an einen solchen Ort schiebt, wo sie dem Einfallen der Lichtstrahlen kein Hindernis in den Weg legt, ohne sie aus dem Auge zu schaffen (Depression oder Reklination des Stars); oder durch Zerstückeln und Zerschneiden, wodurch man den S. in einen solchen Zustand versetzt, daß er aufgesaugt werden und also von selbst verschwinden kann (Discision des Stars). Die Operation gelingt bei der Vervollkommnung der modernen Technik unter 100 Fällen 94-96mal. Aber auch im günstigsten Fall ist dieselbe nicht im stande, das Gesicht so vollkommen wiederherzustellen, wie es vor der Erkrankung war; denn es fehlt ja im Auge die Linse, ohne welche sich keine scharfen Bilder auf der Netzhaut bilden können, und mit der Linse fehlt auch das Akkommodationsvermögen für verschiedene Entfernungen. Die verloren gegangene Kristalllinse ersetzt man daher durch starke (½-¼) Konvexlinsen, durch eine sogen. Starbrille, mit deren Hilfe der Kranke dann meist wieder kleinste Schrift zu lesen und die meisten Arbeiten zu verrichten im stande ist. Da aber der Operierte auch das Akkommodationsvermögen verloren hat, so muß er Brillen von verschiedener Brechungskraft gebrauchen, je nachdem er nahe oder ferne Gegenstände sehen will. Nach der Staroperation tritt oft von neuem wieder eine Trübung in der hintern Augenkammer ein, welche man sekundärer Kapselstar, Nachstar (s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 13), nennt, und wodurch das Sehvermögen wieder beschränkt oder ganz aufgehoben wird. Der Nachstar entsteht dadurch, daß die bei der Operation zurückgelassene hintere Linsenkapsel sich aufs neue trübt; dieselbe wird dann entweder durch eine Nachoperation ganz entfernt, oder auf ungefährliche Weise durch Zerreißung (Discision des Nachstars) beseitigt. Eine abermalige Trübung ist dann nicht mehr möglich. Vgl. Magnus, Geschichte des grauen Stars (Leipz. 1876)

Star (Sturnus L.), Vogelgattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel und der Familie der Stare (Sturnidae), mittelgroße, gedrungen gebaute Vögel mit kurzem Schwanz, ziemlich langen Flügeln, in welchen die erste Schwinge verkümmert, die zweite am längsten ist, mittelmäßig langem, geradem, breit kegelförmigem Schnabel, mittelhohen, ziemlich starken Füßen und langen Zehen. Der gemeine S. (Strahl, Sprehe, Spreu, S. vulgaris L.), 22 cm lang, 37 cm breit, ist im Frühling schwarz, auf Schwingen und Schwanz wegen der breiten, grauen Federränder lichter, nach der Mauser und im Herbst weiß gepunktet, mit braunen Augen, schwarzem Schnabel und rotbraunen Füßen, bewohnt den größten Teil Europas, erscheint aber in den Mittelmeerländern nur im Winter und geht höchstens bis Nordafrika; bei uns weilt er von Februar oder März bis Oktober und November. Er bevorzugt die Ebenen mit Auenwaldungen, läßt sich aber auch in Gegenden, die er sonst nur auf dem Zug berührt, durch Anbringung von Brutkasten etc. fesseln. Dadurch hat ihn z. B. Lenz seit 1856 in Thüringen heimisch gemacht. Durch sein munteres, heiteres Wesen ist er allgemein beliebt; seine Stimme ist ein angenehmes Geschwätz, er besitzt aber auch ein großes Nachahmungsvermögen und mischt die verschiedensten Töne ein. Er nistet in Baumhöhlungen, Mauerlöchern, am liebsten in Brutkästchen auf Bäumen, Stangen, Hausgie-

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Staraja-Russa - Starhemberg.

beln etc., und legt im April 5-6 lichtblaue Eier (s. Tafel "Eier I", Fig. 57), welche vom Weibchen allein ausgebrütet werden. Die ausgeschlüpften Jungen sind bald selbständig und schweifen mit andern Nestlingen umher. Ist auch die zweite Brut flügge, so vereinigen sich alle Stare und sammeln sich zu großen Scharen in Wäldern sowie später (etwa Ende August) im Röhricht der Gewässer. Die Alten kehren zuletzt gegen Ende September noch einmal zu den Nistkasten zurück, singen morgens und abends, ziehen aber nach den ersten starken Frösten mit den Jungen in die Winterherberge. Der S. nährt sich von Kerbtieren, Würmern und Schnecken und wird durch massenhafte Vertilgung derselben sehr nützlich; weidenden Rindern liest er Mücken und andre Insekten vom Rücken ab. In Kirschpflanzungen und Gemüsegärten, namentlich in Weinbergen richtet er zwar oft erheblichen Schaden an, doch überwiegt sein Nutzen bei weitem. In der Gefangenschaft wird er leicht zahm, lernt Lieder pfeifen und Worte nachsprechen und dauert fast ein Menschenalter aus.

Staraja-Russa, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod, südlich vom Ilmensee, an der Polista und der Eisenbahn S.-Nowgorod, mit Mönchskloster, 16 Kirchen, weiblichem Progymnasium, Theater, Stadtbank, Findelhaus, mehreren Kasernen und (1885) 13,537 Einw. S. besitzt bedeutende Salinen und ist in neuerer Zeit als Solbad in Ruf gekommen.

Stara Planina, s. Balkan.

Starbuck, zum Manihikiarchipel der Südssee gehörige, unbewohnte Insel, 3 qkm groß, wurde 1866 für englisches Eigentum erklärt.

Staremiasto (Alt-Sambor), Stadt in Galizien, am Dnjestr, südwestlich von Sambor, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit (1880) 3482 Einw.

Stargard, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Stettin, Kreis Saatzig, an der Ihna, Knotenpunkt der Linien Berlin-S., Posen-S. und S.-Zoppot der Preußischen Staatsbahn wie der Eisenbahn S.-Küstrin, 36 m ü. M., hat 3 evangelische und eine kath. Kirche, ein Bethaus der Irvingianer, eine Synagoge und (1885) mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 9) 22,112 meist evang. Einwohner, welche Maschinen-, Schuhwaren-, Lack-, Filzwaren-, Dachpappen-, Seifen-, Bürsten-, Spiritus- und Zigarrenfabrikation, Bildhauerei, Gerberei, Bierbrauerei, Feilenhauerei und Dampfschleiferei betreiben. S. hat außerdem eine Wasser- und Dampfmahlmühle, eine Dampfmolkerei, eine Provinzialobstbaumschule und bedeutende Landwirtschaft. Der Handel, unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, ist besonders lebhaft in Getreide, Vieh und Produkten, auch finden alljährlich in S. ein Leinwandmarkt und zwölf besuchte Vieh- und Pferdemärkte statt. S. hat ein Landgericht, ein Landratsamt (für den Kreis Saatzig), ein Hauptsteueramt, eine Landschaftsdepartements-Direktion, ein Gymnasium, ein Realprogymnasium, ein Zentralgefängnis, ein Waisenhaus, 8 Hospitäler etc. S. erhielt 1253 Stadtrecht und ward dann die Hauptstadt von Hinterpommern. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Dramburg, Falkenburg, Gollnow, Greifenberg i. P., Jakobshagen, Kallies, Labes, Massow, Naugard, Nörenberg, Pyritz, Regenwalde, S. und Treptow a. R. Vgl. Petrich, Stargarder Skizzenbuch (Starg. 1876). -

2) (Stargardt, Preußisch-S.) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig, an der Ferse und der Linie Schneidemühl-Dirschau der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Gymnasium, eine Präparandenanstalt, ein Amtsgericht, ein Hauptsteueramt, Eisengießerei, Kupferschmiederei, Schnupftabaks-, Möbel-, Spiritus- und Essigfabrikation, eine Holzbearbeitungsanstalt, große Mühlen, Bierbrauerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 1) 6634 meist kath. Einwohner. Vgl. Stadie, Geschichte der Stadt S. (Starg. 1864). -

3) (S. an der Linde) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, an der Linie Berlin-Stralsund der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Domanialamt, Furniertischlerei, Wollspinnerei, Tuchmacherei, 2 Dampfschneidemühlen und (1885) 2200 evang. Einwohner. Dabei auf steiler Höhe die alte Burg S. mit Wartturm. Vgl. v. Örtzen, Geschichte der Burg S. (Neubrandenb. 1887). Nach S. wurde ehemals auch der Hauptteil des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz benannt (s. Strelitz, Herzogtum).

Starhemberg (Starchimberg, Storchenberg), österreich., teils fürstliches, teils gräfliches Geschlecht, stammt aus Oberösterreich, erhielt 1643 die reichsgräfliche, 1765 die reichsfürstliche Würde und blüht noch in einer fürstlichen Hauptlinie und einer gräflichen Nebenlinie, erstere vertreten durch Camillo, Fürsten von S., Mitglied des österreichischen Herrenhauses, geb. 31. Juli 1835, letztere durch Stephan, Grafen von S., geb. 25. Juni 1817. Vgl. Schwerdling, Geschichte des uralten, teils fürstlichen, teils gräflichen Hauses S. (Linz 1839). Die namhaftesten Sprößlinge des Geschlechts sind:

1) Ernst Rüdiger, Graf von, geb. 12. Jan. 1638 zu Graz in Steiermark, diente unter Montecuccoli gegen Türken und Franzosen und machte sich besonders als Kommandant von Wien durch die erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen die Türken vom 9. Juli bis 12. Sept. 1683 berühmt. Kaiser Leopold verlieh ihm hierfür den Feldmarschallsstab, die Würde eines Staats- und Konferenzministers und das Recht, den Stephansturm in seinem Wappen zu führen. S. folgte dann dem König Johann Sobieski als Kommandierender der Infanterie nach Ungarn, ward aber 1686 bei Ofen so schwer verwundet, daß er sein Kommando niederlegen mußte, und lebte fortan als Präsident des Hofkriegsrats (seit 1691) zu Wien, vorzugsweise mit der Organisation des österreichischen Heers beschäftigt. Er starb 4. Juni 1701. Sein Leben beschrieb Graf Thürheim (Wien 1882).

2) Guido, Graf von, geb. 1657, kämpfte während der Belagerung Wiens 1683 mit Auszeichnung als Adjutant des vorigen, seines Vetters, folgte nach dem Entsatz Wiens dem Heer nach Ungarn und that sich auch dort vielfach, unter anderm 1686 dei der Belagerung von Ofen, 1687 bei Mohács und bei der Erstürmung Belgrads (6. Sept. 1688) sowie in den Schlachten bei Slankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697), hervor. Nach dem Ausbruch

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Staring - Stärke.

des spanischen Erbfolgekriegs ging er mit dem Prinzen Eugen nach Italien, führte hier 1703 an dessen Stelle den Oberbefehl und wußte die versuchte Vereinigung der Franzosen und Bayern in Tirol zu verhindern. 1708 übernahm er als Feldmarschall das Kommando der in Spanien kämpfenden österreichischen Armee und führte trotz der geringen ihm zu Gebote stehenden Streitkräfte den kleinen Krieg glücklich. 1710 zog er nach den Siegen bei Almenara und Saragossa in Madrid ein, ward aber durch Mangel und die Teilnahmlosigkeit des spanischen Volkes an der Sache Karls bald zum Rückzug nach Barcelona genötigt. Als Karl nach Josephs Tod in die österreichischen Erblande zurückgekehrt war, blieb S. als Vizekönig in Barcelona zurück, konnte sich aber trotz seiner genialen Taktik und seines Mutes, der ihm den spanischen Beinamen el gran capitan verschaffte, aus Mangel an Unterstützung daselbst nicht halten und ließ sich infolge des Neutralitätstraktats vom 14. Mai 1713 mit den Resten seiner Truppen auf englischen Schiffen nach Genua übersetzen. Er lebte seitdem in Wien. Während des Türkenkriegs von 1716 bis 1718 übernahm er in Abwesenheit des Prinzen Eugen das Präsidium des Hofkriegsrats. Er starb 7. März 1737 als Gouverneur von Slawonien. Sein Leben beschrieb Arneth (Wien 1853).

Staring, Antony Winand Christiaan, holländ. Dichter, geb. 24. Jan. 1767 zu Gendringen, studierte die Rechte in Harderwyk und Göttingen und wohnte seitdem auf seinem Landgut Wildenborch bei Zütphen, wo er 18. Aug. 1840 starb. S. hat nur einen Band Novellen und vier kleine Bände Gedichte geschrieben (hrsg. von Nik. Beets, 4. Aufl. 1883), welche erst nach seinem Tod nach Verdienst geschätzt wurden und sich durch Ursprünglichkeit, Kernhaftigkeit und einen gesunden Humor auszeichnen.

Stariza, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an der Wolga, die hier den Fluß S. aufnimmt, und an der Eisenbahn Ostaschkow-Rshew, mit (1885) 4709 Einw., welche starken Getreidehandel auf der Wolga und den Kanälen nach Petersburg treiben,

Stark (Starck), 1) Johann Friedrich, luther. asketischer Schriftsteller, geb. 10. Okt. 1680 zu Hildesheim, wirkte als Prediger nacheinander in Sachsenhausen und Frankfurt a. M., wo er 17. Juli 1756 als Konsistorialrat starb. Außer vielen geistlichen Liedern schrieb er einige bis auf den heutigen Tag vielgebrauchte Gebetbücher, so namentlich: "Tägliches Handbuch" (Frankf. 1727).

2) Johann August, Freiherr von, bekannt als Kryptokatholik, geb. 29. Okt. 1741 zu Schwerin, war zuerst Lehrer in Petersburg, besuchte 1763 England und ward 1765 in Paris Interpret der morgenländischen Handschriften an der königlichen Bibliothek und, heimgekehrt, Konrektor in Wismar. Nach einer zweiten Reise nach Petersburg übernahm er 1769 eine Professur der morgenländischen Sprachen zu Königsberg und wurde hier 1770 Hofprediger, 1772 ordentlicher Professor der Theologie und 1776 Oberhofprediger, ging 1777 als Professor an das Gymnasium nach Mitau und 1781 als Oberhofprediger und Konsistorialrat nach Darmstadt. 1786 beschuldigten ihn Biester und Nicolai öffentlich, daß er Kryptokatholik, Priester und Jesuit sei. S. vermochte sich in der Schrift "Über Kryptokatholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime Gesellschaften etc." (Frankf. 1787, 2 Bde.; Nachtrag 1788) nicht vollständig zu rechtfertigen, und sein anonymes Buch "Theoduls Gastmahl, oder über die Vereinigung der verschiedenen christlichen Religionssocietäten" (das. 1809, 7. Aufl. 1828) gab jenem Verdacht nur neue Nahrung. Gleichwohl ward er vom Großherzog von Hessen 1811 in den Freiherrenstand erhoben; er starb 3. März 1816. Nach seinem Tod soll man in seinem Haus ein zum Messehalten eingerichtetes Zimmer gefunden haben, und es wird behauptet, daß er schon 1766 in Paris förmlich zur katholischen Kirche übergetreten sei.

3) Karl Bernhard, Archäolog, geb. 2. Okt. 1824 zu Jena, Sohn des als Professor der Pathologie bekannten Geheimen Hofrats S. (gest. 1845), studierte in seiner Vaterstadt und in Leipzig Philologie, wandte sich dann vorzugsweise der Archäologie zu und unternahm 1847 eine Reise nach Italien. Seit 1848 in Jena erst als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor thätig, folgte er 1855 einem Ruf als Professor der Archäologie nach Heidelberg, wo er 12. Okt. 1878 starb. Er schrieb: "Kunst und Schule" (Jena 1848); "Forschungen zur Geschichte des hellenistischen Orients: Gaza und die philistäische Küste" (das. 1852); "Archäologische Studien" (Wetzl. 1852) und als Ergebnis einer Reise durch Frankreich und Belgien "Städteleben, Kunst und Altertum in Frankreich" (Jena 1855); "Niobe und die Niobiden" (Leipz.1863); "Gigantomachie auf antiken Reliefs und der Tempel des Jupiter tonans in Rom" (Heidelb. 1869); "Handbuch der Archäologie der Kunst" (Leipz. 1878, Bd. 1, die Systematik der Archäologie und eine Geschichte der archäologischen Studien enthaltend); kleinere Schriften über Creuzer, Winckelmann, das Heidelberger Schloß u. a. Auch bearbeitete er die zweite Auflage des dritten Teils von Hermanns "Lehrbuch der griechischen Antiquitäten" (Privataltertümer, Leipz. 1870). Eine neue Reise nach dem griechischen Orient gab Stoff zu einer Reihe von Berichten, die er später in dem Werk "Nach dem griechischen Orient" (Heidelb. 1874) verarbeitete. Vgl. W. Frommel, Karl Bernh. Stark (Berl. 1880).

4) Ludwig, Musikpädagog, geb. 19. Juni 1831 zu München, studierte daselbst Philologie, widmete sich jedoch dann unter Ignaz Lachners Beistand der Musik und konnte bald mit Erfolg als Komponist von Ouvertüren, Zwischenaktsmusiken etc. am Hoftheater debütieren. Die Bekanntschaft mit Siegm. Lebert (s. d.) führte S. an die von jenem gegründete Stuttgarter Musikschule als Lehrer der Theorie und Geschichte der Musik; als solcher erhielt er 1868 den Professortitel, 1873 den Doktorgrad von der Universität Tübingen sowie andre Auszeichnungen. Er starb 22. März 1884 in Stuttgart. Von Starks mit Lebert gemeinschaftlich herausgegebenen Unterrichtswerken ist außer der berühmt gewordenen "Klavierschule" (s. Lebert) noch die "Deutsche Liederschule" zu erwähnen. Ferner erschienen von ihm ein "instruktives" u. "Solfeggien-Album", eine weitverbreitete Chorsammlung: "Stimmen der Heimat", eine große, mit A. und C. Kißner gemeinschaftlich bearbeitete Sammlung keltischer Volksweisen in verschiedenen Serien ("Burns-Album" etc.), eine "Elementar- und Chorgesangschule" (mit Faißt, Stuttg. 1880-83, 2 Tle.), Klaviertransskriptionen etc. und eine Bearbeitung der Klavierwerke Händels, Bachs, Mozarts; endlich auch zahlreiche Originalkompositionen für Gesang, Klavier und andre Instrumente und eine Auswahl seiner Tagebuchblätter unter dem Titel: "Kunst und Welt" (Stuttg. 1884).

Stärke (Stärkemehl, Satzmehl, Kraftmehl, Amylum), neben Protoplasma (s. d.) u. Chlorophyll (s. d.) der wichtigste Inhaltsbestandteil der Pflanzenzelle, in welcher sie in Form organisierter Körner (Fig. 1 u. 2) auftritt. Dieselben besitzen eine sehr wech-

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Stärke (natürliches Vorkommen, Chemisches; Gewinnung).

selnde Größe und erscheinen kugelig, oval, linsen- oder spindelförmig, mitunter, wie im Milchsaft der Euphorbien, auch stabartig mit angeschwollenen Enden, in andern Fällen durch gegenseitigen Druck polyedrisch. Nicht selten treten mehrere Körner zu einem abgerundeten Ganzen zusammen (zusammengesetzte Stärkekörner). Im Wasser liegende Stärkekörner lassen eine deutliche Schichtung (Fig. 1a) erkennen, welche dadurch hervorgerufen wird, daß um eine innere, weniger dichte Partie, den sogen. Kern, Schichten von ungleicher Lichtbrechung schalenartig gelagert sind; der Kern liegt nur bei kugeligen Körnern genau im Mittelpunkt, meist ist er exzentrisch, und die ihn umgebenden Schichten haben dem entsprechend ungleiche Dicke. Die Schichtung wird durch verschiedenen Wassergehalt und entsprechend verschiedene Lichtbrechung der Schichten verursacht, weshalb auch trockne oder in absolutem Alkohol liegende Körner ungeschichtet erscheinen. In polarisiertem Licht zeigen alle Stärkekörner ein helles, vierarmiges Kreuz, dessen Mittelpunkt mit dem Schichtungszentrum zusammenfällt, und verhalten sich demnach so, als wenn sie aus einachsigen Kristallnadeln zusammengesetzt wären. Mit Jodlösung färben sich je nach Konzentration derselben die Stärkekörner mit wenigen Ausnahmen indigoblau bis schwarz, eine Reaktion, durch welche sich auch sehr geringe Stärkemengen in Gewebeteilen nachweisen lassen. In kaltem Wasser sind die Körner unlöslich, quellen aber in warmem Wasser auf und lösen sich zuletzt beim Kochen auf. Nach Einwirkung von Speichel oder von verdünnten Säuren bleibt ein substanzärmeres Stärkeskelett zurück, das sich mit Jod nicht mehr blau, sondern violett oder gelb färbt, so daß die Annahme zweier verschiedener Substanzen (von Nägeli als Granulose und Cellulose bezeichnet) naheliegt; jedoch scheint die Annahme einer unter diesen Umständen eintretenden Umwandlung der S. in Amylodextrin wahrscheinlicher. Die S. tritt in den verschiedenartigsten Geweben aller Pflanzen mit Ausnahme der Pilze und einiger Algen (Diatomeen und Florideen) auf; bei letztern wird sie jedoch durch eine ähnliche Substanz (Florideenstärke) vertreten, welche sich mit Jod gelb oder braun färbt und direkt aus dem Zellplasma hervorgeht. Auch im Zellinhalt von Euglena kommen stärkeähnliche, mit Jod jedoch sich nicht färbende Körner (Paramylon) vor. Endlich tritt in den Epidermiszellen einiger höherer Pflanzen eine mit Jod sich blau oder rötlich färbende Substanz in gelöster Form (lösliche S.) auf. In allen übrigen Fällen ist das Auftreten der S. in der beschriebenen Körnerform die Regel. Sehr reich an S. sind die als Stoffmagazine dienenden Gewebe der Samen, Knollen, Zwiebeln und Rhizome sowie die Markstrahlen und das Holzparenchym im Holzkörper der Bäume. Diese Reservestärke unterscheidet sich durch ihre Großkörnigkeit von der feinkörnigen, im assimilierenden Gewebe auftretenden S. (s. Ernährung der Pflanzen). Die Bildung der S. erfolgt entweder innerhalb der Chlorophyllkörner und andrer Farbstoffkörper, oder sie entsteht aus farblosen Plasmakörnern, den Leukoplasten oder Stärkebildnern. Die letztern treten besonders in solchen chlorophyllfreien Geweben auf, in welchen die Assimilationsprodukte in Reservestärke übergeführt werden, wie in vielen stärkemehlhaltigen Knollen; in diesen werden die kleinen Stärkekörner von den Leukoplasten fast ganz eingehüllt, während letztere den großen, exzentrisch gebauten Stärkekörnern nur einseitig aufsitzen. Bei vielen Chlorophyllalgen, z. B. bei Spirogyra, treten die Stärkemehlkörner an besondern Bildungsherden im Umkreis von plasmatischen Kernen (Pyrenoiden) auf. Das Wachstum der anfangs ganz winzigen Stärkekörner erfolgt durch Einlagerung neuer Stärkemoleküle zwischen die schon vorhandenen (Intussuszeption), während die zusammengesetzten Stärkekörner sich durch nachträgliche Verschmelzung und Umlagerung mit neuen Schichten bilden. Die Auflösung der S. im Innern der Pflanzenzelle kommt vorzugsweise durch Einwirkung von Fermenten zu stande, welche der Diastase des keimenden Getreidekorns ähnlich sind. Im Leben der Pflanze liefert die S. das Material für den Aufbau der Zellwand. - Auch in chemischer Beziehung steht das Stärkemehl (C6H10O5) in naher Verwandtschaft zu andern Kohlehydraten, wie der Cellulose, den Zuckerarten, dem Dextrin u. a. Die Umwandlung in Dextrin und Zucker erfolgt besonders leicht durch Behandlung der S. mit verdünnten Säuren, Diastase, Speichel, Hefe und andern Fermenten. Bei 160° geht die S. in Dextrin über, mit konzentrierter Salpetersäure bildet sie explosives Nitroamylum (Xyloidin), mit verdünnter Salpetersäure gekocht, Oxalsäure. Beim Erhitzen mit Wasser quillt die S. je nach der Abstammung bei 47-57°, die Schichten platzen, und bei 55-87° (Kartoffelstärke bei 62,5°, Weizenstärke bei 67,5°) entsteht Kleister, welcher je nach der Stärkesorte verschiedenes Steifungsvermögen besitzt (Maisstärkekleister größeres als Weizenstärkekleister, dieser größeres als Kartoffelstärkekleister) und sich mehr oder weniger leicht unter Säuerung zersetzt.

Man gewinnt S. aus zahlreichen, sehr verschiedenen Pflanzen, von denen Weizen, Kartoffeln, Reis (Bruchreis aus den Reisschälfabriken) und Mais befonders wichtig sind. Wichtige Objekte des Handels sind außerdem: Sago, Marantastärke (Arrowroot), brasilische Maniokstärke, ostindische Kurkumastärke und Kannastärke, letztere beiden ebenfalls als Arrowroot im Handel. Zur Darstellung der Kartoffelstärke werden die Kartoffeln, welche etwa 75 Proz. Wasser, 21 Proz. S. und 4 Proz. andre Substanzen enthalten, auf schnell rotierenden Cylindern, die mit Sägezähnen besetzt sind, unter Zufluß von Wasser möglichst fein zerrieben, worauf man den Brei, in welchem die Zellen möglichst vollständig zerrissen, die Stärkekörner also bloßgelegt sein sollen, aus einem Metallsieb, auf welchem ein Paar Bürsten langsam rotieren, unter Zufluß von Wasser auswäscht. Bei größerm Betrieb benutzt man kontinuierlich wirkende Apparate, bei denen der Brei durch eine Kette allmählich über ein langes, geneigt liegendes Sieb transportiert und dabei ausgewaschen und das

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Stärke (Gewinnung aus Kartoffeln, Weizen, Reis, Mais).

auf den schon fast erschöpften Brei fließende Wasser, welches also nur sehr wenig Stärkemehl aufnimmt, auch noch auf frischen Brei geleitet wird. Der ausgewaschene Brei (Pülpe) enthält 80-95 Proz. Wasser, in der Trockensubstanz aber noch etwa 60 Proz. S. und dient als Viehfutter, auch zur Stärkezucker-, Branntwein- und Papierbereitung; das Waschwasser hat man zum Berieseln der Wiesen benutzt, doch gelang es auch, die stickstoffhaltigen Bestandteile des Kartoffelfruchtwassers für die Zwecke der Verfütterung zu verwerten. Da die Pülpe noch sehr viel S. enthält, so zerreibt man sie wohl zwischen Walzen, um alle Zellen zu öffnen, und wäscht sie noch einmal aus. Nach einer andern Methode schneidet man die Kartoffeln in Scheiben, befreit sie durch Maceration in Wasser von ihrem Saft und schichtet sie mit Reisigholz oder Horden zu Haufen, in welchen sie bei einer Temperatur von 30-40° in etwa acht Tagen vollständig verrotten und in eine lockere, breiartige Masse verwandelt werden, aus welcher die S. leicht ausgewaschen werden kann.

Das von den Sieben abfließende Wasser enthält die Saftbestandteile der Kartoffeln gelöst und S. und feine Fasern, die durch das Sieb gegangen sind, suspendiert. Man rührt es in Bottichen auf, läßt es kurze Zeit stehen, damit Sand und kleine Steinchen zu Boden fallen können, zieht es von diesen ab, läßt es durch ein feines Sieb fließen, um gröbere Fasern zurückzuhalten, und bringt es dann in einen Bottich, in welchem sich die S. und auf derselben die Faser ablagert. Die obere Schicht des Bodensatzes wird deshalb nach dem Ablassen des Wassers entfernt und als Schlammstärke direkt verwertet oder weiter gereinigt, indem man sie auf einem Schüttelsieb aus feiner Seidengaze, durch deren Maschen die S., aber nicht die Fasern hindurchgehen, mit viel Wasser auswäscht. Die Hauptmasse der S. wird im Bottich wiederholt mit reinem Wasser angerührt und nach jedesmaligem Absetzen von der obern unreinen S. befreit. Man kann auch die rohe S. mit Wasser durch eine sehr schwach geneigte Rinne fließen lassen, in deren oberm Teil sich die schwere reine S. ablagert, während die leichtern Fasern von dem Wasser weiter fortgeführt werden. Sehr häufig benutzt man auch innen mit Barchent ausgekleidete Zentrifugalmaschinen, in welchen sich die schwere S. zunächst an der senkrechten Wand der schnell rotierenden Siebtrommel ablagert, während die leichte Faser noch im Wasser suspendiert bleibt. Das Wasser aber entweicht durch die Siebwand, und man kann schließlich die S. aus der Zentrifugalmaschine in festen Blöcken herausheben, deren innere Schicht die Faser bildet. Die feuchte (grüne) S., welche etwa 33-45 Proz. Wasser enthält, wird ohne weiteres auf Dextrin und Traubenzucker verarbeitet, für alle andern Zwecke aber auf Filterpressen oder auf Platten aus gebranntem Gips, die begierig Wasser einsaugen, auch unter Anwendung der Luftpumpe entwässert und bei einer Temperatur unter 60° getrocknet. Man bringt sie in Brocken oder, zwischen Walzen zerdrückt und gesiebt, als Mehl in den Handel. Bisweilen wird die feuchte S. mit etwas Kleister angeknetet und durch eine durchlöcherte eiserne Platte getrieben, worauf man die erhaltenen Stengel auf Horden trocknet. Um einen gelblichen Ton der S. zu verdecken, setzt man ihr vor dem letzten Waschen etwas Ultramarin zu.

Weizenstärke wird aus weißem, dünnhülsigem, mehligem Weizen dargestellt. Derselbe enthält etwa 58-64 Proz. S., außerdem namentlich etwa 10 Proz. Kleber und 3-4 Proz. Zellstoff, welcher hauptsächlich die Hülsen des Korns bildet. Die Eigenschaften des Klebers bedingen die Abweichungen der Weizenstärkefabrikation von der Gewinnung der S. aus Kartoffeln. Nach dem Halleschen oder Sauerverfahren weicht man den Weizen in Wasser, zerquetscht ihn zwischen Walzen und überläßt ihn, mit Wasser übergossen, der Gärung, die durch Sauerwasser von einer frühern Operation eingeleitet wird und namentlich Essig- und Milchsäure liefert, in welcher sich der Kleber löst oder wenigstens seine zähe Beschaffenheit so weit verliert, daß man nach 10-20 Tagen in einer siebartig durchlöcherten Waschtrommel die S. abscheiden kann. Das aus der Trommel abfließende Wasser setzt in einem Bottich zunächst S., dann eine innige Mischung von S. mit Kleber und Hülsenteilchen (Schlichte, Schlammstärke), zuletzt eine schlammige, vorwiegend aus Kleber bestehende Masse ab. Diese Rohstärke wird ähnlich wie die Kartoffelstärke gereinigt und dann getrocknet, wobei sie zu Pulver zerfällt oder, wenn sie noch geringe Mengen Kleber enthält, die sogen. Strahlenstärke liefert, die vom Publikum irrtümlich für besonders rein gehalten wird. - Nach dem Elsässer Verfahren wird der gequellte Weizen durch aufrechte Mühlsteine unter starkem Wasserzufluß zerquetscht und sofort ausgewaschen. Das abfließende Wasser enthält neben S. viel Kleber und Hülsenteilchen und wird entweder der Gärung überlassen und dann wie beim vorigen Verfahren weiter verarbeitet, oder direkt in Zentrifugalmaschinen gebracht, wo viel Kleber abgeschieden und eine Rohstärke erhalten wird, die man durch Gärung etc. weiter reinigt. Die bei diesem Verfahren erhaltenen Rückstände besitzen beträchtlich höhern landwirtschaftlichen Wert als die bei dem Halleschen Verfahren entstehenden; will man aber den Kleber noch vorteilhafter verwerten, so macht man aus Weizenmehl einen festen, zähen Teig und bearbeitet diesen nach etwa einer Stunde in Stücken von 1kg in einem rinnenförmigen Trog unter Zufluß von Wasser mit einer leicht kannelierten Walze. Hierbei wird die S. aus dem Kleber ausgewaschen und fließt mit dem Wasser ab, während der Kleber als zähe, fadenziehende Masse zurückbleibt (vgl. Kleber).

Reis enthält 70-75 Proz. S. neben 7-9 Proz. unlöslichen, eiweißartigen Stoffen, welche aber durch Einweichen des Reises in ganz schwacher Natronlauge großenteils gelöst werden. Man zerreibt den Reis alsdann auf einer Mühle unter beständigem Zufluß schwacher Lauge, behandelt den Brei in einem Bottich anhaltend mit Lauge und Wasser, läßt kurze Zeit absetzen, damit sich gröbere Teile zu Boden senken, und zieht das Wasser, in welchem reine S. suspendiert ist, ab. Aus dem Bodensatz wird die S. in einem rotierenden Siebcylinder durch Wasser ausgewaschen, worauf man sie durch Behandeln mit Lauge und Abschlämmen vom Kleber befreit. Die zuerst erhaltene reinere S. läßt man absetzen, entfernt die obere unreine Schicht, behandelt das übrige auf der Zentrifugalmaschine und trocknet die reine S.

Mais weicht man vier- bis fünfmal je 24 Stunden in Wasser von 35°, wäscht ihn und läßt ihn dann durch zwei Mahlgänge gehen. Das Mehl fällt in eine mit Wasser gefüllte Kufe mit Flügelrührer und gelangt aus dieser auf Seidengewebe, welches nur die grobe Kleie zurückhält. Die mit der S. beladenen, durch das Gewebe hindurchgegangenen Wasser gelangen in Tröge, dann durch zwei feine Gewebe und endlich auf wenig geneigte, 80-100 m lange Schiefertafeln, auf welchen sich die S. ablagert. Das abfließende, nur noch Spuren von S. enthaltende Wasser über-

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Stärkeglanz - Starnberg.

läßt man der Ruhe und preßt den Absatz zu Kuchen, um ihn als Viehfutter zu verwenden. Die Behandlung mit schwacher Natronlauge von 2-3° B. ist im nördlichen Frankreich und in England gebräuchlich. Stärkere Laugen würden einen Verlust an Eiweißstoffen verursachen. Da zudem bei Anwendung von Natron sich ein übler Geruch bei der Gärung entwickelt und dieses Verfahren auch fast keine Vorzüge bietet, so ist die Behandlung mit reinem Wasser vorzuziehen. Die S. des Maises ist unter dem Namen Maizena im Handel. Auch aus Roßkastanien wird S. gewonnen, doch ist dieselbe nur für technische Zwecke verwendbar, da ein derselben anhaftender Bitterstoff durch Behandeln mit kohlensaurem Natron kaum vollständig entfernt werden kann. Die Ausbeute beträgt 19-20 Proz. Die S. des Handels enthält etwa 80-84 Proz. reine S., 14-18 Proz. Wasser und in den geringern Sorten bis 5 Proz. Kleber, 2,5 Faser und 1,3 Proz. Asche, während der Aschengehalt in den besten Sorten nur 0,01 Proz. beträgt.

S. dient allgemein zur Appretur, zur Darstellung von Schlichte, zum Steifen der Wäsche, zum Beizen von Baumwolle, zur Färbung mit Anilinfarben, zum Leimen des Papiers, zum Verdicken der Farben in der Zeugdruckerei, zu Kleister, zur Darstellung von Dextrin (Stärkegummi) und Traubenzucker (Stärkezucker, Stärkesirup), Nudeln, künstlichem Sago, überhaupt als Nahrungsmittel (Kartoffelmehl, Kraftmehl etc.). Die S. ist auch der wesentliche Bestandteil im Getreide und in den Kartoffeln, aus welcher sich bei der Bierbrauerei und Branntweinbrennerei, nachdem sie in Zucker und Dextrin übergeführt worden, der Alkohol bildet. S. war bereits den Alten bekannt, nach Dioskorides wurde sie amylon genannt, weil sie nicht wie andre mehlartige Stoffe auf Mühlen gewonnen wird. Nach Plinius wurde sie zuerst auf Chios aus Weizenmehl dargestellt. Über die Fortschritte der Fabrikation im Mittelalter weiß man wenig, nur so viel ist sicher, daß die Holländer im 16. Jahrh. S. im großen Maßstab darstellten und bedeutende Mengen exportierten. Die Stärkeindustrie entwickelte sich vorwiegend als landwirtschaftliches Gewerbe; mit einfachsten Vorrichtungen gewann man zwar nur eine mäßige Ausbeute, doch genügte dieselbe bei der Möglichkeit vorteilhafter Verwertung der Abfälle, bis die Fortschritte in den eigentlichen Stärkefabriken auch die Landwirtschaft zwangen, auf höhere Ausbeute bedacht zu sein. Diese wurde namentlich durch Vervollkommnung der Maschinen und Apparate erreicht, um welche sich Fesca durch Einführung eigentümlich konstruierter Zentrifugalmaschinen wesentliche Verdienste erwarb. In neuerer Zeit hat die Reisstärke der Kartoffel- und Weizenstärke namentlich für Zwecke der Appretur erfolgreich Konkurrenz gemacht. Vgl. Nägeli, Die Stärkekörner (Zürich 1858); Derselbe, Beiträge zur nähern Kenntnis der Stärkegruppe (Leipz. 1874); Schneider, Rationelle Fabrikation der Kartoffelstärke (Berl. 1870); Wagner, Handbuch der Stärkefabrikation (2. Aufl., Weim. 1884); Derselbe, Die Stärkefabrikation (2. Ausg., Braunschw. 1886); Rehwald, Stärkefabrikation (2. Aufl., Wien 1885).

Stärkeglanz, s. Glanzstärke.

Stärkegummi, s. Dextrin.

Starke Mann, der, s. Eckenberg.

Stärkemehl, s. Stärke.

Stärkemesser, s. Fäkulometer.

Stärken, s. Appretur.

Starkenbach (tschech. Jilemnice), Stadt im nördlichen Böhmen, Station der Österreichischen Nordwestbahn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit gräflich Harrachschem Schloß, Webschule, bedeutender Leinwand- und Batistmanufaktur, Bierbrauerei und (1880) 3418 Einw.

Starkenburg, Provinz des Großherzogtums Hessen, umfaßt 3019 qkm (54,83 QM.) mit (1885) 402,378 Einw. (darunter 116,974 Katholiken und 9516 Juden), hat Darmstadt zur Hauptstadt und sieben Kreise:

Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm

Bensheim 391 7,10 48756 125

Darmstadt 298 5,41 84020 282

Dieburg 504 9,15 53002 105

Erbach 593 10,77 47540 80

Groß-Gerau 450 8,17 39805 88

Heppenheim 406 7,38 43916 108

Offenbach 377 6,85 85339 225

Stärkende Mittel (tonische Mittel, Tonica, Roborantia), diejenigen Mittel, welche bei Schwächezuständen die Thätigkeit und Ausdauer des ganzen Körpers und der einzelnen Organe steigern; entweder diätetisch-psychische: einfache, nicht erschlaffende Lebensweise, Abhärtung, namentlich der Haut, frühes Aufstehen, Waschungen und Bäder, frische Luft, Turnen, Fechten, Schwimmen, Sorge für Gemütsruhe etc., oder arzneiliche, die namentlich bei allgemeiner und örtlicher Erschlaffung, Blutmangel, Blutzersetzung, schlechter Ernährung am Platze sind (hier stehen obenan die Eisenmittel, denen sich die Mineralsäuren, China, Ergotin und die bittern Mittel anreihen), oder dynamische, wie die Anwendung der Elektrizität bei Schwäche und Erkrankungen des Muskel- und Nervensystems.

Stärkescheide (Stärkering, Stärkeschicht), in der Pflanzenanatomie eine stärkeführende Zellschicht, welche den Gefäßbündelkreis oder die einzelnen Gefäßbündel im Stengel und im Blatt umgibt.

Stärkesirup, s. Traubenzucker.

Stärkerer, s. v. w. Traubenzucker.

Stärkmehl, s. Stärke.

Stärlinge (Icteridae), Familie aus der Ordnung der Sperlingsvögel (s. d.).

Starnberg (Starenberg), Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, Bezirksamt München II, am Nordende des danach benannten Sees und an der Linie München-Peißenberg der Bayrischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein königliches Schloß, ein Amtsgericht, ein Forstamt und (1885) 1745 Einw. Der Starnberger See (auch Würmsee genannt) liegt 584 m ü. M., ist 21 km lang, bis 5 km breit und 245 m tief. Sein Abfluß ist die Würm, welche den See unweit S. verläßt und in die Ammer mündet. Der See ist reich an trefflichen Fischen (Lachse, Welse, Karpfen, Hechte etc.). Seine amphitheatralisch aufsteigenden Ufer sind mit Dörfern, Landhäusern, Schlössern, Kirchen und Gasthäusern besetzt; im Süden bilden die Alpen (Zugspitze, Benediktenwand, Karwändelgebirge) einen großartigen Hintergrund. Bemerkenswert sind außer dem 1541-85 erbauten Bergschloß S.: das königliche Jagdschloß Berg (s. d.), das Schloß Possenhofen (s. d.), in dessen Nähe die liebliche Insel Wörth liegt, das Schlößchen Leoni, Bad Unterschäftlarn im NO., Bad Petersbrunn am Ausfluß der Würm, endlich Schloß Leutstetten am Beginn des romantischen Mühlthals. Der See wird von Dampfschiffen befahren. Vgl. Horst, Der Starnberger See, eine Wanderung (Münch. 1877); Schab, Die Pfahlbauten im Würmsee (das. 1877); Lidl, Wanderungen (Landsb. 1878).

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Starobielsk - Starrsucht.

Starobielsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Charkow, am Aidar, mit 4 Kirchen, Progymnasium, Talgsiedereien, Getreidehandel und (1885) 8270 Einw.

Starobradzen, Sekte, s. Raskolniken.

Starodub, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tschernigow, mit 15 Kirchen, einer hebräischen Kronschule, vielen Gärten, Überresten alter Befestigungen, Handel mit Getreide und Hanf und (1885) 24,388 Einw.; gehört seit 1686 zu Rußland.

Staro-Konstantinow, Kreisstadt im russ. Gouvernement Wolhynien, hat 4 griechisch-russische, 2 kath. Kirchen, 2 Synagogen, bedeutenden Getreidehandel nach Odessa und Österreich, Ausfuhr von Schweinen nach Polen und Preußen, von Rindern, Pferden und Schafen nach Österreich und (1885) 19,025 Einw. Das frühere Dominikanerkloster (jetzt Gefängnis und Krankenhaus) diente ehedem als Festung.

Starosten (slaw., "Älteste", Capitanei), in Polen früher Edelleute, die eins der königlichen Güter (Starosteien) zum Lehen und damit zumeist auch die Gerichtsbarkeit in einem gewissen Umfang erhalten hatten (Starosteigerichte). Beim Ableben des derzeitigen Inhabers durften diese Starosteien nicht wieder eingezogen, sondern mußten an einen andern verliehen werden. In Sibirien werden die Vorsteher eines Dorfs S. genannt. In Böhmen ist Starosta der Titel der Bürgermeister, auch Bezeichnung von Vereinsvorständen.

Starowertzi, Sekte, s. Raskolniken.

Starrkrampf (Tetanus und Trismus), eine Krankheit, welche darin sich äußert, daß auf geringe Erregungen entweder nur gewisse Muskelgruppen, z. B. die Kaumuskeln beim Trismus (Mundsperre), die Nackenmuskeln beim Opisthotonus (Genickkrampf), oder daß die gesamte Muskulatur des Körpers in den Zustand stärkster Zusammenziehung gerät. Später reicht der geringste Anlaß, eine Erschütterung, das Klappen einer Thür hin, um einen S. auszulösen. Fast immer wird zuerst der Kopf durch starre Kontraktionen der Rückenmuskeln fixiert und rückwärts gezogen. Vom Nacken aus verbreitet sich der Krampf über die Rückenmuskeln, der ganze Körper wird dadurch bogenförmig rückwärts gekrümmt. Aber auch die Bauch- und Brustmuskeln beteiligen sich an dem S., deshalb ist der Unterleib eingezogen und bretthart. Die kontrahierten Muskeln bleiben während des ganzen Verlaufs der Krankheit gespannt; sie sind dabei hart wie Stein und der Sitz furchtbarer Schmerzen, welche denjenigen beim Wadenkrampf ähnlich sind. Die Krankheit ist um so entsetzlicher, als der Kranke meist bis zum Tode das volle Bewußtsein seiner furchtbaren Leiden behält. Er leidet Hunger und Durst, weil er nicht schlingen kann; der Schlaf fehlt, die Atmung ist erschwert, und die gestörte Respiration und die Erstickungszufälle sind es auch, welche den Kranken meist schon nach wenigen Tagen hinwegraffen. Der S. entsteht durch Vergiftungen, von welchen diejenige mit Strychnin am besten erforscht ist. Neuere Untersuchungen machen es wahrscheinlich, daß die alte Einteilung in rheumatischen und traumatischen S. hinfällig sei, daß vielmehr alle Fälle von kleinen Wunden ausgehen, in welchen eine Giftbildung (Briegers Tetanin und Tetanotoxin) durch Bakterien vor sich geht. Da die Wunden meistens klein und unbedeutend sind, so hat man sie früher nicht beachtet und den S. als eine Erkältungskrankheit gedeutet; für zahlreiche Fälle von S. nach Fußverletzungen, nach dem Einreißen von Splittern unter einen Fingernagel, für den S. der Neugebornen, welcher von der Nabelwunde ausgeht, sind indessen Bakterien (Tetanusbacillen) nachgewiesen worden, welche auch in Nährflüssigkeiten ein Gift hervorbringen, welches Tetanus bei Tieren erzeugt. Diese Bacillen kommen im Erdboden vor, woraus sich die Gefährlichkeit kleiner Fußwunden namentlich bei barfuß gehenden Personen erklärt. Die Behandlung gewährt nur Aussicht, wenn frühzeitig die Wunde ausgeschnitten oder das Glied amputiert wird; gegen den S. selbst wendet man Morphium an, um das Leiden zu lindern.

S. kommt auch bei den Haustieren und besonders häufig bei Pferden vor. Gewöhnlich entwickelt sich das Leiden schnell, aber ohne Temperaturerhöhung. Die Pferde gehen steif, mit gestrecktem Kopf; die Muskeln sind gespannt, und oft bekunden die Tiere eine krankhafte Reizbarkeit. Die Schneidezähne sind mehr oder weniger fest aufeinander geklemmt, so daß die Tiere wohl noch Wasser trinken, aber keine festen Nahrungsmittel verzehren können. Nach diesem Symptom wird der S. auch Maulsperre (Trismus) genannt. Mehr als die Hälfte der am S. erkrankten Tiere geht zu Grunde. Bei günstigem Verlauf lassen die Symptome am 10.-15. Krankheitstag allmählich nach; aber die Rekonvaleszenz erstreckt sich auf 4-6 Wochen. Mit Arzneimitteln kann beim S. nicht viel geholfen werden. Mehr empfiehlt sich zweckmäßige Pflege und Vermeidung jeder Aufregung der kranken Tiere.

Starrsucht (Katalepsie), eine eigentümliche Krankheit der Bewegungsnerven, bez. des Rückenmarks, welche in einzelnen Anfällen auftritt. Während eines kataleptischen Anfalls verharren die Glieder in der Stellung, in welche sie der Kranke vor dem Anfall durch seinen Willen gebracht hat, oder in der Stellung, in welche sie während des Anfalls durch fremde Hand gebracht werden. Sie sinken weder durch ihre eigne Schwere herab, noch können sie durch den Willen des Kranken in eine andre Stellung gebracht werden. Es ist wahrscheinlich, daß bei der S. alle Bewegungsnerven sich in einem Zustand mittlerer Erregung befinden, und daß infolgedessen alle Muskeln bis zu dem Grad kontrahiert sind, daß sie der Schwere der Glieder Widerstand zu leisten vermögen. Kataleptische Erscheinungen treten bei gewissen Geisteskranken, bei Hysterischen und neben manchen Krampfformen, sehr selten dagegen selbständig bei sonst gesunden Individuen auf. Gelegenheitsursachen zum Ausbruch der S. sind namentlich starke Gemütsbewegungen oder auch diejenigen Nervenreizungen, welche den magnetischen Schlaf (s. Hypnotismus) hervorbringen. Als Vorboten der Anfälle von S. sind Kopfschmerz, Schwindel, Ohrenklingen, unruhiger Schlaf, große Reizbarkeit etc. zu nennen. Der Anfall selbst tritt plötzlich ein; die Kranken bleiben unbeweglich wie eine Statue in der Stellung oder Lage, in welcher sie sich gerade befinden, wenn sie der Anfall überrascht. Entweder ist während des Anfalls das Bewußtsein und damit die Empfindlichkeit gegen äußere Reize vollständig aufgehoben, oder das Bewußtsein ist vorhanden, äußere Reize werden empfunden, aber die Kranken sind nicht im stande, durch Worte oder Bewegungen Zeichen ihres Bewußtseins zu geben. Die Atmungsbewegungen, der Herz- und Pulsschlag sind zuweilen so schwach, daß man sie kaum wahrnimmt. Ein solcher Anfall dauert meist nur wenige Minuten, selten mehrere Stunden oder Tage. Die Kranken gähnen und seufzen, wenn der Anfall vorübergeht, und machen ganz den Eindruck eines Menschen, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Geht der Anfall schnell vorüber, und ist während des-

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Stars and stripes - Staßfurt.

selben das Bewußtsein erloschen gewesen, so wissen die Kranken oft gar nicht, daß etwas Ungewöhnliches mit ihnen vorgegangen ist. In andern Fällen bleiben die Kranken nach dem Anfall für kurze Zeit angegriffen, schwindlig und klagen über Eingenommenheit des Kopfes. Oft tritt nur ein Anfall ein, selten folgen sich in kurzen oder langen Zwischenräumen mehrere Anfälle. Die S. geht fast immer nach längerm oder kürzerm Bestand in Genesung über. Dauert der Anfall länger an, so kann es nötig werden, dem Kranken künstlich (durch die Schlundsonde) Nahrung einzuführen. Vgl. Kataplexie.

Stars and stripes (engl., spr. stars änd streips), in Nordamerika beliebte Bezeichnung für das "Sternenbanner" der Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Starstein, s. Holz, fossiles.

Start (engl.), der Anfang des Wettrennens, geschieht aus dem Schritt, wenn er gut oder glatt ist. Geschieht er aus dem Galopp, so nennt man ihn fliegend. Der Starter gibt durch Senken einer Fahne das Zeichen zum Ablaufen.

Stary (slaw.), in zusammengesetzten Ortsnamen oft vorkommend, bedeutet "alt".

Staryj-Bychow (Bychow), Kreisstadt im russ. Gouvernement Mohilew, am Dnjepr, zur Zeit der Polenherrschaft eine der stärksten Festungen Weißrußlands, seit 1772 zu Rußland gehörig, jetzt ein armer Ort mit (1885) 6074 Einw.

Staryj-Oskol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, hat 6 griechisch-russ. Kirchen, ein weibliches Progymnasium, Fabriken für Seife, Leder, Lichte und Tabak, Getreidehandel und (1885) 10,960 Einw.

Stas, Jean Servais, Chemiker, geb. 20. Sept. 1813 zu Löwen, war längere Zeit Professor an der Militärschule in Brüssel und wurde 1841 Mitglied der belgischen Akademie. Er lieferte anfänglich Untersuchungen über organische Verbindungen, wie das Phloridzin, das Acetal, aber schon 1841 mit Dumas eine Arbeit über das Atomgewicht des Kohlenstoffs und hat sich seitdem große Verdienste durch überaus exakte Atomgewichtsbestimmungen erworben.

Staschow (Stasczow), Stadt im polnisch-russ. Gouvernement Radom, Kreis Sandomir, am Czarna, hat Fabrikation von Gewehren, Thonpfeifen und Papier, Strumpfweberei, Wollweberei, Eisen- und Kupferhämmer und (1885) 7748 Einw.

Stasimon (griech.), Name der Standlieder des Chors im griechischen Drama, bei deren Vortrag der Chor meist unbeweglich stehen blieb. Sie traten nur ein, wo die Handlung einen Ruhepunkt forderte, und teilten mit dem dem Prolog folgenden Einzugslied (Parodos) das Stück in verschiedene Abschnitte.

Stasis (griech.), Stellung, Stand; auch s. v. w. Blutstockung (s. d.), Vorläufer bei der Entzündung.

Stassart (spr. -ssar), Goswin Joseph Augustin, Baron von, belg. Staatsmann, geb. 2. Sept. 1780 zu Mecheln, studierte die Rechte in Paris, wurde daselbst 1804 Auditeur im französischen Staatsrat, erhielt 1805 eine Intendantur in Tirol und 1807 bei der französischen Armee in Preußen. 1810 ward er Präfekt des Vauclusedepartements und 1811 des der Maasmündungen. Nach der zweiten Restauration lebte er auf seinem Landgut bei Namur, bis ihn die Stadt Namur 1822 in die niederländische Zweite Kammer sandte, wo er zur Opposition gehörte. Nach dem Ausbruch der Revolution in Brüssel im September 1830 war er unter den Abgeordneten der südlichen Provinzen, welche der Einberufung der Kammer nach dem Haag Folge leisteten. 1831 begab er sich nach Belgien zurück, wo er in den Kongreß gewählt und Mitglied der provisorischen Regierung sowie dann des Senats wurde. In dieser Stellung bekleidete er sieben Sessionen hindurch das Amt eines Präsidenten, während er von der Regierung 1834 auch zum Gouverneur von Brabant ernannt wurde, verlor aber 1838 diese beiden Würden, da er als Großmeister der belgischen Freimaurerei mit dem dieselbe besehdenden Episkopat offen gebrochen hatte. 1840 ward er für kurze Zeit Gesandter zu Turin. 1841 legte er seine Würde als Großmeister der belgischen Freimaurerei nieder. Er starb 16. Okt. 1854 in Brüssel. Seine Schriften (Denkschriften, Reden, Kritiken etc., namentlich aber treffliche Fabeln) erschienen gesammelt Brüssel 1854.

Staßfurt, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, Kreis Kalbe, an der Bode, Knotenpunkt der Linien S.-Schönebeck, S.-Blumenberg und S.-Löderburg der Preußischen Staatsbahn, 65 m ü. M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein bedeutendes Steinsalzbergwerk, große chemische Fabriken, eine Zuckerfabrik, Eisengießerei und Dampfkesselfabrikation und (1885) 16,459 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 806 als Ort erwähnt, und die dortigen Solbrunnen existierten bereits 1227. Im 16. und 17. Jahrh. befand sich der blühende Salzbetrieb hauptsächlich in den Händen des dort seßhaften Adels, 1796 aber ging der gesamte Besitz an den König von Preußen über. Unter der Konkurrenz von Dürrenberg mußte der Betrieb nach wenigen Jahren eingestellt werden, und als er 1815 wieder aufgenommen wurde, konnte er doch nur bis 1839 erhalten werden. Damals begann man ein Bohrloch, welches 1843 bei 256 m Tiefe ein Salzlager antraf, dessen Liegendes bei 325 m noch nicht erreicht wurde. Die Bohrlochsole erwies sich aber wegen hohen Gehalts an Kali- und Magnesiasalzen unbrauchbar, und als man 1851 mit dem Abteufen zweier Schächte begann, erreichte man in fünf Jahren das Salzlager, welches sich in einer Mächtigkeit von 160 m mit Kali- und Magnesiasalzen bedeckt erwies, die man damals als lästige Zugabe betrachtete und als Abraumsalze (s. d.) bezeichnete. Spätere Bohrungen ergaben, daß stellenweise über den Abraumsalzen noch ein jüngeres Steinsalzlager liegt, welches keine Anhydritschnüre enthält und sehr reines Steinsalz liefert. Die ersten Vorschläge zur Verwertung der Kalisalze veranlaßte die anhaltische Regierung zum Abteufen zweier Schächte zu Leopoldshall, in unmittelbarer Nähe von S., und diese kamen 1861 in Betrieb. Ähnliche Unternehmungen, wie Douglashall, Neustaßfurt, entstandenen der Umgebung von S., und auch Schmidtmannshall bei Aschersleben ist hierher zu rechnen. Die Kalisalzindustrie entwickelte sich seit 1857 und hat eine so große Bedeutung gewonnen, daß von S. aus der Weltmarkt für Kalisalze beherrscht wird. Man stellt schwefelsaures Kali, schwefelsaure Kalimagnesia, Chlorkalium, Pottasche, außerdem Glaubersalz, Bittersalz, Kieseritsteine, Chlormagnesium, Brom, Soda etc. dar. 1887 gab es im Staßfurter Becken 7 Kalisalzbergwerke, darunter 2 fiskalische (ein preußisches und ein anhaltisches). Diese förderten 12,940,808 metr. Ztr. Kalisalze (8,402,068 Carnallit 2,375,177 Kainit, 141,850 Kieserit etc.) und 2,019,625 metr. Ztr. Steinsalz. Davon kamen auf die königlichen Salzwerke in S. an Carnallit 1,979,816, an Kainit 727,093, an Steinsalz 609,851, auf Leopoldshall an Carnallit 2,152,723, an Kainit 644,881, an Kieserit 29,303, an Steinsalz 480,390 metr. Ztr. Vgl. die Litteratur bei Art. Abraumsalze; außerdem Precht, Die Salzindustrie von S. (3. Aufl., Staßf.

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Staßfurtit - Statistik.

1889); Pfeiffer, Die Staßfurter Kaliindustrie (Braunschw. 1887).

Staßfurtit, s. Boracit.

Stassjulewitsch, Michael Matwejewitsch, russ. Publizist, geb. 9. Sept. 1826, studierte auf der Petersburger Universität, bekleidete an derselben 1851 bis 1861 den Lehrstuhl der Geschichte und war 1860 bis 1862 Lehrer des verstorbenen Thronfolgers Nikolaus. Er verfaßte einige Monographien zur altgriechischen und mittelalterlichen Geschichte und eine Geschichte des Mittelalters (russ., Petersb. 1863-65, 3 Bde.). Später widmete er sich ganz dem Journalismus, indem er 1865 den "Europäischen Boten" ("Westnik Jewropy") begründete, eine Monatsschrift, welche bis jetzt unter den Veröffentlichungen dieser Art in Rußland die erste Stelle einnimmt.

Statarisch (lat.), stehend, verweilend; daher statarische Lektüre, Lektüre, bei der das Einzelne genau erklärt wird (Gegensatz: kursorische Lektüre).

Staten Island (spr. steht'n-eiländ), Insel an der Küste des nordamerikan. Staats New Jersey, an der Einfahrt in die Bai von New York, wird durch einen schmalen Meeresarm (Staten Island-Sound) vom festen Land getrennt, ist 160 qkm groß und hat (1880) 38,991 Einw. Hauptstadt ist Richmond.

Stater, Name verschiedener Geldstücke des Altertums. Der athenische Goldstater, meist im 5. Jahrh. geprägt, wiegt etwa 8,6 g; der Kyzikener S., etwa 16 g schwer, war ein aus sogen. Elektron (Gold- und Silbermischung) geprägtes Stück; der äginetische S. ist das silberne Didrachmon von 12,3 g. Die verbreitetsten S. genannten Münzen sind die nach attischem Fuß ausgeprägten Goldstücke Philipps und Alexanders von Makedonien (s. Tafel "Münzen I", Fig. 6).

Stathmograph (griech.), ein von Dato konstruierter Apparat zur Kontrolle der Fahrzeiten, Aufenthaltszeiten und Fahrgeschwindigkeiten von Eisenbahnzügen, verbunden mit einem Kilometerzeiger. Letzterer schlägt bei jedem Kilometerstein in einen durch ein Uhrwerk fortgezogenen Papierstreifen ein Loch. Auf diesem über eine Walze gehenden Papierstreifen verzeichnet ein Bleistift die Fahrgeschwindigkeitskurve, welche auf den Stationen so lange in die Nulllinie fällt, als der Zug steht. Da der Streifen eine gewisse Bewegungsgeschwindigkeit besitzt, so ist aus der Fahrtenkurve ersichtlich, mit welcher Geschwindigkeit der Zug jeden Punkt der Strecke durchfuhr. Vgl. Perambulator.

Statice Tourn. (Limoniennelke, Strandnelke), Gattung aus der Familie der Plumbagineen, Kräuter oder Halbsträucher mit ährigen oder traubigen Blütenständen und häutigen, einsamigen Schließfrüchten. S. Limonium L., mit fast lederartigen, verkehrt-eiförmigen, länglichen Wurzelblättern, 30-45 cm hohem Blütenstiel und blauen Blüten, wächst in Mitteleuropa an Meeresküsten. Die Wurzel dient in Rußland als Kermek zum Gerben, doch stammt die genannte Drogue hauptsächlich von S. coriaria Pall. in Rußland. Auch die Wurzel von S. tatarica L. in Sibirien und der Tatarei dient zum Gerben und Färben. Andre Arten aus Süd- und Osteuropa, von den Kanarischen Inseln und aus Mittelasien werden als Zierpflanzen kultiviert.

Statik (griech.), die Lehre vom Gleichgewicht der Körper, bildet einen Teil der Mechanik (s. d.); man unterscheidet die S. der festen, flüssigen und gasförmigen Körper oder Geostatik, Hydrostatik und Aerostatik. Vgl. Poinsot, Elemente der S. (deutsch, Berl. 1887). S. des Landbaues, die Lehre vom Gleichgewicht der Entnahme und Zufuhr an Nährstoffen des Bodens. Durch die Agrikulturchemie ist die Lehre von der S. eine außerordentlich durchsichtige geworden und hat die bisher vagen Begriffe "Reichtum des Bodens", "Kraft", "Thätigkeit" in feste Gestalt gebracht, so daß man immer umfassender wiegt und mißt, was dem Grund und Boden durch die Ernten entnommen wird, was ihm der Dünger zurückgibt. Nicht nur im chemischen Laboratorium, auch im großen praktischen Betrieb der intelligenten Wirtschaften macht man sich täglich die Errungenschaften der Agrikulturchemie mehr zu nutze, wendet die Lehre der S. thätig an. Durch die umfassenden Düngungsversuche, welche durch die agrikulturchemischen Versuchsstationen in ganz eminent hervorragender Weise unter Leitung der Halleschen und neuerdings Breslauer Station veranlaßt wurden, wird alljährlich diese Lehre mehr und mehr ausgebaut. Durch die Wolffschen Nährstofftabellen, die sich in jedes tüchtigen Landwirts Händen befinden (Kalender von Mentzel u. Lengerke und der von Graf Lippe), ist es ein Leichtes, sich über Aus- und Zufuhr der Nährstoffe sichere Rechnung aufzustellen. Würde noch das Bedürfnis der Pflanzen nach Stickstoffzufuhr festgestellt, so wäre die Lehre von der S. eine vollkommene; auch diesen Schleier wird die Agrikulturchemie und -Physiologie über kurz oder lang zu heben im stande sein. - In gleichem Sinn spricht man auch von forstlicher S. (vgl. Forstwissenschaft, S. 455).

Station (lat.), Aufenthalts-, Standort; auf Reisen, im Post- und Eisenbahnwesen Ort, wo angehalten wird; daher auch bei Wallfahrtsorten Bezeichnung für die durch Kreuze, Bildstöcke, Kapellen etc. bezeichneten Stellen, wo die Prozessionen Halt machen, um zu beten (vgl. Kreuzweg); allgemeiner s. v. w. Amt, Stellung.

Stationär (lat.), stillstehend, seinen Standort oder Standpunkt behauptend; auch s. v. w. Stationsbeamter.

Stationers' Hall (engl., spr. stehscheners hahl), in London Bezeichnung des Hauses der alten Buchhändlergilde, die vom Staat mit dem Einschreiben (registration) der litterarischen Urheberrechte betraut ist.

Stationsvorsteher, s. Eisenbahnbeamte.

Statiös (lat.), staatmachend, prunkend.

Statisch (griech.), stillstehend; auf Statik bezüglich.

Statisches Moment, s. Hebel, S. 254.

Statist (lat.), jemand, der auf der Bühne eine nur "dastehende", nicht mitspielende Person vorstellt; gewöhnlich gleichbedeutend mit Komparse (s. d.).

Statistik (v. lat. status oder ital. stato, Staat), ursprünglich die beschreibende Darstellung von Staat (Verfassung, Verwaltung) und Bevölkerung nach ihren bemerkenswerten Seiten. Solche Darstellungen, einem praktischen Bedürfnis für militärische und finanzielle Zwecke entsprungen, kamen bereits im Altertum vor. In China, Ägypten und bei den Juden wurden schon frühzeitig regelmäßige Volkszählungen vorgenommen. Dann hatte Rom einen entwickelten Zensus aufzuweisen, während das Mittelalter für eine S. und deren Ausbildung keine Gelegenheit bot. Erst nach dem 15. Jahrh. macht sich wieder das Bedürfnis geltend, die eigne und die fremde Lage kennen zu lernen, welchem in Frankreich unter Sully durch Schaffung einer Art statistischen Büreaus genügt wurde. Die wissenschaftliche Behandlung der S. nahm ihren Anfang in der Mitte des 17. Jahrh. In Deutschland entwickelte sich zuerst die beschreibende Schule der S., welche dieselbe in dem oben genannten Sinn auffaßte. Als Schöpfer derselben gilt H. Conring (1606-81, s. d.,) welcher

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Statistik (geschichtliche Entwickelung, heutige Richtung).

1660 den üblichen Universitätsvorlesungen eine neue, aus Geographie, Geschichte und Politik abgesonderte Disziplin als Notitia rerum publicarum hinzufügte, in welcher er die Staatszustände zusammenhängend darstellte. Achenwall (1719-72), ein fleißiger Sammler, stellt den Begriff genauer fest und führt auch die Bezeichnung S. als Kenntnis der Staatsmerkwürdigkeiten ein. Auf gleichem Boden steht sein Schüler Schlözer (1735-1809), welcher der damaligen Heimlichkeit in Staatssachen gegenüber mit einem gewissen Freimut die politischen Ereignisse zum Gegenstand der Besprechung in Vorlesungen machte. Von ihm stammt die bekannte Definition: "S. ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende S." Gegenüber der ethnographischen Methode der S., welche jedes Volk für sich behandelte, führte Büsching (1724-93) die vergleichende Methode ein, indem er bei sachlicher Gliederung des Stoffes zwischen den entsprechenden Zuständen verschiedener Länder eine Parallele zog. Bald machte sich das Bedürfnis geltend, die gesammelten Zahlen der S. übersichtlich in Tabellenform zu ordnen und dieselben auch durch graphische Darstellung zu veranschaulichen (Crome, 1782). Dies führte zu einem lebhaften Streit zwischen der Göttinger Schule (Anhänger Schlözers) auf der einen und den von denselben so betitelten Linear- oder Tabellarstatistikern auf der andern Seite. Der Kampf war insofern ein verfehlter, als für statistische Darstellungen weder die Größenangabe (Zahl) noch der Wortausdruck entbehrt werden kann. Von jeher waren die Ansichten über das Gebiet der S. geteilt gewesen. Die einen beschränkten es auf den Staat und staatliche Verhältnisse (Staatsverfassung, Darstellung der Staatskräfte), andre dehnten es auf alle gesellschaftliche Thatsachen (faits sociaux) aus, wieder andre überhaupt auf alle Erscheinungen, an denen ein Dasein, Entstehen und Vergehen wahrnehmbar sei (also auch Naturerscheinungen). Verlangten die einen, daß die S. sich nur auf Schilderung der Erscheinungen der Gegenwart beschränken solle, daß jedes statistische Datum neu sein müsse, da sich die Vergangenheit nicht beobachten lasse, so gingen sie zum Teil selbst wieder von dieser Forderung ab, indem sie auch Einsicht in die Zustände bieten, den jetzigen Zustand aus dem frühern begreiflich machen wollten (pragmatische S. nach Achenwall). Man verwechselte hierbei die einfache Beobachtung, Erhebung und Aufzeichnung des statistischen Materials mit der wissenschaftlichen Verarbeitung desselben. Die Beobachtung kann nur die Gegenwart erfassen, die Zusammenstellung der durch eigne oder (meist) fremde Beobachtung gewonnenen Ergebnisse erstreckt sich bereits auf die Vergangenheit, und für die wissenschaftliche Verwertung kann es ganz gleichgültig sein, welcher Zeit das Material angehört. Eine weitere Streitfrage war früher die, ob die S. sich auf solche Thatsachen zu beschränken habe, welche sich durch Zahlen wiedergeben lassen (nach M. de Jonnés: faits sociaux, exprimés par des termes numériques). Die moderne S. befaßt sich allerdings vorzüglich mit Größen und deren Vergleichung, auch erblickt das gewöhnliche Leben allgemein in der S. eine Wissenschaft, welche es mit Zahlen und zwar mit Massen von Zahlen zu thun hat, wobei freilich nicht zu übersehen, daß Größenangaben in allen Gebieten der Natur und des gesellschaftlichen Lebens möglich sind.

Die heutige Richtung der S. hat ihren Ausgangspunkt in England, und zwar entwickelte sie sich aus der politischen Arithmetik, d.h. derjenigen Wissenschaft, welche mathematische Rechnungen auf das Finanzwesen anwandte. Anlaß zur Förderung derselben gaben vorzüglich das Versicherungswesen und die im 17. Jahrh. in Aufnahme gekommenen Glücksspiele. Letztere gaben ihrerseits Anstoß zur Entstehung und Ausbildung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Huygens, Fermat, Pascal, Bernoulli), welche eine unentbehrliche Grundlage für wichtige Zweige der politischen Arithmetik und der S. wurde. Letztere begann sich bald von der erstern abzuzweigen, ohne daß jedoch, sofern nicht unter der politischen Arithmetik lediglich die Zins- und Arbitragerechnung verstanden wird, eine scharfe Scheidung überhaupt möglich ist. Nachdem Graunt (1660), dann Pettey, Halley, Kerseboom, Deparcieux sich mit Berechnung der Sterblichkeit und mit Aufstellung von Sterblichkeitstafeln befaßt hatten, gab Süßmilch (1707-67) in seiner "Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" (1742) überhaupt dem Gedanken Ausdruck, daß im gesellschaftlichen Leben gewisse Regelmäßigkeiten beobachtet werden könnten, welche freilich nicht in einzelnen, sondern in einer großen Zahl von Fällen hervortreten. Diesen Gedanken verfolgte Quételet weiter, und es wird jetzt an Stelle der frühern einfachen Beschreibung die S. zu einer Wissenschaft der umfassenden Durchzählung verwandter Fälle und Vorgänge, um aus derselben Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Dieselbe erstreckt sich auf alle diejenigen Gebiete, auf welchen im einzelnen eine bunte individuelle Mannigfaltigkeit in Erscheinung tritt, während durchschlagende Ursachen und Beweggründe erst aus einer großen Zahl von Fällen erkennbar sind. So kann in wenigen Familien eine verhältnismäßig große Zahl von Totgeburten eintreten, während in andern gar keine vorkommt. Faßt man aber eine große Zahl zusammen, so nähert man sich einer Mittelzahl (Prozent), von welcher die zu einer andern Zeit oder in einem andern Gebiet für große Zahlen gewonnenen Ergebnisse nur wenig abweichen werden. Voraussetzung hierfür ist, daß die verglichenen Zustände nicht wesentlich voneinander verschieden sind. Solche durchschlagende Einflüsse, mögen sie nun das Bestreben haben, einen Zustand der Beharrung zu bewirken oder Veränderungen zu veranlassen, können nicht allein da festgestellt werden, wo der menschliche Wille keine Rolle spielt, sondern auch in der Welt der sittlichen Thatsachen, in welcher ebenfalls nachgewiesen werden kann, daß bei aller Freiheit des Willens die menschlichen Handlungen doch wesentlich durch Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse, Erziehung etc. beeinflußt werden, indem je nach gegebenen äußern Verhältnissen solche Handlungen eben als die vernünftigen erscheinen.

Eine richtige Ermittelung der Wirkung jener durchschlagenden Ursachen und damit dieser selbst ist ohne mathematische Behandlung nicht möglich und darum die mathematische S. unentbehrlich. Letztere ist insbesondere in der neuern Zeit in ihrer Anwendung auf Versicherungs- und Bevölkerungswesen durch Wittstein, Zeuner, Knapp, Lexis gefördert worden. Je nach den Gebieten, welche einer statistischen Betrachtung unterworfen werden, unterscheidet man Ackerbau-, Forst-, Gewerbe-, Handels-, Post-, Eisenbahn-, Medizinal-, Kriminal-, Moral-, Bevölkerungsstatistik etc. Im engern Sinn wird heute auch oft die S. als eine auf die gesellschaftlichen Erscheinungen (Volk und Staat) beschränkte Disziplin aufgefaßt (vgl. Demographie), während die Methode der S. in allen Gebieten, auch in denen der Naturwissenschaften (Meteorologie), anwendbar sei. Die Sammlung des statistischen Materials ist nun Einzelnen selten in

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Statistik des Warenverkehrs - Statistische Darstellungsmethoden.

genügendem Umfang möglich (Privatstatistik), sie bildet vorzüglich eine Aufgabe von Staat und Gemeinden und in zweiter Linie als Ergänzung von Vereinen. Infolgedessen ist denn die S. vorwiegend amtliche S. Die erste Organisation derselben erfolgte 1756 in Schweden, wo eine "Tabellenkommission" jährlich Nachweisungen über die Bewegung der Bevölkerung lieferte. Ferner wurden eigne mit der Ansammlung, Ordnung und Veröffentlichung des statistischen Materials betraute Stellen (statistische Büreaus) errichtet in: Frankreich (1796 vorübergehend, dann 1800), Bayern (1801, Hermann, Mayr), Italien (1803, Bodio), Preußen (1805 von Stein gegründet, Krug, I. G. Hoffmann, Dieterici, Engel, Blenck), Österreich (1810, Czörnig, Ficker), Belgien (1831), Griechenland (1834), Hannover, Holland (1848), Sachsen (1849, von Engel gegründet, Petermann, Böhmert), Kurhessen, Mecklenburg (1851), Braunschweig (1853), Oldenburg (1855), Rumänien (1859), in der Schweiz (1860), im Großherzogtum Hessen (1861), in Serbien (1862), den vereinigten thüringischen Landen (in Jena, 1864, jetzt Weimar) etc. Das 1872 ins Leben gerufene "Statistische Amt des Deutschen Reichs" verarbeitet die Erhebungen der einzelnen Landesbüreaus und der Reichs- und Zollvereinsbehörden. Meist sind die Büreaus Zentralstellen, welchen in mehreren Ländern für Beratungen über die Art der auszuführenden Arbeiten noch eigne aus Mitgliedern verschiedener Verwaltungszweige, Volksvertretern und Theoretikern bestehende statistische Zentralkommissionen beigegeben sind. Seit neuerer Zeit haben auch die meisten Großstädte eigne statistische Büreaus errichtet. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurden die Arbeiten der statistischen Büreaus ziemlich geheim gehalten; seitdem hat man überall mit regelmäßigen amtlichen statistischen Veröffentlichungen in Form von Zeitschriften, Jahrbüchern etc. begonnen, neben welchen als private Unternehmungen das "Journal of the Statistical Society" (London) und das "Journal de la Société de statistique" (Paris) zu nennen sind. Eine internationale S. ist schwer durchführbar, insbesondere deswegen, weil die Begriffe, welche den Gegenstand statistischer Ermittelung bilden, nicht überall die gleichen sind. Volle Gleichheit läßt sich auf vielen Gebieten wegen der Verschiedenartigkeit in den Verwaltungseinrichtungen, Volksleben, Gebräuchen etc. nicht erzielen. Die besonders auf Quételets Anregung geschaffenen internationalen statistischen Kongresse, welche stattgefunden haben in Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857), London (1860), Berlin (1863), Florenz (1867), Haag (1869), St. Petersburg (1872), Pest (1876), hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Einheit in die amtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen und gleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeiten zu erlangen. 1885 wurde in London ein "internationanales Institut der S." mit dem Sitz in Rom gegründet, welches das "Bulletin de l' Institut international de statistique" herausgibt. Weiteres s. in den Artikeln: Bevölkerung, Gewerbe-, Handels-, Kriminal-, Moralstatistik und Statistische Darstellungsmethoden.

Vgl. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S. (Tübing. 1843); A. Quételet, Sur l' homme (Par. 1835; deutsch, Stuttg. 1838); Derselbe, Physique sociale (Brüssel 1869, 2 Bde.); Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft (Kassel 1850); Jonak, Theorie der S. (Wien 1856); Rümelin, Reden und Aufsätze (Tübing. 1875); Ad. Wagner (in Bluntschlis "Staatswörterbuch"); M. Haushofer, Lehr- und Handbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882); Block Traité théorique et pratique de statistique (Par. 1878; deutsch von v. Scheel, Leipz. 1879); Wappäus, Einleitung in das Studium der S. (das. 1881); Meitzen Geschichte, Theorie und Technik der S. (Berl. 1886); Gabaglio, Teoria generale della statistica (2. Aufl., Mail. 1888); John, Geschichte der S. (Stuttg. 1884 ff.); R. Böckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen S. des preußischen Staats (Berl. 1863); Puslowski, Das königlich preußische Statistische Büreau (das. 1872); Klinckmüller, Die amtliche S. Preußens im vorigen Jahrhundert (Jena 1880); Mayr, Die Organisation der amtlichen S. (Münch. 1876). Als Sammlungen wichtiger statistischer Thatsachen sind zu erwähnen: der "Gothaische Genealogische Hofkalender" und O. Hübners "Statistische Tafel" (Frankf. a. M., jährlich erscheinend); Kolb, Handbuch der vergleichenden S. (8. Aufl., Leipz. 1879); Brachelli, Die Staaten Europas (4. Aufl., Brünn 1884).

Statistik des Warenverkehrs, s. v. w. Handelsstatistik (s. d.).

Statistische Darstellungsmethoden. Statistische Thatsachen können zunächst durch einfache Beschreibung oder Schilderung vorgeführt werden. Doch gestattet der Wortausdruck (groß, steigend, abnehmend, kleiner etc.) keine übersichtliche Darstellung, sobald eine große Menge nebeneinander gelagerter oder gereihter Thatsachen in Betracht kommen. In diesem Fall bietet die ohnedies unvermeidliche Zahl eine Hilfe, welche, in Tabellenform angeordnet, über Größen und deren Änderungen Auskunft gibt. Doch gestattet die Tabelle, zumal wenn eine Masse mehrstelliger Zahlen vorgeführt wird, keine rasche Orientierung und Vergleichung. Dieser Zweck soll durch die graphische Darstellung erfüllt werden, welche zur einfachen Veranschaulichung dient, die Aufsuchung von Gleichmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten und Gegensätzen sowie die Beurteilung wechselseitiger Zusammenhänge erleichtert, aber an und für sich nicht als ein besonderes Beweismittel zu betrachten ist. Die graphische Darstellung gibt Größen in der linearen oder der Flächenausdehnung oder räumlich in Körpern für verschiedene Begriffe an. Letztere werden unterscheidbar gemacht durch verschiedenartige Punktierung, Anwendung der Schraffur, der Farbe oder andrer Zeichen. Man unterscheidet das Diagramm und das Kartogramm. Das Diagramm gibt die Größen einfach als solche wieder. Ist für dieselben eine feste Reihenfolge gegeben (z. B. nach der Zeit), so können sie in einem Koordinatensystem in der Art zur Darstellung kommen, daß je auf den Abschnitten der Abscissenachse die zugehörigen Größen aufgetragen werden. Hierfür können aneinander gereihte Flächen für jede Einheit gewählt werden, wenn die Änderungen der Größen keine stetigen sind. Statt dessen trägt man aber auch wohl Linien auf die betreffenden Punkte der Abscissen auf und verbindet deren Endpunkte miteinander durch eine besondere Linie, welche eine Leitung für das Auge bilden soll. Alsdann kann auch die Ordinatenlinie selbst gespart werden. Die Leitungslinie wird zur regelmäßig verlaufenden Kurve, sobald die Änderungen stetige sind. Auf einem und demselben Blatt können mehrere derartige Kurven aufgetragen werden, voneinander durch Farbe, Punkte, Striche, Kreuze etc. unterschieden, was eine Vergleichung verschiedener Reihen erleichtert. Das einfache Flächendiagramm gibt eine statistische Größe in einer Fläche (Rechteck, Dreieck) wieder, indem Unterabteilungen (z. B. männliches

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Statistische Gebühr - Statuten.

weibliches Geschlecht, Altersklassen) in der oben erwähnten Weise kenntlich gemacht werden. Auch der Körper (Würfel, Pyramide, Raumkoordinaten mit krummer Oberfläche) kann statistische Größen zur Anschauung bringen. Das Kartogramm dient dazu, die örtliche Lagerung statistischer Thatsachen (auf der Landkarte) anzugeben. Hierfür kann nun, wie dies schon von jeher üblich, Punkt, Schraffur und Farbe, dann die Fläche benutzt werden (z. B. für die Städte auf der Landkarte), welch letztere bei der Darstellung des längs einer Linie (Fluß, Eisenbahn) sich bewegenden Verkehrs dem Auge als Bänder erscheinen.

Statistische Gebühr nennt man in Deutschland eine auch in England, Italien und Frankreich erhobene Gebühr, welche von über die Grenze des Zollgebiets ein-, aus- oder durchgeführten Waren im Interesse und zur Deckung der Kosten der für Zollgesetzgebung und Handel wichtigen Statistik des Warenverkehrs auf Grund von bei den bestimmten amtlichen Anmeldestellen erfolgenden Anmeldungen (nach Gattung, Menge, Herkunft, Bestimmungsland) seit 1. Jan. 1880 (Reichsgesetz vom 20. Juli 1879) erhoben wird.

Statius, Publius Papinius, röm. Dichter, geboren um 45 n. Chr. zu Neapel, ward in Rom von seinem Vater, der selbst Lehrer und Dichter war, gebildet und erwarb sich schon früh durch sein poetisches Talent, namentlich im Improvisieren, Beifall und mehrfach den Sieg in dichterischen Wettkämpfen. Doch sah er sich sein lebenlang in Abhängigkeit von der Gunst des Domitian und der römischen Großen, denen er oft in der unleidlichsten Weise schmeichelte. Später zog er sich nach Neapel zurück, wo er um 96 starb. Von seinen Schriften, die sich durch Gewandtheit und Phantasie auszeichnen, aber vielfach an rhethorischem Schwulst und dunkler Gelehrsamkeit leiden, besitzen wir noch: "Silvae", Gelegenheitsgedichte in fünf Büchern und in verschiedenen Versmaßen (hrsg. von Markland, Lond. 1728, Dresd. 1827, von Bährens, Leipz. 1876); "Thebais", ein Epos in 12 Büchern (Buch 1-6 hrsg. von Müller, das. 1870, das ganze Werk von Kohlmann, das. 1844; deutsch von Imhof, Ilmenau 1886), und von dem unvollendeten Epos "Achilleïs" die beiden ersten Bücher (hrsg. von Kohlmann, Leipz. 1879). Gesamtausgaben besorgten Gronov (Amsterd. 1653), Dübner (Par. 1835-1836, 2 Bde.) und Queck (Leipz. 1854, 2 Bde.); eine Übersetzung Bindewald (Stuttg. 1868 ff.).

Stativ (lat.), Gestell für mathematische, astronomische und andre Apparate.

Stator (lat.), Beiname des Jupiter, angeblich weil ihm Romulus einen Tempel gelobte, wenn er die vor den Sabinern fliehenden Römer zum Stehen brächte.

Stättegeld, s. v. w. Standgeld (s. d.).

Statthalter, derjenige, welcher die Stelle des Landesherrn oder der höchsten Obrigkeit in einem Land oder einer Provinz vertritt, so in Elsaß-Lothringen (s. d., S. 577) der an der Spitze der Staatsverwaltung stehende höchste Beamte; (stadhouder) ehemals in den Vereinigten Niederlanden Titel der Prinzen von Oranien, welchen nach der Losreißung von Spanien ein Teil der königlichen Rechte, namentlich der Oberbefehl über die Kriegsmacht zu Lande und zur See, übertragen wurde; in Österreich Amtstitel von politischen Landesbehörden (Statthaltereien), s. Landesbehörden.

Statue (lat. statua, Standbild), die durch die Thätigkeit des bildenden Künstlers in irgend einer, meist harten Masse dargestellte volle Gestalt, besonders des Menschen. Im Altertum und in der neuern Zeit bis zur Zeit der Renaissance pflegte man statuarische Bildwerke zur Belebung und Verdeutlichung der Formen mehr oder weniger reich zu bemalen (s. Polychromie). Man unterschied schon im griechischen Altertum Ideal- und Porträtstatuen, je nachdem der Künstler aus der Phantasie schöpfte oder sich an die Wirklichkeit hielt. Zu den Idealstatuen gehörten die der Götter und Heroen. Die Porträtstatuen kamen erst verhältnismäßig spät durch die Sitte auf, in Olympia Statuen der Sieger in den Wettkämpfen aufzustellen. Doch waren auch diese anfangs ideal, d. h. nicht porträtähnlich, gehalten. Noch später kam dazu das Genrebild, welches Personen und Vorgänge aus dem Alltagsleben als Einzelstatuen oder Gruppen darstellte. In der römischen, besonders kaiserlichen, Zeit wurden in großer Menge Porträtstatuen gefertigt. Kolossale Dimensionen wurden durch den Zweck der Aufstellung bedingt. Den Begriff der Erhabenheit durch räumliche Ausdehnung anzudeuten, war aber dem griechischen Geschmack fern, und erst die verfallende Kunst, die sich ägyptisch-asiatischen Begriffen anbequemte, suchte auf diese Weise durch Zusammenstellungen eine größere Wirkung hervorzubringen. In Hinsicht ihrer äußern Stellung unterschieden schon die Alten stehende, sitzende, Reiterstatuen und fahrende Statuen, und die Statuen waren teils einzeln, teils in Gruppen zusammengefaßt. Die moderne Bildhauerkunst versteht unter S. im weitesten Sinn jede plastische Einzelfigur, im engern Sinn ein stehendes Bild. Statuette, Standbildchen. Vgl. Bildhauerkunst.

Statuieren (lat.), aufstellen, festsetzen, bestimmen; etwas statthaben lassen; ein Exempel s., ein Beispiel zur Warnung aufstellen.

Statur (lat.), Leibesgröße und Gestalt, Wuchs.

Status (lat.), Stand (z. B. des Vermögens, die Bilanz der Aktiva und Passiva, wie sie von Aktien-Gesellschaften als Monatsstatus allmonatlich veröffentlicht wird), Zustand; daher S. quo, der Zustand, die Lage, in welcher sich etwas befand oder befindet, namentlich S. quo ante (bellum), die Lage, insbesondere die Gebiets- und Machtverhältnisse, wie sie vor einem Krieg waren. S. nascendi, Entstehungszustand; S. praesens, der gegenwärtige Gesundheitszustand eines Kranken und der ärztliche Bericht über denselben. Die Römer bezeichneten mit S. auch die drei Hauptstufen der Persönlichkeit, nämlich Freiheit, römisches Bürgerrecht und Familienstand. Der Verlust eines solchen S. involvierte eine Capitis deminutio (s. d.).

Status duplex (lat., "doppelter Stand"), ein Kapitel in der Christologie (s. d., S. 100).

Status nascendi, s. Entstehungszustand.

Statutarisch (lat.), was Statuten (Satzungen) zufolge gesetzmäßig ist; daher statutarische Portion, der festgesetzte Erbteil, den eine Witwe von der Verlassenschaft des Mannes erhält (s. Güterrecht der Ehegatten, S. 948).

Statuten (lat.), Satzungen, Gesetze; namentlich Bezeichnung für die mittelalterlichen Stadtrechte, auch für die Hausgesetze des hohen Adels (s. Autonomie). S. heißen ferner die Satzungen über die Verfassung und Verwaltung von Vereinen, juristischen Personen und Korporationen, und zwar bestehen über Inhalt und Gültigkeit, namentlich aber auch über die staatliche Anerkennung und Bestätigung solcher S. vielfach besondere Vorschriften, so z. B. in Ansehung der Aktiengesellschaften, der Genossenschaften und der Innungen. Den Gemeinden und Kommunalverbänden ist jetzt in den meisten Staaten das Recht ein-

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Statz - Staubeinatmungskrankheiten.

geräumt, zur Durchführung gemeinnütziger Maßregeln, zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit innerhalb des Gemeindebezirks und sonst zur Erreichung der Gemeindezwecke innerhalb der durch die Gesetzgebung gezogenen Schranken Ortsstatuten, geeigneten Falls mit Strafbestimmungen, zu errichten. Nach preußischem Recht bedürfen derartige S. der Stadtgemeinden der Genehmigung des Bezirksausschusses, in Berlin des Oberpräsidenten. In andern Staaten ist die Genehmigung der Zentralverwaltungsbehörde oder sogar diejenige des Souveräns erforderlich. In England versteht man unter S. (Statutes) die eigentlichen Gesetze, welche mit Zustimmung des Parlaments von der Krone erlassen werden, im Gegensatz zur königlichen Verordnung (Ordinance), für welche die Zustimmung der beiden Häuser des Parlaments nicht erforderlich ist. Die Lokalverordnungen der Gemeinden, welche bei uns S. heißen, werden in England als Bylaws (s. d.) bezeichnet.

Statz, Vinzenz, Architekt, geb. 1819 zu Köln, war anfangs Maurermeister am dortigen Dombau, wurde 1845 Dombauwerkmeister, legte 1854 diese Stelle nieder und wurde 1863 Diözesanbaumeister. In dieser Stellung war er eifrig beflissen, der strengen Gotik neue Bahnen zu brechen. Die Zahl der unter seiner Leitung hergestellten kirchlichen Bauten beläuft sich auf einige hundert, von denen als die größten zu nennen sind: die Mauritiuskirche in Köln, die Marienkirche in Aachen, die katholischen Kirchen in Kevelaer, Dessau, Eberswalde, Bernshausen in Hannover, wobei er es trefflich verstand, moderne Einrichtungen mit mittelalterlichen Formen zu verbinden. Hervorzuheben sind noch: das große Krankenhaus zu St. Hedwig in Berlin und sein Wohnhaus in Köln. Auch leistete er Bedeutendes in der innern Ausstattung der Kirchen, in der Holz- wie in der Steinarchitektur, namentlich in der Liebfrauenkirche zu Trier, wo er einen prächtigen Altar ausführte. Sein größtes Werk ist der Dom in Linz an der Donau, den er 1862 begann, ein Bau von gewaltigen Dimensionen. S. gab heraus: "Gotische Entwürfe" (Bonn 1861); "Gotische Einzelnheiten" (180 Tafeln, 2. Aufl., Berl. 1886); "Gotisches Musterbuch" (mit Ungewitter und Reichensperger, Leipz. 1856-60) u. a. Er erhielt 1864 den Titel Baurat, ist Ehrenmitglied der Londoner Royal Society, der k. k. Akademie in Wien etc.

Staub, in der atmosphärischen Luft enthaltene Körperchen verschiedener Art, welche bei gewisser Größe oder massenhafter Anhäufung dem bloßen Auge sichtbar, aber auch in vollkommen rein erscheinender Luft immer noch nachweisbar sind. Man unterscheidet gröbere Stäubchen, die, von Winden oder vom Kehrbesen aufgewirbelt, bei einigermaßen ruhiger Luft bald niederfallen; Sonnenstäubchen, die nur im Sonnenstrahl sichtbar sind und auch in scheinbar ruhiger Zimmerluft meist nicht zu Boden sinken; endlich unsichtbare Stäubchen, die nur künstlich nachweisbar sind und auch in ruhigster Luft sich schwebend erhalten. Der S. entsteht hauptsächlich durch die Verwitterung der Gesteine, wodurch diese in feinste Teilchen zerfallen, auch die Vulkane werfen Staubmassen aus, die in weite Entfernungen getragen werden; er entsteht ferner durch zahlreiche Verbrennungsprozesse, die Ruß und Asche liefern; in jedem S. finden sich auch Pollenkörner, Sporen der Kryptogamen und Keime der niedersten Organismen. Endlich erzeugt der Mensch durch seine Thätigkeit beständig S. Aus Flüssigkeiten und von feuchten Oberflächen gelangen niemals Teilchen als S. in die Luft, solange sich jene Substrate in Ruhe befinden; wohl aber kann durch Verspritzen heftig bewegter Flüssigkeiten oder durch Schaumbildung ein solcher Übergang bewirkt werden. In der Regel wird jedoch Austrocknung und nachfolgende Zerkleinerung die Veranlagung zum Zerstäuben von Pilzvegetationen in Flüssigkeiten und von gelösten nicht flüchtigen Substanzen sein. Die Zerkleinerung aber braucht nicht immer durch mechanische Wirkungen zu erfolgen, sie kann vielmehr auch eine Folge der geringen Bewegungen sein, welche durch Temperaturänderungen bedingt sind und leicht Zusammenhangstrennungen, Ablösungen von Partikelchen herbeiführen. Landluft enthält weniger S. als Stadtluft, im Winter und Frühjahr und nach Regen ist die Luft ärmer an S. als im Sommer und Herbst und nach langer Dürre. 1 cbm Landluft enthält bei trocknem Wetter 3-4,5, bei feuchtem 0,15 mg S., in Fabriken fand man bis 175 mg S. Aller S. besteht, seiner Bildung entsprechend, aus mineralischen und organischen Substanzen; unter letztern interessieren hauptsächlich die Keime niederster Organismen, welche unter den feinsten Staubteilen zu suchen sind. Stets enthält die Luft Sporen von Schimmelpilzen, im März am wenigsten (5480 in 1 cbm), im Juni bis 54,460, nach Regen mehr als nach Trockenheit. An Bakterien ist die Luft im Winter arm (53), im Herbst am reichsten (121), nach Regen weniger reich als bei Dürre. Stadtluft enthält ungleich mehr Bakterien als Landluft. Die angegebenen Zahlen müssen bei der Unvollkommenheit der Methode, nach welcher sie gewonnen wurden, im allgemeinen als zu niedrig betrachtet werden. Der in der Luft vorkommende S. gelangt vorzüglich durch die Respirationsorgane zur Einwirkung auf den Menschen, wenn auch nur ein Teil des Staubes in den Respirationsorganen zurückbleibt; die feinsten Staubpartikelchen werden fast vollständig wieder ausgeatmet. Der S., welcher an den Wänden der Luftwege hängen bleibt, wird durch das Flimmerepithel, welches diese bedeckt, wieder aus dem Körper entfernt. Vermag das Epithel die Staubmassen nicht zu bewältigen, so entstehen krampfhafte Bewegungen, wie Räuspern, Husten etc., zur Herausbeförderung der staubhaltigen Schleimmassen. Reichen auch diese Hilfsmittel nicht mehr aus, so entstehen Störungen, welche je nach der Art des eingeatmeten Staubes verschieden charakterisiert sind. Nur mechanisch reizender S. erzeugt die Staubeinatmungskrankheiten (s. d.); S., welcher aus Partikelchen giftiger Substanzen besteht, erzeugt namentlich durch den in den Mund und in den Magen gelangenden Anteil eigentümliche Krankheitserscheinungen, am wichtigsten aber sind die Keime solcher Organismen, welche als Krankheitserreger zu betrachten sind. Man muß annehmen, daß jene Keime ebensogut wie alle übrigen in Staubform auftreten können, und in der That sind mehrere derselben im S. nachgewiesen worden. Die Übertragung von Krankheiten durch den S. der Luft ist mithin sehr wohl möglich, sofern nur nicht jene Keime durch das Austrocknen ihre Entwickelungsfähigkeit einbüßen. Vgl. Renk, Die Luft ("Handbuch der Hygieine", von Pettenkofer und Ziemssen, Tl. 1, Abt. 2, Leipz. 1886); Tissandier, Les poussieres de l'air (Par. 1877).

Staubbach, s. Lütschine.

Staubbeutel, s. Staubgefäß.

Staubbilder, elektrische, s. Lichtenbergsche Figuren.

Staubbrand, s. Brandpilze I.

Staubeinatmungskrankheiten. Der Staub, welcher bei der Atmung in die Luftwege eingesogen wird,

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Stäuben - Staubgefäße.

wird größtenteils von dem Schleim aufgenommen, durch die Flimmerbewegung der Lungenepithelien zurück nach der Luftröhre geführt und von hier durch Räuspern und Husten ausgeworfen. Ist die eingeatmete Menge zu groß, so wird ein Teil der feinsten Körnchen von der Lunge aufgenommen und bleibt entweder in ihrem Gewebe selbst oder in den Lymphgefäßen und Drüsen dauernd haften. Am auffallendsten bemerkbar ist der Kohlenstaub, welcher beim Lampenbrennen, Kohlen-, Holz- und Torffeuern, kurz überall entsteht, wo unvollkommene Verbrennung irgend welcher Art vor sich geht, also auch beim Tabaksrauchen, wenngleich in weit geringerm Maß, als von den Gegnern des Rauchens angegeben wird. Während die Lungen der Wilden und der im Freien lebenden Tiere (nicht der Haustiere) ganz frei davon sind, findet sich bei den Kulturmenschen und den unter gleichen Verhältnissen lebenden Haustieren ein gewisser Grad von Schwarzfärbung (Pigmentierung) der Lunge. Zu einer wirklichen Krankheit, der Staubeinatmungskrankheit, gibt die Verunreinigung der Luft Anlaß, wenn infolge gewisser Umstände die Luft mit Staub geradezu überladen ist und die Einatmenden infolge ihrer gewerblichen Thätigkeit gezwungen sind, derselben sich fortwährend oder einen großen Teil des Tags auszusetzen. So sind dem Kohlenstaub exponiert die Stein- und Braunkohlenarbeiter, auch manche mit der Holzkohlenfabrikation beschäftigte Arbeiter, dem Sandstaub oder den Kieselpartikeln die Steinhauer und Schleifer, dem Eisenstaub die Schmiede, Feilenhauer, Stahlschleifer, Spiegelglaspolierer, dem Tabaksstaub die Tabaksarbeiter, dem Farbenstaub die Farbenarbeiter, der kieselsauren Thonerde die Ultramarinarbeiter etc. Den Nachweis, daß diese Substanzen wirklich in die Lunge eindringen, liefert die anatomische, mikroskopische und chemische Untersuchung der Lungen. Die Folgen der Staubinhalation bestehen in diesen Fällen zunächst in Hyperämie und Katarrh der Luftröhrenverzweigungen mit fortwährendem Räuspern, Husten und Auswurf; weiterhin gesellt sich eine wirkliche chronische Entzündung des Lungengewebes hinzu, welches seine Elastizität mehr oder weniger verliert und sich bis zu einem Grade, daß es unter dem Messer knirscht, verhärtet; schließlich geht der Zustand in eine Verödung des Lungengewebes über. Die Überladung des Lungengewebes mit Kohlenpigment nennt man Anthrakosis, die mit Eisenpartikelchen Pneumonosiderosis. Vgl. Hirt, Die Staubinhalationskrankheiten (Leipz. 1871); Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygieine (Berl. 1876); Merkel, Staubinhalationskrankheiten (in Ziemssens Handbuch, Leipz. 1882).

Stäuben, das Fallenlassen des Kotes bei Feldhühnern.

Staubbewässerung, s. Bewässerung, S. 859.

Staubfaden, s. Staubgefäße.

Staubfiguren, elektrische, s. Lichtenbergsche Figuren.

Staubgefäße (Stamina, Staubblätter), die den Blütenstaub erzeugenden Teile der Blüte bei allen phanerogamen Pflanzen, bilden zusammen in einer Blüte den männlichen Geschlechtsapparat (Andröceum) derselben und entstehen wie die übrigen Blattgebilde der Blüte als seitliche Höcker unterhalb des im Wachstum befindlichen Scheitels der jungen Blütenanlage. Von besonderer Wichtigkeit ist außer der Zahl die Verzweigung und die Verwachsung der S. Verzweigte S. entstehen dadurch, daß an der jungen Staubblattanlage neue Höcker auftreten, die zu einem Büschel von Staubgefäßen auswachsen, während das gemeinsame Fußstück sehr kurz bleibt; es tritt dies z. B. bei den Staubblättern von Hypericum ein, die in Gruppen von drei oder fünf in jeder Blüte zusammenstehen, aber durch Verzweigung aus drei oder fünf ursprünglich einfachen Staubblattanlagen hervorgegangen sind. Die Spaltung (Chorise, dédoublement) der Staubblätter ist eine sehr früh eintretende Teilung einer Staubblattanlage in zwei später völlig getrennte Staubblätter, wie bei den Staubgefäßen der Kruciferen. Verwachsene Staubblätter entstehen durch seitliche Verschmelzung von Staubblattanlagen, wie z. B. beim Kürbis. Die S. bestehen in der Regel aus einem stielförmigen Träger, dem Staubfaden (Filament), und einem durch eine Furche in zwei Längshälften geteilten angeschwollenen Teil, dem Staubbeutel (Anthere). Wenn sämtliche Staubfäden der Blüte in ein einziges Bündel vereinigt sind, so nennt man die S. einbrüderig (stamina monadelpha). So sind z. B. in der männlichen Blüte des Kürbisses die S. in eine im Mittelpunkt stehende Säule vereinigt. In den Zwitterblüten dagegen bilden die einbrüderigen S. eine Röhre um den in der Mitte stehenden Stempel (Fig. 1). Sind sie in zwei oder mehrere Partien vereinigt, so werden sie zweibrüderig (s. diadelpha) und vielbrüderig (s. polyadelpha) genannt. Ersteres ist z. B. bei den Fumariaceen, letzteres bei den Hypericineen Regel, wo die S. in drei Bündel vereinigt sind (Fig. 2). Einen besondern Fall von Zweibrüderigkeit bieten viele Schmetterlingsblütler, indem hier von den zehn vorhandenen Staubgefäßen neun zu einer gespaltenen Röhre verbunden sind, während das 10. Staubgefäß vor der Spalte der Röhre frei steht (Fig. 3). Bei manchen Pflanzen haben die Staubfäden verschiedene Länge; wo zwei Kreise von Staubgefäßen vorkommen, sind häufig die des einen kürzer als die des andern. Bei den Kreuzblütlern finden sich sechs S.; von diesen sind vier die längern, zwei andre, welche einem äußern Kreis angehören und links und rechts stehen, sind kürzer (viermächtige S., s. tetradynama). Bei vielen Lippenblütlern und Skrofularineen gibt es zwei lange und zwei kurze, sogen. zweimächtige S. (s. didynama). - Der Staubbeutel ist ein meist aus zwei Fächern (thecae) bestehendes Gebilde, in dessen Innenraum der Blütenstaub (Pollen) enthalten ist. Fig. 4 versinnlicht den Durchschnitt durch einen jungen Staubbeutel; der Teil, welcher die beiden Fächer verknüpft, heißt Zwi-

Fig. 1. Einfache Staubgefäßröhre der Malve. Fig. 2. Vielbrüderige Staubgefäße. Fig. 3. Zweibrüderige Staubgefäße einer Schmetterlingsblüte. Fig. 4. Durchschnitt eines Staubbeutels

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Stäubling - Staubregen.

schenband oder Konnektiv (connectivum). Jedes Fach besteht aus zwei durch eine Scheidewand getrennten, nebeneinander liegenden Pollensäcken. Später wird diese Scheidewand aufgelöst, und jedes Fach stellt dann eine einfache Höhlung dar. Über den Blütenstaub s. Pollen und Geschlechtsorgane der Pflanzen. Der Staubfaden ist entweder an das untere Ende des Konnektivs angesetzt (basifix), oder er geht an einem höhern Punkt in dasselbe über (dorsifix). Das Konnektiv ist entweder gleichmäßig schmal, so daß die beiden Fächer der Länge nach parallel nebeneinander stehen, wobei es sich in irgend einer Form als sogen. Konnektivfortsatz über die Antheren fortsetzen kann, z. B. bei der Gattung Paris (Fig. 5), oder das Konnektiv ist zwischen den Fächern in der Breite ausgedehnt, so daß die letztern voneinander entfernt werden, bald nur mäßig, und dann unten oft weit stärker als oben, so daß die Fächer mehr und mehr in eine Linie zu liegen kommen, bald sehr beträchtlich, so daß es einen Querbalken bildet, an dessen Enden die Fächer sitzen (z. B. bei Salvia, Fig. 6), oder auch wie eine Spaltung des Staubfadens erscheint, deren beide Äste je ein Staubbeutelfach tragen, wie z. B. bei der Hainbuche, bei der Haselnuß, bei den Malven. Eine Eigentümlichkeit zeigen die Staubbeutel der Kürbisgewächse, insofern hier die beiden Fächer unregelmäßig gewunden sind (Fig. 7). Auch die Staubbeutel können untereinander in eine Röhre vereinigt sein, während ihre Staubfäden frei sind, wie bei den Kompositen, die aus diesem Grund auch Synantheren, d. h. Verwachsenbeutelige, genannt werden (Fig. 8a und b). Behufs Ausstreuung des Blütenstaubes öffnen sich die beiden Antherenfächer zur Blütezeit in bestimmter Weise, gewöhnlich so, daß die Wand jedes Faches eine Längsspalte bekommt; selten treten Querspalten auf, wie z. B. bei der Tanne. Danach unterscheidet man die Staubbeutel als antherae longitudinaliter und transverse dehiscentes. Diese Spalten liegen meist an der dem Mittelpunkt der Blüte zugekehrten Seite des Staubbeutels (antherae introrsae), bisweilen aber auch dem Umfang der Blüte zugewendet (a. extrorsae), wie bei den Schwertlilien, oder auch an der Seite, z. B. bei Ranunculus. Eine andre Art des Öffnens ist die mittels Klappen (a. valvatim dehiscentes), indem eine gewisse Stelle der Antherenwand als Deckel sich von untenher abhebt, wie z. B. bei Berberis. Oder endlich jedes Fach öffnet sich mittels eines meist an der Spitze liegenden Loches (a. porose dehiscentes), wie bei der Kartoffel. Das Öffnen der mit Spalten aufspringenden Staubbeutel wird ermöglicht durch den Bau der Antherenwand. Diese besteht nämlich aus zwei Zellenschichten: einer kleinzelligen Epidermis und einer unter derselben liegenden Schicht weiterer Zellen. Letztere sind an ihrer nach innen gekehrten Wand mit ring- oder netzförmigen Verdickungsschichten ausgestattet, welche wegen ihrer relativen Starrheit dieser Zellwand keine erhebliche Zusammenziehung beim Austrocknen gestatten. Dagegen ist die an die Epidermis stoßende Zellwand nicht verdickt; sie zieht sich wie die Epidermis bei Wasserverlust stark zusammen. Da somit also beide Seiten der Antherenwand beim Austrocknen verschiedene Dimensionen annehmen, so muß dieselbe sich krumm werfen dergestalt, daß die stärker sich zusammenziehende Seite, d. h. die äußere, konkav wird, und somit gehen die Wände auseinander. Die Spalte ist schon vorher angelegt, indem in der Ausdehnung, in welcher sie entstehen soll, eine Partie von Zellen zu Grunde geht, so daß dort das Durchreißen der Wand den geringsten Widerstand findet. Die Ursache des Öffnens der Antheren ist also das Austrocknen ihrer Wand; daher öffnen sie sich beim Befeuchtetsein nicht und können durch Benetzen mit Wasser wieder zum Schließen gebracht werden. Trocknes Wetter ist daher der Befruchtung der Blüten und somit der Samenbildung entschieden günstiger als nasses. - Bisweilen werden gewisse Staubblätter regelmäßig unvollständig ausgebildet, indem sie keinen Blütenstaub enthalten. Derartige Staminodien können in verschiedenen Formen auftreten, bei den Skrofularineen ist von fünf Staubgefäßen eins bisweilen als bloßer Faden oder als Schüppchen ausgebildet. Bei den Laurineen nimmt oft ein ganzer Kreis von Staubblättern die Form von Staminodien in Gestalt drüsenartiger Gebilde an. Bei der Parnassia palustris folgt auf den einfachen Kreis der S. ein andrer von Staminodien, welche hier als Nektarien (s. d.) ausgebildet sind, indem sie schuppenförmige Blätter mit langen Wimpern darstellen, deren jede mit einer kopfförmigen, honigtropfenähnlichen Drüse endigt. Vgl. auch den Art. Blüte.

Stäubling, s. v. w. Lycoperdon.

Staubregen, die meist trocknen Niederschläge der Atmosphäre, deren Substanz teils von der Erde aus mit den aufsteigenden Luftströmungen in die höhern Gegenden der Atmosphäre gelangt, sich mit dem Wind bis auf große Strecken von dem Ort ihres Aussteigens entfernt und entweder zugleich mit dem Regen und Schnee niederfällt, oder sich als Staub (s. Passatstaub) oder trockner Nebel (s. Nebel und Herauch) und Trübung der Atmosphäre niedersenkt, teils einen kosmischen Ursprung hat, indem sie aus zu feinem Staub zerfallenen oder zerriebenen Teilchen von Sternschnuppen und Feuerkugeln bestehen kann, welche tief in die Erdatmosphäre hineingetaucht sind, teils endlich Teile von kosmischen Staubmassen bildet, welche im Weltenraum sich bewegen, und denen die Erde zuweilen in ihrer Bahn begegnet. Zu den S. irdischen Ursprungs gehören folgende: 1) Die sogen. Blutregen (Blutquellen), die schon von den alten Schriftstellern, wie unter andern von Livius und Plinius, häufig erwähnt werden und im Mittelalter zu vielen abergläubischen Ansichten Anlaß gaben. Die Nachrichten über diese Blutregen beziehen sich aber meist nicht auf trockne, sondern auf flüssige oder schleimige Massen, welche als rote Flecke auftreten, den Boden, die Pflanzen und das Wasser rot färben

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Staubspritze - Staudt.

und ihren Ursprung in den Exkrementen von gewissen Insekten, wie Bienen, Schmetterlingen etc., auch in dem Auftreten der Blutregenalge (Protococcus pluvialis) haben. 2) Die roten S., d. h. wirklicher Regen, welcher durch aufgewirbelten Staub rot gefärbt ist, ereignen sich am häufigsten im Frühling und Herbst, zur Zeit der Äquinoktialstürme. Auch der Schnee kann durch solchen roten Staub rot gefärbt werden und als erdiger roter Schnee niederfallen. Diese Färbung des Schnees durch roten Staub muß aber nicht mit der oft wahrgenommenen Färbung verwechselt werden, welche sich öfters über größere Schneeflächen der Polargegenden verbreitet, auch auf den Alpen und Pyrenäen vorkommt und unter dem Namen Blutschnee (s. d.) bekannt ist. 3) Bei den vulkanischen S. (meist grau) wird die Asche der Vulkane vom Wind bis auf sehr weite Entfernungen fortgetrieben (Hekla, westindische Vulkane). Ein auffallendes Beispiel dafür bot die neueste Zeit, indem die in den letzten Monaten 1883 und 1884 in Europa vielfach beobachteten eigentümlichen Dämmerungs-Erscheinungen sowie das häufige Auftreten von ungewöhnlich starkem Abend- und Morgenrot und das Bilden eines braunroten Ringes um die Sonne als Folge des vulkanischen Ausbruchs nachgewiesen sind, welcher 27. Aug. 1883 auf dem Krakatoa in der Sundastraße erfolgte. 4) Schwefelregen (gelb), d. h. das Herabfallen eines gelben oder gelblichroten Pulvers, meistens in Begleitung von wirklichem Regen. Göppert hat nachgewiesen, daß das gelbe Pulver aus vom Wind fortgeführtem und vom Regen niedergeschlagenem Blütenstaub besteht, und zwar im März und April aus Blütenstaub von Erlen und Haselnuß, im Mai und Juni von Fichtenarten, Wacholder und Birke, im Juli, August und September von Bärlappsamen, Rohr-, Liesch- oder Teichkolben. 5) Getreideregen entstehen dadurch, daß der Regen die kleinen Wurzelknollen gewisser Pflanzen, wie des kleinen Schöllkrauts (Chelidonium minus), der Butterblume (Ranunculus Ficaria), des epheublätterigen Ehrenpreis (Veronica hederaefolia) u.a., aus dem Boden ausspült und diese dann durch den Wind von ihrem Ursprungsort weit fortgeführt werden und später zu Boden fallen. - Von den kosmischen S. hat man erst in neuerer Zeit einige Kenntnis erlangt. Am 1. Jan. 1869 war in Heßle bei Upsala ein Meteorit, der aus zahlreichen weithin zerstreuten Stücken bestand, niedergefallen und mit ihm zugleich ein schwarzer, Kohle und metallisches Eisen enthaltender Staub (Meteorstaub). Ganz dieselbe Zusammensetzung zeigte der Staub, welcher während eines sechstägigen ununterbrochenen Schneefalls in Stockholm im Dezember 1871 im Schnee gefunden wurde, und ebenso der gleichzeitig im Innern Finnlands auf dem Schnee gesammelte Staub. Es kann aber auch wohl vorkommen, daß Schnee und Regen kosmischen Staub mit sich in kleinen Mengen zur Erde herunterführen. Die wenigen kohlehaltigen Meteorsteine (s. d., S. 541), die wir kennen, zerfallen nämlich in unmerklichen Staub, sobald sie mit Wasser oder Feuchtigkeit (Regen, Schnee, Wolken) in Berührung kommen, wobei ihre Kittsubstanz aufgelöst wird.

Staubspritze, s. v. w. Drosophor, s. Zerstäubungsapparate.

Staubstrommethode, metallurgisches Verfahren, welches darin besteht, daß zwei Ströme derjenigen Körper, welche chemisch aufeinander einwirken sollen, sich in feinster Verteilung entgegenkommen und durchdringen. Dies Prinzip ist zuerst im Gerstenhöferschen Röstofen zur Anwendung gekommen, bei welchem gepulverte Erze, durch Bänke aufgehalten, langsam durch einen vorher stark geheizten Schachtofen fallen, während von unten Luft in den Ofen strömt. Die Reaktion ist hierbei sehr energisch, die durch Verbrennung entstandene schweflige Säure passiert Flugstaubkammern und gelangt dann in die Bleikammern zur Schwefelsäureerzeugung. Man benutzt den Ofen zum Rösten von schwefelkiesreichen Erzen, Kupferrohstein, Zinkblende etc. Ähnliche Versuche sind in Amerika bei der Silbergewinnung gemacht worden, indem Stetefeldt mit seinem hohen Schachtofen den Erzstaub frei, ohne daß er durch Bänke aufgehalten wird, dem Luftstrom entgegenfallen läßt. Auch hat man in ähnlicher Weise staubförmige Brennmaterialien verwertet. Gemahlene und gebeutelte Holzkohle wird durch einen Ventilator in einem Luftstrom angesogen und in einer passenden Vorrichtung oder im Ofen selbst verpufft. Nach diesem Prinzip sind der Eisenstreckofen von Resch, der Doppelzinkofen von Dähn und der rotierende Puddelofen von Crampton eingerichtet, wobei indessen Staub- und Luftstrom meist dieselbe Richtung haben.

Staude, s. v. w. perennierende Pflanze, s. Ausdauernd.

Staudenmaier, Franz Anton, kath. Theolog, geb. 11. Sept. 1800 zu Donsdorf in Württemberg, studierte im Wilhelmsstift zu Tübingen, trat 1826 in das Priesterseminar zu Rottenburg, folgte 1830 einem Ruf als Professor der katholischen Theologie nach Gießen und 1837 nach Freiburg i. Br., wo er 1843 auch zum Domkapitular ernannt wurde. Seit 1855 zurückgetreten, starb er 19. Jan. 1856. Unter seinen zahlreichen Schriften, in denen er eine spekulative Konstruktion des Katholizismus anstrebte, sind hervorzuheben: "Johann Scotus Erigena" (Frankf. 1834, Bd. 1); "Der Geist des Christentums" (Mainz 1835; 8. Aufl. 1880, 2 Bde.); "Darstellung und Kritik des Hegelschen Systems" (das. 1844); "Die christliche Dogmatik" (Freiburg 1844-52, 4 Bde.); "Zum religiösen Frieden der Zukunft" (das. 1846-51, 3 Tle.).

Staudenpappel, s. Lavatera.

Staudensalat, s. Lattich.

Staudigl, Joseph, Opernsänger (Baß), geb. 14. April 1804 zu Wöllersdorf in Niederösterreich, wollte sich im ersten Jünglingsalter dem geistlichen Stand widmen, wandte sich dann nach Wien, um Chirurgie zu studieren, und beschloß endlich, zunächst um seine materielle Lage zu verbessern, seine herrliche Baßstimme auf der Bühne zu verwerten. Anfangs als Chorist am Kärntnerthor-Theater wirksam, gelang es ihm, in der Rolle des Pietro ("Stumme von Portici") die er an Stelle des erkrankten Inhabers übernommen, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, und infolge des Beifalls, den er bei dieser Gelegenheit errang, wurden ihm nach und nach immer größere Partien übertragen, bis er endlich im Besitz aller ersten Rollen war. Von Wien aus, wo er bis 1856 dem Hofoperntheater angehörte, verbreitete sich sein Ruf über ganz Deutschland, und nicht minder wurden seine Leistungen in London anerkannt, dies um so mehr, da S. auch als Oratorien- und Liedersänger glänzte und überdies die englische Sprache vollkommen beherrschte. Er starb nach fünfjähriger Krankheit 28. März 1861 in der Irrenanstalt von Michelbeuerngrund.

Staudt, Karl Georg Christian von, Mathematiker, geb. 24. Jan. 1798 zu Rothenburg a. Tauber, war 1822-27 Professor am Gymnasium und Privatdozent an der Universität zu Würzburg, 1827-33 Professor am Gymnasium und der polytechnischen

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Stauen - Staupitz.

Schule zu Nürnberg, von 1833 bis zu seinem Tod 1. Juli 1867 Professor an der Universität Erlangen. Staudts Verdienst beruht namentlich in der Ausbildung der synthetischen Methoden in der Geometrie, die er in seinem Hauptwerk: "Geometrie der Lage" (Nürnb. 1847), und in den dazu gehörigen "Beiträgen" (das. 1856, 1857, 1860) niedergelegt hat.

Stauen, das Unterbringen der Ladung im Schiffsraum, um diesen möglichst auszunutzen und den Schwerpunkt von Schiff und Ladung zusammen in eine solche Lage zu bringen, daß ersteres hinreichende Stabilität hat. Gerät der Schwerpunkt von Schiff und Ladung durch unsachgemäßes S. in eine zu hohe Lage, so wird das Schiff zu "oberlastig" und verliert an der für seine Sicherheit gegen Kentern notwendigen Stabilität. Auch muß die Ladung so gestaut werden, daß sie bei den heftigen Bewegungen des Schiffs im Seegang ihre Lage nicht ändern kann. S. heißt auch das Zurückhalten fließender Gewässer durch Schleusen, Dämme und sogen. Stauwerke.

Staufen, Stadt im bad. Kreis Freiburg (Breisgau), am Fuß des Schwarzwaldes, 290 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein altertümliches Rathaus, ein Amtsgericht, Tuch-, Filz- und Gummibandweberei, Weinbau und (1885) 1820 Einw. In der Nähe die Ruinen der Staufenburg.

Staufen (Staufer), deutsches Kaisergeschlecht, s. Hohenstaufen.

Staufenberg (Ritter von S.), altdeutsches Gedicht von einem unbekannten elsässischen Dichter, wahrscheinlich aus dem Anfang des 14. Jahrh., wurde im 16. Jahrh. von Fischart überarbeitet und von Engelhardt (Straßb. 1823) und Jänicke (in "Altdeutsche Studien", Berl. 1871) neu herausgegeben.

Staufenburg, Ruine; Name mehrerer Ruinen, z. B. bei Staufen und Gittelde (s. d.).

Stauffacher, Werner, nach der Sage von der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft ein wohlhabender Landmann aus Schwyz, der sich auf das Zureden seiner Gemahlin Margareta Herlobig an die Spitze der Erhebung der Waldstätte gegen die Vögte Albrechts I. stellte und 1307 die Verschwörung im Rütli stiftete. Ein Werner S. erscheint urkundlich als Landammann von Schwyz 1313 und 1314.

Stauffenberg, Franz August, Freiherr Schenk von, deutscher Politiker, geb. 4. Aug. 1834 zu Würzburg, studierte in Heidelberg und Würzburg die Rechte, war bis 1860 als Staatsanwalt in bayrischem Staatsdienst und lebte seitdem auf seinem Gut Geißlingen bei Balingen in Württemberg. Seit 1866 Mitglied des bayrischen Abgeordnetenhauses, 1873-75 Präsident desselben, Führer der bayrischen Fortschrittspartei, ward er 1868 in das Zollparlament, 1871 für München in den deutschen Reichstag gewählt, schloß sich der nationalliberalen Partei an und war 1876-1879 erster Vizepräsident des Reichstags. 1880 schied er aus der nationalliberalen Partei aus, ward Mitglied der liberalen Vereinigung (Sezessionisten) und 1884 der deutschen freisinnigen Partei.

Staunton (spr. stahnt'n), Stadt im nordamerikan. Staat Virginia, Grafschaft Augusta, an einem Nebenfluß des Shenandoah, mit großem Irrenhaus, Staatsanstalt für Taubstumme und Blinde und (1880) 6664 Einw.; wird von Touristen viel besucht.

Staunton (spr. stahnt'n), 1) Sir George Leonhard, Reisender, geb. 1740 zu Galway in Irland, ging 1762 als Arzt nach Westindien, dann nach Ostindien und begleitete 1792-94 Macartney auf seiner Gesandtschaftsreise nach China, die er im "Account of an embassy from the king of Great Britain to the emperor of China" (Lond. 1791; deutsch, Zürich 1798) beschrieb. Er starb 14. Jan. 1801 in London.

2) Sir George Thomas, Reisender, Sohn des vorigen, geb. 26. Mai 1781 zu London, begleitete seinen Vater 1792 nach China, studierte dann in Cambridge, wurde 1799 bei der Faktorei der Ostindischen Gesellschaft in Kanton angestellt und leistete bei den von 1814 bis 1817 zwischen England und China gepflogenen Verhandlungen wichtige Dienste. Nach London zurückgekehrt, widmete er sich litterarischen Arbeiten und übersetzte namentlich vieles aus dem Chinesischen, z. B. den Kriminalkodex des chinesischen Reichs (Lond. 1810; franz., Par. 1812, 2 Bde.). Er war bis 1852 Mitglied des Unterhauses und starb 10. Aug. 1859 in London.

3) Howard, engl. Schriftsteller und berühmter Schachspieler, geb. 1810, studierte zu Oxford, widmete sich dann in London der journalistischen Thätigkeit und trug 1843 in einem großen Schachspielwettkampf zu Paris über den Franzosen Saint-Amant den Sieg davon, was ihm mit Einem Schlag den Ruf des ersten Schachspielers in Europa verschaffte. Er erfreute sich desselben bis zu dem großen Londoner Turnier 1851, aus welchem der Deutsche Anderssen (s. d.) als erster Sieger hervorging, und vermied es seitdem, an öffentlichen Wettkämpfen teilzunehmen. S. starb 22. Juni 1874. Von seinen Schriften über das Schachspiel wurde das Handbuch ("Laws and practice of chess") mehrfach aufgelegt (neue Ausg. von Wormald, 1881). Auch leitete er lange Jahre die Schachrubrik in den "Illustrated London News". Im übrigen beschäftigte er sich mit dem Studium der ältern englischen Dramatiker und war als Kommentator bei der Herausgabe einer der besten Shakespeare-Ausgaben (Edition Routledge) beteiligt. Noch veröffentlichte er "Great schools of England" (2. Aufl. 1869) u. a.

Staupe, s. Hundsseuche und Pferdestaupe; böse S., s. v. w. Epilepsie.

Staupenschlag (Staupbesen, lat. Fustigatio), die früher gewöhnlich mit der Landesverweisung und mit Ausstellung am Pranger verbundene Strafe des Auspeitschens bei welcher der Delinquent vom Henker durch die Straßen geführt und auf den entblößten Rücken gepeitscht wurde.

Staupitz, Johann von, Gönner und Freund Luthers, geboren im Meißenschen, studierte in Tübingen Theologie, ward Prior im Augustinerkloster daselbst, 1502 Professor und der eigentliche Organisator der neugegründeten Universität zu Wittenberg, auch 1503 Generalvikar der (kleinen) sächsischen Kongregation des Augustinerordens. In dieser Eigenschaft ward er 1505 in Erfurt Luthers geistlicher Vater und veranlaßte 1508 seine Berufung nach Wittenberg. 1512 legte er seine Professur nieder und hielt sich in München, Nürnberg und Salzburg auf; 1520 gab er auch das Amt des Generalvikars auf, zog sich aus Scheu vor den Kämpfen, die er nahen sah, nach Salzburg zurück, ward dort Hofprediger des Erzbischofs und 1522 Abt des dortigen Benediktinerklosters. Hier mußte er, vom Erzbischof von Salzburg zur Zustimmung zu der Bannbulle gegen Luther aufgefordert, sich wenigstens zu der Erklärung verstehen, daß er im Papst seinen Richter anerkenne, was Luther ihm als eine Verdammung der Lehre auslegte, zu der S. ihn selbst gewiesen. Er starb 1524. Seine hinterlassenen deutschen Schriften gab Knaake heraus (Potsd. 1867). Vgl. Kolde, Die deutsche Augustinerkongregation und J. v. S. (Gotha 1879); Keller, Joh. v. S. (Leipz. 1888).

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Staurodulie - Stearin.

Staurodulie (griech.), Anbetung des Kreuzes.

Staurolith, Mineral aus der Ordnung der Silikate (Andalusitgruppe), kristallisiert in rhombischen, meist säulenförmigen Kristallen und tritt häufig in Zwillingsverwachsungen auf, von welchen die einer beinahe rechtwinkeligen Durchkreuzung zweier Individuen den Namen Kreuzstein sowie gelegentlich eine abergläubische Benutzung zu Amuletten veranlaßt hat. S. ist rötlich- bis schwärzlichbraun, selten etwas durchscheinend, gewöhnlich undurchsichtig, glasglänzend, Härte 7-7,5, spez. Gew. 3,34-3,77. Er enthält zahlreiche mikroskopische Einschlüsse (Quarz, Granat, Glimmer etc.); seine Zusammensetzung entspricht am wahrscheinlichsten der Formel H2R3(Al2)6Si6O34, worin R vorwaltend Eisen in der Form des Öxyduls neben Magnesium ist. S. findet sich eingewachsen in Thon- und Glimmerschiefer (namentlich in Paragonitschiefer) am St. Gotthard, häufig mit Disthen gesetzmäßig verwachsen, in Tirol, Mähren, Steiermark, im Departement Finistere, bei Santiago de Compostela und in Nordamerika.

Staurophör (griech.), Kreuzträger.

Stauroskop (griech.), ein von Kobell angegebener einfacher Polarisationsapparat zur Beobachtung der Farbenringe und dunkeln Büschel in Kristallplatten.

Stauung, s. Stauen.

Stauungspapille, ein durch v. Gräfe in die Augenheilkunde eingeführter Begriff, welcher besagt, daß die Eintrittsstelle des Sehnervs in die Netzhaut von sehr zahlreichen, strotzend gefüllten Venenästchen durchzogen wird. Ob diese Stauung eine rein mechanische oder zugleich der Ausdruck einer Entzündung des Sehnervs (Neuroretinitis) ist, scheint noch zweifelhaft; dagegen ist die S. ein sehr wertvolles Symptom, welches auf eine Steigerung des Druckes in der Schädelkapsel, namentlich auf Geschwulstbildungen im Gehirn, schließen läßt.

Stavanger, Hauptstadt des gleichnamigen Amtes, welches 9279 qkm (168,5QM.) mit (1876) 110,965 Einw. umfaßt, im südwestlichen Norwegen, am Buknfjord, durch Eisenbahn mit Egersund verbunden, ist auf felsigem Boden nach wiederholten Feuersbrünsten ganz modern aus Holz erbaut, hat eine Domkirche (im 12. und 13. Jahrh. im alten normännischen Stil erbaut, 1866 im Innern restauriert), eine Lateinschule, ein kleines Museum, 2 Häfen und (1885) 22,634 Einw., welche vornehmlich Schiffahrt und Handel mit den Produkten der Fischerei betreiben. Die Stadt besaß 1885: 285 Segelschiffe von 91,851 Ton. und 40 Dampfschiffe von 12,792 T. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. S., eine alte, aber erst im 18. Jahrh. wieder emporgekommene Stadt, war bis 1685 Bischoffitz.

Stavelot (Stablo), Stadt in der belg. Provinz Lüttich, Arrondissement Verviers, an der Ambleve und der Staatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat eine höhere Knabenschule, Gerberei, Wollmanufakturen und (1887) 4452 Einw. - S. war bis 1801 die Hauptstadt des deutschen Reichsfürstentums S., dessen Oberhaupt der jeweilige gefürstete Abt des 648 vom austrafischen König Sigebert gegründeten Benediktinerstifts S. war. Ein Leben des Abts Poppo (1020-48) von Everhelm ist erhalten. Wichtig ist der Streit des Klosters gegen den Erzbischof Anno von Köln um das Kloster Malmedy, in welchem Anno 1071 unterlag. Von der Abteikirche ist nur noch ein Teil des Turms vorhanden. In der Stadtkirche befindet sich der kostbare Schrein des heil. Remaclus.

Stavenhagen, Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Linie Lübeck-Mecklenburgisch-Preußische Grenze der Mecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß mit Park, ein Progymnasinm, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, eine Zuckerfabrik, eine Dampfmolkerei, Dampfmahl- und Sägemühlen, eine Spiegelrahmenfabrik, 2 Selterwasserfabriken, Bierbrauerei und (1885) 3023 Einw. S. ist Geburtsort des Dichters Fritz Reuter, dem am Rathaus eine Gedenktafel gewidmet ist.

Stavoren (Staveren), Stadt in der niederländ. Provinz Friesland, an der Zuidersee, Endpunkt der Eisenbahn Leeuwarden-Sneek-S., mit (1887) 877 Einw.; die älteste Stadt Frieslands, ehemals groß und mächtig durch Handel und Schiffahrt, jetzt infolge der Versandung des Hafens ganz unbedeutend.

Stawell, Stadt in der britisch-austral. Kolonie Victoria, durch Eisenbahn mit Melbourne verbunden, mit 5 Bankfilialen, Theater und (1881) 7348 Einw. In der Nähe die Pleasant Creek-Goldfelder mit 1150 Goldgräbern.

Stawropol, 1) Gouvernement der russ. Statthalterschaft Kaukasien, an der Nordgrenze gegen Astrachan und das donische Gebiet, 68,631 qkm (1246 QM.) groß mit (1885) 657,554 Einw. (Russen, nomadisierenden Kalmücken, Truchmenen, Nogaiern, Armeniern). Das Gouvernement enthält zum Teil reiches Ackerland, so daß in jedem Jahr über 16,000 Arbeiter zum Einheimsen der Ernte aus Rußland kommen müssen, teils weite, an Salzseen reiche, aber an Trinkwasser arme Steppen, auf denen Viehzucht getrieben wird. Waldmangel ist nicht nur in der Steppe, sondern auch in den Berggegenden fühlbar. Die beiden Hauptflüsse Manytsch und Kuma sind wasserarm und verlieren sich in den Sand. Getreide, Leinsaat, Sonnenblumenkerne, Wolle, Häute und Talg werden nach Rostow am Don ausgeführt. Der südlichste Zipfel des Gouvernements wird von der Eisenbahn Rostow Wladikawkas durchzogen. Die gleichnamige Hauptstadt, am Flüßchen Taschla, in dürrer, baumloser Ebene, 611 m ü. M. gelegen, mit (1885) 36,561 Einw. (Russen, Tataren, Armeniern, Persern, Nogaiern, Grusiern u. a.), ist Sitz eines Zivil- und Militärgouverneurs und des kaukasischen und tschernomorskischen Bischofs, hat 13 griechisch-russ. Kirchen, eine armenische und eine kath. Kirche, eine Moschee, Nonnenkloster, geistliches Seminar, vorzügliche Mädchenschule, öffentliche Bibliothek, Theater und zahlreiche Fabriken, deren Thätigkeit ebenso wie der Handel beständig im Zunehmen sind. Die Stadt hat durch ihre Lage an der aus Persien nach Rußland führenden Karawanenstraße große kommerzielle Bedeutung, auch für die asiatische Post ist S. Station. -

2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Samara, an der Wolga, 1738 gegründet, mit (1885) 4883 Einw., welche sich vorwiegend mit Anbau von Getreide, Zwiebeln und Kartoffeln beschäftigen.

Stazione (ital.), Bahnhof.

Steamer (Steamboat, engl., spr. stihmer, stihmboht), Dampfschiff.

Stearin (C18H35O2)C3H5 findet sich in den meisten Fetten neben Palmitin und Olein, besonders reichlich im Hammeltalg. Um es aus diesem zu gewinnen, schmelzt man denselben und mischt ihn mit so viel Äther, daß er nach dem Erstarren Breikonsistenz besitzt, preßt wiederholt und kristallisiert den Rückstand aus Äther häufig um. Das S. bildet farb-, geruch- und geschmacklose, perlmutterglänzende Schuppen, ist löslich in siedendem Alkohol und Äther, sehr schwer in kaltem Alkohol, nicht in Wasser, reagiert neutral, schmilzt bei 62-64°, erstarrt wachsartig und wird

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Stearinsäure - Stechapfel.

durch Alkalien leicht verseift. Es besteht aus Stearinsäuretriglycerid und kann direkt durch Erhitzen von Stearinsäure mit Glycerin erhalten werden. Das S. des Handels ist kein neutrales Fett, sondern ein aus solchem dargestelltes Gemisch von Stearinsäure und Palmitinsäure.

Stearinsäure C18H36O2 findet sich, an Glycerin gebunden, als Stearin (s. d.) in den meisten Fetten, namentlich in den festen, aber fast immer neben Palmitin und Olein. Aus diesen Fetten, besonders aus Talg und Palmöl, wird im großen ein Gemisch von S. und Palmitinsäure dargestellt, welches unter dem Namen Stearin in den Handel kommt. Stearin liefert 95,7 Proz. S., Palmitin 94,8 Proz. Palmitinsäure, Olein 90,3 Proz. Olein- oder Ölsäure. Zur Gewinnung des Fettsäuregemisches erhitzte man das Fett ursprünglich mit Kalkmilch (aus 14 Proz. gebranntem Kalk), trennte die Kalkseife von dem glycerinhaltigen Wasser und schied aus derselben durch Schwefelsäure die fetten Säuren ab. Gegenwärtig arbeitet man in verschlossenen Kesseln (Autoclaves) unter einem Druck von 8-10 Atmosphären (bei 170°) und erreicht eine ziemlich vollständige Verseifung durch Anwendung von nur 2-4 Proz. Kalk, so daß bei der weitern Verarbeitung an Schwefelsäure bedeutend erspart wird. Unter einem Druck von 10-15 Atmosphären und bei einer Temperatur vom Schmelzpunkt des Bleies werden die Fette auch durch reines Wasser ohne Anwendung von Alkalien zersetzt, und wenn man sie bei 315° mit überhitztem Wasserdampf in geeigneten Apparaten behandelt, so destillieren die Fettsäuren und das Glycerin über, während in dem Apparat ein brauner, pechartiger Rückstand bleibt, den man auf Photogen und Anilin verarbeitet. Diese beiden Methoden sind im großen Maßstab ausgeführt, gegenwärtig aber durch die Verseifung mit Schwefelsäure verdrängt worden. Letztere wendet man besonders auf solche Fette an, welche wegen ihrer Beschaffenheit oder ihrer Verunreinigungen nicht mit Kalk verseift werden können, wie Palmöl, Kokosöl, Knochenfett, Abfälle aus Schlächtereien, Küchen etc. Man erhitzt die möglichst gereinigten Fette unter Umrühren mit 6-12 Proz. konzentrierter Schwefelsäure durch Dampf auf 110-177°, kocht noch 15-20 Stunden das Produkt mit Wasser, reinigt es durch wiederholtes Waschen, entwässert es durch Erhitzen in flachen Pfannen und unterwirft es, da es sehr dunkel gefärbt ist, auch unzersetztes Fett enthält, der Destillation durch überhitzten Wasserdampf. Die Produkte, welche nach dieser Methode erhalten werden, weichen in mancher Hinsicht von den durch Kalkverseifung gewonnenen ab. Die Ausbeute beträgt bei letzterer 45-48, bei der Schwefelsäureverseifung mit Destillation 55-60 Proz. Kerzenmaterial. Das gewonnene Gemisch von Fettsäuren läßt man in flachen Gefäßen möglichst langsam grobkristallinisch bei 20-32° erstarren, preßt unter starkem Druck zuerst kalt, dann bei 35-40° die Ölsäure ab, aus welcher sich bei hinreichender Abkühlung noch S. ausscheidet, die man auf Zentrifugalmaschinen von der Ölsäure trennt, schmelzt und kocht sämtliche S. mit stark verdünnter Schwefelsäure und Wasser, klärt sie mit Eiweiß, bleicht sie auch wohl durch Kochen mit schwacher Oxalsäurelösung und gießt sie in Formen. Nach einer neuern Methode erhitzt man das Fett mit 4-6 Proz. Schwefelsäure etwa 2 Minuten auf 120° und kocht es dann mit Wasser. Es findet vollständige Zersetzung statt, und von der erhaltenen S. kann man 80 Proz. nach zweimaliger Pressung direkt auf Kerzen verarbeiten, während nur der Rest von 20 Proz. zu destillieren ist. Nebenprodukte bei der Stearinsäurefabrikation sind Glycerin und Ölsäure. Letztere durch geeignete Prozesse in feste Fettsäuren umzuwandeln (Ölsäure gibt mit schmelzenden Alkalien Palmitinsäure und Essigsäure, mit salpetriger Säure starre Elaidinsäure), ist bis jetzt in lohnender Weise noch nicht gelungen. Reine S. erhält man aus Seife, wenn man diese in 6 Teilen Wasser löst, 40-50 Teile kaltes Wasser zusetzt, das ausgeschiedene Gemenge von saurem stearinsaurem und palmitinsaurem Natron durch Umkristallisieren aus heißem Alkohol trennt, das schwer lösliche Stearinsäuresalz mit Salzsäure zersetzt und die S. aus Alkohol umkristallisiert. Sie bildet farb- und geruchlose, silberglänzende Kristallblättchen, ist leicht löslich in Alkohol und Äther, nicht in Wasser, reagiert sauer, schmilzt unter starker Volumvergrößerung bei 69° und erstarrt schuppig-kristallinisch, ist in kleinen Quantitäten bei vorsichtigem Erhitzen destillierbar, leichter im Vakuum und mit überhitztem Wasserdampf. Von ihren Salzen sind die der Alkalien in Wasser löslich, werden aber durch viel Wasser zersetzt, indem sich unlösliche saure Salze ausscheiden und basische gelöst bleiben. In Kochsalzlösung sind auch die Alkalisalze der S. unlöslich. Die übrigen Salze sind unlöslich; erstere finden sich in der Seife, stearinsaures Bleioxyd im Bleipflaster. Beim Zusammenschmelzen von S. mit Palmitinsäure wird der Schmelzpunkt des Gemisches selbst unter den der Palmitinsäure herabgedrückt. Das fabrikmäßig dargestellte Gemisch von S. und Palmitinsäure wird auf Kerzen verarbeitet und zum Enkaustieren von Gipsabgüssen benutzt.

Ein Patent auf Darstellung von Kerzen aus S. und Palmitinsäure nahmen zuerst Gay-Lussac, Ehevreul und Cambacères 1825, doch wurde erst de Milly Begründer der Stearinindustrie, indem er 1831 die Kalkverseifung einführte und 1834 auch die Verseifung mit wenig Kalk andeutete und 1855 vervollkommte. 1854 gelangten Tilghman und Melsens unabhängig voneinander zu der Zersetzung der Fette durch überhitztes Wasser, und Wright und Fouché konstruierten Apparate für diese Methode, welche indes, wie auch die mit einer Destillation verbundene Behandlung der Fette mit überhitztem Wasserdampf, nur vorübergehende Bedeutung errang. Anfang der 40er Jahre begründeten Jones, Wilson, Gwynne die Methode, welche auf der schon 1777 von Achard beobachteten Zersetzung der Fette durch Schwefelsäure beruht und in neuerer Zeit allgemeine Verbreitung gefunden hat.

Stearoptene, s. Ätherische Ole.

Steatit, s. Speckstein.

Steatom (griech.), veralteter Name krankhafter Geschwülste von festerer Konsistenz.

Steatopygie (griech.), übermäßige Fettanhäufung am Gesäß der Hottentotinnen, s. Hottentoten.

Steatórnis, s. Guacharo.

Steatose (griech.), krankhafte Fettbildung.

Steben (Untersteben), Dorf und Badeort im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Naila, im Frankenwald und an der Linie Hof-S. der Bayrischen Staatsbahn, 580 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Forstamt, 5 Stahlquellen und ein Moorbad, die bei Blutarmut, Bleichsucht, Skrofulose, Rheumatismus, Gicht etc. angewendet werden, und (1885) 772 meist evang. Einwohner. Vgl. Klinger, Bad S. (2. Aufl., Hof 1875).

Stecchetti (spr. stecketti), Lorenzo, Pseudonym des ital. Dichters Olindo Guerrini (s. d.).

Stechapfel, Pflanzengattung, s. Datura.

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Stechbeeren - Stecknitz.

Stechbeeren, s. Daphne und Rhamnus.

Stechbeitel, s. Beitel.

Stechbüttel, s. v. w. Stichling.

Stechdorn, s. v. w. Schlehendorn (s. Pflaumenbaum, S. 970); s. v. w. Ilexaquifolium; s. v. w. Rhamnus cathartica.

Stecheiche, s. v. w. Stechpalme, Hex aquifolium.

Stechen, in der Jägerei das Auswerfen kleiner Vertiefungen im Boden durch den Dachs und den Fuchs beim Aufsuchen von Insektenlarven, auch das Einbohren des Schnabels (Stechers) der Schnepfen in den Boden zum Fang von Regenwürmern sowie das Aufeinanderstoßen der Männchen und Weibchen zur Paarzeit in der Luft, besonders der Schnepfen zur Strichzeit; endlich das Spannen des Stechschlosses an einer Büchse durch den Druck am Stecher.

Stechente, s. Lumme.

Stecher, in der Orgel dünne, aber feste Stäbe, die unter den Tasten der Klaviatur angebracht sind und, durch diese herabgedrückt, den weitern Mechanismus in Bewegung setzen. Vgl. Abstrakten.

Stechginster, s. v. w. Ulex europaeus.

Stechheber, eine weite, bisweilen an einer Stelle zu einer Kugel oder in andrer Form erweiterte, auch konisch zulaufende Glas- oder Metallröhre, deren obere Öffnung bequem durch den aufgedrückten Finger geschlossen werden kann (s. Figur), dient zum Herausheben von Flüssigkeit aus einem Faß od. dgl. Der S. füllt sich beim Eintauchen in die Flüssigkeit u. bleibt gefüllt, wenn man ihn mit verschlossener oberer Öffnung herauszieht. Durch vorsichtiges Heben des verschließenden Fingers kann man beliebige Quantitäten der Flüssigkeit abfließen lassen. Vgl. Pipette.

Stechhelm, s. Helm, S. 364.

Stechpalme, s. v. w. Ilex aquifolium.

Stechwinde, Pflanzengattung, s. v. w. Smilax.

Steckbrief, öffentliches Ersuchen um Festnahme einer zu verhaftenden Person, welche flüchtig ist oder sich verborgen hält. Nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 131) können Steckbriefe von dem Richter sowie von der Staatsanwaltschaft erlassen werden. Ohne vorgängigen Haftbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung nur statthaft, wenn ein Festgenommener aus dem Gefängnis entweicht oder sonst sich der Bewachung entzieht. In diesem Fall sind auch die Polizeibehörden zum Erlaß des Steckbriefs befugt. Der S. muß eine Beschreibung der Person des Verfolgten (Signalement), soweit dies möglich, enthalten sowie die demselben zur Last gelegte strafbare Handlung und das Gefängnis bezeichnen, in welches die Ablieferung zu erfolgen hat, wofern nicht wegen der Abholung des Festgenommenen eine Nachricht erbeten wird. Ist ein S. unnötig geworden, so erfolgt dessen Widerruf (Steckbriefserledigung) auf demselben Weg, auf dem er erlassen ist.

Steckenknechte, bei den Landsknechten dem Profoß beigegebene, zur Ausführung von Prügelstrafen "Stecken" tragende Gehilfen.

Steckenkraut, s. Ferula.

Stecker, Anton, Afrikareisender, geb. 17. Jan. 1855 zu Josephsthal bei Jungbunzlau in Böhmen, studierte zu Heidelberg Naturwissenschaften und begleitete 1878 G. Rohlfs auf seiner Expedition nach Kufra. 1879 nach Bengasi zurückgekehrt, ging er im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft 1880 nach Tripolis und von da mit Rohlfs nach Abessinien. Während Rohlfs nach Europa zurückkehrte, nahm S. den Tsanasee kartographisch auf, kam 1881 nach Godscham, drang von da bis in die Gallaländer, geriet aber in die Gefangenschaft des Königs Menelik von Schoa. Auf Verwendung Antinoris freigegeben, nahm S. noch einige Seen in Abessinien auf und kehrte 1883 nach Europa zurück. Er starb 15. April 1888 in seinem Geburtsort an der Lungenschwindsucht.

Steckling (Stopfer), ein beblätterter, halbreifer oder junger Zweig einer Pflanze, den man in die Erde steckt, damit er sich bewurzele und dann zu einer neuen, selbständigen Pflanze sich entwickle. Man schneidet ihn dicht unter einem Auge (bei Verbenen mit Beibehaltung eines Stückchens vom Stiel), schneidet einige der untern Blätter ab und steckt ihn in Sand oder Torfmull. Für die schwierigen Pflanzen oder für eine Vermehrung in großartigem Maßstab hat man kalte, halbwarme und warme Vermehrungshäuser und benutzt doppeltes Glas, d. h. im Vermehrungshaus (auch Wohnzimmer) noch Glasscheiben oder Glasglocken auf den Stecklingstöpfen oder Schalen; gleichmäßige Feuchtigkeit und Beschattung gegen brennende Sonnenstrahlen verhindern das Verwelken und Abtrocknen, zeitweises Lüften des innern Glases das Faulen. Stecklinge von Pflanzen mit starkem Saft oder Milchsaft steckt man in Sand mit stehendem Wasser.

Steckkmuschel (Pinna L.), Gattung aus der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), mit schiefdreieckigen, vorn spitzen, hinten klaffenden, dünnen Schalen. Die Steckmuscheln stecken mit dem spitzen Ende im Schlamm oder Sand und sind durch feine Byssusfäden an der Umgebung befestigt. Die größte Art ist die 70 cm lange schuppige S. (Pinna squamosa Gm.), im Südlichen Ozean und im Mittelländischen Meer. Diese und die nur 30 cm lange edle S. (P. nobilis L.), im Mittelländischen und Atlantischen Meer, werden namentlich im Busen von Tarent gefischt. Den 10-25 cm langen, goldbraunen Bart verspinnt man mit Seide und fertigt feine und haltbare Handschuhe, Geldbeutel etc. daraus (s. Byssus). Hin und wieder findet man wertlose Perlen von brauner Farbe in ihr. Im Altertum fabelte man von dem sogen. Muschelwächter (Pinnotheres), einem Krebs, welcher seinen Wirt, die Pinna, vor Gefahren warnen, dafür aber in ihr wohnen sollte. Die letztere Angabe ist richtig, die erstere grundlos.

Stecknadeln, s. Nadeln.

Stecknetz (Doppelgarn), Netz zum Fang von Rebhühnern, Fasanen und Wachteln, gewöhnlich 15 bis 16 m lang und 35 cm hoch, welches aus zwei spiegelig gestrickten Außengarnen und einem in der Mitte liegenden Innengarn mit engern Maschen besteht. Wenn Hühner gesprengt sind und man dieselben sich zusammenlocken hört, so stellt man zwischen ihnen die Stecknetze mittels Stellstäbchen auf und lockt sie dann mittels einer Hühnerlocke (s. d.) zusammen. Wenn sie durch die Maschen des Außengarns durchkriechen, so bleiben sie in dem faltigen (busigen) Innengarn hängen. In gleicher Weise kann man auch die Steckgarne an das Ende nicht zu breiter Kartoffelstücke und an Hecken stellen und die Hühner hineintreiben. Der Fang mit diesen Garnen ist leicht, die Hühner werden jedoch dabei gewöhnlich so beschädigt, daß man sie nicht lebend aufbewahren kann. Über den Fang der Wachteln im S. s. Wachtel.

Steckknitz, Fluß im Kreis Herzogtum Lauenburg der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, entspringt aus dem Möllnsee und fließt in die Trave, ist kanalisiert und mit der in die Elbe mündenden Delvenau in Verbindung gesetzt, so daß nun die ganze (56 km lange) Schiffahrtsstrecke zwischen der Elbe und Trave Stecknitzkanal heißt.

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Steckrübe - Steen.

Steckrübe, s.Raps.

Stedingerland, fruchtbarer Landstrich in der oldenburg. Wesermarsch, begreift im wesentlichen das heutige Amt Berne und ist berühmt durch seine freiheitliebenden und tapfern Bewohner, die Stedinger (Stettländer). In alten Zeiten umfaßte der Stedinggau außer dem jetzigen S. die vormaligen vier Marschvogteien Moorrieh, Oldenbrook, Strückhausen und Hammelwarden, die Vogtei Wüstenlande (die Stedingerwüste oder Wösting genannt), das jenseit der Weser gelegene Osterstade und wahrscheinlich auch den damals schon vorhandenen Teil des nachmaligen Vogteidistrikts Schwey. Das jetzige S. liegt zwischen der Ochte, Weser und Hunte, wird von mehreren kleinen Flüssen, der Berne, Hörspe und Ollen, durchströmt und ist an zwei Seiten von der Geest umgeben. Der Boden, dessen obere Lage von dem fetten Wasserschlamm gebildet worden, ist fruchtbar und der Landstrich unter allen Marschdistrikten Oldenburgs der gesündeste; wegen seiner niedrigen Lage bedarf er aber der Eindeichung. - Als König Heinrich IV. 1062 das linke Weserufer von der Mündung der Ochte bis zum Butjadingerland dem Erzbischof von Bremen schenkte, siedelte dieser Rüstringer und Holländer in dem durch Deiche dem Fluß abgerungenen Gebiet an. Sie nannten sich Stedinger, d.h. Uferbewohner. Ursprünglich zu Zehnten verpflichtet, wußten sie sich bei der Schwäche mehrerer Erzbischöfe allmählich jeder Zahlung zu entziehen und wahrten ihre Grenzen ebenso energisch gegen die Grafen von Oldenburg, deren Burgen Lichtenberg und Line sie 1187 zerstörten. Auch Erzbischof Hartwig II., dem der Papst schon gestattete, einen Kreuzzug gegen die Stedinger zu predigen, konnte sie nicht unterwerfen (1207). Einer seiner Nachfolger, Gerhard II., verklagte sie 1232 beim Papst Gregor IX. als Ketzer; die Folge waren Bann und Interdikt und ein neuer Kreuzzug, für dessen Zustandekommen besonders Konrad von Marburg thätig war. Kaiser Friedrich lI. ließ sich außerdem zur Achtserklärung herbei. Bald ward unter Anführung des Herzogs Heinrich von Brabant, der Grafen von Holland, von der Mark, von Kleve und von Oldenburg ein Heer von 40,000 Mann gesammelt, welches teils zu Land, teils auf der Weser 1234 gegen die bei Oldenesch (Altenesch) 11,000 Mann stark in Schlachtordnung stehenden Stedinger anrückte. Letztere wurden 27. Mai nach tapferm Widerstand in die Flucht geschlagen. Tausende kamen um, und gegen die Gefangenen ward schrecklich gewütet und das Land verwüstet. Die Sieger teilten sich darauf in dasselbe, der größte Teil fiel dem Erzbischof von Bremen und den Grafen von Oldenburg zu; doch überließen diese das Erworbene meist den Besiegten oder neuen Kolonisten wieder zu Meierrecht. Erzbischof Nikolaus von Bremen (1422-35) sicherte die Stellung der Stedinger durch ein besonderes Landrecht. Auf dem Schlachtfeld von Altenesch wurde an der Stelle einer verfallenen Kapelle 27. Mai 1834 ein Denkmal ("Stedingsehre") errichtet. Vgl. Schumacher, Die Stedinger (Brem. 1865).

Steeden (Steeten), Dorf im preuß. Regierungsbezirk Wiesbaden, Oberlahnkreis, an der Lahn, hat eine Dolomithöhle mit zahlreichen Knochen vorweltlicher Tiere, Kalkbrennerei und (1885) 645 Einw.

Steele, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Landkreis Essen, an der Ruhr, Knotenpunkt der Linien Ruhrort-Holzwickede, Vohwinkel-S., S.-Witten und Heissen-S. der Preußischen Staatsbahn, 69 m ü. M., hat ein Amtsgericht, wichtigen Steinkohlenbergbau und (1885) 8237 meist kath. Einwohner.

Steele (spr. stihl), Sir Richard, engl. Schriftsteller, geb. 1671 zu Dublin, studierte in Oxford (Genosse Addisons), trat dann als gemeiner Soldat in die Armee (was seine Enterbung zur Folge hatte) und versuchte sich nebenbei als Schriftsteller. Mitten in einem extravaganten Leben überraschte er die Welt durch den moralischen Traktat "The christian hero"; ihm folgten einige ebenfalls moralische Lustspiele. Als Herausgeber der "Gazette", des offiziellen Regierungsorgans, hatte er den Vorteil, wichtige Nachrichten aus sicherster Quelle verbreiten zu können, sah sich aber bei ihrer Beurteilung durch manche Rücksichten gehemmt. Er gab daher seit 1709 eine eigne, dreimal wöchentlich erscheinende Zeitschrift: "The Tatler", heraus, in der er "eine belehrende und zum Denken anregende Unterhaltung" versprach. Der Inhalt war sehr vielseitig, der Beifall allgemein. Die bedeutendsten Schriftsteller boten ihre Hilfe an, Addison wurde der hervorragendste Mitarbeiter. Bald vergrößerte sich das Unternehmen: seit 1711 erschien täglich "The Spectator", der in einem novellistischen Rahmen Unterhaltungen über litterarische, ästhetische, selten politische Dinge, Erzählungen, moralische Betrachtungen brachte. Im J. 1713 löste "The Guardian" den "Spectator" ab, lenkte aber zu tief in das politische Fahrwasser, um dauernd Erfolg zu haben, zumal S. im whiggistischen Sinn wirkte, was sogar 1714 seinen Ausschluß aus dem Parlament herbeiführte. Als bald darauf mit der Thronbesteigung Georgs I. die Whigs ans Ruder traten, kam S. wieder zu Ehren und erhielt die Stelle eines Oberstallmeisters zu Hamptoncourt. Er starb 1. Sept. 1729. Seine Lustspiele erschienen 1761, seine Briefe 1787. Vgl. Montgomery, Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1865, 2 Bde.); Dobson, R. S. (das. 1886).

Steen, Jan, holländ. Maler, geboren um 1626 zu Leiden, war Schüler N. Knupfers zu Utrecht und soll sich dann in Haarlem bei A. van Ostade, vielleicht auch nach Dirk Hals, gebildet haben. 1648 ließ er sich in die Malergilde zu Leiden aufnehmen, und 1649 verheiratete er sich im Haag, wo er bis 1653 thätig war. Von 1654 bis 1658 wohnte er wieder in Leiden, dann bis 1669 in Haarlem, und 1672 erhielt er in Leiden die Erlaubnis, eine Schenke zu halten. Er wurde daselbst 3. Febr. 1679 begraben. S. ist der geistreichste und humorvollste der holländischen Genremaler, der auch eine scharfe gesellschaftliche Satire nicht scheut. Er malte biblische Darstellungen in sittenbildlicher, bisweilen humoristischer Auffassung (Hauptwerke: Simson unter den Philistern, in Antwerpen; Verstoßung der Hagar und Hochzeit zu Kana, in Dresden), zumeist aber Szenen aus dem mittlern und niedern Bürgerstand, in welchen er die größte Feinheit und Mannigfaltigkeit der Charakteristik mit derbem, ausgelassenem, oft groteskem Humor zu verbinden weiß. Er liebt es, seinen figurenreichen Darstellungen oft eine moralische Tendenz unterzulegen oder durch sie ein Sprichwort oder eine allgemeine Wahrheit zu versinnlichen. Am besten ist er im Reichsmuseum zu Amsterdam vertreten, wo sich ein St. Niklasfest, der berühmte Papageienkäfig, die kranke Dame mit dem Arzt, eine Tanzstunde und eine Darstellung des Sprichworts "Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen" befinden. Von seinen übrigen Werken sind die hervorragendsten: die Menagerie und die Lebensalter (im Haag), die Unterzeichnung des Ehekontrakts (Braunschweig), das Bohnenfest (Kassel), der Streit beim Spiel und der Wirtshausgarten (Berlin) und die Hochzeit (St. Petersburg). In der koloristischen Durchführung seiner Bilder ist S. ungleich.

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Steenbergen - Steffeck.

Doch übertrifft er in seinen besten und sorgfältigsten Arbeiten alle Zeitgenossen an geistreicher, fein zusammengestimmter Färbung und meisterhafter Behandlung des Helldunkels. Vgl. T. van Westrheene, J. S. (Haag 1856). - Sein Sohn Dirk soll sich als Bildhauer bekannt gemacht haben.

Steenbergen, Stadt in der niederländ. Provinz Nordbrabant, Bezirk Breda hat eine katholische und eine reform. Kirche, einen Hafen, starke Krapp-, auch Garancinfabrikation und (1887) 6790 Einw. S. war früher Festung.

Steendysser, s. Gräber, prähistorische.

Steenkerke (Steenkerque), Dorf in der belg. Provinz Hennegau, Arrondissement Soignies, an der Naasee (zur Senne), mit 860 Einw., historisch denkwürdig durch den Sieg der Franzosen unter dem Marschall von Luxemburg über Wilhelm III. von England 3. Aug. 1692.

Steenstrup, Johann Japetus Smith, Zoolog und Prähistoriker, geb. 8. März 1813 zu Vang in Norwegen, war bis 1845 Lektor für Mineralogie in Sorö, dann Professor der Zoologie und Direktor des zoologischen Museums in Kopenhagen, privatisiert seit 1885. Von Bedeutung für die Tierkunde im allgemeinen sind seine Arbeiten über das Vorkommen des Hermaphroditismus in der Natur (Kopenh. 1846) und über den Generationswechsel (das. 1842). Außerdem arbeitete er über die Cephalopoden, über niedere Schmarotzerkrebse (mit Lütken, Kopenh. 1861) und über die Wanderung der Augen bei den Flundern (das. 1864). Lange Jahre widmete er sich auch der Untersuchung der Torfmoore und der Kjökkenmöddinger Dänemarks, bei denen er nicht nur die damalige Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die Erzeugnisse früherer Kultur berücksichtigte. - Sein Sohn Johannes, geb. 5. Dez. 1844 in Sorö, seit 1877 Professor der nordischen Altertumskunde in Kopenhagen, machte sich als Historiker bekannt durch "Studien über Waldemars Erdebuch "(1873) und ein größeres Werk über die Normannen (1876-86, 4 Bde.).

Steenwijck (spr. -weik). 1) Hendrik der ältere, niederländ. Maler, geboren um 1550 zu Steenwijk im Kreis Overyssel, kam früh nach Antwerpen, wo er Schüler von Hans Fredeman de Vries wurde und 1577 in die Lukasgilde eintrat. Er siedelte aber bald nach Frankfurt a. M. über, wo er um 1603 starb. S. war Architekturmaler und hat vorzugsweise das Innere gotischer Kirchen und großer Säle in genauer, strenger Zeichnung, aber mit harter Farbe dargestellt. Bilder von ihm befinden sich in den Galerien von Wien, Petersburg, Stockholm, Kassel u. a. D.

2) Hendrik der jüngere, Sohn des vorigen, ebenfalls Architekturmaler, geboren um 1580 zu Frankfurt a. M., war später in Antwerpen und London thätig und starb nach 1649. Er hat Kircheninterieurs, große Hallen und Palasträume mit Staffage, aber auch die architektonischen Hintergründe zu Bildnissen andrer Künstler gemalt. Seine Bilder sind häufig (z. B. in Berlin, in der kaiserlichen Galerie zu Wien, im Louvre zu Paris, in der Eremitage zu St. Petersburg und in den Galerien zu Dresden und Kassel). Seine malerische Behandlung ist freier und breiter als die des Vaters.

Steenwijk (spr. -weik), Stadt in der niederländ. Provinz Overyssel, Bezirk Zwolle, an der Steenwijker Aa und der Bahnlinie Zwolle-Leeuwarden, Sitz eines Kantonalgerichts, mit mehreren Kirchen, Ackerbau, lebhafter Industrie und Handel und (1887) 5065 Einw. S. war früher Festung und ist namentlich bekannt durch die Belagerung von 1580 und die Einnahme durch die Spanier 1582. Nordwestlich davon der Flecken Steenwijkerwold, mit Ackerbau, Viehzucht, Torfstich, starker Besenbinderei und (1887) 6045 Einw.

Steeple-chase (engl., spr. stihpl tsches', "Kirchturmrennen"), ein Wettrennen, bei welchem man früher einen Kirchturm oder einen ähnlichen hervorragenden Gegenstand zum Ziel setzte und dann querfeldein über Hecken und Zäune, durch Bäche und Flüsse hindurch auf denselben zujagte. Gegenwärtig versteht man in Deutschland unter S. ein Rennen mit Hindernissen, bei welchem die Reiter auf einer mit Flaggen abgesteckten Bahn in unebenem Terrain verschiedene feste, natürliche oder künstlich angelegte Hindernisse "nehmen" müssen, um das Ziel zu erreichen.

Stefan, Joseph, Physiker, geb. 24. März 1835 zu St. Peter bei Klagenfurt in Kärnten, studierte seit 1853 zu Wien, habilitierte sich 1858 daselbst für mathematische Physik, wurde 1863 Professor der Physik an der Universität und 1866 Direktor des physikalischen Instituts. 1875-85 war er Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1883 Präsident der internationalen wissenschaftlichen Kommission der elektrischen Ausstellung und 1885 Präsident der internationalen Stimmtonkonferenz. Er arbeitete über die Fortpflanzung des Schalles, über Polarisation, Interferenz und Doppelbrechung des Lichts, über Diffusion und Wärmeleitung der Gase, über die Abhängigkeit der Wärmestrahlung von der Temperatur, über die elektrodynamischen Erscheinungen und die Induktion.

Steffani, Agostino, Abbate, ital. Komponist, geb. 1655 zu Castelfranco in Venetien, erhielt seine musikalische Ausbildung in Venedig und München (bei Ercole Bernabei), wurde 1675 in letzterer Stadt Organist, um 1681 Direktor der kurfürstlichen Kammermusik und erhielt 1688 infolge seiner Oper "Servio Tullio" die Kapellmeisterstelle am Hof zu Hannover, wo er die Musik zu hoher Blüte brachte. Seine italienischen Opern, welche dort im Garten zu Herrenhausen mit großem Glanz zur Aufführung kamen, wurden auch ins Deutsche übersetzt und in den Jahren 1690-1700 auf dem Operntheater zu Hamburg gegeben. Bedeutender aber als diese und seine kunstvollen Kirchenwerke sind seine zahlreichen Kammerduette zu italienischen Texten, welche die größte Kunst des Tonsatzes mit einer gesangreichen und ausdrucksvollen Melodie vereinigen und als Muster ihrer Gattung gelten. Später nahm mehr und mehr die Diplomatie sein Interesse in Anspruch. Nachdem er seine Kapellmeisterstelle 1710 an Händel, mit dem er befreundet war, abgetreten, wurde er vom Kurfürsten von der Pfalz zum Geheimrat, vom Papst zum Protonotar und Bischof von Spiza (in partibus) ernannt und widmete sich öffentlich nur noch staatswissenschaftlichen und geistlichen Geschäften, die ihn 1729 auch noch einmal nach Italien führten. Er starb auf der Reise 1730 in Frankfurt a. M. Von seinen wenigen im Druck erschienenen Kompositionen nennen wir: "Psalmodia vespertina" (für 8 Stimmen, 1674); "Sonate da camera a due violini, alto e continuo" (1679); "Duetti da camera a soprano e contralto" (1683) und "Janus quadrifons" (Motetten mit Basso continuo für 3 Stimmen, von denen jede beliebige weggelassen werden kann.

Steffeck, Karl, Maler, geb. 4. April 1818 zu Berlin, kam 1837 in das Atelier von Franz Krüger, später in das von Karl Begas und ging 1839 nach Paris, wo er eine Zeitlang im Atelier von Delaroche arbeitete, besonders aber nach Horace Vernet studierte.

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Steffenhagen - Steg

Von 1840 bis 1842 hielt er sich in Italien auf und malte nach seiner Rückkehr meist Jagd- und Tierstücke, schwang sich aber auch zu einem großen Geschichtsbild: Albrecht Achilles im Kampf mit den Nürnbergern um eine Standarte, auf (1848, in der Berliner Nationalgalerie), welches sowohl durch den Glanz des Kolorits als durch die meisterhafte Darstellung der Pferde ausgezeichnet war. In der Darstellung von Pferden in ruhiger Stellung oder dramatischer Bewegung, aber auch andrer Tiere bewegte sich fortan seine Hauptthätigkeit. Insbesondere bildete er das Sportsbild und das Pferdeporträt zu großer Virtuosität aus. Seine Hauptbilder dieser Gattung sind: Pferdeschwemme, zwei Wachtelhunde um einen Sonnenschirm streitend (1850, in der Berliner Nationalgalerie), der lauernde Fuchs, Arbeitspferde (1860), Halali (1862), Pferdekoppel (1870), Wochenvisite (1872), Wettrennen (1874), Zigeunerknabe durch einen Wald reitend, die Stute mit dem toten Füllen. Daneben hat S. auch zahlreiche Porträte, insbesondere Reiterbildnisse (Kaiser Wilhelm I., Kronprinz Friedrich Wilhelm und v. Manteussel), und einige Geschichtsbilder (König Wilhelm auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, im königlichen Schloß zu Berlin; Übergabe des Briefs Napoleons III. an König Wilhelm bei Sedan, im Zeughaus zu Berlin) gemalt. Seit dem Anfang der 50er Jahre entfaltete S. eine umfangreiche Lehrthätigkeit. 1880 wurde er als Direktor der Kunstakademie nach Königsberg berufen. Er hat auch lithographiert und radiert.

Steffenhagen, Emil Julius Hugo, Rechts- und Literarhistoriker, geb. 23. Aug. 1838 zu Goldap in Ostpreußen, studierte zu Königsberg die Rechte, wandte sich aber bald vorzugsweise litterarwissenschaftlichen Studien zu und habilitierte sich 1865 in der juristischen Fakultät als Privatdozent. 1867 ging er nach Athen, um die dortige Nationalbibliothek im Auftrag der Athener Universität neu zu ordnen, folgte 1870 einem Ruf als Stadtbibliothekar nach Danzig, erhielt 1871 eine Kustodenstelle an der Königsberger Bibliothek, wurde 1872 als Bibliotheksekretär nach Göttingen versetzt und übernahm 1875 die Leitung der Universitätsbibliothek in Kiel. 1884 wurde er zum Oberbibliothekar ernannt. Schon als Student veröffentlichte er aus Königsberger Handschriften "Beiträge zu v. Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" (Königsb. 1859, 2. Ausg. 1861) und den von ihm entdeckten Originaltext von Johannes Faxiolus "De summaria cognitione" im "Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts" (Bd. 3, 1859), welchen Arbeiten er 1861 den Katalog der juristischen, 1867 und 1872 den der historischen sowie in Haupts "Zeitschrift für deutsches Altertum" (Bd. 13, 1867) die Beschreibung der altdeutschen Handschriften der Königsberger Bibliotheken folgen ließ. Außer Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften schrieb er noch: "De inedito juris germanici monumento" (Königsb. 1863); "Die neun Bücher Magdeburger Rechts" (das. 1865); "Deutsche Rechtsquellen in Preußen" (Leipz. 1875). 1877 übertrug ihm die Wiener Akademie der Wissenschaften die kritische Bearbeitung der Sachsenspiegelglosse. Als Vorarbeit dazu erschien von ihm in den Sitzungsberichten der Akademie "Die Entwickelung der Landrechtsglosse des Sachsenspiegels" (Wien 1881-87, 9 Hefte). An bibliothekwissenschaftlichen Schriften gab er heraus: "Die neue Aufstellung der Universitätsbibliothek zu Kiel" (Kiel 1883); "Die Klosterbibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek" (mit A. Wetzel, das. 1884); "Über Normalhöhen für Büchergeschosse" (das. 1885); "Verzeichnis der laufenden periodischen Schriften der Universitätsbibliothek Kiel" (das. 1887); "Die Ordnungsprinzipien der Universitätsbibliothek Kiel" (Burg 1888).

Steffens, Henrich, Philosoph, Naturforscher und Dichter, geb. 2. Mai 1773 zu Stavanger in Norwegen, widmete sich seit 1790 zu Kopenhagen naturwissenschaftlichen Studien, bereiste dann Norwegen, eröffnete 1796 zu Kiel naturwissenschaftliche Vorlesungen, wandte sich aber schon im folgenden Jahr nach Jena, wo er ein Anhänger von Schillings Naturphilosophie wurde. 1800 ging er nach Freiberg, wo er Werners Gunst gewann und "Geognostische geologische Aufsätze" (Hamb. 1810) ausarbeitete, die er später in seinem "Handbuch der Oryktognosie" (Berl. 1811-24, 4 Bde.) weiter ausführte. Nach seiner Rückkehr nach Dänemark 1802 hielt er Vorlesungen an der Kopenhagener Universität, ging aber 1804 als Professor nach Halle, wo er die "Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft" (Berl. 1806) herausgab, und 1811 nach Breslau. 1813 trat er in die Reihen der Freiwilligen ein und machte die Freiheitskriege bis zur ersten Einnahme von Paris mit. Nach dem Frieden kehrte er zu seinem akademischen Lehrerberuf nach Breslau zurück, folgte 1831 einem Ruf an die Universität zu Berlin und starb hier 13. Febr. 1845. S. war einer der Hauptvertreter der spekulativen Richtung der Naturforschung, beteiligte sich aber auch lebhaft an andern Fragen der Zeit, wie er z. B. in Breslau in der sogen. "Turnfehde" mit seinen "Karikaturen" (s. unten) und dem "Turnziel" (Bresl. 1818) entschieden gegen die Turnsache Partei nahm und später eifrig die Sache der Altlutheraner verfocht (vgl. seine Schrift "Wie ich wieder Lutheraner wurde", das. 1831). Von seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten ist noch die "Anthropologie" (Bresl. 1824, 2 Bde.) hervorzuheben, Zeitfragen hat er in religiös und politisch mehr als konservativem Geist unter anderm in den Schriften: "Karikaturen des Heiligsten" (Leipz. 1819-21, 2 Bde.), "Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben" (Bresl. 1824, neue Aufl. 1831) behandelt, neben welchen die "Christliche Religionsphilosophie" (das. 1839, 2 Bde.) zu erwähnen ist. Von seinen dichterischen Arbeiten (gesammelt als "Novellen", Bresl. 1837-38, 16 Bde.) sind besonders "Die Familien Walseth und Leith" (1827, 5 Bde.), "Die vier Norweger" (1828, 6 Bde.) und "Malkolm" (1831, 2 Bde.), Werke, die sich namentlich durch meisterhafte Naturschilderungen aus seiner nordischen Heimat auszeichnen, hervorzuheben. Eine Selbstbiographie schrieb er unter dem Titel: "Was ich erlebte" (Bresl. 1840-45, 10 Bde.). Nach seinem Tod erschienen "Nachgelassene Schriften" (Berl. 1846). Vgl. Tietzen, Zur Erinnerung an S. (Leipz. 1871); Petersen, Henrik S. (deutsch von Michelsen, Gotha 1884).

Steg, bei den Streichinstrumenten das zierlich ausgeschnittene, aus festerm Holz gefertigte Holztäfelchen, das zwischen den beiden Schalllöchern auf der Oberplatte aufgestellt ist, und über das die Saiten gespannt sind. Der S. steht mit seinen beiden Füßen fest auf der Oberplatte auf; genau unter dem einen Fuß ist zwischen Ober- und Unterplatte der Stimmstock (die Seele) eingeschoben, welcher ein Nachgeben der Oberplatte verhindert und dem S. eine einseitige feste Stütze gibt, die dem andern Fuß, sobald eine Saite schwingt, eine kräftige stoßweise Übertragung der Schwingungen auf die Oberplatte ermöglicht. Beim Klavier heißt S. die parallel mit dem Anhängestock laufende lange Leiste, die auf dem Re-

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Steganographie - Steiermark.

sonanzboden aufliegt, und über welche die Saiten gespannt sind. - An der ionischen Säule heißt S. der schmale Streifen zwischen den Kannelüren.

Steganographie (griech.), Geheimschrift.

Steganopodes, s. v. w. Ruderfüßer, s. Schwimmvögel.

Stege, Hauptstadt der dän. Insel Möen (s. d.).

Steglitz, Dors im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Teltow, an der Linie Berlin-Magdeburg der Preußischen Staatsbahn und an der Dampfstraßenbahn S.-Schöneberg, hat eine schöne gotische evang. Kirche, ein Progymnasium, eine Blindenanstalt, ein Feierabendhaus für Lehrerinnen, ein Denkmal des Prinzen Friedrich Karl (auf der Maihöhe), bedeutende Gärtnerei, Seidenraupenzucht, Musterlandwirtschaft und (1885) 8501 meist evang. Einwohner.

Stegreif, s. v. w. Steigbügel; Stegreifritter, Raubritter. Aus dem S., eigentlich: ohne abzusteigen, dann s. v. w. ohne Vorbereitung; daher Stegreifdichtung, s. v. w. Improvisation (s. d.).

Stegreifkomödie, s. Commedia dell' arte.

Stehbolzen, Bolzen, gegen deren Ansätze plattenförmige Körper gepreßt werden können, so daß letztere durch die Bolzen in bestimmter Entfernung voneinander festgehalten werden.

Stehendes Gut, s. Takelung.

Stehkolben (Kochflaschen), s. Kolben.

Stehlsucht (Kleptomanie), s. Geisteskrankheiten, S. 35.

Steichele, Anton, Erzbischof von München-Freising, geb. 22. Jan. 1816 zu Wertingen in Schwaben, studierte in München katholische Theologie, ward 1838 Kaplan, 1841 Domvikar in Augsburg, 1844 geistlicher Rat u. Sekretär des Bischofs von Augsburg, Peter v. Richarz, 1847 Domkapitular und 1873 Dompropst. In fast klösterlicher Zurückgezogenheit lebend, widmete sich S. ganz der Wissenschaft, namentlich der Kirchengeschichte; für seine Verdienste um diese verlieh ihm die theologische Fakultät in München 1870 die Doktorwürde. Seine hauptsächlichsten Werke sind: "Friedrich, Graf von Zollern, Bischof von Augsburg, und Johann Geiler von Kaisersberg. Mit Briefen" (Augsb.1854); "Bischof Peter v. Richarz" (das. 1856); "Das Bistum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben" (das. 1861-87, Bd. 1-5). Durch seine Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und Milde für eine hohe kirchliche Würde besonders geeignet, ward er 1878 vom König nach dem Tod Scherrs zum Erzbischof von München-Freising ernannt.

Steier, Stadt, s. Steyr.

Steierdorf (ungar. Steierlak), Markt im ungar. Komitat Krasso Szöreny, an der Flügelbahn Jassenova-S., mit berühmtem Kohlen- und Eisensteinbergbau der Österreich.-Ungarischen Staatsbahn und (1881) 9239 deutschen Einwohnern. In der Nähe das Eisenwerk Anina und der Bergwerksort Oravicza (s. d.).

Steiermark (hierzu Karte "Steiermark"), österreich. Herzogtum, grenzt nördlich an Ober- und Niederösterreich, östlich an Ungarn, westlich an Salzburg und Kärnten, südlich an Krain und Kroatien und umfaßt 22,355 qkm (405,99 QM.). Die Bodenbeschaffenheit veranlaßt eine natürliche Einteilung des Landes in das Hochgebirgsland von Obersteiermark, das fruchtbare Hügelland von Mittelsteiermark und das von Slowenen bewohnte Bergland von Untersteiermark. Das Land nimmt an allen Ketten der Ostalpen Anteil: am nördlichen Gebirgszug durch die zu den Salzkammergutalpen gehörigen Massivs des Dachsteins (2996 m), des Kammergebirges, des Totengebirges, des Grimming (2346 m), des Pyrgas (2244 m) und des Buchsteins (2224 m), alle nördlich von der Enns gelegen. Südlich von dieser erheben sich zwischen Enns und Mur die eigentlichen Steirischen Alpen, im westlichen Teil auch Niedere Tauern genannt, mit dem Hochgolling (2863 m), im östlichen Teil als Seckauer Alpen, welche noch weiter östlich in die Steirisch-Österreichischen Alpen übergehen, mit den Gruppen des Hochthor (2372 m), Hochschwab (2278 m) und Hochveitsch (1982 m), woran sich endlich der Semmeringberg und -Paß anschließen. Das Gebiet der S. zwischen der Mur und Drau wird von den Kärntnerisch-Steirischen Alpen erfüllt mit dem Eisenhut (2441 m) im äußersten Südwesten und dem Zirbitzkogel (2397 m), südlich von Judenburg. Zwischen Lavant und Mur befinden sich die Stainzer Alpen mit der Koralpe (2141 m), deren östliche Fortsetzung, der Posruck und die weinreichen Windischen Bühel, sich zwischen Mur und Drau herabsenkt. Östlich von der Mur erheben sich die Fischbacher Alpen, welche nördlich mit dem Wechsel (1738 m) dem Semmering gegenübertreten, den Schöckel bei Graz (1446 m) einschließen und nach O. gegen die Raab hin in das Steirische Hügelland übergehen. Das Land in S. zwischen Drau und Save endlich gehört den Karawanken und Steiner Alpen (Grintouz 2559 m, Oistriza 2350 m) mit deren östlichen Fortsetzungen, dem Bachergebirge (1542 m), dem Bergland von Cilli und dem Matzelgebirge an der kroatischen Grenze, an. Größere Ebenen sind: das Grazer, Leibnitzer und Pettauer Feld. Die wichtigsten Flüsse sind: die Drau, welcher die Mur (mit der Mürz) zufließt, und die Save (mit dem Sann und der Sotla). Minder wichtig, weil nicht schiffbar, sind: die Enns (mit der Salza), die Raab (mit der Feistritz und Lasnitz) und die Traun, die aus den Abflüssen der Seen des steirischen Salzkammerguts, des Grundelsees, Altausseer Sees und Ödensees, entsteht. Außer diesen gibt es in S. nur kleine Gebirgsseen, z. B. den Leopoldsteiner See bei Eisenerz, den Erlassee an der österreichischen Grenze. Das Klima ist nach der Bodenbeschaffenheit verschieden, rauher im Hochgebirge (Aussee +6° C.), günstiger im fruchtreichen Flachland (Cilli fast +10° C.). Unter den zahlreich vorkommenden Mineralquellen sind die Säuerlinge von Rohitsch und Gleichenberg, die Saline zu Aussee, die indifferenten Thermen von Tüffer, Römerbad, Neuhaus und Tobelbad sowie die Eisenquelle zu Einöd hervorzuheben. Andre Kurorte sind: St. Radegund und Frohnleiten mit Kaltwasserheilanstalten. S. zählte Ende 1869: 1,137,990, Ende 1880: 1,213,597 Einw., so daß sich die Bevölkerung im Durchschnitt jährlich um 0,58 Proz. vermehrte und auf 1 qkm 54 Einw. kommen. Ende 1887 wurde sie auf 1,261,006 Seelen berechnet. Der Nationalität nach sind 67 Proz. Deutsche und 33 Proz. Slowenen (die Sprachgrenze läuft südlich von Eibiswald nach Spielfeld an der Mur, dann längs derselben; außerdem finden sich deutsche Sprachinseln im slowenischen Gebiet), der Religion nach größtenteils Katholiken (nur 9221 Protestanten und 1782 Israeliten). Die produktive Bodenfläche beträgt im ganzen 93 Proz.; von derselben kommen auf Ackerland 20,26 Proz., auf Weinland 1,63, auf Wiesen 12,78, auf Weiden und Alpen 12,62, auf Wald 51,48 Proz., so daß unter allen Kronländern Österreichs S. verhältnismäßig das waldreichste ist. Die fruchtbarsten Teile des Herzogtums sind die Thäler, besonders das Mur- und das Mürzthal, und mit geringen Ausnahmen die Ebenen. Hauptprodukte sind: Hafer (durchschnittlich 1,450,000 hl), Mais (1,220,000 hl), Roggen

256a

Steiermark

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Steiermark (geographisch - statistisch).

(1,000,000 hl) und Weizen (815,000 hl); ferner Buchweizen (600,000 hl), Hirse, Kartoffeln (1,640,000 hl), Futterrüben (3,150,000 metr. Ztr.), Kraut, Kürbisse, Klee, Heu; endlich von Handelspflanzen Flachs (30,000 metr. Ztr.), Hanf, Hopfen und Weberkarden. Die Obstkultur ist noch sehr vernachlässigt, gutes Obst (Äpfel und Pfirsiche) kommt hauptsächlich nur in der Gegend von Marburg vor. Die Weinkultur erstreckt sich von Mittelsteiermark über das ganze Unterland (Zentralpunkte: Luttenberg, Radkersburg, Gonobitz) und liefert gute Sorten (durchschnittlich 375,000 hl). Von großer Bedeutung ist die Viehzucht. In ausgedehnterm Maß wird die Pferdezucht nur in einzelnen Hauptthälern, so im Ennsthal, betrieben, wo das schwere norische Pferd zu Hause ist. Von Rinderrassen sind das Pusterwalder und Mürzthaler Vieh in Obersteiermark, die Mariahofer Rasse im mittlern und südlichen S. vertreten. Auf niedriger Stufe steht die Schafzucht, wogegen Schweine sehr stark gezüchtet werden. Geflügel kommt namentlich in den slowenischen Teilen sehr häufig vor. Auch mit Seidenraupen werden seit längerer Zeit Versuche gemacht. Nach der Zählung von Ende 1880 betrug der Viehstand in S.: 61,338 Pferde, 663,173 Stück Rindvieh, 188,273 Schafe, 43,821 Ziegen und 532,721 Schweine. Die Flüsse und Seen sind reich an trefflichen Fischarten (Forellen, Saiblingen). Auf den Hochgebirgen trifft man noch Gemsen; außerdem ist die Jagd von geringem Belang.

Den größten Reichtum besitzt S. in seinen nutzbaren Mineralien. 1887 waren 84 Bergbau- und 19 Hüttenunternehmungen mit zusammen 12,719 Arbeitern im Betrieb; die Produktion ergab einen Wert von 11,24 Mill. Gulden. Am wichtigsten ist die Produktion von Roheisen, welche durch die ausgezeichnete Qualität des Produkts Weltruf erlangt hat, quantitativ aber in den letzten Jahren (wegen der durch die Konkurrenz andrer Produktionsländer gedrückten Preise) erheblich eingeschränkt worden ist. Es waren 1887 nur 8 Eisenerzbergbaue im Betrieb, vor allen an dem berühmten Erzberg bei Eisenerz (Produktion 3,7 Mill. metr. Ztr. Erz). Roheisen wurde von 16 Werken mit 22 Hochöfen in einer Menge von 1,104,600 metr. Ztr. produziert. Die größten Hüttenwerke sind zu Hieflau und Eisenerz, Vordernberg, Trofaiach, Neuberg und Zeltweg. Zunächst an Bedeutung steht der Braunkohlenbergbau im Köflacher, Leoben-Fohnsdorfer und Trifailer Becken (55 Unternehmungen, 19 Mill. metr. Ztr. Kohlenförderung). Andre Bergbau-, resp. Hüttenprodukte sind: Graphit (25,500 metr. Ztr.), Zink (12,900 metr. Ztr.), in geringer Menge Silber, Blei und Glätte, Manganerz und Schwefelkies; ferner Salz zu Aussee (181,832 metr. Ztr.). Die industrielle Thätigkeit des Landes besteht hauptsächlich in der Verarbeitung des Roheisens. Es bestehen in Ober- und Mittelsteiermark zahlreiche, zum Teil ausgedehnte Eisenguß- und Raffinierwerke, welche Schienen, Wagenachsen, Ackergerät, Sägen, Bleche, Draht, Guß- und Zementstahl etc. verfertigen. Sehr bedeutend sind ferner: die Sensenindustrie (jährlich 3,7 Mill. Stück Sensen, Sicheln etc.), die Erzeugung von Schmiedewaren, dann die Maschinenindustrie (zu Graz). Außerdem bestehen Fabriken für Zement, Glas (18), Papier, chemische Produkte (zu Hrastnigg), Kerzen und Seifen, Tuch und Filz, Zündwaren, Schieß- und Sprengpulver, Zuckerraffinerien, Kaffeesurrogatfabriken, Bierbrauereien (600,000 hl), Branntweinbrennereien, Schaumweinfabriken, Tabaksfabriken, Baumwollspinnereien, Dampfsägen etc. Als Förderungsmittel des Handels dienen vor allen die Eisenbahnen, die Ende 1887 in einer Länge von 1046 km im Betrieb waren. Die Hauptverkehrsader ist die Linie Wien-Triest der Südbahn, an welche sich deren Seitenlinien, ferner die Staatsbahnlinie Kleinreifling-St. Michael-Villach, die Graz-Köflacher Eisenbahn und die Ungarische Westbahn anschließen. Andre Kommunikationsmittel sind neben den Landstraßen die Schiffahrtslinien der Drau, Mur und Save (zusammen 579 km). Für die geistige Kultur sorgen: die Universität und die technische Hochschule zu Graz, die Bergakademie zu Leoben, 2 theologische Lehranstalten; an Mittelschulen 5 Obergymnasien, ein Untergymnasium, 2 Oberrealschulen, eine Unterrealschule, 2 Lehrerbildungsanstalten, eine solche Anstalt für Lehrerinnen, ein Mädchenlyceum, 7 Handelslehranstalten, eine Staatsgewerbeschule, 2 gewerbliche Fach- und 31 Fortbildungsschulen, eine Zeichenakademie, eine Ackerbauschule, 4 andre Schulen für Land- und Forstwirtschaft, eine Berg- und Hüttenschule, 768 öffentliche Bürger- und Volksschulen (mit 2883 Lehrpersonen und 150,435 schulbesuchenden Kindern). In kirchlicher Beziehung hat das Land 2 katholische Bistümer (Seckau und Lavant, mit dem Sitz in Graz und Marburg). An der Spitze der Landesverwaltung steht die Statthalterei zu Graz, der Hauptstadt von S. Andre Behörden für S. sind: das 3. Korpskommando, ein Landwehrkommando, eine Postdirektion, ein Oberlandesgericht (für S., Kärnten und Krain), eine Finanzlandesdirektion etc. Der Landtag besteht aus 63 Mitgliedern und zwar den beiden Fürstbischöfen, dem Universitätsrektor, 12 Abgeordneten des Großgrundbesitzes, 19 Abgeordneten der Städte, Märkte und Industrieorte, 6 Abgeordneten der beiden Handels- und Gewerbekammern (Graz und Leoben) und 23 Vertretern der Landgemeinden. Außerdem sind in den politischen Bezirken eigne Bezirksvertretungen thätig. In den Reichsrat entsendet S. 23 Abgeordnete. Das Wappen von S. s. auf Tafel "Österreichisch-Ungarische Länderwappen". Die politische Einteilung des Landes ist aus folgender Tabelle zu ersehen:

Bezirke Areal in QKilom. in Qmeilen Bevölkerung 1880

Bruck 2209 40,12 60101

Cilli 2002 36,36 124133

Cilli (Stadt) 2 0,04 5393

Feldbach 984 17,87 81770

Graz 1779 32,31 113328

Graz (Stadt) 22 0,40 97791

Gröbming 1914 34,76 28250

Hartberg 976 17,73 52542

Judenburg 1636 29,71 49544

Deutsch -Landsberg 794 14,42 49487

Leibnitz 730 13,26 64089

Leoben 1086 19,72 41492

Lietzen 1398 25,39 23738

Luttenberg 316 5,74 25615

Marburg 1176 21,35 85057

Marburg (Stadt) 9 0,16 17628

Murau 1388 25,21 27185

Pettau 992 18,01 81328

Radkersburg 457 8,30 38082

Rann 592 10,75 46695

Weiz 1076 19,54 59223

Windischgraz 817 14,84 41126

Zusammen: 22355 405,96 1213597

Vgl. Göth, Das Herzogtum S. (Wien 1840-43, 2 Bde.); Hlubek, Ein treues Bild des Herzogtums S. (das. 1860); Stur, Geologie der S. (das. 1871, mit Karte); Janisch, Topographisch-statistisches

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Steiermark - Steifensand.

Lexikon von S. (das. 1875-85, 3 Bde.); Frischauf, Gebirgsführer durch S. (das. 1874); Rosegger, Das Volksleben in S. (6. Aufl., Wien 1888); Jauker, Das Herzogtum S. (das. 1880); "Spezial-Ortsrepertorium von S.", herausgegeben von der statistischen Zentralkommission (das. 1883); Schlossar, Kultur- und Sittenbilder aus S. (Graz 1885); Derselbe, Die Litteratur der S. (das. 1886); Krauß, Die nordöstliche S. (das. 1888).

Geschichte.

Unter der Herrschaft der Römer, während welcher die Kelten, darunter als Hauptstamm die Taurisker, das Land bewohnten, gehörte der östliche Teil Steiermarks zu Pannonien, der westliche zu Noricum. Während der Völkerwanderung besetzten oder durchzogen Westgoten, Hunnen, Ostgoten, Rugier, Langobarden, Franken und Avaren nacheinander das Land. Seit 595 nahmen Slawen (Winden, weshalb früher die Gegend die windische Mark hieß) erst den untern Teil, nach Besiegung der Avaren auch den obern Teil desselben in Besitz. Als ein Teil dieses karentanischen Slawengebiets kam das Murland unter bayrische Botmäßigkeit, dann unter karolingisch-fränkische Herrschaft. Das Christentum verbreitete sich allmählich in diesen Gegenden von Salzburg aus, das zum Metropolitansitz erhoben wurde und seinen Sprengel auch über das spätere S. ausdehnte. Unter Karls Nachfolgern hatte es durch feindliche Einfälle, namentlich der Magyaren, sehr zu leiden. Den beträchtlichsten Teil, gegen Westen und Norden, hatten die Markgrafen von Karentanien (s. Kärnten), den Landstrich am linken Ennsufer die Herzöge von Bayern inne. Im 11. Jahrh. ward eine besondere Mark "Kärnten" vom Herzogtum Kärnten abgezweigt und 1056 dem Grafen Ottokar von Steyr im Traungau, einem Verwandten des Lambachschen Geschlechts, verliehen. Seitdem ward der Name S. statt des frühern "Kärntner Mark" üblich. Markgraf Ottokar VI. (VIII.), welcher von Kaiser Friedrich I. die herzogliche Würde erhielt, schloß, da er ohne männliche Erben war, 1186 mit dem Herzog Leopold V. von Österreich einen Erbfolgevertrag, zufolge dessen der letztere nach Ottokars Tod 1192 das Herzogtum S. mit seinen Ländern vereinigte. Leopolds V. Söhne Friedrich und Leopold VI. teilten sich 1194 in die Herrschaft von Österreich und S., doch kam schon 1198 mit Friedrichs Tod beides wieder in Leopolds Hand. Diesem folgte 1230 Friedrich der Streitbare. Da er sehr willkürlich regierte, führten die Steiermärker Klage bei dem Kaiser Friedrich II. und erhielten von demselben ihre in Ottokars Testament erhaltenen Freiheiten von neuem bestätigt. Dieser Freiheitsbrief und Ottokars Testament gaben der steirischen Landhandfeste ihr Entstehen. Nach dem Tode des letzten Babenbergers, Friedrichs des Streitbaren (1246), folgte das für S. so verderbliche Zwischenreich, in welchem das Herzogtum, obgleich eine Partei der Stände Heinrich von Bayern 1253 zum Herzog wählte, 1254 unter Vermittelung des Papstes zwischen den Königen Ottokar II. von Böhmen und Bela IV. von Ungarn geteilt wurde. Ottokar II. besiegte die Ungarn 1260 auf dem Marchfeld und ward 1262 vom deutschen König Richard mit Österreich und S. belehnt, aber 1276 vom König Rudolf von Habsburg dieser Lehen verlustig erklärt, worauf letzterer seinen ältesten Sohn, Albrecht I., als Statthalter 1282 gemeinsam mit dem jüngern Bruder, Rudolf, 1283 allein als erblichen Landesherrn mit S. belehnte. Fortan blieb das Herzogtum im Besitz des Hauses Habsburg. Bei der nach Rudolfs IV. Tod 1365 zwischen dessen Brüdern Albrecht III. und Leopold III. vorgenommenen Teilung fiel S. mit Kärnten, Tirol etc. an den letztern. Als dessen Söhne 1406 wiederum teilten, ward S. Ernst dem Eisernen zugesprochen. Sein ältester Sohn und Nachfolger (seit 1424) war der nachmalige Kaiser Friedrich III., der wiederum alle habsburgischen Lande vereinigte. Als 1456 die gefürsteten Grafen von Cilli ausstarben, erwarb Friedrich auf Grund früherer Verträge deren Besitzungen. Die Lehren der deutschen Reformatoren fanden schon seit 1530 in S. Eingang, und 1547 beanspruchte der Landeshauptmann Freiherr Johann Ungnad auf dem Reichstag zu Augsburg freie Religionsübung; doch konnte dieselbe erst auf den Landtagen zu Bruck 1575 und 1578 dem Herzog Karl II., dem jüngsten Sohn Kaiser Ferdinands I., welchem bei der Länderteilung 1564 S., Kärnten und Krain zu teil geworden waren, abgenötigt werden. Um die Verbreitung der neuen Lehre zu hemmen, rief Herzog Karl 1570 die Jesuiten zu Hilfe und stiftete 1586 die hohe Schule zu Graz. Sein Sohn Ferdinand II., der 1596 die Regierung übernahm, erklärte den Freiheitsbrief seines Vaters Karl II. für aufgehoben und wies 1598 die protestantischen Lehrer und Prediger aus dem Land. Eine hierauf eingesetzte katholische Gegenreformationskommission befahl allen protestantischen Bürgern, entweder zur katholischen Religion überzutreten, oder auszuwandern. Viele Protestanten schwuren damals ihr Bekenntnis ab; eine bedeutende Zahl aber, meist den reichsten und angesehensten Familien angehörig, verließ die Heimat, und nur in den unzugänglichen Bergen des obern S. erhielt sich im stillen in einzelnen Bauernfamilien der evangelische Glaube, weshalb sich dort, nachdem Joseph II. 1781 Glaubensfreiheit proklamiert hatte, einige protestantische Gemeinden konstituierten. Ferdinand II. erbte 1619 auch die übrigen österreichischen Lande, und S. blieb seitdem ein Teil derselben. Seit Karl VI. (1728) nahm kein Landesfürst mehr die Huldigung an, und seit 1730 bestätigte keiner die Landhandfeste mehr. Fortan teilte S. die Schicksale der österreichischen Monarchie und blieb auch während der Napoleonischen Kriege den Habsburgern erhalten. Seit dem Wiedererwachen politischen Lebens in Österreich 1860 zeigte sich der Landtag von S. verfassungstreu und freisinnig, erhob 1865 seine Stimme gegen die Sistierung der Verfassung und forderte 20. Okt. 1869 die Aufhebung des Konkordats. Das agitatorische Auftreten der Slawen in S., das seit 1880 von der Regierung begünstigt wurde, bewirkte nun, daß das Deutschtum sich um so kräftiger regte und die deutsch-nationale Partei in S. eine Hauptstütze hatte. Vgl. A. J. Cäsar, Staats- und Kirchengeschichte Steiermarks (Graz 1785-87, 7 Bde.); v. Muchar, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1844-67, 8 Bde., reicht bis 1566); Gebler, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1862); Reichel, Abriß der steirischen Landesgeschichte (2. Aufl., das. 1884); "Mitteilungen des Historischen Vereins für S." (das. seit 1850); "Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen" (das. 1864 ff.); Zahn, Urkundenbuch des Herzogtums S. (das. 1875-79, 2 Bde.).

Steifensand, Xaver, Kupferstecher, geb. 1809 zu Kaster (Regierungsbezirk Köln), bezog 1832 die Kunstakademie in Düsseldorf und bildete sich, nachdem er den Stich der heil. Katharina nach Raffael von Desnoyers in Linienmanier kopiert hatte, unter Felsing in Darmstadt weiter aus. Nach seiner Rückkehr nach Düsseldorf war sein erstes größeres Werk (1844) der Stahlstich: das Gewitter, nach Jakob Becker für den

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Steigbügel - Stein.

Rheinischen Kunstverein, worauf eine Madonna mit dem schlafenden Kind, nach Overbeck (1846), Friedrich II. mit seinem Kanzler Peter de Vineis, nach Jul. Schrader (1847, Stahlstich), die Gefangennehmung des Papstes Paschalis II. durch Heinrich V., nach Lessing, und einige Porträte folgten. In den 50er Jahren entstanden: Mirjam, nach Köhler; der Christusknabe, nach Deger; die Christnacht, nach Mintrop, u. a. m. Nach Vollendung des Stichs der Regina coeli, nach Karl Müller, begann er sein größtes Werk, die Anbetung der Könige, nach Paul Veronese (in Dresden), das, erst 1873 vollendet, ihm mehrere Auszeichnungen eintrug. Er starb 6. Jan. 1876.

Steigbügel, metallener Halbring mit Platte (Sohle) unter demselben, der an den Steigriemen, Strippen von starkem Leder, zu beiden Seiten des Sattels herabhängt und zum Einsetzen des Fußes beim Reiten dient. Bei den Türken und mehreren asiatischen Völkern ist die Sohle so groß, daß die ganze Fußsohle darauf ruhen kann, und ersetzt mit ihren scharfen Ecken die Sporen. Die Alten kannten die S. nicht, die erst zur Zeit Ottos I. aufgekommen zu sein scheinen. - Auch heißt S. (stapes) eins der drei Gehörknöchelchen (s. Ohr, S. 349).

Steigentesch, August Ernst, Freiherr von, Dichter und Schriftsteller, geb. 12. Jan. 1774 zu Hildesheim als Sohn eines kurmainzischen Kabinettsministers, trat frühzeitig in österreichische Militärdienste und war eifrig als Soldat und Diplomat, auch an der Seite des Generals Fürsten Schwarzenberg, gegen Napoleon I. thätig. Er avancierte bis zum Generalmajor und war bis 1820 österreichischer Militärbevollmächtigter am Bundestag. Er starb 30. Dez. 1826 in Wien. Außer zahlreichen Lustspielen, in denen er die kleinen Schwächen und Thorheiten der Menschen mit großer Wahrheit schilderte, und die sich lange auf der Bühne erhielten, veröffentlichte er auch Gedichte (4. Aufl., Darmst. 1823) und eine Reihe von Erzählungen. Seine "Gesammelten Schriften" erschienen in 6 Bänden (Darmst. 1820).

Steiger, s. Bergleute.

Steigerschulen, s. Bergschulen.

Steigerung, in der Grammatik, s. Komparation.

Steigerwald, ein auf der fränk. Terrasse ziemlich isoliert liegendes, nach W. sehr steil, nach O. ganz allmählich abfallendes, mit reichen Nadelholzwaldungen bedecktes Gebirge auf der Grenze zwischen den bayrischen Regierungsbezirken Ober-, Mittel- und Unterfranken, in dem westlich von Bamberg befindlichen Mainwinkel zwischen Eltmann, Kitzingen und Uffenheim gelegen, bedeckt 440 qkm (8 QM.), erhebt sich in seinen höchsten Spitzen, dem Frankenberg und Hohenlandsberg (nördlich von Uffenheim), bis zu 512 und 505 m und gibt den Flüssen Aurach und Ebrach den Ursprung. Auf der Westseite bildet der Schwan- oder Schwabenberg (473 m) einen vorgeschobenen Punkt.

Steigkunst, s. Fahrkunst.

Steigrad (Hemmungsrad), eine Art Sperrrad, welches in regelmäßigen, durch die Pendelschwingungen bedingten Zeiträumen arretiert wird.

Steigriemenlaufen, s. Spießrutenlaufen.

Steigrohr, ein Rohr, in welchem eine Flüssigkeit durch Druck emporgetrieben wird.

Stein, im gewöhnlichen Leben jedes feste anorganische Naturprodukt, welches aber ein Mineral oder ein Gestein sein kann; in der Metallurgie s. v. w. Lech.

Stein (Konkrement), in der Medizin Ablagerungen, bestehend aus anorganischen Massen, namentlich Kalksalzen der Oxal- und Harnsäure und Cholesterin, welche sich in Hohlräumen oder Flüssigkeit führenden Kanälen unter krankhaften Verhältnissen bilden. Sie kommen vor in der Harnblase, in der Gallenblase, in den Gallengängen, im Darm (Darm- oder Kotsteine), in der Harnröhre, in der Vorsteherdrüse, in den Nieren, den Bronchien, in den Speichelgängen u. a. O. Sie entstehen entweder infolge von Katarrhen der betreffenden Schleimhäute, oder infolge einer Veränderung der Absonderung, oder als Niederschläge um von außen eingedrungene Fremdkörper herum. Sie sind bisweilen sehr klein, in der Harnblase des Menschen kommen aber Steine bis zu 500 g und darüber vor, im Darm von Pferden Kotsteine bis zu 5 kg. Sie finden sich einzeln oder zu mehreren, in der menschlichen Gallenblase bis zu 300; im letztern Fall schleifen sie sich gegenseitig ab und gehen aus der meist rundlichen Form in polygonale, facettierte Körper über. Sie hemmen die Zirkulation der Sekrete und bedingen Katarrhe und Verschwärungen, die meist unter den lebhaftesten Schmerzen in sogen. Koliken verlaufen. Werden sie nicht aufgelöst oder ausgestoßen, so werden sie nicht selten die Quelle lebensgefährlicher Störungen und Veranlassung zu eingreifenden Operationen.

Stein, Gewicht für Wolle, Flachs etc. in Preußen, Sachsen, Österreich früher = 0,2 Ztr.; in England (stone) à 14 Pfd. Avoirdupois = 6,350 kg; in den Niederlanden früher = 3 kg; in Schweden = 13,602 kg.

Stein, 1) (S. am Rhein) Landstädtchen in einer Parzelle des schweizer. Kantons Schaffhausen, am Ausfluß des Rheins aus dem Untersee (Bodensee) und an der Bahnlinie Singen-Winterthur, mit (1880) 1364 Einw. Das ehemalige Kloster St. Georg mit gotischem Kreuzgang und einem durch Holzschnitzerei reichverzierten Saal ist jetzt im Privatbesitz. Dabei das Schloß Hohen-Klingen. Vgl. Ziegler, Geschichte der Stadt S. (Schaffh. 1862); Vetter, Das St. Georgenkloster zu S. am Rhein (Lindau 1884). -

2) Stadt in der niederösterreich. Bezirkshauptmannschaft Krems, an der Donau, über welche eine Brücke nach dem gegenüberliegenden Mautern führt, mit Krems durch eine Häuserreihe ("Und" genannt) zusammenhängend, hat Schloßruinen, ein Zellengefängnis, eine große Tabaks- und eine Holzwarenfabrik, bildet einen wichtigen Landungsplatz für die Donauschiffahrt und zählt (1880) 4069 Einw., welche hauptsächlich Weinbau betreiben. S. ist Sitz einer Finanzbezirksdirektion. -

3) Stadt in Krain, am Feistritzfluß und an der Lokalbahn Laibach-S., Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat eine Kaltwasserheilanstalt, Franziskanerkloster, Schießpulverfabrik, Thonwaren- und Zementfabrikation und (1880) 1963 Einw. Über der Stadt erhebt sich die Ruine Kleinfeste. Dabei eine sehenswerte dreigeschossige Kirche. S. bildet den Ausgangspunkt für die nördlich gelegenen Steiner Alpen (s.d.). -

4) Dorf im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, Bezirksamt Nürnberg, an der Regnitz und der Linie Krailsheim-Nürnberg-Furth i. W. der Bayrischen Staatsbahn, 298 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, drei Bleistiftfabriken (darunter die weltberühmte Fabersche Fabrik mit 400 Arbeitern), eine Papierfabrik und (1885) 2054 Einw.

Stein, 1) Charlotte von, durch ihre Beziehung zu Goethe der deutschen Literaturgeschichte angehörig, geb. 25. Dez. 1742 zu Weimar, Tochter des Hofmarschalls v. Schardt daselbst, vermählte sich als Hofdame der Herzogin Amalia 1764 mit dem herzoglichen Stallmeister Friedrich v. S. Eine schwärmerische Verehrerin von Goethe, lernte sie denselben im

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Stein (Freiherr vom und zum).

November 1775 zuerst persönlich kennen und wurde, wiewohl fast sieben Jahre älter als er und bereits Mutter von sieben Kindern, von ihm bald glühend geliebt. Die Innigkeit des eigentümlichen Verhältnisses, das auf Goethes Leben und Dichten von großem Einfluß war, litt später unter Charlottens wachsenden Ansprüchen und endete nach Goethes Rückkehr aus Italien (1788) mit einem gewaltsamen Bruch, welcher sich in einer 1794 von Charlotte gedichteten Tragödie "Dido" (hrsg. von Otto Volger, Leipz. 1867) in peinlicher Weise kundgibt. Erst nach vielen Jahren gestaltete sich zwischen beiden wieder ein gewisses Freundschaftsverhältnis, das bis zum Tode der Frau v. S., die bereits 1793 Witwe geworden, dauerte. Sie starb 6. Jan. 1827 in Weimar. Charlottens schönstes Ehrendenkmal bleiben "Goethes Briefe an Frau v. S. aus den Jahren 1776-1820" (hrsg. von A. Schöll, Weim. 1848-51, 3 Bde.; 2. vervollständigte Ausg. von Fielitz, Frankf. a. M. 1883-85, in welcher auch "Dido" abgedruckt ist). Eine wertvolle Ergänzung haben dieselben erhalten durch die von Goethe aus Italien an sie gerichteten, aber von ihm für die Ausarbeitung seiner "Italienischen Reise" zurückerbetenen Briefe, die, bisher im Goetheschen Hausarchiv zu Weimar aufbewahrt, neuerdings durch die Goethe-Gesellschaft (Weim. 1886) veröffentlicht wurden. Ihre eignen Briefe an Goethe hatte Frau v. S. sich zurückgeben lassen und kurz vor ihrem Tod verbrannt. Zahlreiche Briefe derselben sind in dem Werk "Charlotte von Schiller und ihre Freunde" (Bd. 2, Stuttg. 1862), enthalten. Gegen mancherlei Anklagen, die neuerlich erhoben worden sind, rechtfertigt sie H. Düntzer in "Charlotte v. S." (Stuttg. 1874). Vgl. auch dessen "Charlotte v. S. und Corona Schröter" (Stuttg. 1876); Höfer, Goethe und Charlotte v. S. (das. 1878).

2) Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum, berühmter deutscher Staatsmann, geb. 26. Okt. 1757 zu Nassau an der Lahn aus einem alten reichsfreiherrlichen Geschlecht, Sohn des kurmainzischen Geheimrats Philipp von S., widmete sich von 1773 bis 1777 in Göttingen dem Studium der Rechte und der Staatswirtschaft, arbeitete ein Jahr beim Reichskammergericht in Wetzlar, unternahm eine Reise durch einen Teil von Europa, trat dann, entgegen den Traditionen seines Hauses, in den preußischen Staatsdienst und erhielt 1780 eine Anstellung als Bergrat zu Wetter in der Grafschaft Mark. Schon 1782 ward er zum Oberbergrat befördert, und im Februar 1784 erhielt er die Oberleitung der westfälischen Bergämter. 1793 erfolgte seine Ernennung zum Kammerdirektor in Hamm, 1795 zum Präsidenten der märkischen Kriegs- und Domänenkammer und 1796 zum Oberpräsidenten aller westfälischen Kammern, in welcher Stellung er sich die größten Verdienste namentlich um den Chausseebau und die Forsten sowie um Hebung der Gewerbthätigkeit und Belebung des Handels erwarb. Im Oktober 1804 als Minister des Accise-, Zoll-, Salz-, Fabrik- und Kommerzialwesens nach Berlin in das Generaldirektorium berufen, bewirkte er die Aufhebung sämtlicher binnenländischer Zölle im Innern von Preußen, errichtete das Statistische Büreau und schuf als Erleichterungsmittel für den Handel und Verkehr Papiergeld. Vergeblich waren freilich seine Anstrengungen, den König zu einer kräftigen, würdigen Politik zu bewegen. Als er im Januar 1807 seinen Eintritt in das neue Ministerium von der Umgestaltung der obersten Verwaltungsstellen und insbesondere von der Beseitigung der Kabinettsregierung abhängig machte, erhielt er vom König in ungnädigster Weise den Abschied. Nach dem Tilsiter Frieden (Juli 1807) berief ihn derselbe jedoch wieder zu sich, um ihm als erstem Minister das große Werk der Neugestaltung des Staats zu übertragen. Steins Plan war: das Volk wieder für die Teilnahme am Staat und seinen Zwecken zu beleben und an der Leitung desselben zu beteiligen, die bisher unterdrückten Stände von den aus dem Mittelalter überkommenen Lasten und Fesseln zu befreien und ein allgemeines freies Staatsbürgertum zu gründen. Die Weise, wie er diese Reform anstrebte, zeugt ebenso von seinem echt deutschen Geist wie von tiefer staatsmännischer Einsicht. Im September 1807 übernahm er sein neues Amt, und 9. Okt. erschien bereits das Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse des Grundeigentümers betreffend. Ein andres Gesetz überließ den Domanialbauern ihr Land zu unumschränktem Grundeigentum. Seine Städteordnung vom 19. Nov. 1808 bildet noch jetzt die Grundlage der Rechtsverhältnisse der preußischen Städte. Damit das so in seinen Verhältnissen und Rechten sittlich und geistig gehobene Volk auch das Bewußtsein seiner Kraft und Mut zur Abwerfung des Fremdenjochs gewinne, unternahm S. darauf mit Scharnhorst die Herstellung einer volkstümlichen Wehrverfassung. Aber kaum ein Jahr hatte S. als Minister gewaltet, als er durch einen Machtbefehl Napoleons I., dem ein aufgefangener Brief Steins an den Fürsten von Wittgenstein seine Hoffnung, bald das französische Joch abzuschütteln, verraten hatte, 24. Nov. 1808 seinen Abschied zu nehmen und 16. Dez. förmlich geächtet aus Preußen zu fliehen gezwungen wurde. Ehe er sein Vaterland verließ, legte er die Grundsätze seiner Staatsverwaltung in einem Sendschreiben an die oberste Verwaltungsbehörde nieder, welches unter der Bezeichnung "Steins politisches Testament" weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Von der westfälischen Regierung gerichtlich verfolgt und seiner Güter beraubt, begab er sich nach Österreich, wo er abwechselnd in Brünn, Troppau und zuletzt dauernd in Prag lebte. Als zu befürchten stand, daß seine Auslieferung gefordert werden möchte, folgte er im Mai 1812 der Einladung des Kaisers Alexander I. nach Petersburg. Auch von dort aus aber wußte er durch seinen Einfluß auf den Kaiser sowie durch seine ausgedehnten Korrespondenzen und die Bildung einer russisch-deutschen Legion die spätere nationale Erhebung gegen Napoleon I. vorzubereiten. Nach der Katastrophe von 1812 kehrte er mit dem Kaiser nach Deutschland zurück und ward zum Vorsitzenden eines russisch-preußischen Verwaltungsrats für die deutschen Angelegenheiten ernannt, doch sah er sich in seiner Thätigkeit in dieser Stellung vielfach beengt. Als nach dem Sieg bei Leipzig 21. Okt. 1813 eine Zentralkommission für die Verwaltung aller durch die Truppen der Verbündeten besetzten Länder angeordnet worden war, übernahm S. den Vorsitz in derselben und erwarb sich trotz der ihm von den einzelnen Regierungen in den Weg gelegten Hindernisse durch tüchtige Verwaltung im Innern und Aufstellung zahlreicher Heerhaufen gegen den äußern Feind hohe Verdienste um das Gesamtvaterland. Die Zentralverwaltung folgte dem Heer der Verbündeten bis nach Paris. Von dort kehrte S. im Juni 1814 nach Berlin zurück und begab sich im September zum Kongreß nach Wien. Hier nahm er besonders an den Verhandlungen über die deutsche Frage teil. Dann zog er sich ins Privatleben zurück. Den Sommer brachte er meist auf seinen Gütern in Nassau,

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Stein - Steinach.

den Winter in Frankfurt a. M. zu, wo sich im Januar 1819 unter seinem Vorsitz die Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichte konstituierte. Ihr Werk ist die Herausgabe der "Monumenta Germaniae historica" (s. d.), für welche S. selbst viel sammelte. Mit der nassauischen Regierung in mancherlei Mißhelligkeiten geraten, siedelte er später auf sein Gut Kappenberg in Westfalen über. Nach der Einführung der Provinzialstände in Preußen 1823 ward er für den westfälischen Landtag zum Deputierten erwählt und vom König zum Landtagsmarschall ernannt. Auch die Verhandlungen der evangelischen Provinzialsynode Westfalens leitete er. 1827 ernannte ihn der König zum Mitglied des Staatsrats. S. starb 29. Juni 1831 in Kappenberg als der letzte seines Geschlechts, da ihn von den Kindern, die ihm seine Gemahlin, Gräfin Wilhelmine von Wallmoden-Gimborn, geboren, nur drei Töchter überlebten. 1872 ward ihm auf der Burg Nassau (von Pfuhl), 1874 in Berlin (von Schievelbein und Hagen) ein Standbild errichtet. Steins Denkschriften über deutsche Verfassungen wurden von Pertz (Berl. 1848) herausgegeben, Steins Briefe an den Freiherrn v. Gagern 1813-31 von diesem (Stuttg. 1833), sein Tagebuch während des Wiener Kongresses von M. Lehmann (in Sybels "Historischer Zeitschrift", Bd. 60). Vgl. Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom S. (Berl. 1849-55, 6 Bde.); Derselbe, Aus Steins Leben (das. 1856, 2 Bde.); Stern, S. und sein Zeitalter (Leipz. 1855); Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn vom S. (3. Aufl., Berl. 1869); M. Lehmann, S., Scharnhorst und Schön (Leipz. 1877); Seeley, Life and times of S. (Cambr. 1878, 3 Bde.; deutsch, Gotha 1883-87, 3 Bde.) und die kürzern Biographien von Reichenbach (Brem. 1880), Baur (Karlsr. 1885).

3) Christian Gottfried Daniel, Geograph, geb. 14. Okt. 1771 zu Leipzig, wo er studierte, wurde 1795 an das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin berufen, an welchem er bis zu seinem am 14. Juni 1830 erfolgten Tod wirkte. Von seinen zahlreichen Werken sind besonders zu nennen sein mit Hörschelmann begründetes "Handbuch der Geographie und Statistik" (Leipz. 1809, 3 Bde.; neubearbeitet von Wappäus, Delitsch, Meinicke u. a., 7. Aufl., das. 1853-71, 4 Bde.); "Geographie für Schule und Haus" (27. Aufl. von Wagner und Delitsch, das. 1877); "Geographisch-statistisches Zeitungs-, Post- und Komptoirlexikon" (2. Aufl., das. 1818-21, 4 Bde.; nebst zwei "Nachträgen", das. 1822-24); "Über den preußischen Staat nach seinem Länder- und Volksbestand" (Berl. 1818); "Handbuch der Geographie und Statistik des preußischen Staats" (das. 1819); "Reisen nach den vorzüglichsten Hauptstädten von Mitteleuropa" (Leipz. 1827-29, 7 Bde.). Sein "Neuer Atlas der ganzen Erde" (Leipz. 1814) erlebte in der Bearbeitung durch Ziegler, Lange u. a. eine 33. Auflage (28 Karten mit Tabellen etc., das. 1875).

4) Leopold, jüd. Theolog, geb. 5. Nov. 1810 zu Burgpreppach (Bayern), bildete sich auf der Talmudschule in Fürth und den Universitäten zu Erlangen und Würzburg, ward 1834 Rabbiner in Burgkundstadt, 1843 in Frankfurt a. M., wo er nach Niederlegung des Rabbinats 1864-74 einer höhern Töchterschule vorstand und 2. Dez. 1882 starb. Er war der entschiedenste Vertreter der Reform des Judentums. Sein Hauptwerk ist: "Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesamten Judentums in Lehre, Gottesverehrung und Sittengesetz" (Mannh. 1868-77). Außerdem gab er verschiedene Predigtsammlungen und Zeitschriften ("Der israelitische Volkslehrer", 1851-60; "Freitagabend", 1860, etc.), mehrere Dramen ("Die Hasmonäer", Frankf. 1859; "Der Knabenraub von Carpentras", Berl. 1863, u. a.) heraus. Sein "Gebetbuch" (Straßb. u. Mannh. 1880-82, 2 Bde.) zeigt S. als formgewandten synagogalen Dichter.

5) Lorenz von, Staatsrechtslehrer und Nationalökonom, geb. 18. Nov. 1815 zu Eckernförde, studierte in Kiel und Jena Philosophie und Rechtswissenschaft, habilitierte sich dann als Privatdozent in Kiel und wurde 1846 Professor daselbst. Da er das Recht der Herzogtümer gegen die dänische Regierung verfocht und an der Schrift der neun Kieler Professoren über diesen Gegenstand Anteil nahm, wurde er 1852 aus dem Staatsdienst entlassen. Er folgte 1855 einem Ruf als Professor der Staatswissenschaften an die Universität zu Wien, an welcher er bis zu seiner 1885 erfolgten Pensionierung wirkte. Seine Schriften sind sehr zahlreich; wir nennen: "Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich" (Leipz. 1842, 2. Aufl. 1847); "Die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der dritten französischen Revolution" (Stuttg. 1818); "Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage" (Leipz. 1850, 3 Bde.); "Geschichte des französischen Strafrechts" (Bas. 1847); "Französische Staats- und Rechtsgeschichte" (das. 1846-48, 3 Bde.); "System der Staatswissenschaft" (Bd. 1: Statistik etc., das. 1852; Bd. 2: Gesellschaftslehre, das. 1857); "Die neue Gestaltung der Geld- und Kreditverhältnisse in Österreich" (Wien 1855); "Lehrbuch der Volkswirtschaft" (das. 1858; 3. Aufl. als "Lehrbuch der Nationalökonomie", 3. Aufl. 1887); "Lehrbuch der Finanzwissenschaft" (Leipz. 1860; 5. Aufl. 1885-86, 4 Bde.); "Die Lehre vom Heerwesen" (Stuttg. 1872). Sein bedeutendstes Werk ist die "Verwaltungslehre" (Stuttg. 1865-84, 8 Bde.), eine umfassende, nicht zum Abschluß gelangte Behandlung desjenigen Gegenstandes, den man sonst als Polizeiwissenschaft zu behandeln pflegt. Eine kompendiöse Zusammenfassung der ganzen Wissenschaft ist das "Handbuch der Verwaltungslehre" (Stuttg. 1870; 3. Aufl. 1889, 3 Bde.). Außerdem schrieb er: "Zur Eisenbahnrechtsbildung" (Wien 1872); "Die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonomie" (Stuttg. 1875, 6. Aufl. 1886); "Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands" (das. 1876); "Der Wucher und sein Recht" (Wien 1880); "Die drei Fragen des Grundbesitzes und seiner Zukunft" (Stuttg. 1881). Das Eigentümliche der Werke Steins besteht darin, daß er die Hegelsche Dialektik auf das Gebiet der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaft anwandte, um an der Hand derselben die Systematik dieser Wissenschaften zu verbessern. Doch hat er darüber die Hinwendung auf das Geschichtliche nicht vernachlässigt.

Steinach, 1) Marktflecken im meining. Kreise Sonneberg, im freundlichen Thal der Steinach, eines Nebenflusses der Rodach, an der Sekundärbahn Sonneberg-Lauscha (Werrabahn), hat ein Amtsgericht, Amtseinnahme, Forstei, ein Schloß, Verfertigung von Kisten, Schachteln, Schiefertafeln, Griffeln, Spielwaren etc., Wetzstein- und Schieferbrüche, Eisensteingruben, eine Glashütte, Schneide- und Märmelmühlen, Bierbrauerei und (1885) 4743 Einw. Aufwärts im Thal das Eisenhüttenwerk Obersteinach. Am Fellberg, 3 km von S., die ersten und lange Zeit einzigen bedeutenden Griffelschieferbrüche in Deutschland. -

2) Marktflecken in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, im Wippthal, an der Mündung des Gschnitzthals und an der Brennerbahn gelegen,

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Steinalter - Steinberge.

beliebte Sommerfrische, hat eine Pfarrkirche mit guten Gemälden, ein Bezirksgericht und (1880) 643 Einw.

Steinalter, s. Steinzeit.

Steinamanger (ungar. Szombathely), Stadt im ungar. Komitat Eisenburg, Knotenpunkt der Österreichischen Süd- und Ungarischen Westbahn und Sitz des Komitats, eines römisch-katholischen Bischofs und eines Gerichtshofs, mit bischöflichem Palais und Park, Franziskaner- und Dominikanerkloster, schöner zweitürmiger Domkirche, hübschem Komitatshaus und (1881) 10,820 Einw. S. hat eine große Eisenbahnwerkstätte, eine Gasfabrik, ein Obergymnasium, ein Seminar, eine theologische Diözesanlehranstalt, ein Theater und ein archäologisches Museum. S., das an der Stelle des römischen Savaria (s. d.) steht, ist von Rebenhügeln umgeben und Fundort zahlreicher römischer Altertümer.

Stein, armenischer, s. Lasurstein.

Steinau, 1) (S. an der Straße) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schlüchtern, an der Kinzig und der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn, 169 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein Schloß, ein Amtsgericht, Zigarren-, Wagen- und Steingutwarenfabrikation, eine Dampfmolkerei, eine Dampfziegelei, Bierbrauerei und (1885) 2189 meist evang. Einwohner. -

2) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, an der Oder und der Linie Breslau-Stettin der Preußischen Staatsbahn, 97 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Schullehrerseminar, 2 Krankenhäuser, ein Amtsgericht, Fabrikation von Öfen, Thonwaren und Möbeln, eine Maschinen- u. eine Schiffbauanstalt und (1885) 3636 meist evang. Einwohner. S. erhielt 1215 deutsches Stadtrecht. Am 11. Okt. 1633 Sieg Wallensteins über die Schweden und Sachsen unter Thurn, welcher sich mit 12,000 Mann ergeben mußte. Vgl. Schubert, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1885).

Steinäxte, Steinmesser etc., s. Steinzeit.

Steinbach, Stadt im bad. Kreis Baden, an der Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 151 m ü. M., hat eine kath. Kirche, eine Bezirksforstei, Essig- und Mostrichfabrikation, bedeutenden Weinbau (Affenthaler) und (1885) 2055 meist kath. Einwohner. S. ist Geburtsort Erwins von S., dem 1844 auf einem nahen Hügel ein Denkmal errichtet ward.

Steinbach, s. Erwin von Steinbach.

Steinbach-Hallenberg, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schmalkalden, an der Schwarza und an der Eisenbahn Zella-Schmalkalden, 438 m ü. M., hat eine imposante Burgruine, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Fabrikation von Eisenkurzwaren, gedrechselten Holzwaren, mehrere Eisenhämmer, Schneidemühlen, Braunsteingruben und (1885) 3116 evang. Einwohner.

Steinbearbeitung, s. Steine.

Steinbeere (Steinfrucht, Drupa), eine Art der Schließfrüchte, von den Beeren dadurch unterschieden, daß auf den saftigen Teil der Frucht nach innen eine saftlose, meist harte Schicht (das Endokarp) folgt, welche in einer einfachen oder mehrfächerigen Höhlung erst den eigentlichen Samen einschließt und Steinkern oder Steinschale (Putamen) genannt wird. Der Steinkern ist meist von holzartiger, knochen- oder steinartiger Härte, wie beim Walnußbaum und bei den Amygdalaceen, die deshalb auch Steinobstgehölze heißen. Bei den Pomaceen ist dagegen der hier mehrfächerige Steinkern mit wenigen Ausnahmen nur aus einer dünnen, pergamentartigen Schicht gebildet. Das Fleisch der S. ist entweder saftig, wie bei den meisten Amygdalaceen, oder saftlos, wie bei der Mandel und Walnuß, oder trocken und faserig, wie bei der Kokosnuß. Zusammengesetzte Steinbeeren sind die Brombeeren und Himbeeren, indem hier die zahlreichen auf dem Blütenboden sitzenden Steinfrüchtchen zusammenhängen und als Ganzes sich ablösen.

Steinbeere, s. Paris und Vaccinium

Steinbeis, Ferdinand von, geb. 5. Mai 1807 zu Ölbronn in Württemberg, erlernte seit 1821 zu Wasseralfingen und Abtsgmünd den Berg- und Hüttenbetrieb, studierte in Tübingen Mathematik und Naturwissenschaft und trat 1827 in die Verwaltung des Staatseisenwerks Ludwigsthal ein. 1830 wurde er Betriebsdirektor der Hüttenwerke des Fürsten zu Fürstenberg, folgte dann einem Ruf der Gebrüder Stumm in Neunkirchen bei Saarbrücken zur Betriebsleitung und zum Umbau ihrer Eisenwerke und führte den in den Rheingegenden vergeblich versuchten Kokshochofenbetrieb mit großen Vorteilen in der Materialersparnis und der Qualität der Produkte ein. 1848 wurde er Mitglied der neubegründeten Zentralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart, deren Präsidium ihm 1855 zufiel. Zu besonderm Ruf gelangten das von ihm 1849 begonnene württembergische Gewerbemuseum und der unter seiner Leitung entstandene, über das ganze Land verbreitete Fortbildungsunterricht, welchem auch die Frauenarbeitsschulen angehören. Nach dem im Gewerbemuseum befolgten Plan, der 1851 durch die Ausstellung in London bekannter wurde, legten die Engländer das Kensington-Museum (allerdings mit viel bedeutendern Mitteln) an, welches wiederum das Vorbild für derartige Museen in allen Industrieländern geworden ist. 1848 wurde S. zu dem in Frankfurt a. M. thätigen Ausschuß des Allgemeinen Deutschen Vereins zum Schutz der vaterländischen Arbeit entsandt und unterstützte die schutzzöllnerischen Bestrebungen desselben bis zur Auflösung des Parlaments, während er seit 1862 mehr dem Freihandel zuneigte. Von 185l an war S. als Kommissar und Preisrichter auf fast allen Universalausstellungen thätig. In dem seit 1849 von ihm redigierten "Gewerbeblatt" publizierte er eine große Zahl technischer und volkswirtschaftlicher Aufsätze. Außerdem schrieb er: "Die Elemente der Gewerbebeförderung, nachgewiesen an der belgischen Industrie" (Stuttg. 1853); "Entstehung und Entwickelung der gewerblichen Fortbildungsschule in Württemberg" (das. 1872). Für seine vielfachen Verdienste um die Industrie wurde S. der persönliche Adel verliehen, und nach der Pariser Industrieausstellung begründete eine große Anzahl Industrieller eine S.-Stiftung zur Ausbildung u. Unterstützung der gewerblichen Jugend. Seit 1880 lebt S. in Leipzig.

Steinbeißer, s. v. w. Kirschkernbeißer (s. Kernbeißer) und Steinschmätzer.

Steinberge (Crannoges, Holzinseln), den schweizerischen Pfahlbauten ähnliche, aus Erde und Steinen in Verbindung mit Pfählen hergestellte vorgeschichtliche Konstruktionen in Irland, besonders auf den durch die Gewässer des Shannon gebildeten Inseln, die im Winter unter Wasser stehen. Lubbock ("Die vorgeschichtliche Zeit", Jena 1874, Bd. 1, S. 174) gibt die Abbildung eines Durchschnitts durch einen solchen Wasserbau. Knochen von Haus- und Jagdtieren, Stein-, Knochen-, Bronze- und Eisengeräte wurden auf den Steinbergen in großen Mengen angetroffen. Die S. sind als Festungen und Zufluchtsorte der kleinen irischen Häuptlinge noch im 16. Jahrh. bewohnt gewesen. Vgl. Martin, The lake dwellings of Ireland (Dublin 1886).

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Steinberger - Steinbrechmaschine.

Steinberger, Rheinweinsorte erster Güte, die am Stein bei Hochheim (s. d.) erzeugt wird; s. Rheinweine.

Steinbock (Ibex Wagn.), Untergattung der Gattung Ziege (Capra L.), durch die vorn abgeplatteten Hörner ohne Kiel mit knotigen Querwülsten charakterisiert, umfaßt mehrere den höchsten Gebirgen der Alten Welt angehörige Tiere, über deren Artverschiedenheit nichts Sicheres bekannt ist. Man kennt Steinböcke auf den europäischen Alpen, auf den Pyrenäen (Bergbock) und andern spanischen Gebirgen, auf dem Kaukasus, den Hochgebirgen Asiens, im Steinigen Arabien, in Abessinien und auf dem Himalaja.

Der Alpensteinbock (Capra Ibex L.), 1,5-1,6 m lang, 80-85 cm hoch, der Bock mit sehr starkem, 80-100 cm langem, bogen- oder halbmondförmig schief nach rückwärts gebogenem Gehörn, welches beim Weibchen bedeutend kleiner und mehr hausziegenartig ist. Der Körper ist gedrungen und stark, der Hals von mittlerer Länge, der Kopf verhältnismäßig klein, aber an der Stirn stark gewölbt; die Beine sind kräftig und von mittlerer Höhe. Die Behaarung ist rauh und dicht, am Hinterkopf, Nacken und Unterkiefer verlängert, im Sommer rötlichgrau, im Winter fahl gelblichgrau. Längs der Mitte des Rückens verläuft ein schwach abgesetzter, hellbrauner Streifen; Stirn, Scheitel, Nase, Rücken und Kehle sind dunkelbraun; die Mitte des Unterleibs ist weiß.

Der S. der Alpen ist wie die Steinböcke der andern Hochgebirge und wie die Gemse ein wahres Alpentier; er lebt in Rudeln von verschiedener Stärke und steigt nur dann in die Waldregion herab, wenn die Alpenkräuter, seine Nahrung, vom Schnee bedeckt sind. Alle seine Bewegungen sind rasch und leicht; er klettert mit außerordentlicher Gewandtheit und weiß an den steilsten Felsenwänden Fuß zu fassen, auch springt er mit größter Sicherheit und verfehlt nie sein Ziel. Mit Sonnenaufgang steigen sie weidend bergauf, lagern sich an den wärmsten und höchsten Plätzen und kehren gegen Abend weidend zurück, um die Nacht in den Wäldern weidend zu verbringen. Die Brunstzeit fällt in den Januar, und fünf Monate nach der Paarung wirft das Weibchen ein oder zwei Junge, welche sie in der Gefahr tapfer verteidigt. Jung eingefangene Steinböcke werden leicht zahm, doch bricht die Wildheit im Alter wieder hervor. Während der S. in der Mammut- und Renntierzeit durch die ganze Schweiz, einen Teil Südfrankreichs und (wahrscheinlich) bis Belgien verbreitet war, noch von Plinius kenntlich als Hochgebirgsstier erwähnt wurde, auch im frühen Mittelalter bei den St. Galler Mönchen als Wildbret beliebt war und noch von Albertus Magnus zur Hohenstaufenzeit als häufig in den Deutschen Alpen bezeichnet wurde, ist der Bestand desselben in den letzten Jahrhunderten schnell zusammengeschmolzen; 1550 wurde der letzte in Glarus, 1583 der letzte am Gotthard erlegt; 1574 war er in Graubünden kaum noch aufzutreiben; 1706 verschwand er aus dem Zillerthal, wo er über ein Jahrhundert von den Erzbischöfen von Salzburg beschützt worden war, so daß schon im vorigen Jahrhundert sein natürliches Vorkommen auf die Hochgebirge des südlichen Wallis, Savoyens und Piemonts sich beschränkte. Mehrfache Versuche, ihn an einzelnen Stellen der Schweiz und den Österreichischen Alpen wieder einzubürgern, haben keinen dauernden Erfolg gehabt, nur im Höllensteingebirge am Traunsee soll sich eine Kolonie erhalten und fortgepflanzt haben. Gegenwärtig findet sich nur noch in den Thälern, welche vom Aostathal in südwestlicher Richtung streichen, durch strengste Maßregeln des Königs Viktor Emanuel geschützt, eine Anzahl von 300 bis 500 Stück, die aber doch trotz allen Schutzes an Terrain eher zu verlieren als zu gewinnen scheinen. Nur einzelne alte Böcke finden sich oft weit versprengt bisweilen noch in andern Gebieten. Im Aostathal legte der König auch ein Gehege für Steinbockzucht an und erzielte durch eine ausgewählte Ziegenart, welche in das Gebirge zu den wilden Steinböcken getrieben wurde und von dort trächtig zurückkehrte, eine Kolonie von Steinbockbastarden, welche nur sehr gute Kenner von den echten Steinböcken zu unterscheiden vermögen. Diese Steinbockbastarde haben 1 m lange Hörner und sind zur Fortpflanzung durchaus geeignet. Beim Tode des Königs kam der größte Teil des Bestandes von 52 Stück in das fürstlich Pleßsche Gehege in Salzau, 17 Stück aber wurden in Graubünden in Freiheit gesetzt, um das Rätische Gebirge mit Steinwild zu bevölkern. Vgl. Girtanner, Der Alpensteinbock (Trier 1878).

Steinbock, 1) das zehnte Zeichen des Tierkreises (^[...]);

2) Sternbild zwischen 301-326½° Rektaszension und 9¾-28 1/3° südl. Deklination, nach Heis 63 dem bloßen Auge sichtbare Sterne zählend, davon drei von dritter Größe.

Steinborn, Pfarrdorf im preuß. Regierungsbezirk Trier, Kreis Daun, in geognostisch merkwürdiger Gegend der Eifel, hat (1885) 282 kath. Einwohner. Dabei der Felsberg, Rimmerich, Errensberg und Scharteberg mit deutlich erkennbaren Lavaströmen.

Steinbrand, s. Brandpilze II.

Steinbrech, Pflanzengattung, s. Saxifraga.

Steinbrechartige Pflanzen, s. Saxifragaceen.

Steinbrecher, s. Adler, S. 122.

Steinbrechmaschine, mechan. Vorrichtung zur Zerkleinerung von Gesteinen, Erzen etc., welche vielfach an Stelle der sonst üblichen Pochwerke und Walzen angewandt wird, besteht im wesentlichen nach der Figur aus zwei im spitzen Winkel gegeneinander gestellten eisernen Platten a c, zwischen welche die zu zerbrechenden Steine geschüttet werden. Die eine Platte a steht fest, die andre ist um Zapfen f beweglich und nähert sich der feststehenden Platte durch die Wirkung eines Kniehebels g h g', welcher sich gegen a' stützt, während die Rückbewegung durch das Gewicht der Platte, unterstützt durch eine Feder i, erfolgt. Bei dieser Rückbewegung findet natürlich eine Erweiterung des Brechmauls r statt, welche dem darin befindlichen Steinmaterial Gelegenheit gibt, tiefer zu sinken, bis es wieder fest anliegt; die hierauf folgende Verengerung wird sodann, wenn der Winkel zwischen beiden

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Steinbruch - Steindienst.

Backen genügend klein gewählt ist, um ein Ausweichen der Steine nach oben auszuschließen, die Zerdrückung zur Folge haben. Bei rasch aufeinander folgender Wiederholung dieser Schwingungen des Backens c, hervorgerufen durch das Exzenter k, welches auf der Welle des Schwungrades l sitzt, werden sonach die oben aufgegebenen großen Steine immer tiefer einsinken und allmählich zu immer feinerm Korn zerdrückt. Die Maschine arbeitet demnach kontinuierlich, indem regelmäßig oben aufgegeben und unten abgezogen werden kann. Um die Maschine selbst vor Abnutzung zu schützen und gleichzeitig die Form des Backenquerschnitts für verschiedenes Material verschieden wählen zu können, sind die Backen noch mit besondern Druckplatten b d aus hart gegossenem Gußeisen von wellenförmigem Querschnitt versehen, welche nach Bedarf ausgewechselt oder erneuert werden können. Der Antrieb der Maschine erfolgt durch Riemenscheibe von einem Dampf- oder Wassermotor aus, und ein Schwungrad l dient zur Regulierung des Widerstandes. Die S. von Blake zerkleinerte in der Stunde 200 Ztr. harten, körnigen Granit zu brauchbarem Chausseematerial, wenn die Betriebsarbeit 5 Pferdekräften entsprach.

Steinbruch (ungar. Köbánya), Ort bei Budapest in Ungarn und Station der Österreichisch-Ungarischen sowie der Ungarischen Staatsbahn, hat (1881) 8804 Einw., 2 große Bierbrauereien, Schweinemastanstalten und 2 Hochreservoirs der Budapester Wasserleitung und bildet den 10. Bezirk der ungarischen Hauptstadt (s. Budapest, S. 588).

Steinbrüche, s. Steine.

Steinbrück, Eduard, Maler, geb. 3 Mai 1802 zu Magdeburg, widmete sich in Berlin unter Wach der Kunst, ging 1829 nach Düsseldorf, dann nach Rom, lebte von 1830 bis 1833 wieder in Berlin, darauf bis 1846 in Düsseldorf, seitdem abermals in Berlin und zog sich im März 1876 nach Landeck in Schlesien zurück, wo er 3. Febr. 1882 starb. Seine Bilder, deren Motive meist der Sage und der Dichtung entnommen sind, tragen in der empfindsamen Auffassung wie in dem zarten, weichen Kolorit das Gepräge der Düsseldorfer Romantik. Die hervorragendsten derselben sind: Genoveva, Rotkäppchen, Nymphe der Düssel, Fischerfrau am Strand, Undine, die Magdeburger Jungfrauen, welche sich während der Plünderung der Stadt 1631 von den Wällen herabstürzen, und Maria bei den Elfen, nach Tiecks Märchen (1840, in der Nationalgalerie zu Berlin).

Steinbühler Gelb, s. v. w. chromsaurer Baryt oder chromsaurer Kalikalk, welcher aus Chlorcalciumlösung durch chromsaures Kali gefällt wird und einen schön gelben Farbstoff bildet.

Steinburg, Kreis in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, benannt nach einer alten Burg, östlich von Krempe, mit der Hauptstadt Itzehoe.

Steinbutt, s. Schollen.

Steinbutter, s. Bergbutter.

Steindattel (Lithodomus lithophagus Cuv.), Muschel aus der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), lebt an den Ufern des Mittelmeers in Felslöchern oder in Steinkorallen, in welche sie sich auf noch nicht sicher ermittelte Weise einbohrt. Wahrscheinlich sondert sie einen kalkauflösenden Saft ab, da sie nicht wie die Bohrmuschel (s. d.) sich durch Feilen helfen kann. Die Bohrlöcher sind innen völlig glatt. Besonders interessant ist ihr Vorkommen in den Säulen des sogen. Serapistempels von Pozzuoli bei Neapel. Sie nehmen dort eine scharf begrenzte, etwa 2 m hohe Zone ein und beweisen so, daß der Tempel nach seiner Erbauung eine geraume Zeit im Wasser gestanden haben muß. Da er aber gegenwärtig wieder auf dem Trocknen steht, so hat man darin wahrscheinlich ein Beispiel von Senkung und Hebung des Meeresbodens in vulkanischer Gegend und zu historischer Zeit (weiteres s. Hebung; vgl. indes Brauns, Das Problem des Serapeums zu Pozzuoli, Halle 1888).

Stein der Weisen, s. Alchimie.

Steindienst (Steinkultus), die dem gesamten Heidentum der Vorzeit und Jetztwelt eigentümliche Verehrung erwählter Steine, sei es roher oder behauener, und zwar als Fetisch, Idol der Gottheit oder als Opferstein. Die roheste und ursprünglichste Form scheint diejenige zu sein, in welcher das Naturkind irgend einen beliebigen Stein erwählt und zu seinem Fetisch macht. Die Dakota Nordamerikas nehmen einen runden Kieselstein und bemalen ihn, dann reden sie ihn Großvater an, bringen ihm Opfer und bitten ihn, sie aus der Gefahr zu erretten. Ähnliches beobachtete man in Südamerika, in der Südsee, an vielen Orten Afrikas, Lapplands, Indiens etc. Bei den Kulturvölkern der Alten Welt finden sich ähnliche Gebräuche, die aber meist nur Meteorsteinen und prähistorischen Steinwaffen oder Werkzeugen, die man für vom Himmel gefallene Waffen der Götter, namentlich für Donnerkeile (Jupiter lapis-Kult), hielt und vielfach als Amulette trug, dargebracht wurden, wobei man bereits eine deutlichere Verknüpfung mit der übersinnlichen Welt gewahrt. Die hochgefeierten Palladien der Trojaner, Griechen und Römer waren meistens solche vom Himmel herabgefallene Göttergeschenke, die namentlich im Kulte der Kybele, Minerva und des Mars eine Rolle spielten. Anderseits scheint bei einer etwas höher gestiegenen religiösen Bildung eine Art von Vermählung der Gottheit mit einem bestimmten ihr errichteten Altarstein, Opfertisch oder Idol angenommen worden zu sein, sei es, daß man, wie im alten Ägypten, meinte, die Gottheit nehme in dem Stein Wohnung, oder auch, indem der Stein als uralte Opferstätte der Väter den Nimbus des nationalen Allerheiligsten eines Volkes oder Stammes erwarb. So wurden einfache Platten, Steinkegel, Opfertische etc. zu dem Ursymbol der Nationalgottheit, dem man sich mit dem höchsten religiösen Schauder näherte. Hierher gehören: der schwarze Stein von Pessinus, das berühmte konische Idol der Venus auf Cypern, der Stein, welcher bei den böotischen Festen als Vertreter des typischen Eros die höchsten Ehren genoß, der rohe Stein zu Hyettos, welcher "nach alter Weise" den Herakles darstellte, die 30 Steine, welche die Pharäaner in althergebrachter Weise an Stelle der Götter verehrten, die rohen Steinaltäre zu Bethel, Garizim und Jerusalem, der Steinkreis von Stonehenge (s. d.) als vornehmstes Beispiel der unzähligen, über die ganze Alte Welt verbreiteten Cromlechs (s.d.) etc. Tacitus sagt, wo er von der Verehrung der paphischen Venus als Steinkegel spricht, die Ursache ruhe im Dunkel (ratio in obscuro); allein wir werden kaum irre gehen, wenn wir in ihnen Überbleibsel aus einer rohern Urreligion suchen, die in dem philosophischer gewordenen Kultus Aufnahme fanden, wie z. B. so vielfach Isisbilder in "schwarze Madonnenbilder" umgewandelt worden sind. Durch die Beibehaltung des alten Idols besiegelte die neue Religion ihren Frieden mit der alten. Wir sehen ganz dasselbe bei dem heiligen Stein in der Kaaba (s. d.) zu Mekka und an der heiligen Steinplatte in der Moschee Omars zu Jerusalem, die eben uralte heilige Steine und Opferstätten der Araber und Juden waren, vielleicht seit Jahr-

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Steindrossel - Steine, künstliche.

tausenden vor dem Auftreten Mohammeds. Aber gerade der mystische Reiz, welcher in der Verehrung des rohen Naturidols liegt, führte zu den tollsten Übertreibungen in dieser Kultusform. Theophrast schildert im 4. Jahrh. v. Chr. den Typus des abergläubischen Griechen, der immer sein Salbfläschchen bei sich führt, um jedem heiligen Stein, dem er auf der Straße begegnet, Öl aufzuträufeln, dann davor niederzufallen und ihn anzubeten, ehe er seines Wegs weiter schreitet. Die Kirchenväter (Arnobius, Tertullian u. a.) machen sich lustig über diesen Gebrauch der Heiden, Steine zu salben und anzubeten; aber sie vergessen, daß dies eine gut biblische Sitte war, die auch Jakob, der Erzvater, bei jenem Stein übte, der ihm als Kopfkissen gedient hatte. Noch Heliogabal brachte das schwarze Steinidol des syrischen Sonnengottes unter großer Feierlichkeit nach Rom und errichtete ihm einen durch orientalische Pracht ausgezeichneten Dienst. Viele Forscher nehmen an, daß die Menhirs, Bautasteine (s. d.) und megalithischen Bauwerke, die sich in einer weiten Zone vom Westen Europas bis nach Indien ziehen, ähnliche Idole eines besondern Steinvolkes gewesen seien. Mehr an den reinen Fetischdienst erinnert die besonders in Syrien und Phönikien heimisch gewesene Verehrung kleiner Meteorsteine oder Bätylien (s. Bätylus); denn diese Steine wurden speziell als Hausgötter etc. gebraucht, und die Dioskuren, welche als die Nothelfer des Altertums galten, wurden besonders häufig als Steine verehrt. Ähnliches gilt von den Buddhasteinen in Indien. Vgl. v. Dalberg, Über Meteorkultus der Alten (Heidelb. 1811); Tylor, Anfänge der Kultur (deutsch, Leipz. 1873).

Steindrossel (Felsschmätzer, Monticola Boie), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der Steinschmätzer (Saxicolinae), große, schlanke Vögel mit starkem, pfriemenförmigem, gestrecktem, seicht gewölbtem Schnabel mit überragender Spitze, langen Flügeln, in denen die dritte Schwinge am längsten ist, kurzem, schwach ausgerandetem Schwanz und mittelhohem, starkem, langzehigem Fuß mit großen, merklich gebogenen Krallen. Der Steinrötel (Steinmerle, Rotschwanz, M. saxatilis Cab.), 23 cm lang, 37 cm breit, ist am Kopfe, Vorderhals, Nacken u. Bürzel blaugrau, am Unterrücken weißblau, an der Unterseite und am Schwanz, mit Ausnahme der beiden mittelsten dunkelgrauen Federn, rot, an den Flügeln schwarzbraun; die Augen sind rotbraun, der Schnabel schwarz, die Füße rötlichgrau. Er findet sich in fast allen Gebirgen Südeuropas, brütet noch in Österreich, am Rhein, ausnahmsweise in Böhmen, in der Lausitz und am Harz, geht im Winter nach Nordafrika, bewohnt weite, steinige Thalmulden, singt trefflich, nährt sich von Beeren und Kerbtieren, nistet in Mauer- und Felsspalten, auch im Gestrüpp und legt 4-6 blaugrüne Eier (s. Tafel "Eier I", Fig. 59). Die Blaumerle (Blauamsel, Blaudrossel, Blauvogel, einsamer Spatz, Einsiedler, M. cyana Cab.) ist 25 cm lang, 37 cm breit, schieferblau, mit mattschwarzen Schwingen und Steuerfedern, braunem Auge, schwarzem Schnabel und Fuß, bewohnt Südeuropa, Nordafrika, Mittelasien, findet sich auch in den südlichen Kronländern Österreichs, als Strichvogel im Bayrischen Hochgebirge, lebt einsam in Einöden, singt sehr angenehm, nistet in Felsspalten, auf Kirchtürmen etc. und legt vier grünlichblaue, violett und rotbraun gefleckte Eier. In Italien, Griechenland und auf Malta ist sie als Stubenvogel sehr beliebt.

Steindruck, s. Lithographie.

Steine, linksseitiger Nebenfluß der Glatzer Neiße, im preuß. Regierungsbezirk Breslau, entspringt unfern Görbersdorf im Waldenburger Gebirge, fließt südöstlich und mündet unterhalb Glatz; 55 km lang.

Steine (Bausteine), Gesteine (s. d.) der verschiedensten Art, welche zu Bauzwecken benutzt werden. Soweit sich dieselben nicht als lose Trümmer in der Nähe größerer Felsmassen, als Rollsteine, Geschiebe oder erratische Blöcke vorfinden, werden sie an ihren natürlichen Fundorten (Steinbrüchen) abgebaut oder gebrochen. Am häufigsten und leichtesten gewinnt man die S. durch Tagebau; liegt das brauchbare Gestein tief unter der Erdoberfläche, so wird die Gewinnung durch Grubenbau betrieben. Zur Abtrennung der S. von ihren Lagern dienen Brechstangen und Keile, und wo diese nicht ausreichen, sprengt man mit Pulver oder Dynamit, während das früher übliche Feuersetzen jetzt fast ganz aufgegeben ist. Beim Sprengen werden Bohrmaschinen angewandt, und auch bei der Ablösung der S. mittels der Keile benutzt man jetzt Maschinen, wie in einem Steinbruch bei Marcoussis (Paris) einen auf Schienen beweglichen Dampfhammer, der die S. absprengt und spaltet. Die aus den Steinbrüchen gelieferten rohen S. werden zum Teil als solche benutzt, meist aber zu Werkstücken, Schnittsteinen oder Quadern verarbeitet. Seit dem Altertum wird diese Steinmetzarbeit mit Hammer und sehr verschieden gestalteten Meißeln (Eisen) ausgeführt, in neuerer Zeit aber sind immer mehr maschinelle Vorrichtungen in Gebrauch gekommen, welche erfolgreich mit der Handarbeit konkurrieren. Zum Zerschneiden der S. dienen Steinsägen, welche statt der gezahnten in der Regel einfache Stahlblätter oder Drähte enthalten, die scharfkörnigen Sand unter Zufluß von Wasser hin- und herschleifen. Die Bewegung des Gatters wird durch Menschen, Göpel oder andre Motoren hervorgebracht. Bei den Sägen mit Draht benutzt man oft einen sehr langen Draht, der sich abwechselnd von einer Rolle auf eine andre ab- und aufwickelt. Zur Bearbeitung ebener Flächen benutzt man Maschinen, welche nach Art der Metallhobelmaschinen wirken, nur daß die Meißel während der Steinbewegung nicht stillstehen, sondern, unter 45° geneigt, vermittelst schnell drehender Exzenter kurze Stöße gegen den Stein führen und so die Handarbeit nachahmen. Bei Anwendung profilierter Meißel erhält man hierbei Kehlungen etc. Andre Maschinen besitzen als Arbeitsorgan eine sehr schnell rotierende Scheibe mit feststehenden Meißeln oder mit kleinen runden Scheiben aus Hartguß (Kreismeißel), welche bei der schnellen Rotation der Scheibe gegen den Stein stoßen, sich an diesem wälzen und Stücke bis 25 mm Dicke abtrennen. Auch schwarze Diamanten werden statt der Meißel angewandt. Die ebenen Steinflächen werden mit scharfkörnigem Sand und Wasser mittels hin und her bewegter, auch rotierender, belasteter eiserner Schleifschalen geschliffen und zuletzt mit Bimsstein (für Marmor), Kolkothar (Granit, Syenit), Zinnasche (für weicheres Gestein) poliert. Hierbei werden runde Formen (Säulen etc.) durch eine Drehbank gedreht, während die Schleifschalen dagegen gedrückt werden. In neuerer Zeit benutzt man mehr und mehr auch Schmirgelscheiben zum Schleifen der S. Vgl. Gottgetreu, Physischen. chemische Beschaffenheit der Baumaterialien (3. Aufl., Berl. 1880, 2 Bde.); Schwartze, Die Steinbearbeitungsmaschinen (Leipz. 1885).

Steine, künstliche, aus verschiedenen Substanzen hergestellte steinartige Massen, welche als Surrogate

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Steinen - Steingallen.

der natürlichen Steine benutzt werden. Hierher gehören außer den Mauersteinen (s. d.) die Kalkziegel (Kalksandziegel), die durch Mischen von Kalkmilch mit Sand zu einer plastischen Masse, Formen der letztern unter starkem Druck und Trocknen an freier Luft dargestellt werden. Vorteilhaft taucht man sie vor völligem Erhärten in schwache Wasserglaslösung. Auch der Zementguß muß zu den künstlichen Steinen gerechnet werden. Sehr gute k. S. erhält man aus einer Mischung von Steinbrocken, Zement und Wasser, welche in Formen gestampft wird. Aus derartigem Beton sind für Hafenbauten Steine von 18 cbm Inhalt dargestellt worden. Cendrinsteine bestehen aus Zement mit Kohlenstaub oder Asche; eine andre Sorte aus gebranntem Kalk und Steinkohlenasche, welche breiförmig zusammengestampft werden, worauf man die Masse in Ziegelform bringt und die Steine nach dem Trocknen in Wasserglaslösung taucht. Die englischen Viktoriasteine werden aus kleinen Granitbruchstücken und Zement geformt und nach 4 Tagen etwa 12 Stunden in Natronwasserglaslösung gelegt. Marmorartige und bei Zusatz von Quarzstückchen und Eisenoxyd auch granitartige Steine stellt Ransome dar, indem er Zement, Kreide, feinen Sand und Infusorienerde mit Natronwasserglas zu einem dicken Brei anmacht, diesen in Formen gießt, die erhärtete Masse wiederholt mit sehr starker Chlorcalciumlösung begießt, 3 Stunden hineinlegt und schließlich in Wasser bringt, um lösliche Salze zu entfernen. Diese Steine werden für solides Mauerwerk, Trottoirplatten und zu Ornamenten sehr viel benutzt und sind polierbar. Die Marmormosaik-Bodenbelegplatten von Oberalm bestehen aus Marmorabfällen, welche durch eine Mischung von Zement und Marmorpulver zu einer Masse verbunden werden, die man in eiserne Formen preßt und nach dem Erhärten schleift und poliert. In Nordamerika finden Steinplatten aus Schieferpulver, mit geringem Zementzusatz gepreßt, ausgedehnte Verwendung. Der Bietigheimer künstliche Sandstein besteht aus Sandkörnern, die durch ein gesintertes alkalisches Silikat (Feldspat, Glaspulver, Thon) verbunden sind. In Dirschau mischt man 1 Teil Thon mit 4 Teilen Mergel (Wiesenkalk) im Thonschneider, zerschneidet den heraustretenden Strang, brennt die Steine im Ringofen, mahlt sie mit 3 Volumen Sand und wenig Wasser in rotierenden Trommeln, setzt Farbstoff zu und formt daraus Steine unter dem Dampfhammer. Die Steine trocknen im Trockenschuppen und sind nach 3 Tagen verwendbar. Auch Magnesiazement, Kieserit, Gips (s. Zement) werden zu künstlichen Steinen verarbeitet, und namentlich Schlacken bilden ein vortreffliches Material, aus welchem sehr allgemein Ziegel gegossen werden. Eine Mischung von Sodarückständen und geröstetem Schwefelkies mit konzentrierter Wasserglaslösung liefert sehr harte Steine, welche dem Wasser Widerstand leisten. Zu den künstlichen Steinen gehören auch Mischungen aus Steintrümmern und harzigen Bindemitteln, wie die braune Metalllava aus Sand, Kalkstein, Teer und wenig Wachs. Aus dieser Masse gegossene Platten lassen sich schön polieren.

Steinen, Karl von den, Forschungsreisender, geb. 7. März 1855 zu Mülheim a. d. Ruhr, studierte Medizin in Zürich, Bonn und Straßburg, widmete sich dann in Berlin und Wien der Psychiatrie und war 1878-79 Assistenzarzt an der Irrenklinik der Charitee in Berlin. 1879-81 machte er eine Reise um die Erde, studierte dabei das Irrenwesen in den Kulturstaaten und machte auf mehreren Gruppen der Südsee ethnologische Forschungen. Nachdem er dann wiederum seine frühere Stellung in Berlin eingenommen hatte, ging er als Arzt und Naturforscher mit der von Deutschland ausgesandten Südpolarexpedition 1882 nach Südgeorgien, wo er bis zum nächsten Jahr verweilte, um darauf noch im Februar 1884 nach Asuncion zu gehen, von wo er mit seinem Vetter, dem Maler Wilhelm von den S., und Clauß sowie einem Kommando brasilischer Soldaten den Lauf des Xingu, eines Nebenflusses des Amazonas, erforschte. Nach Europa zurückgekehrt, veröffentlichte er als Ergebnis dieser Reise: "Durch Zentralbrasilien" (Leipz. 1886). Eine zweite Reise in dasselbe Gebiet trat S. im Januar 1887 an; er untersuchte, durch den Ausbruch der Cholera am Paraguay aufgehalten, die merkwürdigen Sambaquis in der Provinz Santa Catharina und traf 16. Juli in Cuyaba ein, von wo er im August aufbrach. Er erforschte im östlichen Quellgebiet des Xingu eine Reihe von Stämmen, die noch in vorkolumbianischer Steinzeit lebten, und kehrte im August 1888 nach Europa zurück.

Steiner, 1) Jakob, Mathematiker, geb. 18. März 1796 zu Utzendorf bei Solothurn, besuchte die heimatliche Dorfschule, wo er erst mit 14 Jahren schreiben lernte, und ging im Alter von 17 Jahren nach Yverdon zu Pestalozzi, an dessen Anstalt er später einige Zeit als Hilfslehrer thätig war. Von hier wandte er sich 1818 nach Heidelberg, um Mathematik zu studieren, sah sich aber fast ganz auf Privatstudien angewiesen. Seit 1821 lebte er in Berlin, anfangs als Privatlehrer der Mathematik, dann als Lehrer an der Gewerbeakademie, seit 1834 als außerordentlicher Professor an der Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Die letzten Lebensjahre verbrachte er, von schweren Körperleiden gequält, in der Schweiz, wo er 1. April 1863 in Bern starb. Von seinem Hauptwerk: "Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten", haben wir nur den ersten Teil (Berl. 1832); außerdem schrieb er noch: "Die geometrischen Konstruktionen, ausgeführt mittels der geraden Linie und Eines festen Kreises" (das. 1833). Nach seinem Tod erschienen seine "Vorlesungen über synthetische Geometrie" (hrsg. von Geiser und Schröter, Leipz. 1867, 2 Bde.; 2. Aufl. 1875-76), und seine "Gesammelten Werke" (hrsg. von Weierstraß, Berl. 1881-82, 2 Bde.). Vgl. Geiser, Zur Erinnerung an Jakob S. (Schaffh. 1874).

2) Jakob, Instrumentenmacher, s. Stainer.

Steiner Alpen (auch Sannthaler oder Sulzbacher Alpen), südliche Vorlage der Karawanken zwischen Save und Sann, im südlichen Steiermark und dem angrenzenden Krain, erreichen mit der Oistritza 2350 m Höhe. Östlich davon das Cillier Bergland, vom Drann durchschnitten, reich an Mineralquellen. Vgl. Frischauf, Die Sannthaler Alpen (Wien 1877).

Steinernes Meer, s. Salzburger Alpen.

Steinfrucht, s. Steinbeere.

Steinfurt, ehemals (seit 1495) reichsunmittelbare Grafschaft im westfäl. Kreis, jetzt zum preußischen Regierungsbezirk Münster und zum Kreise S. gehörig, standesherrliche Besitzung der Grafen von Bentheim-S., mit dem Hauptort Burgsteinfurt.

Steingallen (blaue Mäler), die durch Quetschung und Entzündung der Hufsohle, namentlich in den Eckstrebenwinkeln bei Pferden entstehenden roten, resp. geröteten Flecke. Die Ursachen der S. beruhen in abnormem Druck auf die Sohlenschenkel durch die übergewachsene Horn- und Eckstrebenwand oder durch unzweckmäßigen Beschlag. Am meisten wird das Übel bei sonst gesunden Hufen durch zu kurze Huf-

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Steingang - Steinhuhn.

eisen veranlaßt. Bei länger anhaltendem und starkem Druck auf die Eckstrebenpartie der Hufe entsteht Eiterung (feuchte oder eiternde S. im Gegensatz zu den trocknen S.). Die Behandlung wird durch zweckmäßige Beschneidung und Erweichung der Hufe sowie durch Regelung des Hufbeschlags bewirkt. In letzterer Hinsicht bedient man sich meist eines langen und starken oder eines geschlossenen oder auch eines Dreiviertelhufeisens. Die Entstehung von Eiter in einer Steingalle erfordert eine frühzeitige Öffnung in dem Sohlenschenkel und Erweichung der Hufe durch Umschläge von schleimigen und fetthaltigen Mitteln.

Steingang (Allée couverte), s. Dolmen.

Steingeier, s. Adler, S. 122.

Steingrün, s. Grünerde.

Steingut, s. Thonwaren.

Steinh., bei botan. Namen Abkürzung für A. Steinheil, geb. 1810 zu Straßburg, Pharmazeut, bereiste Algerien; starb 1839 auf der Überfahrt von Martinique nach Caracas.

Steinhäger, Branntweinsorte, s. Genever.

Steinharz, s. Dammaraharz.

Steinhausen, Heinrich, Schriftsteller, geb. 27. Juli 1836 zu Sorau in der Niederlausitz, studierte zu Berlin Theologie und Philologie, bekleidete darauf Lehrerstellen an den Kadettenanstalten in Potsdam und Berlin, trat 1868 in den Kirchendienst über und wirkt seit 1883 als Prediger zu Beetz bei Kremmen im Regierungsbezirk Potsdam. Außer kritischen und andern Beiträgen zum "Reichsboten" veröffentlichte er: "Irmela. Eine Geschichte aus alter Zeit" (Leipz. 1881 , 10. Aufl. 1887); "Gevatter Tod. Im Armenhaus. Mr. Bob Jenkins' Abenteuer", Novellen (2. Aufl., Barmen 1884); "Markus Zeisleins großer Tag", Novelle (das. 1883); "Der Korrektor. Szenen aus dem Schattenspiel des Lebens" (1.-4. Aufl., Leipz. 1885) u. a. Aufsehen erregte seine gegen G. Ebers' Romane gerichtete kritische Schrift "Memphis in Leipzig" (Frankf. a. M. 1880).

Steinhäuser, Karl, Bildhauer, geb. 3. Juli 1813 zu Bremen, bildete sich an der Berliner Akademie, besonders unter Rauchs Leitung, lebte seit 1836 längere Zeit in Rom und seit 1863 als Lehrer an der Kunstschule zu Karlsruhe, wo er 9. Dez. 1879 starb. Mehrere seiner zahlreichen Statuen zählen zu den vorzüglichsten Schöpfungen der neuern deutschen Plastik, so die von Olbers, Schmidt und dem heil. Ansgar in Bremen, Goethe mit der Psyche in Weimar, die Gruppe von Hermann und Dorothea in Karlsruhe. Er war ein Vertreter der antikisierenden Richtung, wußte aber die Strenge der Behandlung durch Anmut zu mildern, was sich besonders in seinen weiblichen Figuren (Mädchen mit der Muschel, Deborah, Judith) kundgibt.

Steinheid, Dorf im sachsen-meining. Kreise Sonneberg, auf der Grenzscheide zwischen Thüringer und Frankenwald, 813 m ü. M., hat eine evang. Kirche, Kaolingruben, Fabrikation von Glasperlen, Porzellan und Holzschachteln und (1885) 1522 Einw. Nördlich dabei das Kieferle, 868 m hoch.

Steinheil, Karl August, Physiker, geb. 12. Okt. 1801 zu Rappoltsweiler im Elsaß, studierte seit 1821 zu Erlangen die Rechte, hierauf zu Göttingen und Königsberg Astronomie, lebte seit 1825 auf dem väterlichen Gut zu Perlachseck, mit astronomischen und physikalischen Arbeiten beschäftigt, und ward 1832 Professor der Physik und Mathematik an der Universität München. 1846 ward er von der neapolitanischen Regierung zur Regulierung des Maß- und Gewichtssystems berufen. 1849 trat er als Vorstand des Departements für Telegraphie im Handelsministerium in österreichische Dienste, richtete ein fast vollständiges Telegraphensystem für alle Kronländer ein und beteiligte sich 1850 auch an der Gründung des Deutsch-Österreichischen Telegraphenvereins. 1851 folgte er einem Ruf der Schweizer Regierung zur Einrichtung des Telegraphenwesens in diesem Land, und 1852 kehrte er als Konservator der mathematisch-physikalischen Sammlungen und Ministerialrat im Handelsministerium nach München zurück; auch gründete er daselbst 1854 eine optisch-astronomische Anstalt, aus welcher ausgezeichnete Instrumente hervorgingen. S. gilt als der wissenschaftliche Begründer der elektromagnetischen Telegraphie, entdeckte die Bodenleitung, konstruierte den ersten Drucktelegraphen, der indes keinen Eingang in die Praxis fand, erfand die elektrischen Uhren, konstruierte ein sinnreiches Pyroskop, fertigte das erste Daguerreotypbild in Deutschland, vervollständigte und begründete die Gesetze der Galvanoplastik, konstruierte ein Zentrifugalwurfgeschütz, mehrere optische Instrumente etc. Auch bei der Feststellung der bayrischen Maße und Gewichte und durch Verbesserung der Bier- und Spirituswagen erwarb er sich Verdienste. Er starb 12. Sept. 1870 in München. Die optische Werkstätte wird seit 1862 von den Söhnen Steinheils weitergeführt. Vgl. Marggraff, Karl August S. (Münch. 1888).

Steinheim, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Minden, Kreis Höxter, an der Emmer und der Linie Hannover-Altenbeken der Preußischen Staatsbahn, 135 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, Holzschleiferei, 3 Mahlmühlen, Steinbrüche und (1885) 2660 meist kath. Einwohner.

Steinhirse, s. Lithospermum.

Steinhorst, Gutsbezirk in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg, hat ein Amtsgericht und (1885) 295 Einw.

Steinhuder Meer, Binnensee in Schaumburg-Lippe und der preuß. Provinz Hannover, ist 8 km lang, 5 km breit, 41 m tief, sehr fischreich und fließt durch die Meerbeke zur Weser ab. Daran der lippesche Flecken Steinhude mit 1400 Einw.; im See selbst auf einer künstlichen Insel das 1761-65, vom Grafen Wilhelm von der Lippe als Musterfestung angelegte kleine Fort Wilhelmsstein (ehemals mit Kriegsschule, in der auch der preußische General v. Scharnhorst seine erste militärische Bildung erhielt), jetzt Gefängnis.

Steinhuhn (Caccabis Kp.), Gattung aus der Qrdnung der Scharrvögel, der Familie der Waldhühner (Tetraonidae) und der Unterfamilie der Feldhühner (Perdicinae), kräftig gebaute Vögel mit kurzem Hals, großem Kopf, kurzem, auf der Firste gewölbtem Schnabel, mittelhohem Fuß mit stumpfem Sporn oder mit einer den Sporn andeutenden Hornwarze, mittellangem Flügel und ziemlich langem Schwanz. Das S. (C. saxatilis Briss.), 35 cm lang, 50-55 cm breit, an der Oberseite und Brust blaugrau, Kehle weiß, mit schwarzem Kehl- und Stirnband, die Federn der Weichen gelbrotbraun und schwarz gebändert, an der Unterseite rostgelb, die Schwingen schwärzlichbraun mit gelblichweißen Schäften und rostgelblich gekantet, die äußern Steuerfedern rostrot; das Auge ist rotbraun, der Schnabel rot, der Fuß blaßrot; lebte im 16. Jahrh. am Rhein, gegenwärtig in den Alpen, Italien, der Türkei, Griechenland und Vorderasien, eine Varietät lebt in ganz Nordasien. Es bewohnt sonnige, etwas begraste Schutthalden zwischen Holz- und Schneegrenze, im Süden auch die Ebene aus felsigem

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Steinhund - Steinkohle.

Boden, zeichnet sich durch Behendigkeit, Klugheit und Kampflust aus, läuft und klettert sehr gut, fliegt leicht und schnell, bäumt nur im Notfall, nährt sich von allerlei Pflanzenstoffen und kleinen Tieren und frißt auch die Spitzen von jungem Getreide. Im Winter lebt es in größern Gesellschaften, im Frühjahr isolieren sich die Paare, und das Weibchen legt in den Alpen im Juni oder Juli in einer Mulde unter Gesträuch oder überhängendem Fels 12-15 gelblichweiße, braun gestrichelte Eier, welche es in 26 Tagen ausbrütet. Man jagt das S. des sehr wohlschmeckenden Fleisches halber. Es kann auch leicht gezähmt werden, bleibt aber sehr kampflustig, und schon die Alten ließen Steinhühner miteinander kämpfen. In Indien und China sind Steinhühner halbe Haustiere geworden, werden gezüchtet, auf die Weide getrieben, laufen frei im Haus umher und werden auch hier zu Kampfspielen benutzt. In Griechenland glaubt man, daß sie Schutz gegen Bezauberung gewähren, und hält sie in sehr engen, kegelförmigen Käfigen.

Steinhund, s. Nörz.

Steinicht, s. Vogtländische Schweiz.

Steinigtwolmsdorf, Pfarrdorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Wesenitz, hat eine evang. Kirche, Lein- und Damastweberei, Bierbrauerei, Steinbrüche und (1885) 2529 Einw.

Steinigung (Lapidatio), Tötung mit Steinwürfen, gesetzliche Strafe bei den Römern, Juden und andern Völkern, besonders aber Akt der Volksjustiz.

Steinigwerden, eine Krankheit der saftigen Früchte mancher Pomaceen, besonders der Birnen, Quitten und Mispeln, wobei der größere Teil des saftigen Fruchtfleisches in meist isolierte steinharte Körner sich verwandelt und dabei an Süßigkeit verliert. Die Körner bestehen aus Zellen mit außerordentlich stark verdickten und von Porenkanälen durchzogenen Wänden (Steinzellen). Anfänglich sind diese Zellen gleich den andern dünnwandig und stärkemehlführend; erst beim Reifen bilden sich aus der Stärke die Verdickungsschichten, anstatt daß dieselbe sich in Zucker umwandelt. Die Steinzellen fehlen auch in normalen, guten Früchten nicht ganz; ihre Menge ist in den wilden Birnen am größten, übrigens nach Sorten verschieden. Ihre reichlichere Bildung wird durch magern, trocknen Boden begünstigt, aus welchem oft die saftigsten Sorten steinig werden. Ähnliche Bildungen (Steinkonkretionen) treten auch in fleischigen Wurzelknollen, bei Päonien, Georginen, im Mark von Hoya und besonders in der Rinde vieler Bäume auf.

Steiningwer, s. Löß.

Steinig, Wilhelm, Schachspieler, geb. 18. Mai 1837 zu Prag, galt schon als Knabe für den besten Schachkämpen seiner Vaterstadt, erhielt aber die eigentliche Ausbildung darin erst bei Hamppe in Wien, wohin er sich 1858 als Student der Mathematik begab. In dem großen internationalen Wettstreit zu London (mit Anderssen, Paulsen u. a.) gewann er 1862 den letzten der sechs Preise, blieb in London und machte das Schach zu seinem Hauptberuf. 1865 gewann er auf dem Kongreß der Dubliner Ausstellung den ersten Preis, 1866 siegte er im Wettkampf (match) mit acht zu sechs Spielen gegen Anderssen. Im Pariser Turnier 1867 erhielt er den zweiten Preis, im Baden-Badener 1870 gleichfalls; im Londoner 1872 wurde er Hauptsieger, ohne eine einzige Partie zu verlieren, und in Wien erstritt er 1873 den großen Kaiserpreis von 2000 Gulden. Nachdem er dann noch den Engländer Blackburne, den Gewinner des zweiten Wiener Preises, im Einzelkampf besiegt, beteiligte er sich längere Zeit nicht mehr an Turnieren. Auf den Schachkongressen zu Paris 1878 und zu Wiesbaden 1880 war er als Berichterstatter für die englische Zeitung "The Field" erschienen, deren Schachrubrik er damals leitete. Der Tod Anderssens und die großen Erfolge Zukertorts (s. d.), den er 1872 in einem Match leicht geschlagen, spornten S. indessen zu neuer Thätigkeit an, doch mußte er sich, obwohl er im Wiener Turnier 1882 die beiden ersten Preise mit Winawer geteilt hatte, 1883 in London, wo Zukertort Erster blieb, mit der zweiten Stelle begnügen. Seitdem betrieb S. höchst eifrig einen neuen Einzelwettkampf mit Zukertort, der nach langen Verhandlungen in den ersten Monaten 1886 in Amerika ausgefochten wurde, und in welchem S. schließlich mit 10 gegen 5 Gewinn- bei 5 Remisspielen siegte. In jüngster Zeit stellte sich S., nunmehr der erste Schachspieler der Gegenwart, dem Russen Tschigorin auf Cuba, der eine Minderheit der Gewinnpartien erzielte.

Steinkauz, s. Eulen, S. 906.

Steinkern, in der Botanik s. Steinbeere; in der Petrefaktenkunde s. Abdruck.

Steinkind (Steinfrucht, Lithopaedion), eine unreife Leibesfrucht, welche abgestorben in der Bauchhöhle liegt, eingekapselt, verschrumpft und durch Aufnahme von Kalksalzen steinhart geworden ist. Das S. verursacht der Mutter bisweilen allerhand Beschwerden; manchmal aber bleibt sie von solchen ganz verschont, kann sogar schwanger werden und normal gebären. Derartige Bildungen sind bei Menschen äußerst selten, bei Schafen häufiger.

Steinkirche, s. Dolmen.

Steinklee, s. Melilotus und Medicago.

Steinkochen, s. Kochkunst (in prähistorischer Zeit).

Steinkohle (Schwarzkohle), im petrographisch-technischen Sinn die schwarzen, kohlenstoffreichen, an Wasserstoff und Sauerstoff armen Kohlen; im geologischen Sinn die Kohlen der ältern Formationen vom Silur bis einschließlich der Kreideformation, vorzüglich diejenigen der Steinkohlenperiode. Beide Begriffe decken sich meist insofern, als die ältern Kohlen der Regel nach auch die kohlenstoffreichern sind; indes tragen eine Reihe jüngerer (tertiärer) Kohlen den petrographischen Charakter der S. an sich, während umgekehrt Kohlen, welche nachweisbar der Steinkohlenformation angehören, Braunkohlen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die S. im petrographisch-technischen Sinn des Wortes ist eine dunkel gefärbte, undurchsichtige, höchstens in kleinen Splittern durchscheinende amorphe Masse von Glas- und Fettglanz; Härte 2-2,5, spez. Gew. 1,2-1,7; sie färbt heiße Kalilauge im Gegensatz zur Braunkohle nicht oder unbedeutend; an der offenen Flamme verbrennt sie unter brenzligem Geruch (Unterschied von Anthracit). Die Hauptbestandteile sind: Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O) und Wasserstoff(H), daneben etwas Stickstoff (N), Schwefel (S), Bitumen und Asche (in reinen Kohlen unter 0,5 Proz.). Die quantitative Zusammensetzung der S. zeigt bedeutende Schwankungen, und an verschiedenen Stellen desselben Flözes entnommene Proben zeigen kaum je gleiche Zusammensetzung. Von den Aschebestandteilen abgesehen, kann man folgende Grenzwerte annehmen: 55-98 Proz. Kohlenstoff, 1,75-7,85 Proz. Wasserstoff, 0-38 Proz. Sauerstoff, Spuren bis 2,0 Proz. Stickstoff. Bei Abschluß der Luft erhitzt, liefern die Kohlen je nach ihrer chemischen Zusammensetzung und der Temperatur in sehr verschiedenen Mengen: Kohlenwasserstoffgase (namentlich Methan und Äthylen), Wasserstoff, Kohlensäure, Kohlenoxyd, Stickstoff, Schwefelwasserstoff, Teerdämpfe (bestehend aus Kohlenwasserstoffen, Phenolen und

269

Steinkohle (chemische Zusammensetzung, Grubenbrände, Varietäten).

Basen), Ammoniak und Wasserdämpfe. Als accessorische Begleiter der Kohle finden sich: Schieferthon, Kalkspat, Gips, Nakrit, Quarz, Eisenspat, Eisenkies, Bleiglanz, Kupferkies. Von diesen Beimengungen verringert der Eisenkies den Wert der Kohle als Brennmaterial, und wo er in größern Mengen auftritt, zwingt er zu einem Abschwefeln der Kohlen; er kann aber auch durch die mit seiner Zersetzung verbundene Temperaturerhöhung zu Selbstentzündungen der Kohle führen. Es wird deshalb in den Kohlengruben auf das möglichst sorgsame Fördern des sogen. Grubenkleins Gewicht gelegt. Kohlenbrände entstehen, da sie die Mitwirkung der Atmosphäre voraussetzen, meist in dem Abbau unterworfenen (verritzten) Flözen, während unverritzte Flöze, namentlich an ihrem Ausgehenden (Kohlenausstrichen), derselben Gefahr ausgesetzt sind. Bei den Kohlenbränden wird die Kohle teils vollkommen verbrannt, teils in Koks umgewandelt; die begleitenden Schieferthone werden gefrittet (Kohlenbrandgesteine, Porzellanjaspis) und eine Reihe von Sublimationsprodukten (Salmiak, Schwefel, Alaun) gebildet. Die Bekämpfung einmal ausgebrochener Kohlenbrände muß sich auf Isolierung der entzündeten Partien durch Abbau der benachbarten Flözteile und Errichtung trennender Mauern beschränken. - Nach äußern mineralogischen Merkmalen unterscheidet man unter den Steinkohlen schieferige Varietäten (Schieferkohle), dünnblätterige (Blätterkohle), zu unregelmäßigen parallelepipedischen Formen zerfallende (Grobkohle), faserige (Faserkohle), erdige, stark abfärbende (Rußkohle), pechschwarze, lebhaft fettglänzende von muscheligem Bruch (Pechkohle). Weitere Abarten sind: die Kannelkohle (Cannel Coal, Candle Coal), eine schwer zersprengbare, gräulichschwarze Kohle; Glanzkohle mit muscheligem Bruch und stark glänzenden, öfters regenbogenartig angelaufenen Absonderungsflächen. In der Technik unterscheidet man nach dem Verhalten der Kohle im Feuer: Backkohlen, Sinterkohlen und Sandkohlen, zu welchen Arten noch die Gaskohlen, bald den einen, bald den andern nahestehend, als reichlich Leuchtgas liefernde hinzukommen. Das Pulver der Backkohlen (fette Kohlen) liefert beim Erhitzen eine gleichmäßig zusammengeschmolzene Masse (Koks), die Sinterkohlen eine weniger gleichmäßige und weniger feste, nicht eigentlich geschmolzene, sondern nur "zusammengesinterte" Masse; die Sandkohlen (magere Kohlen) endlich liefern ein Pulver ohne Zusammenhang. Fleck versuchte dieser rein empirischen Einteilung einen wissenschaftlichen Hintergrund zu geben. Er unterschied den Wasserstoff in der S. als gebundenen und als disponibeln, von welchen der erstere denjenigen Bruchteil des Gesamtgehalts darstellt, der mit dem gleichzeitig vorhandenen Stickstoff und Sauerstoff zu Ammoniak und Wasser verbunden gedacht werden kann, während der Überschuß an Wasserstoff "disponibel" bleibt. Nach Fleck sind alle Kohlen, welche auf 1000 Gewichtsteile Kohlenstoff über 40 Teile disponibel und unter 20 Teile gebundenen Wasserstoff enthalten, verkohlbar und bilden die Backkohlen. 40 Teile disponibler und über 20 Teile gebundener Wasserstoff geben Back- und Gaskohle; weniger als 40 Teile disponibler und mehr als 20 Teile gebundener Wasserstoff sind in Gas- und Sinterkohlen enthalten; Sinterkohlen und Anthracite enthalten weniger als 40 Gewichtsteile disponibeln und weniger als 20 Teile gebundenen Wasserstoff. Da diese Unterschiede nicht hinreichend scharf durchführbar sind, so hat Gruner eine neue Klassifikation gegeben, indem er fünf Typen unterscheidet, deren Zusammensetzung und Verhalten in folgender Tabelle angegeben sind; an den Grenzen gehen dieselben ineinander über.

Klassen Zusammensetzung (C,H,O) O:H Spezifisches Gewicht Wärmeeffekt Wärmeeinheiten Wasserverdampfung Kilogr. Flüchtige Bestandteile Verhalten bei der Destillation (Koks, Beschaffenheit der Koks, Gas, Ammoniak Wasser, Teer)

1) Trockne Kohlen mit langer Flamme (Sandkohlen) 75-80 5,5-4,5 19,5-15 4-3 1,25 8000-8500 6,7-7,5 45-40 50-60 pulverförmig od. höchstens gefrittet 20-30 12-5 18-15

2) Fette Kohlen mit langer Flamme (Gaskohlen, Sinterkohlen) 80-85 5,8-5 14,2-10 3-2 1,28-1,30 8500-8800 7,6-8,3 40-32 60-68 geflossen, aber sehr aufgebläht 20-17 5-3 15-12

3) Fette oder Schmiedekohlen (Backkohlen) 84-89 5-5,5 11,5-5,5 2-1 1,30 8800-9300 8,4-9,2 32-26 68-74 geflossen, mitteldicht 16-15 3-1 13-10

4) Fette Kohlen mit kurzer Flamme (Verkokungs-K.) 88-91 5,5-4,5 6,5-5,5 1 1,30-1,35 9300-9600 9,2-10 26-18 74-82 geflossen, sehr kompakt, wenig blasig 15-12 1-1 10-5

5) Magere Kohlen od.Anthracite mit kurzer Flamme 90-93 4,5-4 5,5-3 1 1,35-1,4 9200-9500 9-9,5 18-10 82-90 gefrittet oder pulverförmig 12-8 l-0 5-2

Diese fünf Typen charakterisieren sich schon durch äußere Kennzeichen, welche aber durch Erhitzen bei Abschluß der Luft (trockne Destillation) kontrolliert werden müssen. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen mit langer Flamme sind verhältnismäßig hart, beim Anschlagen klingend, zäh, von unebenem Bruch, matt schwarz und von mehr braunem als schwarzem Strich. Mit abnehmendem Sauerstoff und damit abnehmender Produktion von Wasser beim Destillieren wird die Kohle zerreiblicher, weniger klingend, schwärzer und dichter. Der Glanz nimmt mit dem Wasserstoffgehalt und damit auch das Agglomerationsvermögen zu. Die den Anthraciten sich nähernden Kohlen sind rein schwarz und im allgemeinen ein wenig mürber als fette Kohlen mit kurzer Flamme. Die Eigenschaften werden indes durch erdige Beimengungen alteriert. Dichtigkeit und Härte wachsen mit dem Aschengehalt, während der Glanz sich vermindert. Die Brennbarkeit und die Länge der Flamme hängen von der Gegenwart flüchtiger Elemente ab. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen entzünden sich leicht und brennen mit langer, rußiger Flamme. Die an flüchtigen Bestandteilen ärmern, namentlich wasserstoffarmen, Kohlen

270

Steinkohle (Vorkommen, Entstehung).

entzünden sich, verbrennen weniger leicht und halten lange an. Die Flamme ist kurz und wenig rauchig. Die Steinkohlen finden sich, soweit es sich um größere, technisch wichtige Massen handelt, in Schichten (Flözen), häufig in mehrfachem Wechsel, zwischen andern Gesteinen (Schieferthonen und Sandsteinen). Das ganze Schichtensystem ist ältern Gesteinen gewöhnlich muldenförmig eingelagert (Steinkohlenbecken, Steinkohlenmulden). Ein Kohlenfeld ist die Gesamtheit bauwürdiger Flöze in horizontal ununterbrochenem Zusammenhang oder doch nur durch Verwerfungen getrennt, welche den ursprünglichen Zusammenhang trotz der Trennungen erkennen lassen. Untergeordnete, technisch gewöhnlich wertlose Vorkommnisse sind die in Form kleiner Lager, Nester, Schmitzchen, als einzelne Stämme und Stammfragmente. Die Flöze eines Kohlenfeldes sind nach Lage und Mächtigkeit außerordentlich verschieden. Als unterste Grenze der Bauwürdigkeit wird gewöhnlich 0,6 m Mächtigkeit angegeben, aber auch hier kann das Auftreten mehrerer Flöze übereinander die Verhältnisse ändern. Es sind bis 30 m mächtige Kohlenflöze bekannt, doch treten die bedeutendern Mächtigkeiten mehr bei lager- oder stockförmigen Einlagerungen als bei eigentlichen Flözen auf. Häufig stören Verwerfungen die ursprüngliche Lage und unterbrechen den Zusammenhang der Flöze. Solche Faltungen, Knickungen, Überkippungen und Verschiebungen der Flöze bereiten dem Abbau oft enorme Schwierigkeiten. Erfahrungsmäßig gehören die meisten und wichtigsten Steinkohlen dem Alter nach der Steinkohlenformation (s. d.) an, obgleich sie den andern Formationen nicht fehlen und hier wenigstens lokal ebenfalls Wichtigkeit erhalten können. So führen das Silur und Devon mitunter anthracitische Flöze; im Rotliegenden, namentlich dem untern, tritt bauwürdige Kohle in der Saargegend, in Sachsen etc. auf; ein Teil der ostindischen und chinesischen Kohlenschätze und einige nordamerikanische Flöze sind triasisch, in Deutschland gehört dem untern Keuper die meist unbauwürdige sogen. Lettenkohle an. In Polen sind Keuperkohlen bauwürdig. Der Liasformation gehören die für Ungarn sehr wichtigen Ablagerungen von Steyerdorf und Fünfkirchen an. England, Polen, Rußland und Persien besitzen ebenfalls jurassische Kohlen. Eine für Norddeutschland sehr wichtige Kohle liegt in den Grenzschichten zwischen Jura und Kreide, in der Wealdenformation im Teutoburger Wald, Wesergebirge und links der Weser und im Deister. In der noch jüngern Kreideformation sind bauwürdige Kohlen sehr selten. In Deutschland sind als abbauwürdig nur ein paar dünne Flöze am Altenberg bei Quedlinburg sowie an einigen Orten (besonders bei Ottendorf) im Regierungsbezirk Liegnitz zu nennen. Österreich gewinnt aus der der gleichen Formation angehörigen Mulde der Neuen Welt bei Wiener-Neustadt jährlich gegen ½ Mill. Ztr. Noch jüngere Kohlen, welche nach ihren petrographischen Eigenschaften ebenfalls als Steinkohlen (Pechkohlen) bezeichnet werden müssen, während sie im geologischen Sinn Braunkohlen darstellen, finden sich als lokale Abänderungen typischer Braunkohlen in vielen Tertiärbecken, so unter andern Orten in Böhmen und Oberbayern. Die Steinkohlen stammen ohne Zweifel von pflanzlichen (nur selten und untergeordnet von tierischen) Organismen ab, welche einem langsamen Verkohlungsprozeß unterlegen sind. Dieser Prozeß verlief unter Entwickelung von wasserstoff- und sauerstoffreichen Gasen und mußte mithin einen kohlenstoffreichen Rückstand, die S., liefern. Am frühsten ist der Zusammenhang zwischen Kohlen und Pflanzen wohl von Scheuchzer (gest. 1733) betont worden; bestimmter und den heutigen Ansichten sich vollkommen anschmiegend, betonte v. Beroldingen 1778 den Zusammenhang zwischen Torf, Braunkohle und S., Hutton (1785) und Williams (1798) stellten für die englische Kohle gleiche Hypothesen auf. Das meiste Beweismaterial zur Stützung der jetzt herrschenden Ansicht brachte aber Göppert bei. Ein Vergleich der mittlern chemischen Zusammensetzung der Holzfaser, des Torfs, der Braunkohle, der S. und des Anthracits zeigt, daß diese fünf Körper in der genannten Folge eine Reihe bilden, in welcher ein an Kohlenstoff relativ armer, an Wasserstoff und Sauerstoff reicher Körper allmählich andern Substanzen weicht, die immer reicher an Kohlenstoff, ärmer an Sauerstoff und Wasserstoff sind. Es ist nämlich die mittlere prozentige Zusammensetzung der genannten Körper:

C H O N

Holzfaser 50 6,0 43,0 1,0

Torf 59 6,0 33,0 2,0

Braunkohle 69 5,5 25,0 0,8

Steinkohle 82 5,0 13,0 0,8

Anthracit 95 2,5 2,5 Spur

Führt man statt Gewichtsprozente Atome ein und berechnet unter Vernachlässigung des Gehalts an Stickstoff den Wasserstoff- und Sauerstoffgehalt auf je 100 Atome Kohlenstoff, so erhält man:

C H O

Holzfaser 100 150 65

Torf 100 115 40

Braunkohle 100 96 27

Steinkohle 100 80 12

Anthracit 100 27 2

welche Zahlen die Abnahme des Wasserstoffs und Sauerstoffs noch deutlicher zeigen. Erfahrungsmäßig entwickeln sich in Torfmooren, in Braunkohlen- und Steinkohlengruben Gase und Dämpfe, welche, wie das Grubengas (CH4) Kohlensäure (CO2) und Wasser (H2O), Wasserstoff und Sauerstoff neben Kohlenstoff enthalten. Es sind dies jene Gase, welche als schlagende und stickende Wetter in erster Linie den Steinkohlenbergbau so gefährlich machen, daß im Durchschnitt jährlich 3-4 pro Mille aller Bergleute das Leben einbüßen, und daß für jede 1½ Mill. Ztr. geförderter S. ein Menschenleben geopfert werden muß. Diese Gase entziehen aber, wie ihre chemische Formel zeigt, bei ihrer Bildung dem Mutterkörper mehr Wasserstoff und Sauerstoff als Kohlenstoff, so daß der letzte Rest eines solchen Verkohlungsprozesses ein nur aus Kohlenstoff bestehender Körper sein muß. Erhitzt man Holz in verschlossenen Röhren, so erhält man bei 200-280° eine der Holzkohle, bei 300° eine der S. ähnliche Masse, die bei 400° anthracitartig wird. Hierher gehören auch die vielfältigen Beobachtungen, nach welchen das Holz der Grubenzimmerung in mitunter überraschend kurzer Zeit in eine der Braunkohle ähnliche Masse umgewandelt wird. Einem gleichen Prozeß unterliegen Stämme, welche in Torfmoore geraten sind, und die tiefsten Schichten der Moore selbst liefern den Speck- oder Pechtorf, eine an Braunkohle oder noch mehr an S. erinnernde Masse. Den vollgültigsten Beweis gibt endlich das Mikroskop, indem es an zahlreichen Präparaten nicht nur die pflanzliche Natur der Kohlen im allgemeinen zeigt, sondern auch die systematische Stellung der kohlebildenden Pflanzen bestimmen läßt. Diese Pflan-

271

Steinkohle (Verbreitung in einzelnen Ländern).

zen sind aber in den verschiedenen Formationen sehr verschieden, und nur der Umstand, daß erfahrungsmäßig die Holzfaser systematisch weit voneinander entfernter Pflanzenarten doch annähernd gleiche Zusammensetzung hat, erlaubte in der oben angenommenen Allgemeinheit von einem alle mineralischen Brennstoffe umfassenden Verkohlungsprozeß zu sprechen. Die Kohlen des Silurs sind bei dem Fehlen sonstiger Pflanzenreste in dieser Formation vermutlich auf Algen zurückzuführen, während im Devon schon einige der in der Steinkohlenformation ihre Hauptentwickelung findenden Pflanzen kohlebildend auftreten. In den jüngern Formationen wurden Farne, Cykadeen und Koniferen aufgehäuft, und die letztere Klasse hat neben Dikotyledonen fast ausschließlich das Material der steinkohlenartigen Tertiärkohlen geliefert. Den Konsequenzen aus der Annahme eines langsamen Verkohlungsprozesses entsprechend, sind die Steinkohlen im allgemeinen ältere Kohlen als die Braunkohlen und werden ihrerseits durch Anthracit an Alter übertroffen. Abweichungen von dieser Regel lassen sich auf besondere Umstände zurückführen, welche bald beschleunigend, bald verlangsamend auf den Verlauf des Prozesses einwirken mußten. So verschafften starke Schichtenstörungen den sich entwickelnden Gasen durch Spaltenbildungen einen Ausweg; ein Gehalt an vitriolisierendem Eisenkies bildet neben Eisenvitriol freie Schwefelsäure, welche verkohlend auf die pflanzliche Substanz einwirkt, und in demselben Sinn unterstützt eine Erhöhung der Temperatur, wie sie eruptierendes Gestein hervorbringen kann, den Prozeß. So ist am Meißner in Hessen Braunkohle durch einen bedeckenden Basalt stellenweise in einen stängelig abgesonderten Anthracit (Stangenkohle) umgewandelt, und ähnliche Erscheinungen sind von Salesl bei Aussig in Böhmen, von Mährisch-Ostrau u. a. O. bekannt. Wurden dagegen die Schichten der betreffenden Formation nicht von jüngern bedeckt, so fehlte ein Haupterfordernis der Einleitung des Verkohlungsprozesses, der hohe Druck. So kommen in den Gouvernements Tula und Kaluga Kohlen vor, welche nach ihren organischen Resten (Stigmaria, Lepidodendron) zweifellos der Steinkohlenformation angehören, während sie der Braunkohle durchaus ähnlich geblieben sind. Die die Kohlen begleitenden Gesteine sind in einem ähnlichen unreifen Zustand: statt der Schieferthone sind plastische Thone und Letten entwickelt; die Sandsteine sind locker, fast lose Sande.

Verbreitung. Produktion. Verbrauch

Die wichtigsten Kohlenfelder (soweit sie der Steinkohlenformation angehören, der übrigen wurde schon oben Erwähnung gethan) sind in Deutschland, von W. nach O. geordnet. 1) das Aachener Becken oder das Doppelbecken an der Worm und Inde, nach Deutschland hereinragende Teile des großen belgischen Beckens; 2) das Saarbecken oder Saarbrückener Becken, an welchem außer Preußen auch Bayern und Lothringen partizipieren; 3) das westfälische oder Ruhrbecken, zu welchem als äußerste Vorposten nach N. die Kohlenfelder von Ibbenbüren und Piesberg bei Osnabrück gehören; 4) und 5) die beiden unbedeutenden Kohlenvorkommnisse von St. Bilt im Elsaß und Berghaupten in Baden; 6)-10) die ebenfalls nur kleinen Becken von Ilfeld bei Nordhausen, Wettin-Löbejün in der Provinz Sachsen, Manebach-Kammerberg in Thüringen, Stockheim bei Koburg und Erbendorf in Oberfranken; 11) und 12) im Königreich Sachsen das größere Zwickau-Chemnitzer und das kleinere Plauensche Becken; 13) und 14) die beiden schlesischen Becken, das von Waldenburg und das oberschlesische, in dessen Zentrum Königshütte gelegen ist. Die relative Wichtigkeit der Kohlenfelder Deutschlands erhellt aus der folgenden, aus die Produktion des Jahrs 1873 bezüglichen Tabelle, welche für die Vergleichszwecke auch gegenwärtig noch ausreicht:

Steinkohlenbecken Zahl der Gruben Prozent der Gesamtzahl Produktion in Zentnern Prozent der Gesamtproduktion Wert in Mark Prozent des Gesamtwerts Arbeiter Prozent der Gesamtzahl

Westfälisches Becken 230 42,4 328161620 45,9 180227595 45,8 80281 46,0

Qberschlesisches Becken 132 24,3 155380208 21,8 62077491 15,8 32621 18,8

Saarbecken 38 7,0 96851737 13,6 79696177 20,2 24469 14,1

Zwickau - Plauen 73 13,5 63 321 518 8,938109831 9,7 16429 9,5

Waldenbura 35 6,5 45876197 6,4 1042384 5,7 12298 7,5

Aachener Becken 18 3,3 21037039 3,0 10788069 2,7 6078

Stockheim 6 1,1 1311879 0,2 745863 0,2 683 0,4

Wettin und Lödejün 3 0,5 1045137 0,1 681429 0,2 400 0,3

Ilfeld 3 0,5 501095 0,1 262086 0,1 215 0,2

Berghaupten 3 0,5 253883 0,0 192024 0,0 142 0,1

Manebach und Kammerberg 2 0,4 19831 0,0 12981 0,0 36 0,0

Zusammen: 543 100,0 713760144 100,0 394035930 100,0 173652 100,0

Während unter den außerdeutschen Ländern Belgien reiche Kohlenlager im Zusammenhang mit dem Aachener Becken besitzt, sind die französischen Becken (St.-Etienne, Creusot, Autun, Alais etc.) unbedeutender. Spanien und Portugal scheinen große Vorräte an Steinkohlen zu bergen, wogegen Italien und die Schweiz nur wenige und kleine Partien der produktiven Steinkohlenformation aufzuweisen haben. Im O. Deutschlands sind in Böhmen mehrere Becken (Kladno, Rakonitz, Pilsen) zu verzeichnen, ferner das Ostrauer in Mähren und Österreichisch-Schlesien. Rußland besitzt außer den oben erwähnten Kohlen der Gouvernements Kaluga und Tula solche am Donez im Süden, am Ural und hoch im N. auf den Bäreninseln und Spitzbergen. Das großbritannische Inselreich hat relativ zu seinem Gesamtgebiet das größte Areal Kohlenfelder. Es verteilen sich dieselben auf eine Anzahl isolierter Becken, unter denen die von Northumberland, Yorkshire, Derbyshire, Südwales und Schottland die wichtigsten sind. Unter den übrigen Erdteilen der Alten Welt ist besonders Asien und hier wiederum China, wo die Kohlenlager über ein Areal von 200,000 QM. verbreitet sind (s. China, S. 4), sehr reich an Kohlen, die zum größten Teil der Steinkohlenformation angehören. Als unermeßlich werden die Kohlenschätze Nordamerikas geschildert, die sich über sechs große Territorien verbreiten: 1) das appalachische Kohlenfeld, an welchem die Staaten Pennsylvanien, Ohio, Virginia, Kentucky, Tennessee und Alabama partizipieren; 2) das Illinois-Missouri-Kohlenfeld, von dem außer auf die benennenden Staaten Teile auf Indiana, Kentucky, Iowa, Kansas

272

Steinkohle - Steinkohlensormation.

und Arkansas entfallen; 3) das Kohlenfeld in Michigan; 4) das in Texas; 5) Rhode-Island und endlich 6) das Doppelfeld von Neuschottland und Neubraunschweig. Die Ausdehnung der Kohlenfelder in englischen Quadratmeilen wird veranschlagt für China auf mehr als 200,000, Nordamerika auf 193,870, Ostindien 35,500, Neusüdwales 24,000, Großbritannien 9000, Deutschland 3600, Spanien 3500, Frankreich 1800, Belgien 900. Die Kohlenproduktion hat in verhältnismäßig kurzer Zeit einen rapiden Aufschwung genommen. Sie betrug 1860 in England, Deutschland, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Frankreich, Belgien und Österreich 124 Mill. metr. Tonnen. Die Gesamtproduktion (zu 1000 kg) betrug nach Neumann Spallart ("Übersichten der Weltwirtschaft") 1884: 409,381,515 Ton. (à 1000 kg), die sich auf die einzelnen Länder folgendermaßen verteilen: Großbritannien 163,329,904, Deutschlands 121,000, Frankreich 20,023,504, Belgien 18,051,499, Österreich 17,199,518, Rußland 3,500,000, Ungarn 2,525,056, Spanien 979,350, Schweden 196,831, Italien 164,737, Niederlande 49,554, Portugal 17,000, Schweiz 5800, Europa 298,163,753. Vereinigte Staaten 100,268,109, China 3,000,000, Neusüdwales 2,793,086, Britisch-Nordamerika 1,673,000, Ostindien 1,420,183, Japan 755,800, Chile 490,000, Neuseeland 488,524. Die Steinkohlenproduktion im Deutschen Reich betrug 1887 über 60 Mill. Ton. und verteilte sich wie folgt:

Westfalen 21528741

Schlesien 16187078

Rheinland 16127350

Hannover 581546

Königr. Preußen 54548283

Königreich Sachsen 4293417

- Bayern 683619

Baden 6006

Elsaß-Lothringen 693 679

Deutsches Reich 60333984

Der Kohlenverbrauch gibt einen Maßstab für die materielle Kultur. Er betrug in metr. Tonnen in:

Absoluter Verbrauch Auf den Kopf der Bevölkerung

1865 1884 1865 1884

Großbritannien 90404000 140135000 3,092 3,900

Belgien 7 631 000 13483000 1,577 2,331

Vereinigte Staaten 18825000 98109000 0,598 1,766

Deutschland 26680000 69001000 0,730 1,505

Frankreich 8522000 30941000 0.470 0,816

Osterreich 5050000 18132000 0,139 0,464

Rußland 1085000 5200000 0,015 0,066

Die Frage nach der Möglichkeit einer Erschöpfung der S. hat namentlich für England größeres Interesse. Man nimmt an, daß das Land noch einen Vorrat von ca. 146 Milliarden Ton. innerhalb der Tiefe von 4000 Fuß besitze; davon sind 90 Milliarden Ton. aufgeschlossen, während man 56 Milliarden auf voraussichtlich zu erschließende Flöze (?) rechnet. Nimmt man an, daß sich der Kohlenverbrauch in bisheriger Weise weiter steigern werde, so würden diese Schätze noch für 250 Jahre ausreichen. Auch Deutschland kann seinen Bedarf noch für Jahrhunderte decken, dann aber bieten Rußland und andre Länder reichlichen Ersatz, der voraussichtlich durch Herabsetzung der Transportkosten für die europäischen Länder erreichbar werden wird. Nicht vor einer geologischen oder technischen, sondern vor einer ökonomischen Frage werden also die folgenden Generationen hinsichtlich des Kohlenbedarfs stehen. - Die Benutzung der S. ist wesentlich eine doppelte: die als Brennmaterial und die der Gewinnung der Destillate, welch letztere sich in Leuchtgasfabrikation, Gewinnung des Teers und seiner Derivate etc. gliedert. Untergeordnet ist die Verwendung politurfähiger Kohlen zu Schmuckgegenständen (Gagat in England und Württemberg), an Eisenkies und Asche reicher Abarten zur Alaungewinnung, der Steinkohlenasche als Dünger und als Zusatz zum Mörtel.

Die Benutzung der S. reicht bei einigen Völkern weit zurück. So sollen die Chinesen schon frühzeitig ihren Wert erkannt haben, und in einigen englischen Gruben hat man Steinwerkzeuge vorgefunden, so daß die Kenntnis der Kohle älter als die des Eisens sein würde. Die alten Deutschen scheinen neben Holz nur den Torf als Brennmaterial verwendet zu haben; es finden sich auch alte Schlackenhalden an der Ruhr, also in kohlenreicher Gegend, nicht im Thal, sondern offenbar wegen der bequemen Nähe der Wälder auf Bergesrücken. Daß die Römer, als sie als Eroberer England betraten, die Kohlen wenigstens an den Ausstrichen benutzt haben, ist durch Funde auf dem Herd eines römischen Bades bewiesen. In Deutschland scheint das Zwickauer Becken schon von den bergbautreibenden Sorben benutzt worden zu sein, während die Ausbeutung des belgischen und Aachener Beckens sich rückwärts bis ins 11., des Ruhrbeckens bis ins 14. Jahrh. verfolgen läßt. In England werden schon im 9. Jahrh. Kohlen als Brennmaterial urkundlich erwähnt; im 12. Jahrh. sind sie bereits ein wichtiger Handelsartikel, der sich nicht mehr vom Markt verdrängen ließ, obgleich mehrere Edikte ihre Benutzung als luftverpestend verboten. Vgl. Geinitz, Fleck und Hartig, Die Steinkohlen Deutschlands und andrer Länder Europas (Münch. 1865); v. Dechen, Die nutzbaren Mineralien und Gebirgsarten im Deutschen Reich (Berl. 1873); Hull The coalfields of Great Britain (4. Aufl., Lond. 1880); Mac Farlane, The coalregions of the United States (New York 1873), Mietzsch, Geologie der Kohlenlager (Leipz. 1875); Pechar, Kohle und Eisen in allen Ländern der Erde (Stuttg. 1878); Höfer, Die Kohlen- und Eisenerzlagerstätten Nordamerikas (Wien 1878, Ausstellungsbericht); Muck, Grundzüge und Zieleder Steinkohlenchemie (Bonn 1881); Derselbe, Chemisches Steinkohlenbüchlein (das. 1882); Toula, Die Steinkohlen (Wien 1888); Demanet, Betrieb der Steinkohlenbergwerke (deutsch, Braunschw. 1886).

Steinkohleformation (Kohlenformation, karbonische Formation; hierzu die Tafeln "Steinkohlenformation I-III"), ein vorwaltend aus Kalksteinen, Konglomeraten, Grauwacken, Sandsteinen und Schieferthonen, untergeordnet aus Steinkohle, Sphärosideriten und Kieselschiefern bestehendes paläozoisches Schichtensystem, das bei vollkommener Entwickelung der Systemreihe der devonischen Formation aufgelagert ist und seinerseits vom Rotliegenden überlagert wird. Die Trennung von den beiden benachbarten Formationen wird häufig durch vollkommene Konkordanz und petrographische Ähnlichkeit der betreffenden Grenzschichten, namentlich gegen das Rotliegende hin, erschwert. Paläontologisch wird die S. charakterisiert durch die in keiner andern Periode erreichte Üppigkeit der Kryptogamenflora und durch das erstmalige Auftretenvon Reptilien und luftatmenden Tieren. Sehr häufig ist die mitunter bis zu 7000 m Mächtigkeit anschwellende Schichtenfolge den ältern Formationen in Form flach tellerartiger Mulden, Becken oder Bassins aufgelagert, deren Zusammenhang und ursprüngliche Lage allerdings oft durch sekundäre Störungen (Verwerfungen) unterbrochen und verändert worden sind. Das beigegebene Profil (s. Tafel III) durch einen Teil des Kohlenfeldes von Zwickau (Sachsen) soll ein Bild der allgemeinen Lagerungsverhältnisse geben. Es ist der südwestliche Flügel einer Mulde mit einer Mehrzahl

Steinkohlenformation I.

Säulenglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus verus. (Art. Krinoideen.)

Palaeocidaris clliptica, ganze Schale. (Art. Echinoideen.)

Kinnlade von Cochliodus contortus. (Art. Selachier.)

Rückenstachel von Orodus cinctus.

(Art. Selachier.)

Geöffnet, mit : aufgerollte Armgerüst.

Rückenstachel von

Tristychius arcuatus.

(Art. Selachier.)

Spirifer hystericus. (Art. Brachiopoden.)

Platycrinus triacanmodactylus. (Art. Krinoideen.)

Vorderansicht. Seitenansicht. Conocardium fusiforme. (Art. Muscheln.)

Einzelner Arm mit den Ranken.

ChoilCtes Dalmanni. (Art. Brachiopoden.)

Von oben. Von der Seite. [Von unten. Pentremites florßalis. (Art. Krinoideen.)

Innere Seiten-Kammern, ansieht.

Chaetetes radians. (Art. Koranen.)

Nat. Vorder-Gr. ansieht.

Fusulina cylindrica. (Art. Rhizopoden.)

Oyclophthalmus Bucklandi, daneben -lie Flügeldecken eines Käfers.

(Art. Spinneniere.)

Goniatites sphaericus. (Art. Tintenschnecken.)

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

Goniatites Jossae (Art. Tintenschnecken.)

Zum Artikel »Steinkohlenformation«

Steinkohlenformation II.

1. Zahnfarn (Odontopteris). - 2. Schuppenbaum (Lepidodendron). -

3. Cordaites borassifolia. - 4.Pecopteris cyathea. - 5. Kalamiten. -

6. Sigillaria. - 7. Stigmarienform einer Sigillarie mit Wurzeln im

Wasser. - 8. Blattstern von Annularien.

Steinkohlenformation III.

GEOLOGISCHES PROFIL DURCH DAS KOHLENFELD VON ZWICKAU.

Von der Cainsdorfer Kirche nach Morgensternschacht II (Nach Mietzsch).

273

Steinkohlenformation (Abteilungen, Flora).

von Kohlenflözen und zeigt neben dem allgemeinen Einfallen der Schichten nach Nordosten die Störungen dieser Gesetzmäßigkeit durch die Verwerfungen, welche einzelne Abschnitte der Kohlenflöze und der übrige Schichten losgetrennt und, relativ zu ihrer Umgebung, in eine größere Tiefe versetzt haben.

Wo immer alle Glieder der S. entwickelt sind, läßt sich eine Zweiteilung der Formation nach petrographischen u. paläontologischen Unterschieden nachweisen, deren unteres Glied zur Bildung von Facies neigt, für welche es aber an Übergängen ineinander nicht mangelt. In Amerika, den meisten Becken Englands, in Frankreich, Belgien, am Niederrhein, in Schlesien und Rußland wird die unterste Abteilung von einem gewöhnlich festen und dichten, mitunter (Rußland) kreideartigen Kalkstein (Bergkalk, Mountain limestone, Kohlenkalk, metallführender Kalk) gebildet, der reich an organischen Resten meerischen Ursprungs ist. Untergeordnet kommen mit dem Bergkalk Dolomit, Anhydrit, Gips, Steinsalz (Westvirginia, Durham, Bristol) vor. In Devonshire, Irland, Nassau, am Harz, in Schlesien, Mähren und den Alpen (Gailthaler Schichten) bilden dagegen Thonschiefer, Sandsteine, Grauwacken und Kieselschiefer ein als Kulm bezeichnetes Äquivalent des Kohlenkalks. Ärmer an Versteinerungen als der Kohlenkalk, führt der Kulm immerhin noch genug Arten (Posidonomya Becheri, Goniatites sphaericus etc.) gemeinsam mit dem Kalk, um ihn als bloße Facies desselben aufzufassen. Während die Thonschiefer oft sehr reich an Posidonomya Becheri sind (Posidonomyenschiefer), stellen sich in den Grauwacken und Sandsteinen Pflanzenreste ein (die im Kohlenkalk nur als äußerste Seltenheiten bekannt sind), mitunter sogar zu kleinen Flözen angehäuft (Calamites transitionis, Sagenaria, Stigmaria). Man betrachtet diese Facies als eine Bildung innerhalb flacher Meeresbuchten, während der Kohlenkalk einen Absatz des hohen Meers darstellen würde. Eine dritte Facies dieser untersten Abteilung ist endlich die von sehr groben Konglomeraten mit untergeordneten Sandsteinen und Schieferthonen, an einigen Punkten Sachsens flözführend, in mehreren Becken durch auskeilende Wechsellagerung mit Kohlenkalk verknüpft. Es würde sich diese Art der Entwickelung als eine Uferbildung deuten lassen. - Über jeder dieser Facies ist als zweites Glied der S. ein Sandstein mit untergeordneten Konglomeraten entwickelt, der nur selten und dann gewöhnlich unbauwürdige Flöze enthält. Dieser flözleere Sandstein (obere Kulmgrauwacke, Millstone grit) wird häufig dem Kohlenkalk und Kulm noch beigezählt und mit diesem zusammen als subkarbonische Formation der obern Abteilung, der produktiven Kohlenformation (Hauptsteinkohlenformation), entgegengestellt. Diese besteht an den meisten Orten aus Sandsteinen und Schieferthonen, aus Steinkohlen, thonigen Sphärosideriten, bald in einzelnen Konkretionen in den Schieferthonen eingeschlossen, bald zusammenhängende Lagen bildend, und Kohleneisenstein (s. Spateisenstein). Die Kohle ebensowohl als die Eisenerze sind lediglich gelegentliche Begleiter der übrigen Gesteine und, selbst wo sie vorhanden sind, in so geringer Mächtigkeit gegenüber den Sandsteinen und Schieferthonen entwickelt, daß sie trotz ihrer großen technischen Wichtigkeit nur als untergeordnete Glieder der produktiven S. bezeichnet werden können. Es ist deshalb die Benennung "produktiv" für die obere Abteilung keine glückliche, um so weniger, als neuere Untersuchungen zu beweisen scheinen, daß die nach dieser Bezeichnung vorausgesetzte ungefähre Gleichalterigkeit für die wichtigsten Kohlenvorkommnisse nicht besteht, daß vielmehr einige englische sowie die von Ostrau und Waldenburg dem Kulm, die westfälischen, belgischen, nordfranzösischen und viele englische einer untern Stufe der obern Abteilung zugerechnet werden müssen, während die Flöze von Pilsen und Zentralfrankreich eine jüngere Periode derselben Abteilung repräsentieren. Aber auch diese Abteilung führt an manchen Orten, z. B. Yorkshire, Kentucky, Öberschlesien und namentlich in Rußland (Fusulinenkalk), Kalksteine mit reichen Resten marinen Charakters. Das Hangende der produktiven S. wird in einigen Gegenden (z. B. im Saargebiet) von einer Schichtenfolge (Ottweiler Schichten) gebildet, deren innige Verwandtschaft mit höher gelegenen (Cuseler Schichten, s. Dyasformation) die oben erwähnte Schwierigkeit der Abgrenzung gegen das Rotliegende bedingt. Die für die Kohle der S. gegebene geographische Verbreitung (s. Steinkohle) stellt natürlich nur einen kleinen Teil derjenigen der S. dar, insofern als namentlich der Bergkalk über große Horizontalstrecken hin als anstehendes Gestein dominiert. So nimmt derselbe einen großen Teil des südlichen und mittlern England ein und bildet im Innern mitunter groteske Bergpartien, an der Küste von Südwales steile Klippen. In Schottland und in einigen Gegenden Englands sind die Facies der Konglomerate und des Kulms die Unterlage der produktiven S., in Irland fehlt die jüngere Abteilung gänzlich. In Deutschland tritt Kohlenkalk als unterstes Glied des Aachener (und belgischen) sowie des westfälischen Beckens auf, weniger und meist durch Kulm vertreten in Schlesien, während in Hessen-Nassau nur die untere Abteilung (Kulm), bei Saarbrücken lediglich die obere Abteilung vorkommt. In Böhmen fehlt ebenfalls die subkarbonische Formation; dagegen sind in Mähren, besonders aber in Rußland, auf Spitzbergen, auf den Bäreninseln und in Nordamerika Kohlenkalke in großer Verbreitung bekannt.

Die pflanzlichen und tierischen Reste der S. unterliegen einer ähnlichen Trennung wie das Gesteinsmaterial. Die erstern sind wesentlich auf die Steinkohlenflöze und die sie begleitenden Schieferthone beschränkt, die tierischen Reste an den Kohlenkalk und den Kulm geknüpft. Die Flora der S. war trotz aller Üppigkeit, wie sie sich in der großartigen Aufhäufung zu mächtigen Kohlenflözen ausspricht, eine formenarme: es fehlen die höhern Dikotyledonen vollständig, und auch Koniferen, Palmen und Cykadeen spielen eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt des pflanzlichen Lebens lag in den Kryptogamen, von denen einige Geschlechter in größter Anzahl der Individuen und in später nie wieder erreichten Dimensionen auftreten. Die Kalamiten (s. Tafel "Steinkohlenformation II", Fig. 5) haben unter der Flora der Jetztwelt die Schafthalme (Equiseten) zu nächsten Verwandten, und in die gleiche Klasse dürften auch die zierlichen Rosetten der Annularien (Fig. 8 und Sphenophyllen gehören. Zu den Lykopodiaceen zählen die Siegelbäume (Sigillarien, Fig. 6), die Schuppenbäume (Lepidodendren, Fig. 2) und vielleicht auch die Cordaites-Arten (Fig. 3), die jedoch von andern mit mehr Wahrscheinlichkeit den Cykadeen zugezählt werden. Besonders die erstgenannten Angehörigen einer Familie, welche jetzt fast ausschließlich niedrige, krautartige Pflanzen ausweist, mögen als baumartige Formen mit ihren Stämmen, welche deutliche, im Quincunx gestellte, bald rhombische, bald sechsseitige Blattnarben tragen, den Wäldern der S.

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Steinkohlenformation (Tierreste).

den typischen Charakter aufgeprägt haben. Die Stigmarien (Tafel II, Fig. 7) gehören zu ihnen als die Wurzelstöcke mit weithin verzweigten Wurzeln, während die Lücken zwischen den Stämmen durch zahlreiche krautartige Farne (man kennt über 200 Arten), zum Teil noch jetzt lebenden engverwandt, ausgefüllt waren (z. B. Odontopteris, Fig. I). Außer diesen niedrigen farnformen kamen aber auch Baumfarne vor (z. B. Pecopteris, Fig. 4). Neben den Gefäßkryptogamen treten die Cykadeen (Noeggerathia, Pterophyllum) und die Koniferen (aus der Abteilung der Araukarien) nach Arten- und Individuenzahl weit zurück. Die meisten gut erkennbaren Pflanzenreste sind den die Kohlenflöze begleitenden Schieferthonen eingelagert; es unterliegt aber keinem Zweifel und ist durch viele mikroskopische Untersuchungen dargethan, daß die Kohlenflöze selbst aus dem Detritus derselben Pflanzen bestehen, deren einzelne Fragmente in den benachbarten Thon eingeschlossen wurden. Sigillarien, ihre Wurzelstöcke, die Stigmarien, und Lepidodendren sind nachweisbar die Hauptkohlenpflanzen, schon der Masse nach untergeordnet die Kalamiten (manche Rußkohle) und Araukarien, noch seltener Farne. Das Gesamtbild der Flora der S. ist das einer üppigen tropischen Sumpfflora; aber trotzdem ist die in den Kohlenflözen aufgehäufte Pflanzenmenge eine erstaunliche: hat doch Chevandier berechnet, daß ein 100jähriger Buchenwald beim Verkohlen ein Schichtchen von nur 2 cm Kohle liefern würde. Man hat deshalb geglaubt, lokale Aufhäufungen der Pflanzenleichen durch Anschwemmungen annehmen zu müssen. Aber das Vorkommen aufrecht stehender Stämme, die große Reinheit des kohligen Materials, die ununterbrochene Verbreitung eines und desselben Kohlenflözes über mitunter große Horizontalstrecken widersprechen einer solchen Anschwemmungshypothese und lassen sie höchstens für kleinere Kohlenschmitzchen oder stockartige, in horizontaler Richtung unbedeutend entwickelte Vorkommnisse gelten. Man hat ferner (Mohr) das eigentliche kohlenbildende Material nicht in den oben beschriebenen Pflanzen, sondern vielmehr in Seetangen gesucht, welche, wie die heutigen Sargassomeere (deren Ausdehnung übrigens nach neuern Forschungen auch nicht so bedeutend ist, als man bislang annahm), in großen Bänken aufgetreten und nach dem Absterben in geschlossenen Massen auf den Boden gesunken seien. Aber die mikroskopische Untersuchung der Steinkohlen widerspricht dieser Auffassung vollständig. So bleibt nichts übrig, als Sümpfe und Moräste auf flachen Ufern des Meeresstrandes, den Dschangeln (s. d.) vergleichbar, anzunehmen, in denen unter tropischer Sonne eine die unsrige an Üppigkeit weit übertreffende Pflanzenwelt sich entwickelte. Periodische Einbrüche des Meers vernichteten vorübergehend dieses Leben und führten Schlamm und Sand, das jetzt als Schieferthon und Sandstein die einzelnen Kohlenflöze trennende Material, herbei, welches nach Rückzug des Meers für eine neue Vegetation den Boden darbot. Ob sich von diesen pelagischen oder paralischen Kohlenbecken einige kleinere als limnische abtrennen lassen, die sich an und in Süßwasserseen gebildet haben würden, diese Ansicht steht und fällt mit der Deutung gewisser Molluskenreste (Anthracosia) in der Unterlage der betreffenden Flöze als Süßwasser- oder Seeformen (vgl. Süßwasserformationen). - Der Typus der Kohlenpflanzen weist auf eine mittlere Temperatur von 20-25° hin, und der Umstand, daß selbst hochnordische Kohlenbecken eine tropischen Charakter tragende Flora geliefert haben, scheint die Annahme zu rechtfertigen, es sei diese hohe Mitteltemperatur damals eine allgemein herrschende gewesen. Auf den Zustand der Atmosphäre während der S. lassen die großartigen Kohlenschätze insofern schließen, als die aufgehäuften Pflanzen zum Aufbau ihrer Körper der Atmosphäre den in ihr als Kohlensäure enthaltenen Kohlenstoff entzogen. Vor und während der S. mußte demnach die Luft viel reicher als heute an Kohlensäure sein. Man hat auf Grund einer Schätzung der Menge der Kohlen den damaligen Gehalt auf 0,06 Proz. berechnet, also auf das 150fache des heutigen. Die Tierreste der S. widersprechen der Annahme einer kohlensäurereichen Atmosphäre nicht: fehlen doch alle warmblütigen Tiere, während die Reptilien erfahrungsmäßig in kohlensäurereicher Luft leben können. In der obern Abteilung der S. war das tierische Leben auf ein Minimum beschränkt, ähnlich wie heute in unsern Urwäldern. Interesse erregen einige Landschnecken, Skorpione (z. B. Cyclophthalmus Bucklandi, s. Tafel I), Spinnen, Tausendfüße, Heuschrecken, Schaben und Käfer (s. die Flügeldecke auf derselben Platte). Die Wassertümpel waren von kleinen Schalenkrebsen (Leaia, Leperditia, Estheria) bevölkert, während als höchst organisierte Tiere Amphibien auftreten. Die meisten derselben gehören Mittelformen zwischen den Echsen und Batrachiern an, den großschädeligen Labyrinthodonten. Weit größern Reichtum an tierischen Resten, unzweifelhaften Meeresbewohnern, birgt der Bergkalk. Von Protozoen kommt eine weizenkorngroße Foraminifere, Fusulina cylindrica (s. Tafel I), namentlich in Rußland und Amerika in zahllosen Exemplaren vor, bestimmte Lagen des Kalks (Fusulinenkalk) fast ausschließlich zusammensetzend. Die Korallen (Chaetetes, s. Tafel I), welche ebenfalls mitunter in gesteinsbildender Fülle auftreten, gehören denselben Ordnungen wie die des Silurs und der Devonischen Formation (s. d.) an. Die Krinoideen sind zahlreich nach Formen und Individuen; zu der Krinoideenabteilung der Blastoideen gehört das Genus Pentremites (s. Tafel I), welches zwar schon im Silur und Devon auftritt, in der Steinkohle aber seine zahlreichsten Vertreter besitzt. Aus der Ordnung der Seelilien stellt die Tafel die Stielglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus Verus dar, welche sich schichtenweise ebenso aufgehäuft vorfinden wie die Säulenglieder von Encrinus im Muschelkalk oder von Pentacrinus im Lias sowie Platycrinus triacanthodactylus. Seeigel, aus 30-35 Reihen sechsseitiger Platten zusammengesetzt, sind durch mehrere Genera (darunter Palaeocidaris, s. Tafel I) vertreten. Unter den Mollusken sind die Ordnungen der Brachiopoden und Cephalopoden, wenn auch noch artenreich, doch nicht mehr so vorwaltend wie in den noch ältern Formationen (Chonetes Dalmanni, Spirifer hystericus, Goniatites Jossae und G. sphaericus, s. Tafel I). Zu den Pelekypoden zählen die im Kulm häufige Posidonomya Becheri, die Anthracosia und das nach vorn abgestutzte, nach hinten schnabelförmig ausgezogene und klaffende Conocardium fusiforme (s. Tafel I). Die Gastropoden gehören fast ausnahmslos denselben Genera wie die der devonischen Formation an. Die Trilobiten klingen in der S. aus und sind nur noch durch die kleinen und seltenen Arten der Gattung Phillipsia vertreten; daneben sind, wenn auch selten, Molukkenkrebse (Limulus) beobachtet worden. Von Fischen der S. findet man Zähne und Rückenstacheln besonders häufig. Sie gehören Haien an, wenn auch Abteilungen, welche in der Jetztwelt teils ganz erloschen, teils nur durch wenige Formen vertreten sind (Orodus. Tristychius

275

Steinkohlengas - Steinla.

und Cochliodus, s. Tafel I). Die Ganoidengeschlechter Palaeoniscus und Amblypterus kommen in sehr zahlreichen vollständigen Exemplaren in Schichten (Lehbach im Saarbecken) vor, welche jetzt dem Rotliegenden beigezählt werden. - Die vulkanische Thätigkeit lieferte während der Steinkohlenperiode Diabase (in Schottland, England, Frankreich, an einzelnen Punkten Deutschlands), Felsitporphyre (Sachsen, Niederschlesien, Frankreich), seltener Diorite, Pechsteine und Melaphyre, während die eigentliche Eruptionszeit der zuletzt genannten erst in die Dyasperiode fällt. Namentlich die Diabase sind durch Decken und Tuffe, welche sich zwischen die karbonischen Gesteine einschalten, besonders häufig als zweifellos gleichzeitige Bildungen charakterisiert. Es mögen diese sowie jüngere Eruptivgesteine zum Teil auch die zahlreichen Schichtenstörungen (s. Verwerfungen), welchen die Gesteine der S. unterworfen sind, verursacht haben. - An technisch wichtigen Materialien liefert die S. in erster Linie Kohlen und Eisenerze, außerdem wichtige Erze besonders auf gangförmigen Lagerstätten. So gehört ein Teil der Oberharzer Gänge von silberhaltigem Bleiglanz dem Kulm an; Englands und Amerikas Kohlenkalk birgt ebenfalls Bleiglanzgänge. Von den Aachener und belgischen Zinkerzlagerstätten bilden einige Gänge, andre Nester und Lager, teils in karbonischen Gesteinen, teils an der Grenze zwischen diesen und devonischen Schichten, teils innerhalb des devonischen Systems. Der Bergkalk selbst endlich dient hin und wieder als Marmor und als Zuschlag beim Hochofenbetrieb, gewisse Varietäten des flözleeren Sandsteins als Mühlstein (woher der englische Name: Millstone grit), andre als feuerfestes Material. Vgl. die bei Art. Steinkohle (S. 272) angeführten Werke, außerdem: Weiß, Das Steinkohlengebirge an der Saar (Berl. 1875); Lottner, Das westfälische Steinkohlengebirge (2. Ausg., Iserl. 1868); Geinitz, Geognostische Darstellung der S. in Sachsen (Leipz. 1856); Römer, Geologie von Oberschlesien (Bresl. 1870); Geinitz, Die Versteinerungen der S. in Sachsen (Leipz. 1855); Andrae, Vorweltliche Pflanzen aus dem Steinkohlengebirge der preußischen Rheinlande und Westfalens (Bonn 1865-69); Stur, Beiträge zur Kenntnis der Flora der Vorwelt (Wien 1875-83).

Steinkohlengas, s. Leuchtgas.

Steinkohlenkreosot, s. Phenol.

Steinkohlenpech, pechartige Masse, welche aus Steinkohlenteer gewonnen wird. Destilliert man aus letzterm die flüchtigern Öle ab, so erhält man als Rückstand Asphalt, etwa 80 Proz. vom Gewicht des Teers; destilliert man etwa 10 Proz. mehr ab, so bildet der Rückstand weiches und bei noch weiter fortgesetzter Destillation mittelhartes und hartes Pech. Seit Begründung der Anthracenindustrie destilliert man allgemein bis zur Bildung von hartem Pech, pumpt dann wieder schweres Teeröl in die Blase und erhält, je nach der Menge des letztern, weiches Pech, Asphalt, präparierten Teer oder künstlichen Stockholmer Teer. Weiches Pech erweicht bei 40° und schmilzt bei 60°, mittelhartes erweicht bei 60° und schmilzt bei 100°, hartes erweicht bei 100° und schmilzt bei 150-200°.

Steinkohlenasphalt dient als Surrogat des natürlichen Asphalts und wird zu diesem Zweck mit Sand, Kies, Asche, Ziegelmehl, Kalkstein, Kreide etc. gemischt. Sehr verbessert wird er durch Erhitzen mit Schwefel, und ein derartiges Präparat bildet, vielleicht noch mit Zusatz von indifferenten erdigen Bestandteilen, den Häuslerschen Holzzement. Hartes Pech wird in weiches verwandelt (wiederbelebt), indem man es in Teer, Asphalt oder Schweröl schmelzt und mit Hilfe einer Schraube ohne Ende bis zu völliger Homogenität knetet. Das S. dient besonders zur Brikettfabrikation, eignet sich aber auch vortrefflich zur Darstellung von Ruß, als Reduktionsmittel bei chemischen Prozessen und zur Zementstahlfabrikation. Wird das Pech noch in der Blase mit sehr viel Schweröl verdünnt, so erhält man den präparierten Teer, der viel billiger ist als roher Teer, dabei aber für Anstriche, zur Dachpappenfabrikation, in der Seilerei etc. ungleich wertvoller als letzterer. Er dringt schneller und tiefer in Holz und Stein ein, trocknet schneller und ohne Risse (in 12-24 Stunden) und gibt einen schönen glänzenden Überzug. Als Surrogat des Holzteers (Stockholmer Teer) führt er den Namen künstlicher Stockholmer Teer. Einen feinern, noch schneller (in 4-6 Stunden) trocknenden Firnis für feinere Eisenwaren erhält man auf gleiche Weise aus Pech und Leichtöl, und endlich wird dieser noch mit Naphtha oder Petroleumäther u. dgl. gemischt, in welchem Fall der Lack in einer Stunde, ja in einer Viertelstunde trocknet. Alle drei Firnisse haften ungemein fest am Eisen und geben einen ziemlich harten, stark glänzenden und sehr glatten überzug. Diese Verwendungsarten des Steinkohlenpechs konsumieren nur sehr wenig von der großen produzierten Menge, und man treibt deshalb die Destillation noch weiter, um schließlich nur Koks als Rückstand zu erhalten, für welche stets Absatz gefunden werden kann. Bei der Anwendung gußeiserner Retorten und eines Exhaustors, welcher zur Beförderung der Dampfentwickelung ein teilweises Vakuum in der Retorte erzeugt, erhält man zwischen 260 und 315° meist Naphthalin, dann bis 370° ein anthracenreiches Produkt und bei höherer Temperatur minder flüchtige Körper. Die Destillate geben beim Stehen einen Absatz, aus welchem Rohanthracen gewonnen wird, und das übrigbleibende Öl dient zum Schmieren. Der Ausführung der Pechdestillation im größern Umfang steht bis jetzt noch die Schwierigkeit entgegen, ein passendes Retortenmaterial zu finden. Vgl. Lunge, Die Industrie der Steinkohlenteer-Destillation etc. (2. Aufl., Braunschw. 1888).

Steinkohlensystem, s. v. w. Steinkohlenformation.

Steinkohlenteerkampfer, s. v. w. Naphthalin.

Steinkolik, s. Harnsteine, S. 175.

Steinkonkretionen, s. Steinigwerden.

Steinkrankheit, die durch Harnsteine (s. d.) hervorgerufenen Beschwerden.

Steinkraut, s. Alyssum.

Steinkreise, s. Steinsetzungen.

Steinkresse, s. Chrysospienium.

Steinkultus, s. Steindienst.

Steinla, Moritz, eigentlich Müller, Kupferstecher, geb. 1791 zu Steinla bei Hildesheim, bildete sich an der Akademie in Dresden, dann in Florenz unter Morghens und in Mailand unter Longhis Leitung. In Florenz vollendete er 1829 einen ausgezeichneten Stich nach Tizians Zinsgroschen. Nach seiner Rückkehr aus Italien ließ er sich in Dresden nieder, wo er später Professor der Kupferstecherkunst an der Akademie wurde und 1830 die Pietà nach Fra Bartolommeo, 1836 den Kindermord nach Raffael, 1838 die Madonna della Misericordia nach Fra Bartolommeo, 1841 die Madonna des Bürgermeisters Meyer nach Holbein stach, welche ihm von der Pariser Akademie die große goldene Preismedaille erwarb. Seine letzten Hauptwerke waren die Stiche nach der Sixtinischen Madonna (1848) und der Madonna mit dem Fisch von Raffael. Er starb 21. Sept. 1858.

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Steinle - Steinmine.

Steinle, Eduard Jakob von, Maler, geb. 2. Juli 1810 zu Wien, war Schüler der Akademie daselbst und von Kupelwieser und ging 1828 nach Rom, wo er sich eng an Overbeck und Ph. Veit anschloß und bis 1834 blieb. In die Heimat zurückgekehrt, lebte er mit einigen Unterbrechungen, unter andern veranlaßt durch einen Aufenthalt in München zur Erlernung der Freskotechnik bei Cornelius, in Frankfurt a. M. und wurde dort 1850 erster Professor am Städelschen Institut. 1838 führte er in der Kapelle des Bethmann-Hollwegschen Schlosses Rheineck seine ersten Fresken aus. Dann begann er im Domchor zu Köln Freskogemälde, die Engelchöre auf Goldgrund darstellend, Schöpfungen von großartiger Wirkung. 1844 malte er für den Kaisersaal zu Frankfurt das Urteil Salomos. 1857 begann die Ausmalung der Ägidienkirche in Münster. Von 1860 bis 1863 beschäftigten ihn die vier großen, die Kulturentwickelung der Rheinlande schildernden Fresken im Treppenhaus des Museums Wallraf-Richartz in Köln. Dann malte er von 1865 bis 1866 die sieben Chornischen der Marienkirche in Aachen aus. Nach Beendigung der Ausschmückung der fürstlich Löwenstein-Wertheimschen Kapelle zu Heubach mit Fresken und Ornamenten wurde ihm 1875 die Ausmalung des Chors im Münster zu Straßburg übertragen, und 1880 erhielt er vom Frankfurter Dombauverein den Auftrag, das Innere des Doms vollständig auszumalen, wozu er einen umfangreichen Entwurf im Verein mit dem Architekten Linnemann aufstellte. S. hat auch eine große Anzahl von meist religiösen Staffeleibildern geschaffen, aber auch Porträte und romantisch gehaltene Genrebilder von feiner Färbung (der Türmer und der Violinspieler in der Galerie Schack zu München); ferner eine Menge von Zeichnungen und Aquarellen, teils religiösen Inhalts, teils nach Shakespeareschen und andern Dichtungen. Diese Aquarelle haben meist einen romantischen Zug, den er schon frühzeitig durch den Verkehr mit Klemens Brentano angenommen hatte, dessen Dichtungen ihm ebenfalls mehrere Motive geboten haben. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: Rheinmärchen und die mehreren Wehmüller nach Brentano, die Beichte in St. Peter zu Rom, Szene aus "Was ihr wollt" von Shakespeare (in der Berliner Nationalgalerie), Schneeweißchen und Rosenrot und der Parzival-Cyklus, sämtlich Aquarelle. S. starb 19. Sept. 1886. Vgl. v. Wurzbach, Ein Madonnenmaler unsrer Zeit (Wien 1879); Valentin, Ed. Jak. v. S. (Leipz. 1887).

Steinlerche, s. Pieper und Flüevogel.

Steinlorbeer, s. Viburnum.

Steinmannit, s. Bleiglanz.

Steinmark, Sammelname für eine Reihe derber, dichter, weißer, gelblicher oder rötlicher, undurchsichtiger, matter, fettig anzufühlender, thonerdehaltiger Silikate, die als Zersetzungsprodukte feldspatiger Mineralien in ihrer Zusammensetzung schwanken und sich zum Teil vom Kaolin, zum Teil vom Nakrit nicht trennen lassen. Als typisches S. wird das aus dem Porphyr von Rochlitz in Sachsen aufgeführt und in Carnat und Myelin getrennt. Beide scheinen sich vom Kaolin nur in Bezug auf den Gehalt an Wasser zu unterscheiden, während die Varietäten aus dem Melaphyr von Kainsdorf bei Zwickau und diejenige, welche den Topas am Schneckenstein in Sachsen begleitet, dem Nakrit zuzuzählen sind.

Steinmasse, s. Steine, künstliche.

Steinmerle, s. Steindrossel.

Steinmetz, Karl Friedrich von, preuß. Generalfeldmarschall, geb. 27. Dez. 1796 zu Eisenach, ward im Kadettenhaus erzogen, trat 1813 als Leutnant in das 1. Regiment, mit dem er fast alle Gefechte und Schlachten des Yorkschen Korps 1813-14 mitmachte, ward mehrere Male verwundet und erwarb sich das Eiserne Kreuz. 1818 wurde er in das 2. Garderegiment versetzt, 1820 zur Kriegsschule, 1824 zum topographischen Büreau kommandiert, 1829 Hauptmann, erhielt 1839 als Major das Düsseldorfer Gardelandwehrbataillon und 1841 ein Bataillon Gardereserve in Spandau. Während des Barrikadenkampfs in Berlin 18. März 1848 befehligte er das 2. Infanterieregiment, mit welchem er auch nach Schleswig ging. Im Oktober ward er Kommandeur des 32. Infanterieregiments, 1849 Oberstleutnant, 1851 Oberst und Kommandeur des Kadettenkorps, 1854 Kommandant von Magdeburg und Generalmajor, 1857 Kommandeur der 3. Gardeinfanteriebrigade, im Oktober der 1. Division in Königsberg, 1858 Generalleutnant, 1862 kommandierender General des 2., 1864 des 5. Korps und General der Infanterie. An der Spitze des 5. Korps, das zur zweiten Armee gehörte, siegte er 27. Juni 1866 bei Nachod, am 28. bei Skalitz und am 29. bei Schweinschädel nacheinander über drei österreichische Korps und nahm denselben 2 Fahnen, 2 Standarten, 11 Geschütze und gegen 6000 Gefangene ab. Für diese großartigen Leistungen, welche wesentlich zu der Durchführung des ganzen Operationsplans beitrugen, erhielt S. den Schwarzen Adlerorden sowie eine Dotation und ward auch 1867 in den norddeutschen Reichstag gewählt. 1870 erhielt er das Oberkommando der ersten Armee, welche den rechten Flügel des deutschen Aufmarsches bildete. In dieser Stellung entsprach er jedoch den Erwartungen nicht. Sein durch seine großen Erfolge von 1866 gesteigerter Eigensinn wirkte höchst nachteilig und störend ein. Mit der zweiten Armee hatte er fortwährend Streitigkeiten über Quartiere und Marschrouten, mit Moltke über die Operationen seiner Armee. In der Schlacht bei Gravelotte griff er bei St.-Hubert mit einem Kavallerieangriff so zur Unzeit ein, daß die Schlacht nahe daran war, verloren zu werden. Infolge hiervon wurde S. nach der Schlacht bei Gravelotte dem Prinzen Friedrich Karl unterstellt und, da er sich diesem nicht fügte, zum Generalgouverneur der Provinzen Posen und Schlesien ernannt, aber 8. April 1871 zum charakterisierten Generalfeldmarschall ernannt und zu den Offizieren von der Armee versetzt. S. lebte darauf zu Görlitz und starb 4. Aug. 1877 im Bad Landeck. S. war ein rauher und herber Vorgesetzter, aber ein diensteifriger Offizier von spartanischer Strenge gegen sich selbst und ein tüchtiger Korpskommandeur.

Steinmeyer, Franz Ludwig, protest. Theolog, geb. 15. Nov. 1812 zu Beeskow in der Mittelmark, war Prediger zu Kulm und Berlin, dann ordentlicher Professor der Theologie 1852 in Berlin, 1854 in Bonn, 1858 in Berlin. Von ihm erschienen: "Beiträge zum Schriftverständnis in Predigten" (2. Aufl., Berl. 1859-66, 4 Bde.); "Apologetische Beiträge" (das. 1866-73, 4 Bde.); "Beiträge zur praktischen Theologie" (das. 1874-79, 5 Bde.); "Beiträge zur Christologie" (das. 1880-82, 3 Bde.); "Geschichte der Passion des Herrn" (2. Aufl., das. 1882); "Die Wunderthaten des Herrn" (das. 1884); "Die Parabeln des Herrn" (das. 1884); "Die Rede des Herrn auf dem Berge" (das. 1885); "Das hohepriesterliche Gebet" (das. 1886); "Beiträge zum Verständnis des Johanneischen Evangeliums" (das. 1886-89, 4 Bde.).

Steinmine (Erdwurf, Erdmörser), unter 45° in die Erde gegrabene und an den Seitenwänden

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Steinmispel - Steinschnitt.

mit Brettern bekleidete Gruben, die, mit Pulver und Steinen gefüllt, demnächst mit Erde verdämmt, durch Zündschnur entzündet, zur Sperrung von Engwegen oder in den letzten Stadien des Festungskriegs angewandt worden sind. Bei den Savartinen sind Cylinder aus Eisenblech in die Gruben gesetzt.

Steinmispel, s. Cotoneaster.

Steinnuß, s. Elfenbein (Surrogat).

Steinobstgehölze, s. Amygdaleen.

Steinöl, s. Erdöl.

Steinoperationen, s. Steinschnitt.

Steinpappe, s. v. w. Dachpappe; auch eine Masse aus aufgeweichtem und zerkleinertem Papier, angemacht mit Leimwasser und versetzt mit Thon und Kreide (auch Leinöl), dient zu Reliefornamenten.

Steinpfeffer, s. Sedum.

Steinpicker, s. Steinschmätzer.

Steinpilz, s. Boletus.

Steinpitzger, s. Schmerle.

Steinpleis, Dorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Zwickau, an der Pleiße, hat eine evang. Kirche, Vigognespinnerei, Kunstwollfabrikation, Färberei, eine Dampfmahlmühle und (1885) 2769 Einwohner.

Steinringe, s. Steinsetzungen.

Steinröschen, s. Daphne.

Steinrötel, s. Steindrossel.

Steinsalz, s. Salz, S. 236.

Steinsame, s. Lithospermum.

Steinsänger, s. v. w. Steinschmätzer.

Steinschmätzer (Saxicola Bechst.), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der S. (Saxicolinae), schlanke Vögel mit pfriemenförmigem Schnabel, welcher an der Wurzel breiter als hoch, auf der Firste kantig und an der Spitze etwas abgebogen ist, etwas stumpfen Flügeln, in welchen die dritte und vierte Schwinge am längsten sind, ziemlich kurzem und breitem, gerade abgeschnittenem Schwanz und hohen und dünnen Füßen mit mittellangen Zehen. Der S. (Steinsänger, Steinpicker, Steinbeißer, S. oenanthe Bechst.), 16 cm lang, 29 cm breit, oberseits hellgrau, an der Brust rostgelblich, auf dem Bürzel, an der Unterseite und an der Stirn weiß, mit weißem Augenstreifen, um die Augen, an den Flügeln und den beiden mittlern Schwanzfedern schwarz; die übrigen Schwanzfedern sind am Grund weiß, an der Spitze schwarz; das Auge ist braun, Schnabel und Fuß schwarz. Er bewohnt Mittel- und Nordeuropa, die asiatischen Länder gleicher Breite und den hohen Norden Amerikas. Bei uns weilt er vom März bis September. Er findet sich in steinreichen Gegenden und geht in der Schweiz bis über den Gürtel des Holzwuchses empor. Sehr gewandt, munter, ungesellig, vorsichtig, lebt er einsam, läuft ungemein schnell, fliegt ausgezeichnet, aber nicht hoch und macht, auf einem Felsen sitzend, wiederholt Bücklinge. Sein Gesang ist unbedeutend. Er nährt sich von Insekten, nistet in Felsritzen und Baumlöchern und legt im Mai 5-7 bläuliche oder grünlichweiße Eier (s. Tafel "Eier I"), welche das Weibchen allein ausbrütet. In der Gefangenschaft geht er durch seine Wildheit bald zu Grunde.

Steinschneidekunst (Glyptik, Lithoglyptik), die Kunst, Gegenstände aus Edel- und Halbedelsteinen reliefartig erhaben (Kameen, s. d.) oder vertieft (Gemmen, Intaglien) in dieselben eingegraben darzustellen, sowie überhaupt die Kunst, Edelsteine und Halbedelsteine zu bearbeiten, d. h. ihnen durch Schleifen die verlangte Gestalt zu geben und sie zu polieren. Ersteres geschieht auf der Schleifmaschine und vermittelst der Steinzeiger, letzteres auf bleiernen und hölzernen Scheiben, erst mit Schmirgel und Bimsstein, dann mit Tripel und Wasser. Über die Geschichte der S. s. Gemmen nebst Tafel.

Steinschneider, Moritz, jüd. Gelehrter, geb. 30. März 1816 zu Proßnitz in Mähren, studierte Philologie und Pädagogik an der Universität Prag, darauf Orientalia in Wien und wandte sich hier der jüdischen Theologie und Litteratur zu. Nachdem er seine Studien seit 1839 noch in Leipzig, später in Berlin und 1842 in Prag fortgesetzt, wurde er hier Lehrer an einer höhern Töchterschule und ging 1845 nach Berlin, wo er seit 1859 an der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt Vorlesungen hält und seit 1869 auch als Direktor der Töchterschule der Berliner jüdischen Gemeinde thätig ist. Unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten stehen obenan seine an Forschungsergebnissen reichen Kataloge, von denen wir den "Catalogus librorum hebraeorum in bibliotheca Bodlejana" (Berl. 1852-60), den dazu gehörigen "Conspectus codicum manuscr. hebraic. in bibl. Bodl." (das. 1857), "Die hebräischen Handschriften der königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München" (Münch. 1875), den "Katalog der hebräischen Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg" (Hamb. 1878) und den "Katalog der hebräischen Handschriften der königlichen Bibliothek zu Berlin" (Berl. 1878) hervorheben. Steinschneiders Artikel "Jüdische Litteratur" in Ersch und Grubers "Encyklopädie" (2. Sekt., 27. Bd.; englisch, Lond. 1857) ist die erste vollständige Darstellung des Gegenstandes in größerm Umfang. Seine sonstigen Arbeiten sind meist in der von ihm herausgegebenen "Hebräischen Bibliographie" (Berl. 1859-64, 1869-81) veröffentlicht. Auf dem Gebiet der arabischen Litteratur beleuchten seine Abhandlungen hauptsächlich Philosophie ("Alfarabi", 1869), Medizin ("Donnolo. Pharmakologische Fragmente aus dem 10. Jahrhundert", Berl. 1868; toxikologische Schriften u. a. in Virchows "Archiv" 1871, 1873) und Mathematik ("Baldi, Vite di matematici arabi", Rom 1874; "Abraham ibn Esra", Leipz. 1880, u. a. in Zeitschriften).

Steinschnitt, ein Teil der Stereometrie, s. Stereotomie.

Steinschnitt (Blasensteinschnitt, Lithotomie), die kunstmäßige Eröffnung der Harnblase oder ihres Halses an irgend einer Stelle und in einem solchen Umfang, daß ein darin befindlicher Harnstein (s. Harnsteine) entfernt werden kann. Es gibt fünf verschiedene Methoden des Steinschnitts beim Mann. Der S. mit der kleinen Gerätschaft, von Celsus zuerst beschrieben, besteht darin, daß man am Damm und am Blasenhals einen Einschnitt nach dem Stein zu macht und denselben mit dem Steinlöffel heraushebt. Beim S. mit der großen Gerätschaft, von Joh. de Romanis im 16. Jahrh. erfunden, wird zuerst eine gefurchte Leitungssonde in die Blase gebracht, an dem Damm die Harnröhre in ihrem schwammigen Teil durch einen Einschnitt geöffnet und der Blasenhals mittels besonderer Instrumente in dem Grad erweitert, daß der Stein herausgenommen werden kann. Diese Methode hat zwar unbestreitbar Vorzüge vor der erstern, doch sind dabei ebenfalls Zerreißung und Quetschung leicht möglich und außerdem die Ausziehung des Steins mit bedeutenden Beschwerden für den Kranken verbunden. Der hohe Apparat oder Bauchblasenschnitt, von Franco 1561 erfunden, besteht in der Eröffnung der Blase zwischen dem obern Rande der

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Steinschönau - Steinthal.

Schambeine und der Falte des die Blase überziehenden Bauchfells. Üble Umstände während dieser Operation und nach derselben sind besonders: Verletzung und heftige Entzündung des Bauchfells, Infiltration des Harns in das Zellgewebe, Abscesse, Brand. Ausgeführt wird derselbe besonders bei Knaben und bei sehr großen Steinen, die sich auf den andern Wegen nicht herausbefördern lassen. Der Seitensteinschnitt, ebenfalls von Franco erfunden und gegenwärtig am meisten üblich, charakterisiert sich im allgemeinen dadurch, daß im Damm ein Einschnitt gemacht wird, welcher sich von der linken Seite der Naht des Hodensackes gegen das Sitzbein herzieht, darauf der häutige Teil der Harnröhre geöffnet und der Blasenhals, die Prostata und selbst ein Teil des Blasenkörpers eingeschnitten werden. Die Methode des Steinschnitts durch den Mastdarm, von L. Hoffmann vorgeschlagen, besteht darin, daß ein Bistouri durch den Mastdarm eingeführt, die vordere Wand des Mastdarms und der äußere Sphinkter des Afters sowie dann auf der eingeführten Steinsonde der Blasenhals und die Prostata eingeschnitten und der Stein durch die Zange entfernt wird. Geringere Lebensgefahr, nicht gefährliche Blutung, Möglichkeit der Entfernung großer Steine gelten als Vorzüge, das Zurückbleiben einer Kot- und Urinfistel und Impotenz als Nachteile dieser Methode. Der S. kommt bei Weibern ungemein viel seltener vor als bei Männern; einmal, weil Steine bei jenen überhaupt viel seltener sind, anderseits, weil nicht zu große Steine bei ihnen durch die kurze, gerade und sehr dehnbare Harnröhre leicht abgehen oder doch ausgezogen oder zerstückelt (s. unten) werden können. Beim Weib wird der Schnitt entweder unterhalb des Schoßbogens mit Einschneidung der Harnröhre und des Blasenhalses oder unterhalb der Schoßfuge ohne Verletzung der Harnröhre geführt, oder es wird die Harnblase von der Scheide aus oder endlich oberhalb des Schoßbodens, wie beim Mann, geöffnet. - Denselben Zweck wie mit dem S. sucht man mit der Steinzermalmung (Steinzertrümmerung, Lithotritie, Lithotripsie) zu erreichen. Hierbei werden mittels in die Harnblase eingebrachter Werkzeuge die Steine zerstückelt, so daß sie mit dem Urin abgehen. Dieses Verfahren, schon früher vorgeschlagen, wurde von Gruithuisen (1813), Amussat (1821), Civiale (1824), Heurteloup (1832) und Charrière durch Erfindung passender Instrumente in Aufnahme gebracht. Hauptmethoden sind: die jetzt obsolete Perforation oder Anbohrung des Steins mittels eines in die Harnröhre einzuführenden, aus drei ineinander passenden Teilen bestehenden Instruments (Lithotritor), die lithoklastische Methode (Lithotripsie), welche bloß zerdrückend und zermalmend wirkt und bei nicht sehr harten Steinen angewendet wird, und die Perkussion, die durch Stoß und Schlag wirkt, indem man mit einem zweiarmigen Instrument, welches geschlossen in die Harnröhre eingeführt, durch Zurückziehen des einen Arms geöffnet und dann wieder vermittelst eines Hammers geschlossen wird, den Stein faßt und zu zerdrücken sucht. Die Lithotritie ist zwar nicht so verletzend wie der S., befreit aber den Kranken meist erst nach mehreren Operationsversuchen von seinem Übel. Sie ist daher zu beschränken auf weichere und namentlich kleinere Blasensteine bei jüngern Individuen mit sonst gesunden Harnorganen, während große und harte Steine bei ältern Personen und sonstigen, die an Blasenkatarrh, Nierenreizung etc. leiden, dem S. anheimfallen.

Steinschönau, Marktflecken in der böhm. Bezirkshauptmannschaft Tetschen, an der Flügelbahn Böhmisch-Kamnitz-S. der Böhmischen Nordbahn, ein Hauptsitz der böhmischen Glasindustrie, mit Fachschule, zahlreichen Glasraffinerien, bedeutendem Export, Möbelfabrik und (1880) 4410 Einw.

Steinsetzungen, aus einzelnen oder mehreren Steinen bestehende Denkmäler, die in vorgeschichtlicher, zum Teil auch noch in geschichtlicher Zeit zur Erinnerung an gewisse Ereignisse oder zum Gedächtnis der Toten errichtet wurden. Man unterscheidet Menhirs (maen, men, keltisch = Stein, hir = lang) und Cromlechs (crom, keltisch = gekrümmt, lech = Stein) oder Steinkreise, Steinringe. Die Menhirs sind einzelne, senkrecht gestellte, meist sehr große (bis 19 m), nicht oder grob behauene Monolithen. Bisweilen finden sich mehrere Menhirs auf beschränktem Raum und in geordneter Stellung, wie auf dem Heerberg bei Beckum in Westfalen und bei Carnac in der Bretagne, wo sich eine Gruppe aus unbehauenen Steinen, von denen der größte 7,5 m hoch ist, in elf Reihen etwa 3 km weit hinzieht. Die Menhirs bezeichnen oft die Stelle eines Grabes oder einer gemeinsamen Begräbnisstätte der Vorzeit; sie werden in der Ilias und in der Bibel erwähnt, manche aber gehören der historischen Zeit an, wie das Denkmal an die Schlacht bei Largs in Schottland dem 13. Jahrh. Häufig bilden Reihen von Menhirs die Seitenwände von Gängen, welche zur Grabkammer der Dolmen oder in das Innere prähistorischer Grabhügel führen. Über die Steinkreise s. Cromlech. Auf den Menhirs wie auf den Felsblöcken der Cromlechs finden sich hier und da Inschriften (Striche, Kreise, Spiralen etc.), von denen aber nur sehr wenige entziffert werden konnten; auch ist zweifelhaft, ob diese Inschriften mit den S. gleichaltrig sind oder einer spätern Zeit angehören. Ausgrabungen in unmittelbarer Nähe der S. haben Stein-, Bronze-, Eisen-, Knochen- und Horngeräte, Thonscherben, Münzen aus frühgeschichtlicher Zeit zu Tage gefördert. Mit den Menhirs und Cromlechs werden die Dolmen (s. d.) als megalithische Denkmäler zusammengefaßt. S. Tafel "Kultur der Steinzeit".

Steintanz, s. Gräber, prähistorische.

Steinthal, Landstrich im Unterelsaß, Kreis Molsheim, in den Vogesen zu beiden Seiten der Breusch, mit den Orten Rothau, Waldersbach und Fouday, ehedem eine unfruchtbare, öde und arme Gegend, jetzt durch die Bemühungen des Pfarrers Oberlin (s. d.) in einen gewerbthätigen und wohlhabenden Distrikt umgewandelt.

Steinthal, Heymann, Sprachphilosoph und Linguist, geb. 16. Mai 1823 zu Gröbzig im Anhaltischen, studierte in Berlin seit 1843 Philologie und Philosophie und habilitierte sich 1850 an der dortigen Universität, wo er über allgemeine Sprachwissenschaft und Mythologie Vorträge hielt. 1852-55 verweilte er zum Behuf chinesischer Sprach- und Litteraturstudien in Paris; seit 1863 ist er außerordentlicher Professor der allgemeinen Sprachwissenschaft zu Berlin, wo er seit 1872 auch an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Religionsphilosophie und Religionsgeschichte lehrt. Von Steinthals sprachwissenschaftlichen Werken, die sich im allgemeinen an die von W. v. Humboldt begründete philosophische Behandlung der Sprache anschließen, sind als die bedeutendsten zu nennen: "Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens" (Berl. 1851, 4. erweiterte Aufl. 1888); die "Klassifikation der Sprachen, dargestellt als die Entwicke-

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Steintisch - Steinverband.

lung der Sprachidee" (das. 1850), welches Werk später neubearbeitet unter dem Titel: "Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues" (das. 1860) erschien und sehr anregend gewirkt hat; ferner "Die Entwickelung der Schrift" (das. 1852); "Grammatik, Logik, Psychologie, ihre Prinzipien und ihre Verhältnisse zu einander" (das. 1855); "Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern" (das. 1863); "Die Mande-Negersprachen, psychologisch und phonetisch betrachtet" (das. 1867); "Abriß der Sprachwissenschaft" (Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft", 2. Aufl. 1881). Von kleinern Arbeiten sind zu nennen: "Die Sprachwissenschaft W. v. Humboldts und die Hegelsche Philosophie" (Berl. 1848); "Philologie, Geschichte und Psychologie in ihren gegenseitigen Beziehungen" (das. 1864); "Gedächtnisrede auf W. v. Humboldt" (das. 1867) u. a. Von einer Sammlung seiner "Kleinen Schriften" erschien der 1. Band (Berl. 1880). Mit Lazarus gibt S. die "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" (Berl. 1860 ff.) heraus, die von ihm namentlich kritische Aufsätze enthält. Auch besorgte er eine Ausgabe der "Sprachwissenschaftlichen Werke W. von Humboldts, mit Benutzung seines handschriftlichen Nachlasses" (Berl. 1884). Seine neueste Veröffentlichung ist "Allgemeine Ethik" (Berl. 1885).

Steintisch, s. Dolmen.

Steinverband, diejenige Anordnung der Mauersteine, durch welche auch ohne Bindemittel ein möglichst fester Zusammenhang unter denselben hergestellt wird. Als Hauptregeln gelten: a) die Lagerfugen der Mauersteine müssen möglichst horizontale Ebenen bilden; b) die Stoßfugen der Mauersteine dürfen in unmittelbar aufeinander folgenden Schichten nicht aufeinander treffen. Je nach der Gattung der Mauersteine unterscheidet man den Verband mit künstlichen Steinen (Backsteinen, Mauerziegeln), mit regelmäßig bearbeiteten natürlichen Steinen (Quadern, Hausteinen, Werksteinen), mit roh bearbeiteten natürlichen Steinen (Bruchsteinen) und den gemischten Verband.

I. S. künstlicher Steine. Die deutschen Normalziegel sind 25 cm lang, 12 cm breit und 6,5 cm dick, wobei zwei Steinbreiten, vermehrt um eine Stoßfuge von 1 cm, einer Steinlänge gleich sind (2 x 12 + 1 = 25 cm). Man vermauert ganze Steine, halbe Steine von der halben Länge ganzer Steine, Dreiviertelsteine (Dreiquartierstücke) von ¾ der Länge ganzer Steine und Riem- oder Kopfstücke von der halben Breite und der vollen Länge ganzer Steine. Steine, welche der Länge nach parallel und normal zur Mauerflucht liegen, heißen bez. Läufer und Binder (Strecker) und die aus solchen Steinen hergestellten Mauerschichten bez. Läuferschichten und Binderschichten (Streckerschichten). Man unterscheidet folgende Hauptsteinverbände: 1) Den Schornsteinverband (Fig. 1), so genannt, weil er für die meist ½ Stein starken Wangen der Schornsteine verwendet wird, entsteht durch die regelmäßige Versetzung der Stoßfugen von Läufern um je ½ Stein und liefert also an den beiden Enden eine regelmäßige Abtreppung (Fig. 1, rechts) und eine regelmäßige Verzahnung (Fig. 1, links). 2) Der Blockverband (Fig. 2-4) entsteht durch regelmäßige Abwechselung von Binder- und Läuferschichten, wenn deren Stoßfugen in der Mauerflucht um je ¼ Stein versetzt werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch Schraffierung (in Fig. 2) hervorgehobenen, zusammenhängenden Kreuze. Fig. 2 zeigt eine 1 Stein starke Mauer, deren Abtreppung rechts durch je zwei Stufen von ¾ und ¼ Stein, und deren Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je ¼ Stein gebildet wird. Aus Fig. 3 u. 4 ergeben sich die Blockverbände für 1½ Stein u. 2 Steine starke Mauern mit ihren natürlichen Abtreppungen rechts und Verzahnungen links. 3) Der Kreuzverband (Fig. 5) entsteht aus dem Blockverband, wenn die Stoßfugen der 3., 7., 11. etc. Läuferschicht in der Mauerflucht um ½ Stein verschoben werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch Schraffierung hervorgehobenen unzusammenhängenden Kreuze, während die Abtreppung rechts durch Stufen von je ¼ Stein und deren Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je 2¼ Stein gebildet wird. 4) Der polnische oder gotische Verband (Fig. 6 u. 7) entsteht, wenn in einer und derselben Schicht Läufer und Binder abwechseln, wobei sich in der Ansicht das in Fig. 6 durch Schraffierung hervorgehobene Muster ergibt. Dieser Verband verstößt gegen die unter b) gegebene Hauptreael, indem stellenweise Fuge auf Fuge trifft. Fig. 6 zeigt eine 1 Stein, Fig. 7 eine 1½ Stein starke Mauer, wobei diejenigen Fugen, welche aufeinander treffen, markiert sind, mit ihren Abtreppungen rechts und Verzahnungen links. 5) Der holländische Verband (Fig. 8) vermeidet zwar den eben angegebenen Fehler des polnischen Verbandes, findet aber trotzdem nur beschränkte Verwendung. In der Ansicht bildet

Fig. 1. Schronsteinverband.

Fig. 2. Blockverband.

Fig. 3. und 4. Blockverband für 1½ und 2 Steine starke Mauern.

Fig. 5. Kreuzverband.

Fig. 6. Polnischer Verband (1 Stein).

Fig. 7. Polnischer Verband (1½ Stein).

Fig. 9. Haustein-Eckverband.

Fig. 8. Holländischer Verband.

Fig. 10. Haustein-Eckverband.

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Steinwald - Steinzeit.

sich das in der Figur durch Schraffierung hervorgehobene Muster, welche zugleich die Abtreppung links und die Verzahnung links darstellt. Verbände für Pfeiler und Säulen aus künstlichen Steinen sowie für Ecken und Kreuzungen von Mauern sind mit deren Stärke sehr verschieden und in den unten bezeichneten Werken mehr oder minder ausführlich dargestellt.

II. S. regelmäßig bearbeiteter natürlicher Steine. Bei schwächern Mauern wird dieser Verband dem in Fig. 1 dargestellten Schornsteinverband nachgebildet. Bei stärkern Mauern weicht man von dem Ziegelverband ab und zieht vor, nur Läufer von verschiedener Breite zu verwenden (Fig. 9 u. 10). Bei Mauerecken läßt man die in beiden Figuren durch Schraffierung hervorgehobenen sogen. Flügelsteine in beide Mauern eingreifen, um hierdurch den beiden Schenkeln der Ecke mehr Zusammenhang zu geben.

III. S. roh bearbeiteter natürlicher Steine. Da die Steine hierbei verwendet werden, wie sie aus dem Bruch kommen, und nur mit dem Mauerhammer etwas zugerichtet werden, so kann von einem regelmäßigen S. nicht mehr die Rede sein. Immerhin sucht man den Hauptregeln desselben möglichst zu entsprechen und möglichst ebene und horizontale Lagerfugen wenigstens in gewissen, nicht zu hohen Schichten herzustellen, wobei man die Unebenheiten durch passende Steinstücke ausfüllt, um das Aufeinandertreffen der Stoßfugen möglichst zu vermeiden.

IV. Gemischter S. Derselbe entsteht, wenn Bruchsteinmauern in den Außenflächen mit Quadern oder auch Backsteinen oder Ziegelmauern mit Quadern verkleidet (verblendet) werden, weshalb dieses Mauerwerk auch Blendmauerwerk heißt. Gewöhnlich wechseln hierbei Läufer und Binder der regelmäßigen Steine in einer und derselben Schicht miteinander ab, während deren Zwischenräume durch Bruchsteine ausgefüllt werden.

Steinwald, s. Fichtelgebirge, S. 239.

Steinwärder, Vorort von Hamburg, auf einer Elbinsel im Freihafengebiet, hat große Schiffswerften, Maschinenfabrikation, Kesselschmiederei und (1885) 4039 Einwohner.

Steinweg, Heinrich, Pianofortebauer, geb. 15. Febr. 1797 zu Seesen, begann in Braunschweig mit dem Bau von Guitarren und Zithern und ging dann zum Bau von Tafelklavieren, Pianinos und Flügeln über. Erlernt hatte er nur die Tischlerei und den Orgelbau zu Goslar. 1850 übergab er das Braunschweiger Geschäft seinem Sohn Theodor und ging mit vier andern Söhnen nach New York, wo sie zunächst in mehreren Klavierfabriken arbeiteten, 1853 aber sich selbständig unter der Firma Steinway and Sons etablierten. Das Geschäft nahm schnell einen enormen Aufschwung, nachdem es 1855 auf der New Yorker Industrieausstellung den ersten Preis für seine kreuzsaitigen Pianofortes erhalten. Es liefert jetzt wöchentlich ca. 60 Instrumente, und das Magazin der Firma ist eins der schönsten Gebäude der Stadt New York sowie der Musiksaal "Steinway-Hall" einer ihrer größten Konzertsäle. Heinrich S. starb 7. Febr. 1871 in New York. Von den übrigen Begründern der New Yorker Firma lebt nur noch Wilhelm, der vierte Sohn. Theodor S. gab 1865 das Braunschweiger Geschäft auf (jetzt: Theodor Steinweg Nachfolger, Helferich, Grotrian u. Komp.) und trat in das New Yorker ein, nachdem seine Brüder Heinrich 11. März 1865 in New York und Karl 31. März 1865 in Braunschweig gestorben waren; er selbst starb 26. März 1889 in Braunschweig; Albert S. war bereits 1876 in New York gestorben. Von den patentierten Verbesserungen der Firma seien erwähnt: die Patent-Agraffeneinrichtung (1855), welche die Widerstandsfähigkeit des Rahmens gegen die Saiten erhöht; die Patentkonstruktion in Flügeln von kreuzsaitiger Mensur (1859), deren Vorteile der Hauptsache nach in den verlängerten Stegen und deren Verschiebung von den Rändern ab nach der Mitte des Resonanzbodens zu suchen sind, wodurch größere Räume zwischen den Chören der Saiten entstehen und somit größere Resonanzflächen in Bewegung gesetzt werden; der vibrierende Resonanzbodensteg mit akustischen Klangpfosten (1869), beruhend auf der Tonleitung durch Stäbe und besonders bei Pianinos und Flügeln von kleinerer Dimension angewendet; der Patentringsteg am Resonanzboden (1869), wodurch eine bis dahin unerreichte Gleichheit der Klangfarbe im Übergang von den glatten zu den übersponnenen Saiten erzielt wird; die Doppelmensur (1872); das Patent-Tonhaltungspedal (1874); die neue Metallrahmenkonstruktion (1875) u. a.

Steinweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.

Steinwein, s. Frankenweine.

Steinwurz, s. Agrimonia.

Steinzeit (Steinzeitalter, hierzu Tafel "Kultur der Steinzeit"), der erste große Abschnitt der Prähistorie, in welchem der auf niedriger Kulturstufe befindliche Mensch den Gebrauch der Metalle noch nicht kannte und seine Geräte, Werkzeuge und Waffen aus Holz, Knochen, Horn, besonders aber aus Stein herstellte. Solche Steingeräte wurden früher als vom Himmel herabgefallene Blitzsteine oder Donnerkeile betrachtet, auch wegen ihrer Form Katzenzungen genannt. Im Gegensatz zur Metallzeit (s. d.) umfaßt die S. außerordentlich lange Zeiträume, innerhalb deren der Kulturfortschritt durch allmähliche Vervollkommnung der besagten Geräte sich zu erkennen gibt. Man unterscheidet die ältere S. oder paläolithische Periode und die jüngere S. oder neolithische Periode. In der ältern wurden die im allgemeinen sehr primitiven Steingeräte durch Zuhauen, bez. vermittelst des durch Schläge bewirkten Absplitterns geeigneter Stücke von größern Steinklumpen hergestellt, während Waffen und Geräte der jüngern S. durch Schleifen und Polieren ihre Form erhalten haben. Eine scharfe Grenze zwischen beiden Perioden läßt sich selbstverständlich nicht ziehen, und bezüglich einzelner Funde, wie der dänischen Küchenabfälle, ist es zweifelhaft, ob sie der paläo- oder der neolithischen Periode oder einer Übergangszeit angehören. Die ältere S. fällt im allgemeinen zusammen mit der diluvialen und eiszeitlichen Existenz des Menschengeschlechts, die jüngere S. mit der alluvialen und nacheiszeitlichen Existenz des Menschen. Das Zusammenfallen der ältern S. in Deutschland mit der Diluvialperiode erklärt sich nach Penck aus dem gegen Ende der Diluvialzeit stattgehabten klimatischen Wechsel (Abschmelzen der Gletscher), welcher Veränderungen in der Bewohnbarkeit gewisser Länderstrecken hervorrief, die ihrerseits wieder zu Wanderungen des vorgeschichtlichen Menschen Anstoß gaben, bei welchen im Besitz der neolithischen Kultur befindliche Volksstämme nach Europa gelangten und der paläolithischen Kultur den Untergang bereiteten. Die Fundstätten, welche über die Existenzbedingungen und Lebensweise des Menschen der ältern S. Aufschlüsse liefern, liegen in diluvialen Ablagerungen der Flußthäler und in den Kalkhöhlen Deutschlands, Belgiens, Frankreichs und Englands. Knochen des Höhlenbären und Höhlenlöwen, des Mammuts, Auerochsen, Hippopotamus, mehrerer Rhinozerosarten, des irischen Riesenhirsches u. a. werden mit körperlichen Überresten, Geräten und sonstigen

Kultur der Steinzeit.

(Shurb Hill.) (Poiton.) Paläolithische Feuersteingeräte.

(Rügen.) (Irland.) (Schonen.)

_ (Dänemark.) (Dänemark.)

Feuersteinäxte und Schleifsteine.

(Rügen.) (Rügen.) (Schonen.) (Danemark.) Feuersteinnucleus, Messer, Pfeilspitzen und Schaber.

chönow.) (Lübben.) (Hadersleben.) (Tondern.) Brandenburg. Schleswig:.

(Schleswig.! (Rügen.)

Feuersteindolche, Lanzenspitze und Säge.

Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl.

Tumulus mit Grabkammern.

Bibliographisches Institut in Leipzig.

(Waaren.) (Köthen.) (Asmusstadt.)

Mecklenburg. Anhalt.

Durchbohrte Steinhämmer.

Zum Artikel »Steinzeit«.

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Steinzeit.

Spuren des paläolithischen Menschen auf gemeinschaftlicher Lagerstätte angetroffen. Im Rheinthal und in Frankreich aufgefundene Moschusochsenschädel, die hin und wieder die Spuren menschlicher Thätigkeit erkennen lassen, sowie die in den Höhlen des Perigord, im Keßlerloch bei Thayingen (Kanton Schaffhausen) und anderwärts aufgefundenen bearbeiteten Renntiergeweihe beweisen, daß der paläolithische Mensch diese Gegenden zu einer Zeit bewohnt hat, wo das Klima Nord- und Mitteleuropas ein kälteres gewesen ist als heutzutage. Während die Funde von Taubach (unweit Weimar) andeuten, daß der Mensch der ältern S. das heutige Thüringen während der der letzten Vergletscherung vorausgehenden Interglazialepoche (zwischen zwei Vergletscherungen fallende wärmere Zwischenperiode) bewohnt hat, zeigen die Funde von der Schussenquelle (Oberschwaben), bestehend in einer nordische Moose enthaltenden, unmittelbar auf der Rheingletschermoräne gelegenen Kulturschicht, daß der Mensch hier während der letzten Vergletscherungsepoche lebte. Die Nahrung des paläolithischen Menschen bestand aus dem Fleisch der erwähnten Tiere und aus Fischen; auch das diluviale Pferd hat, wie die Funde zahlreicher, zur Gewinnung des Knochenmarks aufgeschlagener Pferdeknochen beweisen, als Nahrungsmittel des Menschen der ältern S. eine wichtige Rolle gespielt. Außer den Höhlen dienten ihm Erdgruben und aus Fellen hergerichtete Zelte als Wohnungen. Daß er die Felle des erlegten Wildes mit Hilfe von Tiersehnen zur Kleidung aneinander nähte, deuten die in diluvialen Höhlen gefundenen Knochennadeln an, welche durch langen Gebrauch abgenutzt sind. Man fand auch Stücke farbiger Erde zum Bemalen des Körpers und zum Teil höchst primitive Schmuckgegenstände (durchbohrte Tierzähne, welche, mit Darmsaiten zur Kette aneinander gereiht, getragen wurden, Knochen kleiner Tiere, Schneckengehäuse und Muscheln, Stücke Jet, Plättchen von Renntierhorn u. dgl.). Die in französischen Höhlen, im Keßlerloch und anderwärts aufgefundenen Gravierungen in Renntierhorn u. Mammutelfenbein und die aus diesem Material hergestellten Schnitzereien beweisen eine gewisse Begabung für bildnerische Thätigkeit. Als Material für die primitiven Geräte, welche in paläolithischen Fundstätten angetroffen werden, dienten vorzugsweise Feuersteinknollen, die den Gegenstand eines ausgedehnten Handelsverkehrs bildeten und zum Teil durch primitiven Bergbau (s. Schmutzgruben) gewonnen wurden. In der Nachbarschaft der Feuersteinlager entstanden auch jene Feuersteinwerkstätten, von wo aus die Umgebung mit Werkzeugen und Waffen versehen wurde. Solche Werkstätten wurden in Frankreich zu Pressigny le Grand, in Belgien auf dem rechten Ufer der Trouille, unweit Spiennes, aufgedeckt. Während für schneidende oder stechende Werkzeuge und Waffen Gesteinsarten, welche beim Behauen eine scharfe Kante liefern, wie Feuerstein, Jaspis, Quarz, Achat, Obsidian u. dgl., vorzugsweise Verwendung fanden, wurden Hämmer und Äxte aus Diorit, Porphyr, Basalt u. dgl. angefertigt. Daß die Bearbeitung des Rohmaterials in der nämlichen Weise stattfand, wie noch heutzutage die Eingebornen Australiens ihr Steingerät herstellen, indem sie nämlich gegen den zwischen den Füßen festgehaltenen Steinblock rasch aufeinander folgende Schläge führen, dies beweisen die an der Mehrzahl der paläolithischen Geräte und Waffen nachweisbaren Schlagmarken. Letztere lassen die von Menschenhand hergestellten Steinobjekte sicher von jenen Steinfragmenten unterscheiden, welche durch zufällige Zersplitterung ohne Mitwirkung des Menschen entstehen. Indem von den Feuersteinknollen messerförmige Späne oder Splitter abgesprengt werden, bleiben in der Regel jene charakteristisch geformten Steinkerne (nuclei, s. Tafel "Kultur der Steinzeit") übrig. Arbeitssteine, ovale Steine mit Aushöhlungen an einer oder beiden Oberflächen, dienten als Hämmer oder Schnitzer. Die Schlagsteine (Schlagkugeln) zeigen auf den Rändern die Spuren der mit ihnen ausgeführten Schläge. Die Steinmesser (s. Tafel) sind dünne, zweischneidige, einer Barbierlanzette ähnelnde, länglich-ovale Splitter, die Schabsteine (s. Tafel) im allgemeinen von mehr unregelmäßiger Form. Sehr häufig finden sich in den ältern paläolithischen Fundstätten mandelförmige Steinäxte (s. Tafel), die wahrscheinlich vermittelst Tiersehnen an einem Holzstiel befestigt, aber auch als Meißel oder Pfrieme verwendet wurden. Steinobjekte von drei- oder viereckiger Form, die auf der einen Seite flach, auf der andern mehr oder weniger gewölbt, 2½-5½ Zoll lang, 1½ bis 2½ Zoll breit sind, und die eine wenn auch nicht scharfe, doch sehr starke Schneide besitzen, werden vorzugsweise in den Küchenabfallhaufen Dänemarks angetroffen und in der Regel als kleine Steinbeile bezeichnet, von Steenstrup aber als Angelschnurgewichte gedeutet. Von Schleudersteinen unterscheidet man einfache, roh bearbeitete Feuersteinstücke und runde, etwas abgeflachte, zierlich gearbeitete Scheiben. Aus Feuerstein hergestellte Sägen (s. Tafel) gehören in paläolithischen Fundstätten ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. Die Pfeilspitzen (s. Tafel) der ältern Stadien der paläolithischen Zeit sind von plumper, dreieckiger Gestalt, später finden sich leichter und besser gearbeitete, rautenförmige, blattförmige oder mit Widerhaken versehene Stücke, und daß gegen das Ende der ältern S. eine bedeutende Vervollkommnung in der Herstellung der Geräte und Waffen stattgefunden hat, beweisen die kunstvoll gearbeiteten, meist lorbeerblattförmigen Dolch- und Speerspitzen (s. Tafel), wie sie in jüngern paläolithischen Fundstätten wiederholt angetroffen wurden. Ferner finden sich Speerspitzen und Harpunen aus Knochen, Renntier- und Hirschgeweih sowie eigentümlich geformte, aus dem nämlichen Material hergestellte und mit Gravierungen versehene Objekte, welche als Kommandostäbe (Abzeichen des Häuptlings etc.) bezeichnet werden. In Gemeinschaft mit paläolithischen Geräten werden in Deutschland und Belgien, aber nicht in Frankreich und England Scherben irdenen Geschirrs, die, mit der Hand geformt und an der Sonne getrocknet, nur geringe Kunstfertigkeit verraten, nicht selten angetroffen.

Die relativ hohe Entwicklungsstufe, welche der Mensch der jüngern S. im Vergleich zum paläolithischen Menschen einnimmt, äußert sich zunächst in der außerordentlich sorgfältigen und stellenweise einen nicht geringen Geschmack bekundenden Herstellung der Waffen und Werkzeuge, die zum Teil auch bedeutende Dimensionen aufweisen. So fanden sich z. B. in Skandinavien sorgfältig gearbeitete Steinäxte, welche 33 cm lang sind und in der Mitte eine Breite von 55-57 mm und eine Dicke von 35-38 mm aufweisen. Die neolithischen Feuersteingeräte sind nicht von Knollen abgeschlagene Steinsplitter, sondern von allen Seiten bearbeitete Steinstücke. Dieselben sind geschliffen oder mehr oder weniger sorgfältig gemuschelt, d. h. es sind aus dem Feuerstein Teilchen in muschelförmigem Bruch herausgehoben. Neben einfachen, beiderseits zur Schneide konvex sich zuschärfenden Axtblättern finden sich Steincelte,

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Steinzellen - Steißfuß

d. h. von der Schneide nach hinten zu schmäler werdende Geräte, die als Messer, Hacken und Streitäxte dienten, sowie lange und schmale Instrumente mit einseitig flacher Schneide, die als Meißel oder Hobel bezeichnet werden; auch Hohlmeißel wurden angetroffen. Ferner finden sich steinerne Mörser und Handmühlen zum Zerreiben von Getreidekörnern. Die Schleifsteine (s. Tafel) bestehen gewöhnlich aus feinkörnigem Sandstein mit einer oder mehreren Schliffflächen. Als Hämmer (s. Tafel) werden Äxte bezeichnet, die statt der Schneide eine mehr oder weniger abgestumpfte Fläche tragen, während Hammeräxte an einem Ende die Schneide der Axt, am andern die Fläche des Hammers besitzen. Zur Befestigung des keilförmigen Steinbeils am hölzernen Stiel wurde es in einen Einschnitt an dem umgebogenen Ende eines krummen Holzgriffs gesteckt und mit kreuzweise umgelegten Riemen oder mit einer Schnur befestigt, oder man höhlte ein Stück Hirschhorn oder Renntiergeweih zu einer das Steingerät teilweise umfassenden Hülse aus, welche dann am dicken Ende einer Holzkeule oder eines Stockes befestigt wurde. Anderseits wurden die Steinäxte, um einen hölzernen Stiel hindurchzustecken, durchbohrt. Rau hat nachgewiesen, daß man das härteste Gestein mit einem hölzernen Stab oder einem cylinderförmigen Knochen, den man in schnelle Umdrehung versetzt, unter Anwendung von Sand und Wasser durchbohren kann. Auch ein zugespitztes Hirschhornstück oder ein an einem Holzstab angebrachter spitzer Feuerstein, der mit Hilfe einer an einem Bogen befestigten, sich auf- und abwickelnden Schnur in schnelle Umdrehung versetzt wurde, fand vielfach Verwendung. Zur Zerteilung eines großen Steinblocks bediente man sich einer an einem hin- und herschwingenden Baumast befestigten Feuersteinsäge, mit der man den Block von verschiedenen Seiten ansägte, während die übrigbleibende Verbindung mit dem Meißel durchgesprengt wurde. Besonderes Interesse knüpft sich an die aus Nephrit und Jadeit hergestellten Geräte, da die Herkunft des Materials mehr oder weniger zweifelhaft ist (vgl. Nephrit). Die aus Knochen und Horn hergestellten Objekte der jüngern S. bekunden zum Teil hervorragende technische Fertigkeit. Aus diesen Materialien hergestellte Angel-haken, Harpunen und Stechspeere für den Fischfang, ferner knöcherne Pfrieme, Meißel, Dolche, Pfeil- und Lanzenspitzen, aus Rippen des Hirsches oder der Kuh hergestellte Kämme zum Flachshecheln und ähnliche Objekte gehören nicht zu den Seltenheiten. Aus Holz gefertigte Gegenstände, wie Speerstangen, Bogen, Kämme aus Buchsbaumholz, aus einem Baumstamm ausgehöhlte Kähne u. dgl., haben sich ebenfalls hier und da erhalten. Die neolithischen Schmuckgegenstände zeichnen sich vor den paläolithischen durch größere Mannigfaltigkeit aus.

Die Fundstätten der jüngern S. sind über ganz Europa zerstreut, und auch außerhalb Europas werden dieselben häufig angetroffen; ganz besonders reich aber hat sich Skandinavien erwiesen. Außer den gewöhnlichen neolithischen Objekten finden sich im N. und O. Schwedens aus Schiefer hergestellte Altertümer, die man für Überreste der S. der Lappen hält und als arktische Steinkultur bezeichnet. Außerordentlich reich an neolithischen Fundstücken ist Rügen, von wo aus in prähistorischer Zeit ein großartiger Export von Feuersteingeräten stattfand. Außer in Höhlen, wohnte der neolithische Mensch auf im Wasser errichteten Pfahlgerüsten (s. Pfahlbauten). Im nördlichen Europa dienten ihm wohl während des Sommers aus Fellen hergestellte Zelte, im Winter vermutlich niedrige Hütten aus einem Gerüst von Walfischrippen und Holz, das mit Rasenstücken oder mit einer Lage Torf und darübergeschütteter Erde bedeckt wurde, als Wohnungen. Die Form der letzterwähnten Behausungen ist nach Sven Nilsson in den skandinavischen Ganggräbern nachgeahmt. Das Andenken seiner Toten ehrte der neolithische Mensch durch Aufwerfen von Grabhügeln (s. Gräber u. Tafel) sowie durch Errichtung von Dolmen und Steinsetzungen (s. d.). Ein besonders wichtiges Kennzeichen der neolithischen Kultur besteht darin, daß während dieses Abschnitts der Prähistorie der Mensch zuerst Tiere zähmt, daß ebensowohl die Anfänge der Viehzucht als diejenigen des Ackerbaues dieser Epoche angehören, daß der neolithische Mensch aus Pflanzenfasern rohe Gewebe und Gespinste herstellt, und daß derselbe, wie die Funde an Gefäßen und Gefäßscherben beweisen, in der Thonbildekunst bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat. Vgl. Joly, Der Mensch vor der Zeit der Metalle (Leipz. 1880); de Nadaillac, Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten (deutsch, Stuttg. 1884); Kinkelin, Die Urbewohner Deutschlands (Lindau 1882); Fischer, Betrachtungen über die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde ("Kosmos", Bd. 10,S. 117); Tischler, Beiträge zur Kenntnis der S. in Ostpreußen etc. (Königsb. 1882-83, 2 Hefte); Montelius, Die Kultur Schwedens in vorchristlicher Zeit (deutsch, Berl. 1885); Maska, Der diluviale Mensch in Mähren (Neutitschein 1886); Rau, Drilling in stone without the use of metals (Washington 1869); Baier, Die Insel Rügen nach ihrer archäologischen Bedeutung (Strals. 1886).

Steinzellen, s. Steinigwerden.

Steinzeug, s. Thonwaren.

Steiß, das hintere Rumpfende der Wirbeltiere, besonders wenn es, wie bei den Vögeln, über den Rumpf hinausragt.

Steißbein (Os coccygis, Schwanzbein), der Endabschnitt der Wirbelsäule (s. d.) nach hinten vom Kreuzbein. Während der Schwanzteil derselben bei den mit einem deutlichen Schwanz versehenen Wirbeltieren oft aus sehr vielen und beweglichen Wirbeln besteht, sind beim Menschen 4, seltener 5, bei andern Säugetieren noch weniger, bei den Vögeln 4-6, bei den Fröschen ebenfalls einige wenige Wirbel zu einem Knochenstück, dem sogen. S., verschmolzen. Die Wirbel, in der menschlichen Anatomie als falsche Wirbel (vertebrae spuriae) bezeichnet, entbehren des dorsalen Bogens, so daß das Rückenmark hier nicht in einem Kanal, sondern frei liegt, was auch schon am letzten Kreuzbeinwirbel der Fall ist (s. Tafeln "Nerven II", "Skelett II" und "Bänder"). In abnormen Fällen, bei den sogen. geschwänzten Menschen, ist das S. nicht nach dem Innern des Körpers zu, sondern nach außen zu gekrümmt und bildet dann ein ordentliches Schwänzchen, das übrigens regelmäßig beim Embryo (s. d.) vorhanden ist.

Steißdrüse, ein kleiner, unpaarer, drüsenartiger Körper von unbekannter Bedeutung in der Gegend des Steißbeins.

Steißfuß (Lappentaucher, Podiceps Lath.), Gattung aus der Ordnung der Taucher und der Familie der Seetaucher (Colymbidae), Vögel mit breitem, platt gedrücktem Leib, langem, ziemlich dünnem Hals, kleinem, gestrecktem Kopf, langem, schlankem, seitlich zusammengedrücktem, zugespitztem, an den Schneiden sehr scharfem Schnabel, am Ende des Leibes eingelenkten, nicht sehr hohen, seitlich stark zusammengedrückten Füßen, mit Schwimmlappen be-

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Steißfußhuhn - Stellvertretung.

setzten Vorderzehen mit breiten, platten Nägeln, stummelartiger Hinterzehe, kurzen, schmalen Flügeln und statt des Schwanzes mit einem Büschel zerschlissener Federn. Die Steißfüße sind vollkommene Wasservögel, welche ausgezeichnet tauchen, unter Wasser sich sehr schnell fortbewegen, auch auf dem Wasser ruhen und in einem schwimmenden Nest aus nassen Stoffen brüten. Das Gelege besteht aus 3-6 Eiern, welche von beiden Eltern gezeitigt werden. Sie nähren sich von Fischen, Insekten, Fröschen, verschlucken auch Pflanzenteile und ihre eignen Federn, welche sie sich aus der Brust rupfen. Der Haubensteißfuß (Haubentaucher, Blitzvogel, Seedrache, Fluder, P. cristatus L.), 66 cm lang, 95 cm breit, oberseits schwarzbraun, mit weißem Spiegel an den Flügeln, weißen Wangen und weißer Kehle, unterseits weiß, seitlich dunkel gefleckt, im Hochzeitskleid mit zweihörnigem Federbusch auf dem Kopf und aus langen, zerschlissenen Federn gebildetem rostroten, schwarz geränderten Kragen; die Augen sind karminrot, Zügel und Schnabel blaßrot, die Füße hornfarben. Er bewohnt die Seen und Gewässer Europas bis 60° nördl. Br., weilt in Deutschland von April bis November, überwintert auf dem Meer, in Südeuropa oder Nordafrika und findet sich auch in Asien und Nordamerika. Er lebt paarweise an größern bewachsenen Teichen oder Seen, hält sich sehr viel auf dem Wasser auf, ist auf dem Land sehr unbehilflich, fliegt aber verhältnismäßig schnell und schwimmt und taucht vortrefflich. Er ist sehr vorsichtig und sucht sich bei Gefahr stets durch Tauchen zu retten. Das Nest steht in der Nähe von Schilf auf dem Wasser, und das Weibchen legt drei weiße Eier. Die Jungen werden von der Mutter beim Schwimmen oft auf dem Rücken, beim Fluge nicht selten zwischen den Brustfedern versteckt getragen. Man jagt ihn des kostbaren Federpelzes halber. Der Zwergsteißfuß (P. minor L.), 25 cm lang, 43 cm breit, oberseits glänzend schwarz, unterseits grauweiß, dunkler gewölkt, an der Kehle schwärzlich, an Kopf-, Halsseiten und der Gurgel braunrot; das Auge ist braun, der Zügel gelbgrün, der Schnabel an der Wurzel gelbgrün, an der Spitze schwarz, der Fuß schwärzlich. Er ist wie der vorige weit verbreitet, weilt in Deutschland vom März, bis die Gewässer sich mit Eis bedecken, und überwintert in Südeuropa. Man findet ihn an bewachsenen Teichen, in Brüchern und Morästen, er lebt wie der vorige, fliegt aber schlecht und deshalb sehr ungern, nährt sich hauptsächlich von Insekten, nistet im Schilf und legt 3-6 weiße, schwach gefleckte Eier (s. Tafel "Eier II"), welche in 20 Tagen ausgebrütet werden. Der Ohrensteißfuß (P. auritus L.), 33 cm lang, 60 cm breit, an Kopf, Hals und Oberteilen schwarz, mit breitem, goldgelbem Zügel, an Oberbrust und Seiten lebhaft braunrot, an Brust und Bauchmitte weiß, das Auge ist rot, der Schnabel schwärzlich, der Fuß graugrün, bewohnt den gemäßigten Gürtel der Alten Welt. Die Eier (s. Taf. "Eier II") sind weiß, lehmgelb gefleckt.

Steißfußhuhn (Megapodius Quoi et Gai.), Gattung aus der Ordnung der Hühnervögel und der Familie der Wallnister (Megapodiidae). Das Großfußhuhn (M. tumulus Less.), von der Größe des Fasans, oberseits braun, unterseits grau, mit rötlich-braunem Auge und Schnabel und orangefarbigem Fuß, lebt auf den Philippinen und Neuguinea im Gestrüpp an der Küste paarweise oder einzeln, ist sehr scheu, fliegt schwerfällig und nährt sich von Wurzeln, Sämereien und Insekten. Es erbaut aus Sand und Muscheln große Haufen, welche, von mehreren Geschlechtern benutzt und vergrößert, 5 m Höhe und einen Umfang von 50 m erreichen, und legt in diese sein weißes Ei, welches es tief vergräbt.

Steißhühner, s. Hühnervögel.

Steißtier, s. Aguti.

Stele (griech.), Grabstein, gewöhnlich ein viereckiger, nach oben sich etwas verjüngender und mit Blätter- oder Blumenverzierungen (Anthemien) gekrönter Pfeiler, welcher den Namen des Verstorbenen trägt (s. Abbildung). Mitunter finden sich auch auf der S. Reliefdarstellungen, die sich auf das Leben des Geschiedenen beziehen. In makedonischer und römischer Zeit wird die S. niedriger und breiter und meist mit einem Giebel besetzt. Vgl. Brückner, Ornament und Form der attischen Grabstele (Straßb. 1886).

Stell., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für G. W. Steller, geb. 1709 zu Windsheim, Arzt in Petersburg, starb 1745 (Seetiere).

Stella (lat.), Stern.

Stella, 1) Pseudonym, s. Lewis 2);

2) s. Swift.

Stellage (französiert, spr. -lahsche), Gestell, Gerüst; auch s. v. w. Stellgeschäft (s. Börse, S. 238).

Stellaland, s. Westbetschuanen.

Stellaria L. (Sternkraut, Sternmiere), Gattung aus der Familie der Karyophyllaceen, kleine, einjährige oder ausdauernde Kräuter mit weißen Blüten in allen Klimaten, doch meist auf der nördlichen Erdhälfte. S. Holostea L. (Augentrostgras, Jungferngras), in ganz Europa, ausdauernd, mit aufsteigendem, vierkantigem Stengel, sitzenden, lanzettlichen, lang zugespitzten, am Rand und auf dem Kiel scharfen Blättern, ward früher medizinisch benutzt; S. media Vill. (Vogelmiere, Hühnerdarm), sehr gemein, wird allgemein als Vogelfutter benutzt.

Stellaten, s. Rubiaceen.

Stellbrief, s. Engagementsbrief.

Stelldichein, s. Rendezvous.

Stellenvermittelungsbüreaus, s. Adreßbüreaus.

Stelleriden, s. Asteroideen.

Stellgeschäft, s. Börse, S. 238.

Stellio, Dorneidechse (s. d.). Der S. der Alten ist der Gecko (s. Geckonen).

Stellionat (Crimen stellionatus), im römischen Strafrecht die Verletzung und Unterdrückung der Wahrheit zur Gewinnung unrechtmäßiger Vorteile durch Täuschung, d. h. durch vorsätzliche Erweckung einer unrichtigen Vorstellung bei andern. Der Name ist von der Behendigkeit der Eidechse (stellio) im Entschlüpfen hergenommen.

Stellknorpel, s. Kehlkopf.

Stellmacher (Wagner), ehemals zünftige Handwerker, die das Holzwerk für Fuhrwerke, Kutschen, Schlitten, Pflüge etc. verfertigen. An manchen Orten fertigen die Radmacher die Räder allein.

Stellung, s. Attitüde und Position.

Stellvertretung, das Rechtsverhältnis, in welchem eine Person die Geschäfte einer andern ausführt, sei es, daß es sich dabei um einzelne Geschäfte, sei es, daß es sich um eine Summe von Geschäften handelt. Im

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Stellvertretung, militärische - Stelzhamer.

privatrechtlichen Verkehr setzt die S. in der Regel einen Auftrag seitens der zu vertretenden Person voraus (s. Mandat). Handelt es sich dagegen um die Vertretung eines öffentlichen Beamten, so wird der Stellvertreter oder Vikar (s. d.) in der Regel von der vorgesetzten Dienstbehörde bestellt. Dem als Volksvertreter gewählten Beamten fallen die Kosten der S. nicht zur Last. Die S. des deutschen Reichskanzlers (Generalstellvertretung durch einen Vizekanzler oder Spezialvertretung durch die Chefs der Reichsämter) ist durch Reichsgesetz vom 17. März 1878 geordnet. Bei gekrönten Häuptern wird zwischen S. und Regentschaft unterschieden. Letztere ist auf die Dauer berechnet und tritt kraft gesetzlicher Bestimmung ein, während man unter S. die auf Anordnung des Monarchen selbst eintretende vorübergehende Vertretung versteht.

Stellvertretung, militärische, früher Ableistung der Dienstpflicht im Kriegsheer durch und für einen andern, wofür der Stellvertreter (Einsteher, Remplacant) eine meist gesetzlich geregelte Abfindungssumme erhielt. Nach Deutschlands Vorgang bis auf Belgien und Niederlande, wo die m. S. noch heute besteht, nach dem Krieg 1870/71 überall abgeschafft. S. Loskauf.

Stelter, Karl, lyr. Dichter, geb. 25. Dez. 1823 zu Elberfeld, widmete sich in einer Seidenweberei daselbst dem kaufmännischen Beruf, zu dem er auch nach einem kurzen Versuch, als Schauspieler eine künstlerische Zukunft zu gewinnen, zurückkehrte und bis 1880 (in den letzten 30 Jahren als Prokurist) thätig war. Seitdem lebt er in Wiesbaden. S. gehört als Dichter zu der kleinen Gruppe der "Wupperthaler Poeten", welche im materiellen Treiben ideale Gesinnungen zu wecken und zu erhalten bemüht waren und eine freisinnige und freudige Auffassung des Daseins dem trüben Wupperthaler Pietismus entgegensetzten. Er veröffentlichte: "Gedichte" (Elberf. 1858, 3. Aufl. 1880); "Die Braut der Kirche", lyrisch-epische Dichtung (Bresl. 1858); "Aus Geschichte und Sage", erzählende Dichtungen (Elberf. 1866, 2. Aufl. 1882); die Anthologie "Kompaß auf dem Meer des Lebens" (4. Aufl., Berl. 1884); "Kompendium der schönen Künste" (Düsseld. 1869); "Gedichte", 2. Band (Elberf. 1869); "Novellen" (das. 1882); "Neue Gedichte" (das. 1886) u. a.

Stelvio, Monte, s. Stilfser Joch.

Stelzen, hohe Stäbe, an welchen in bestimmter Höhe Trittklötze angebracht sind, auf denen man, sich an den Stangen selbst festhaltend, stehen und gehen kann. Sie sind ein gymnastisches Belustigungsmittel, während eine andre Art Stelzen, die ungefähr eine Elle hoch und oben so breit sind, daß sie an die Fußsohle festgeschnallt oder gebunden werden können, besonders von den Äquilibristen zum Stelzentanz benutzt werden. Beide Arten sind übrigens in Marschländern sehr gebräuchlich, um sumpfige oder überschwemmte Stellen zu durchschreiten, namentlich im franz. Departement des Landes, woselbst die Schäfer sich den ganzen Tag auf ihren S. bewegen. Zu Namur fand früher alljährlich zum Karneval ein zweistündiger Kampf zwischen zwei Armeen auf S. statt.

Stelzengeier (Kranichgeier, Sekretär, Gypogeranus serpentarius Ill.), Vogel aus der Ordnung der Raubvögel und der Familie der Kranichgeier (Gypogeranidae), 125 cm lang, sehr schlank gebaut, mit langem Hals, ziemlich kleinem, breitem, flachem Kopf, kurzem, dickem, starkem, vom Grund an gebogenem, fast zur Hälfte von der Wachshaut bedecktem Schnabel mit sehr spitzigem Haken, langen Flügeln, in welchen die ersten fünf Schwingen gleich lang sind, auffallend langem, aber sehr stark abgestuftem Schwanz, unverhältnismäßig langen Läufen und kurzen Zehen mit wenig gekrümmten, kräftigen, stumpfen Krallen. Das Gefieder ist am Hinterkopf zu einem Schopfe verlängert, oberseits hell aschgrau, am Hinterhals gräulichfahl, an den Halsseiten u. Unterteilen schmutzig graugelb, Nackenschopf, Schwingen, Bürzel und Unterschenkel schwarz, die Steuerfedern weiß, graubraun, schwarz, an der Spitze wieder weiß; das Auge ist graubraun, der Schnabel dunkel hornfarben, an der Spitze schwarz, Wachshaut und Lauf gelb. Er bewohnt die steppenartigen Ebenen Afrikas vom Kap bis 16° nördl. Br., lebt meist paarweise, läuft und fliegt vortrefflich und ist berühmt als Schlangenvertilger. Er nistet auf Büschen oder Bäumen und legt 2-3 weiße oder rötlich getüpfelte Eier, welche das Weibchen in sechs Wochen ausbrütet. Die Tötung des Stelzengeiers ist am Kap streng verboten. In der Gefangenschaft hält er sich gut, wird auch recht zahm.

Stelzenschuhe kamen im 15. Jahrh., wie es scheint zuerst in Spanien, auf, wo sich diese Mode eine Zeitlang mit der der Schnabelschuhe vereinigte. Schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. kam sie hier wieder in Abnahme, wogegen sie erst jetzt in England, Italien und besonders in Frankreich (unter dem Namen patins) Verbreitung fand. Allerdings gewannen sie im Norden insofern praktische Bedeutung, als der Straßenschmutz zur Benutzung hölzerner Unterschuhe zwang, die im Haus abgelegt wurden. Sie wurde hier in dem Maß übertrieben, daß man sie, nach Art eines förmlichen Piedestals, bis zu 2 Fuß hoch trug und auch durch die Farbe derselben die Aufmerksamkeit zu erregen suchte. In Deutschland fand diese Mode weniger Anklang. Trotz häufiger Verbote kam man, wenn auch in mäßigerer Anwendung, immer wieder auf sie zurück S. die Abbildungen.

^[Stelzenschuhe.]

Stelzfuß, s. Bockhuf.

Stelzhamer, Franz, ausgezeichneter österreich. Dialektdichter, geb. 29. Nov. 1802 zu Großpiesenham bei Ried in Oberösterreich als der Sohn eines Bauern, besuchte, für den geistlichen Stand bestimmt, die Gymnasien zu Salzburg und Graz und sollte im Seminar zu Linz die Weihen empfangen, verließ aber, weltlich gesinnt, das Berufsstudium und ging nach Wien, wo er sich erst als Jurist, dann als Malerakademiker versuchte, bis er sich einer wandernden Schauspielertruppe anschloß. In dieser Laufbahn lernte er Sophie Schröder kennen, die ihn in der Deklamation unterrichtete. Nach Auflösung der Truppe kehrte der mehr als 30jährige Sohn, von der Bäuerin-Mutter geholt, in die heimatliche Hütte zurück, wo er nun seine zerstreuten Dialektgedichte ordnete und herausgab ("Lieder in obderennsscher Mundart", Wien 1836; 2. Aufl. 1844), die einen durchschlagenden Erfolg hatten. Es folgten "Neue Gesänge" (Wien 1841, 2. Aufl. 1844)

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Stelzvögel - Stempelsteuern.

von gleichem Wert nach, und nun gehörte S. ganz dem dichterischen Beruf an, indem er als wandernder Sänger, seine eignen Gedichte vortrefflich vortragend, Österreich und Bayern jahrelang durchzog. Weiter veröffentlichte er drei Bände Erzählungen ("Prosa", Regensb. 1845); "Neue Gedichte" (das. 1846); ferner "Heimgarten" (Pest 1846, 2 Bde.); "Liebesgürtel", in hochdeutscher Sprache (2. Aufl., Preßb. 1876); endlich "D'Ahnl", ein Dialektepos in Hexametern (Wien 1851, 2. Aufl. 1855). S. starb zu Henndorf bei Salzburg 14. Juli 1874. Aus seinem Nachlaß erschienen: "Aus meiner Studienzeit" (Salzb. 1875); "Die Dorfschule" (Wien 1877). "Ausgewählte Dichtungen" Stelzhamers gab Rosegger heraus (Wien 1884, 4 Bde.).

Stelzvögel, s. v. w. Watvögel (s. d.).

Stemma (griech.), Kranz, besonders als Schmuck der Ahnenbilder; Stammbaum. Stemmatographie, Genealogie.

Stemm- und Stechzeug, Meißel zur Bearbeitung des Holzes, haben eine gerade, einseitig oder zweiseitig zugeschärfte oder eine bogen- oder winkelförmige Schneide. Zu der ersten Klasse gehört der 3-50 mm breite Stechbeitel, dessen Zuschärfungsfläche mit der gegenüberstehenden Fläche einen Winkel von 8-30° bildet. Der englische Lochbeitel ist sehr viel dicker, 1,5-25 mm breit und hat einen Zuschärfungswinkel von 25-35°. Die Kantbeitel sind lange und starke Stechbeitel für Wagner mit einer niedrigen Rippe auf der Seite, wo die Zuschärfung liegt, so daß der Querschnitt ein gedrücktes Fünfeck bildet. Zur zweiten Klasse gehört das Stemmeisen mit dünner Klinge und 12-36 mm breit. Zur dritten Klasse gehören die Hohleisen mit rinnenartiger Klinge und ein- oder zweiseitig zugeschärfter Schneide, deren Mitte bei den Hohleisen der Zimmerleute weit vorsteht. Der Geißfuß hat zwei gleichlange, geradlinige Schneiden, welche unter einem Winkel von 45-90° zusammenstoßen. Stemm- und Stechzeuge dienen zum Wegnehmen von Holzteilen, zur Bildung von Einschnitten, Ausarbeitung von Vertiefungen und Löchern etc. Stemmmaschinen zum Ausstemmen von Zapfen und durch Langlochbohrmaschinen erzeugten Nuten besitzen einseitig scharf geschliffene Meißel, die sich hin und her, resp. auf und ab bewegen und dabei in das auf dem Arbeitstisch liegende Holz einschneiden, welches nach jedem Schnitt um die Stärke eines Spans vorrückt.

Stempel, Werkzeug, welches auf der einen Fläche mit erhabenen oder vertieften Figuren, Buchstaben u. dgl. versehen ist, um mittels aufgetragener Farbe diese Figur abzudrücken oder vermittelst eines Drucks diese Figuren in eine etwas weichere Masse einzudrücken, wie namentlich die S. zur Verfertigung der Münzen und Medaillen; auch das mit einem solchen Werkzeug aufgedrückte Zeichen, welches als Merkmal der erprobten Güte einer Ware, des Ursprungs (von woher) oder einer bezahlten Abgabe dient. - Im Staatshaushalt wird der S. (eigentlich: die Stempelung) als Mittel benutzt, um auf bequemem und nicht kostspieligem Wege Gebühren und Steuern (Verkehrssteuern) zu erheben (Gebührenstempel, Steuerstempel). Derselbe soll wegen seiner finanziellen Ergiebigkeit zuerst im verkehrsreichen Holland (seit 1624) in Gebrauch gekommen sein. Er ist überall da anwendbar, wo einer zu belastenden Leistung eine Schriftlichkeit zu Grunde liegt, die der Zahlungspflichtige überreicht oder empfängt. In diesen Fällen können sowohl Stempelbogen (gestempeltes Papier) als aufzuklebende, für den Gebrauch bequemere Stempelmarken benutzt werden, in andern bedient man sich auch wohl gestempelter Umschläge (Banderollen, z. B. beim Tabak), die bei dem Gebrauch zerrissen werden, während der Stempelbogen durch das Beschreiben, die Stempelmarke durch Durchstreichen oder Ausdrücken eines Zeichens für weitere Verwendungen unbrauchbar gemacht (nullifiziert, kassiert) wird. Endlich kann auch ein Gegenstand (z. B. Edelmetall, Zeitung, Kartenspiel) unmittelbar durch Aufdrücken des Stempels gestempelt und damit der Beweis der Steuer- oder Gebührenzahlung geliefert werden. Zu unterscheiden sind: 1) der Fixstempel, welcher mit einem festen Geldbetrag für die einzelne in Anspruch genommene öffentliche Leistung heute meist in der Form der Stempelmarke eintritt; 2) der Klassenstempel, bei welchem nach gewissen Merkmalen (Bedeutung des Gegenstandes, verursachte Kosten) die verschiedenen Fälle in Klassen eingeteilt werden und innerhalb der einzelnen Klassen Festempel zur Anwendung kommen; 3) der Dimensionsstempel, dessen Höhe sich nach der Ausdehnung des Gegenstandes (Zeitung, Prozeßakten) richtet, an welchen der S. angeknüpft wird; 4) der Wert- (Gradations-, Proportional-) S., welcher sich nach dem durch die steuerpflichtige Urkunde repräsentierten Wert richtet und in Prozenten des letztern oder auch mit Abrundung der Prozenthöhe in festen Beträgen für gewisse Klassen (klassifizierter Wertstempel) erhoben wird. Gegen Stempelfälschungen schützt man sich durch künstliche Herstellung der Stempelzeichen (geschöpftes Papier, Wasserzeichen etc.), gegen Umgehungen dienen Kontrolle und Strafe. Die Strafe kann dadurch verschärft werden, daß das vorgenommene Rechtsgeschäft für nichtig erklärt wird. Da hierdurch jedoch auch leicht Unschuldige getroffen werden, so begnügt sich die Stempelgesetzgebung meist mit Geldstrafen, während die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts nicht weiter angefochten wird. Vgl. Stempelsteuern.

Stempel (Pistill), das weibliche Organ in den Blüten, s. Blüte, S. 67 f.

Stempelakte, brit. Gesetz, 22. März 1765 für die nordamerikanischen Kolonien gegeben, angeblich behufs Aufbringung einer Summe zur Verteidigung der Kolonien gegen feindliche Angriffe und zwar durch Auflegung einer Stempeltaxe auf alles bei Geschäften zu verwendende Schreibpapier, steigerte die Unzufriedenheit, ward zwar 18. März 1766 wieder aufgehoben, trug aber zum Abfall der Kolonien von England mit bei. S. Großbritannien, S. 806.

Stempelbogen, Stempelmarke etc., s. Stempel.

Stempelschneidekunst, die Kunst, Figuren und Buchstaben in Stempel von Metall je nach Erfordernis des Abdrucks vertieft oder erhaben darzustellen. Zu den Stempelschneidern gehören daher auch die Petschaftstecher und die Schriftschneider, doch findet die eigentliche Anwendung der S. besonders für Münzen und Medaillen statt. Zahlen und sich oft wiederholende kleine Zeichen (Sternchen, Kreuze etc.) werden mit besondern Bunzen eingeschlagen. Über die geschichtliche Entwickelung und das Künstlerische der S. vgl. Denkmünze und Münzwesen, S. 897.

Stempelsteuern, eine Reihe von Staatsabgaben (Steuern wie Gebühren), welchen der Stempel (s. d.) als Erhebungsform gemeinsam ist. Im wesentlichen decken sie sich mit den Verkehrssteuern (s. d.). Das Deutsche Reich besitzt an solchen S. die Wechselstempelsteuer (s. d.), den Spielkartenstempel (s. d.) und die Börsensteuer (s. d.). Die Gliederstaaten haben mannigfaltige Urkundenstempel, Erbschaftsstempel und Gebührenstempel. Die französischen S. sind teils

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Stempelzeichen - Stengel.

Verbrauchsstempel (Dimensionsstempel von Zeitschriften, öffentlichen Ankündigungen etc.), teils Urkundenstempel (als Dimensions- oder als Wertstempel auf alle Akte der öffentlichen Agenten, der Gerichte und Verwaltungsbehörden etc.). Der englische Stempel ist meist Fixstempel. Proportionell abgestuft sind hauptsächlich nur die Wechselstempelsteuern, die Erbschaftssteuern (s. d.), die Stempel auf Übertragung von Grundeigentum und von gewissen Wertpapieren.

Stempelzeichen (Kontermarke), Zeichen, welches in die Münzen eingeschlagen wurde, um anzuzeigen, daß eine bisher ungültige Münze Geltung erhält, oder daß der Wert einer bisher kursierenden Münze verändert worden ist. Dergleichen S. finden sich schon auf den Münzen der alten Griechen und Römer. In Frankreich wurden früher bei jedem Regierungswechsel die Münzen gestempelt.

Stenamma, s. Ameisen, S. 452.

Stenay (spr. stönä), Stadt im franz. Departement Maas, Arrondissement Montmédy, an der Maas und der Eisenbahn Sedan-Verdun, mit Eisenhütte und (1881) 2794 Einw.

Stenbock, Magnus, Graf, schwed. Feldmarschall, geb. 12. Mai 1664 zu Stockholm, studierte in Upsala, trat dann in holländische Dienste und focht seit 1688 unter dem Markgrafen von Baden und dem Grafen Waldeck mit Auszeichnung am Rhein. Nachdem er 1697 als Oberst eines deutschen Regiments in die Dienste seines Vaterlandes getreten, begleitete er Karl XII. auf dessen meisten Feldzügen und wirkte namentlich bei Narwa bedeutend zum Sieg mit. 1707 wurde er zum Statthalter von Schonen ernannt; als Friedrich IV. von Dänemark 1709 in Schonen landete, siegte S., von der Regentschaft jenem entgegengestellt, 28. Febr. 1710 bei Helsingborg, setzte 1712 nach Pommern über und schlug die Dänen 20. Dez. d. J. bei Gadebusch, wendete sich hierauf nach Holstein, wo er 9. Jan. 1713 Altona in Asche legen ließ, mußte sich aber 6. Mai bei Tönning, von den dänischen, russischen und sächsischen Truppen eingeschlossen, mit 12,000 Mann kriegsgefangen ergeben und ward nach Kopenhagen gebracht, wo er 23. Febr. 1717 im Kerker starb. Seine "Mémoires" erschienen Frankfurt 1745; seine Biographie gab Laenborn heraus (Stockh. 1757-65, 4 Bde.).

Stendal, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, an der Uchte, Knotenpunkt der Linien Leipzig-Wittenberge, Berlin-Lehrte und S.-Langwedel der Preußischen Staatsbahn sowie der Eisenbahn S.-Tangermünde, 33 m ü. M., ist die ehemalige Hauptstadt der Altmark, hat 5 evang. Kirchen (darunter die spätgotische Domkirche), eine kath. Kirche, eine Synagoge, 2 alte interessante Stadtthore, schöne Anlagen an Stelle der alten Festungswerke, eine Rolandsäule, ein Denkmal des hier gebornen Archäologen Winckelmann (von K. Wichmann), ein öffentliches Schlachthaus und (1885) mit der Garnison (1 Reg. Husaren Nr.10) 16,184 meist evang. Einwohner, die Wollspinnerei, Tuch-, Öfen-, Maschinen- u. Goldleistenfabrikation, Kunstgärtnerei, Bierbrauerei etc. betreiben. Auch befindet sich hier eine Eisenbahnhauptwerkstatt und werden Pferde-, Vieh- u. Getreidemärkte abgehalten. S. hat ein Landgericht, ein Hauptsteueramt, ein Gymnasium, ein Johanniterkrankenhaus etc. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 16 Amtsgerichte zu Arendsee, Beetzendorf, Bismark, Gardelegen, Genthin, Jerichow, Kalbe a. M., Klötze, Öbisfelde, Österburg, Salzwedel, Sandau, Seehausen i. A., S., Tangermünde und Weferlingen. - S. ward 1151 von Albrecht dem Bären gegründet, erhielt, wie die meisten Städte im Slawenland, das Magdeburger Recht und gewann unter den folgenden Markgrafen mancherlei Privilegien, so 1215 die Befreiung vom Gericht des Burggrafen, obwohl es mit der ganzen Nordmark 1196 unter die Lehnshoheit des Erzstifts Magdeburg geraten war. Bei der Teilung der Mark unter die Brüder Johann I. und Otto IV. 1258 ward S. Sitz der ältern (Stendalschen) Linie des Hauses Askanien, die 1320 mit Heinrich von Landsberg erlosch. Damals war S. eine der bedeutendsten Städte der Mark, trat auch der Hansa bei und stand im 15. Jahrh. an der Spitze eines Bundes der Städte der Altmark. 1530 fand hier die evangelische Lehre Eingang, wurde aber von Joachim I. mit Gewalt unterdrückt; erst unter Joachim II. wurde dann die Reformation in S. durchgeführt. Vgl. Götze, Urkundliche Geschichte der Stadt S. (Stend. 1871).

^[Wappen von Stendal.]

Stendhal (spr. stangdall), Pseudonym, s. Beyle.

Stenge, auf größern Schiffen die erste Verlängerung des Mastes über dem Mars, mittels des sogen. Eselshaupts, eines starken Blocks von hartem Holz, mit dem Untermast verbunden; s. Takelung.

Stengel (Caulis, Kaulom, Stamm, Achse), eins der morphologischen Grundorgane der Pflanzen, in der Fähigkeit dauernder Verjüngung an seiner Spitze mit der Wurzel übereinstimmend, aber durch den Besitz von Blättern wesentlich verschieden. Man beschränkt gewöhnlich das Vorkommen des Stengels im Pflanzenreich auf die deshalb so genannten stammbildenden Pflanzen (Kormophyten), welche, alle Gewächse von den Moosen an aufwärts umfassend, den Thallophyten gegenübergestellt sind, denen man den S. abspricht und einen Thallus beilegt.

Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beim sogen. blattlosen S. sind in Wahrheit die Blätter entweder nur auf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn als bloße Scheiden nur am Grund, oder der vermeintlich blattlose S. ist nur das zu ungewöhnlicher Länge gestreckte Zwischenstück zwischen je zwei einander folgenden Blättern. Die Stellen des Stengels, an welchen ein Blatt sitzt, die Knoten (nodus), sind nicht selten durch eine knotenartige Verdickung und oft auch durch andre anatomische Beschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln mit Mark erfüllt. Das zwischen je zwei aufeinander folgenden Knoten liegende Stück heißt Stengelglied (Internodium). Das aus dem Blatt in den S. übertretende Gefäßbündel wird als Blattspur bezeichnet. Die im jugendlichen Zustand an der Stengelspitze dicht zusammengedrängten Blätterrücken erst bei der weitern Ausbildung in der Regel mehr auseinander, indem die Stengelglieder sich strecken. Bei Stengeln, deren Internodien unentwickelt bleiben, stehen alle Laubblätter unmittelbar über der Wurzel und heißen deshalb Wurzel- oder Grundblätter, während man solche Pflanzen ungenau stengellose Pflanzen (plantae acaules) nennt. Auch die Knospen, die Köpfchen, die Blüten sind Beispiele für S. mit verkürzten Internodien. Einen sehr hohen Grad erreicht die Streckung der Stengelglieder z. B. bei den Pflanzen mit windenden Stengeln, bei den fadendünnen Ausläufern und beim Schaft (scapus), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes Internodium eines aus der Achsel

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Stengel (botanisch).

von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte oder einen Blütenstand tragenden Sprosses darstellt.

Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare) das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die in der Fortbildung begriffene Spitze des Stengels der Länge nach durchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine halbkugel- bis schlank kegelförmige Kuppe endigt (Fig. 1), auf deren Oberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden sind. Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seine zellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels in die Länge. Erst ein mehr oder minder großes Stück unterhalb des Scheitels (Fig. 1 ss) desselben zeigen sich auf seiner Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nach rückwärts verfolgend, bald in größere Gebilde übergehen sehen und als die ersten Anlagen der Blätter erkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengels samt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt bedeckenden jungen Blättern (Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). Der Vegetationspunkt ist aus lauter gleichartigen, sehr kleinen, polyedrischen, dünnwandigen, reichlich mit Protoplasma erfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen Zellen zusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristem darstellen, aus welchem allmählich die Gewebe (Fig. 1 m) durch entsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei den Gefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es im Scheitel des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durch regelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und von welcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengels abstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen im Vegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig und unabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelle anzunehmen ist.

Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugt an seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zu einer neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihr zusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweig oder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengels bilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schon in der Nähe der Spitze des Stengels und meist in regelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, auf welcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanze beruht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche aus Adventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von der Spitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnung und oft durch zufällige äußere Einflüsse veranlaßt entstehen. Bei jeder normalen Verzweigung treten die neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätter auf, und zwar an der Oberfläche des Stengels (Fig. 1 k). Daher ist die Stellung der Zweige von der Blattstellung abhängig und zeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessen erzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe, und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zu wirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert die Unterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, da man jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproß nennt, von Haupt- und Seitensprossen. Insofern aber die Nebenachsen sich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsen erster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nach dem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten der Verzweigung: 1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sich fortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, so nennt man ein solches Verzweigungssystem monopodial oder ein Monopodium; es ist die gewöhnlichste Form. 2) Wenn der S. aber an einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezu gleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, so heißt er gabelig verzweigt oder dichotom (cauli dichotomus), die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann auf dreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einer Modifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falsche Dichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebenso stark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrer Richtung etwas zur Seite drängt (Fig. 2 C, wo aaa die Hauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze der Hauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oder welche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zwei gegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und in demselben Grad wie der Hauptsproß erstarken (Fig. 2 B, Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltener bei den Selaginellen und Lykopodiaceen vorkommender Fall, der gar nicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht, daß das Wachstum am Scheitel des

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Stengelbrand - Stenograph.

Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben in zwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem der Vegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt (Fig. 2 A, Bärlapp). 3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. in seiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aber die der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicher Richtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe von Internodien sich wiederholt (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb' die aufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbar Einer Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsen verschiedenen Grades zusammengesetzt ist.

Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnen Sprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung bei phanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselben erwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällen schließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kann dabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einer einzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird. Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei denen erst an den Nebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, also z. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätter trägt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oder an der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auch jede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß für sich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachse unterirdisch als Rhizom wächst und einfache Nebenachsen über den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüte abschließen, wie z. B. bei Paris quadrifolia. Man kann hiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc. Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigen Pflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach, sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sie tragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose der Blätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamen bestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u. Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nach deren Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregion und Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzen folgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, bei mehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsen verteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc. unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denen hauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) der Pflanze abhängt, zeigen wiederum große Mannigfaltigkeiten.

Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namen üblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S. oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm (culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einer einzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen und Baumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde, in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen und Nadelhölzer wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum). Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichtete Stengelformen sind die Knollen, Ranken und Dornen (s. d.). Bei manchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig, wie bei dem Kohlrabi (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus (Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedern zusammengesetzt, wie bei den Opuntien (Fig. 5). Ja, es gibt auch S., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen, wie z. B. die Zweige von Ruscus aculeatus (Fig. 6), welche flächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktes Längenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzte blattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia) unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch, daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmiger Blätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleine Blättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blüte hervorbringen. Über den innern Bau des Stengels vgl. die Artikel Gefäßbündel, Holz, Rinde, Kambium.

^[Fig. 5. Stengel von Opuutia.]

^[Fig. 6. Phyllokladien von Ruscus aculeatus.]

^[Fig 3. Kohlrabi.]

^[Fig. 4. Stengel von Melocactus.]

Stengelbrand, s. Brandpilze III.

Stengelgläser, venezian. Gläser mit dünnem, stengelartigem Fuß (s. Tafel "Glaskunstindustrie", Fig. 8).

Stenochromie (griech.), Verfahren gleichzeitigen Druckes einer beliebigen Anzahl von Farben, dessen Erfindung von Radde in Hamburg und von dessen Kompagnon Greth beansprucht wird. Aus eigens präparierten Farbentäfelchen werden der zu bedruckenden Bildfläche entsprechende Teile mittels der Laubsäge herausgeschnitten, welche man, gleich den Teilen der Zusammensetzspiele der Kinder, sodann zu einer Platte vereinigt, in eine besonders konstruierte Presse bringt, wo der Druck mit chemisch gefeuchtetem Papier derart erfolgt, daß das Papier die zur Herstellung des Bildes erforderliche Farbenschicht von der Farbenplatte aufsaugt. Wird über solcherweise erzeugte Grund- oder Tonplatten eine denselben entsprechende, das Bild selbst als photographisches Positiv tragende Gelatinehaut gelegt, so können damit überraschend schöne Resultate erzielt werden.

Stenograph (griech.), im weitern Sinn jeder, der sich ein System der Stenographie (s. d.) zu eigen

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Stenographie (Wesen und Zweck).

gemacht hat; im engern einer, dessen Beruf das geschwindschriftliche Aufnehmen von Reden u. dgl. ist.

Stenographie (griech., "Engschrift", auch Tachygraphie, "Schnellschrift", engl. Shorthand. "Kurzhand", deutsch am treffendsten Kurzschrift genannt), eine Schriftart, welche vermittelst eines einfachen, von den gewöhnlichen Buchstaben abweichenden Alphabets, ferner durch eigne Grundsätze über deren Zusammenfügung und meist auch durch Aufstellung besonderer Kürzungen zu ihrer Ausführung nur ein Viertel der sonst nötigen Zeit erfordert und dazu bestimmt ist, bei schreiblicher Thätigkeit als zeitersparendes Erleichterungsmittel verwandt zu werden. Da die S. nicht beabsichtigt, die gewöhnliche Schrift zu verdrängen, sondern nur neben derselben hergehen will, so nimmt sie in der Lautbezeichnung hauptsächlich die gangbare Schrift zum Vorbild; doch werden auch aus orthographischen Vereinfachungen Kürzungsvorteile gern benutzt. Phonetische Stenographien (s. Phonographie), wie sie in England (s. Pitman) und Frankreich (s. Duployé) vorhanden sind, lassen sich in Deutschland bei dem Mangel einer Behörde zur Entscheidung über die Richtigkeit der provinziell verschiedenen Aussprache gewisser Laute vorläufig nicht durchführen. Hinsichtlich der Zeichenauswahl für das Alphabet unterscheidet man zwei Arten von Systemen der S.: geometrische, d. h. solche, welche nur die einfachsten geometrischen Elemente (Punkt, gerade Linie, Kreis und Kreisteile) verwenden, und graphische, d. h. solche, die ihre Zeichen aus Teilen der gewöhnlichen Buchstaben bilden und dadurch im Gegensatz zu den erstern geläufige, der Richtung der schreibenden Hand entsprechende Züge erzielen. Geometrische wie graphische Systeme vervielfältigen die geringe Menge der verfügbaren Urzeichen durch allerhand Auskunftsmittel, wie Höhenwert, Neigungswert, Stellenwert, Schattierungswert etc., die zur Erreichung der verschiedensten Zwecke benutzt werden. An einer Klassifikation der Systeme nach diesen Gesichtspunkten mangelt es noch vollständig. Zu der graphischen Art gehören außer der altrömischen Tachygraphie fast nur die modernen deutschen Systeme und deren Übertragungen, während die übrigen meist auf geometrischer Grundlage beruhen. In den Regeln über die Zeichenzusammenfügung herrscht außerordentliche Mannigfaltigkeit. Das Gleiche gilt von den Kürzungsregeln, doch ist fast allen Systemen gemeinsam die Anwendung von Siglen (s. d.). Schreibkürzungsmethoden, welche sich der gewöhnlichen Buchstaben, allenfalls mit einigen Signaturen, bedienen, fallen, auch wenn sie die angegebene Kürze erreichen sollten, nicht unter den Begriff der S., ebensowenig Systeme, welche zwar eigne Zeichen verwenden, aber hinter dem Maß von ein Viertel der sonstigen Schreibzeit erheblich zurückbleiben. Die Veranlagung, schnelle Reden wörtlich nachzuschreiben, gehört nicht zu den Bedingnissen einer S., obgleich die meisten Systeme dazu befähigen oder wenigstens sich dessen rühmen. Oft aber ist es dieses Bedürfnis, Reden nachzuschreiben, gewesen, welches den Anstoß zur Aufstellung einer Kurzschrift gegeben hat. Daher sehen die ersten Systeme mehr auf Kürze als auf genügende Bürgschaft für richtiges Wiederlesen des Geschriebenen. Sobald die S. die engen Grenzen der Redezeichenschrift verläßt, um ihre umfassendere und höhere Bestimmung zu erfüllen, muß das Streben nach Kürze durch die Rücksicht auf Deutlichkeit, Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und Formenschönheit eingeschränkt werden; auch darf die Zeit und Mühe, welche zur Erlernung eines solchen mechanischen Erleichterungsmittels aufgewandt wird, nicht zu groß sein oder gar den Charakter eines förmlichen Studiums annehmen. Je mehr ein System bei theoretischer Konsequenz und ästhetischem Äußern Zuverlässigkeit mit Kürze vereinigt, ohne an leichter Erlernbarkeit zu verlieren, desto höher steht es an Brauchbarkeit und Güte. Denn die S. ist für alle bestimmt, welche viel zu schreiben oder Geschriebenes zu lesen haben, nicht bloß für Gelehrte, Schriftsteller, höhere Beamte, Kaufleute, Studenten, Gymnasiasten etc., sondern auch für Subalternbeamte, Sekretäre, Kanzlisten, Schreiber, Schriftsetzer etc., bei deren gegenseitigem Zusammenwirken (ein einheitliches Stenographiesystem vorausgesetzt) sie erst ihren vollen Wert zeigen kann. Als rein mechanisches Hilfsmittel für so verschiedene zum Teil wenig gebildete Kreise besitzt die S. keinerlei Anrecht auf die Bezeichnungen "Wissenschaft" oder "Kunst"; höchstens im uneigentlichen Sinn, wie man von Buchdrucker- oder Schreibkunst spricht, könnte die S. eine Kunst heißen. Aus der Verwertung sprachlich-etymologischer und lautlich-physiologischer Forschungsergebnisse vermag die Kurzschrift wohl Vorteile zu ziehen, aber nur Schwärmer reden von hoher Wissenschaftlichkeit und zahlreichen bildenden Elementen der S. Die Kurzschrift hat ihren wissenschaftlichen Gehalt in der Konsequenz, in rationeller Ökonomie und einem systematischen Aufbau zu suchen; ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt in den Diensten, die sie der Wissenschaft leistet. Eine kritisch-forschende Beschäftigung mit Geschichte, Wesen und Wert der S. ist dagegen sehr wohl als wissenschaftliche Thätigkeit zu denken. Zur Ausübung der redennachschreibenden Praxis bedarf es neben stenographischer Virtuosität insbesondere scharfer Sinne, schneller Auffassung und fester Nerven. Wissenschaftliche Bildung ist dafür nicht durchaus erforderlich, indessen gewährt dieselbe größere Bürgschaft für zuverlässige und von Verständnis getragene Leistungen; darum verlangt gewöhnlich der Staat von seinen amtlichen Stenographen außer der technischen Fertigkeit bestimmte Bildungsnachweise. In den größern deutschen Staaten und in Österreich werden z. B. fast nur akademisch gebildete Männer als Kammerstenographen zugelassen. Gegenwärtig dient die S. ihrem umfassendern, höhern Zweck umfänglich in Großbritannien, einem Teil des englisch sprechenden Nordamerika, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich-Ungarn und langsam beginnend auch in Italien; in den übrigen europäischen und einigen überseeischen Ländern erfährt sie fast nur in dem beschränkten Sinn Anwendung zum Nachschreiben von Reden. Die Pflege der Kurzschrift ruht zumeist in den Händen der stenographischen Vereine, die zuerst in England aufgekommen sind. Ebenda entstand 1842 die stenographische Presse, welche jetzt über fast 150 Fachzeitschriften verfügt. Versuche zur Aufstellung einer stenographischen Tonschrift an Stelle des gewöhnlichen Notensystems sind von einigen Franzosen, Deutschen und Engländern gemacht worden, haben aber eine praktische Verwertung ebensowenig gefunden wie die Entwürfe zu "Blindenstenographien". Vgl. Steinbrink, Über den Begriff der Wissenschaftlichkeit auf dem Gebiet der S. (Berl. 1879); Hasemann, Prüfung der wichtigsten Kurzschriften (Trarbach 1883); Morgenstern, Wissenschaftliche Grundsätze zur Beurteilung stenographischer Systeme (im "Magazin für S." 1884); Brauns, Welche Anforderungen sind an eine Schulkurzschrift zu stellen? (Hamb. 1888); Hüeblin, Stimmen über die Bedeutung der S. (Wetzikon 1888).

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Stenographie (Geschichtliches, Verbreitung).

Geschichtliches. Verbreitung.

Den ersten Ansatz zu einer S. finden wir in Griechenland. Eine Marmorinschrift von etwa 350 v. Chr., welche vor wenigen Jahren auf der Akropolis von Athen ausgegraben ward und im dortigen Zentralmuseum aufgestellt ist, gibt Anweisungen einer gekürzten Schriftart, mit welcher allerdings nur die Hälfte der Zeit erspart wird. Der frühsten Erwähnung einer griechischen S. begegnet man erst ums Jahr 164 n. Chr. bei Galenos. Aus Zeugniffen späterer Schriftsteller geht hervor, daß die wörtliche Aufnahme einer griechischen Rede durch S. möglich war. Von der Beschaffenheit des dabei angewendeten Systems können wir uns keine rechte Vorstellung bilden, denn die Schriftproben, welche unter dem Namen griechische Tachygraphie gehen, repräsentieren nur eine ganz späte und entartete Gestalt, in der das System an Kürze sich wenig über die gewohnliche griechische Schrift erhebt und nicht mehr S., sondern nur noch Geheimschrift ist. Vgl. Gomperz, Über ein griechisches Schriftsystem aus der Mitte des 4. vorchristlichen Jahrhunderts (Wien 1884); Mitzschke, Eine griechische Kurzschrift aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (Leipz. 1885); Gitlbauer, Überreste griechischer Tachygraphie im "Codex Vaticanus graecus 1809" (Wien 1878); Wessely, Wiener Papyrus Nr. 26 und die Überreste griechischer Tachygraphie in den Papyri von Wien, Paris und Leiden (in den "Wiener Studien" 1881, Bd. 3, S. 1-21); Rueß, Über griechische Tachygraphie (Neuburg a. D. 1882). Reichlicher fließen die Quellen über die altrömische S., deren Wesen und Geschichte vom Beginn bis zum Untergang sich verfolgen läßt. Nach ihrem Erfinder Tiro führt diese Kurzschrift den Namen Tironische Noten (weiteres s. Tiro). Aus dem Mittelalter verdient nur hervorgehoben zu werden, daß ein Mönch, Johannes von Tilbury, den Versuch machte, durch eine Nova notaria die Tironischen Noten zu ersetzen (vgl. Rose, Ars notaria, im "Hermes", Bd. 8, S. 303 ff.). Die Nation, bei welcher die Kurzschrift in neuer Zeit zuerst wieder erwachte, und von wo der zündende Funke fast in alle Länder Europas und über den Ozean übersprang, war die englische. Die frühsten Spuren stenographischer Systeme zeigen sich in England schon zu Ende des 16. Jahrh. in den Schriften von Bright und Bales. Der erste aber, der hier von Bedeutung ward, ist John Willis ("The art of stenography, or short-writing", Lond. 1602). Von diesem Anfangspunkt an bis zur jüngsten Vergangenheit ist das stenographische Schrifttum Englands ein außerordentlich fruchtbares gewesen. Als besonders hervorragend sind zu nennen Samuel Taylors "Essay intended to establish a standard for an universal system of stenography" (Lond. 1786), wovon Übertragungen auf viele andre europäische Sprachen gemacht wurden, und Isaak Pitmans "Phonographie" (1837). Dieselbe hat nach dem Taylorschen System die weiteste Verbreitung und praktische Verwertung unter den Volksstämmen englischer Zunge gefunden (näheres s. Pitman). In Frankreich blieben die ersten von Cossard 1651 und dem Schotten Ramsay 1681 veröffentlichten Systeme ohne Erfolg. Erst einer von Bertin verfaßten Übertragung des Taylorschen Systems, die 1792 unter dem Titel: "Système universel et complet de sténographie" erschien, gelang es, Anerkennung und praktische Verwendung zu finden. Noch heute besitzt dieselbe namentlich in den Überarbeitungen von Prévost und Delaunay in den franzöfischen und belgischen Kammern als Redezeichenkunst das Übergewicht, auch sonst einige Verbreitung im täglichen Schriftverkehr und eine Zeitschrift zur Vertretung ihrer Interefsen. Hinsichtlich der allgemeinen Ausbreitung und Benutzung bei schriftlichen Arbeiten hat aber neuerdings die S. Duployé (s. d.) alle andern französischen Methoden weit überflügelt. In Italien ist der erste nachweisbare Versuch, zu einer Kurzschrift zu gelangen, der von Molina 1797. Ihm folgte eine von Amanti 1809 bewirkte Übertragung des Taylorschen Systems ("Sistema universale e completo di stenografia"), die mit einigen Modifikationen beim italienischen Parlament Verwendung findet, sonst aber hinter einer von Noe bewirkten Übertragung der deutschen Redezeichenkunst von Gabelsberger zurücktritt, welche bereits anfängt, in weitern Kreisen als Gebrauchsschrift sich Geltung zu verschaffen ("Manuale di stenografia italiana", 9. Aufl., Dresd. 1887). In Spanien war es Marti, der, auf englischen Grundlagen bauend, durch seine "Tachigrafia castellana" (Madr. 1803) die Kurzschrift in seinem Vaterland einbürgerte und eine Stenographenschule gründete, deren Anhänger auch in Mexiko, Carácas, Buenos Ayres als Schnellschreiber der dortigen Gesetzgebenden Körper thätig sind. Ihr ist in neuester Zeit die "Taquigrafia sistematica" (Barcel. 1864) des Garriga y Marill mit Erfolg an die Seite getreten; ein thätiger und tüchtiger Verein in Barcelona wirkt für dieses System. Ein Sohn des vorgenannten Marti führte seines Vaters System, indem er es auf das Portugiesische übertrug, in Portugal ein ("Tachigrafia portugueza", Lissab. 1828). In Brasilien kommt ein nach englisch-französischen Mustern von Pereira da Silva Velho geschaffenes System (Rio de Jan. 1844) im Parlament zur Verwendung. In Rumänien tauchte die Kurzschrift 1848 auf, als Rosetti die Taylorsche S. seiner Muttersprache anzupassen suchte. Von einigem Erfolg begleitet war erst Winterhalders 1861 bewirkte Übertragung des französischen Systems von Tondeur. Auch in Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Rußland, Polen, Böhmen und den übrigen slawischen Ländern, Ungarn, Finnland, der Türkei, Griechenland, Armenien, Madagaskar, Japan trägt die S. das Gepräge fremder Herkunft. Es gibt in diesen Ländern keine national-eigentümlichen Stenographien, sondern nur Übertragungen ausländischer Methoden, besonders der deutschen von Gabelsberger und Stolze oder englisch-französischer. Erst 1888 hat sich bei den Tschechen eine Richtung auf Nationalisierung der S. bemerkbar gemacht. Auch auf Schleyers Volapük sind schon mehrere Systeme der S. übertragen worden. In Deutschland begegnen uns merkwürdige Beispiele großer Schreibgeschwindigkeit während der Reformationszeit, wo Luthers Freunde und Gehilfen (Cruciger, Dietrich und Röhrer) Predigten, Reden, Verhandlungen u. dgl. wörtlich nachgeschrieben haben sollen. Da jedoch nähere Angaben nicht erhalten sind, muß es unentschieden bleiben, welcher Hilfsmittel sich diese Männer bedient haben. Der Versuch des Schotten Ramsay, 1679 das englische System von Shelton in Deutschland einzuführen, blieb ohne Erfolg. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lenkte Buschendorf in seinem "Journal für Fabrik, Manufaktur etc." 1796 die Aufmerksamkeit der Deutschen auf die stenographischen Systeme Englands und Frankreichs und wies auf die Wichtigkeit dieser Kunstfertigkeit hin. Noch in demselben Jahr erschienen Mosengeils "Anleitung zur S. nach Tay-

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Stenographiermaschine - Stenotelegraph.

lor" und 1797 Horstigs "Erleichterte deutsche S.", beide ebenso wie das vom Hauptmann Danzer in Wien 1800 veröffentlichte "Allgemeine System der S. des Herrn Sam. Taylor" nach englischem Muster gearbeitet. Seit jener Zeit ist in Deutschland eine außerordentlich große Anzahl stenographischer Systeme aufgetaucht, unter denen aber nur die Methoden von Gabelsberger (s. d., 1834), Stolze (s. d., 1841) und Arends (s. d., 1850) in den Vordergrund getreten sind. Gabelsberger schuf in seiner Redezeichenkunst das erste deutsche Nationalsystem und eroberte der graphischen Richtung das Feld. Stolze hob die S. zur Bedeutung eines allgemeinen Hilfsmittels, brachte strengere Grundsätze zur Anwendung und belebte den früher toten Bindestrich. Arends ist darüber nicht hinausgekommen. Die Pflege dieser drei Hauptsysteme nebst Übertragungen stellt sich nach der neuesten Statistik folgendermaßen:

Gabelsberger 660 Vereine mit 17000 Mitgliedern,

Stolze 450 - - 10500

Arends 120 - - 2600

Erst in neuester Zeit hat der stenographische Gedanke wieder eine wirkliche Förderung erfahren durch Brauns, der in seinem "Entwurf eines Schulkurzschriftsystems" (Hamb. 1888) auf Grund eingehender Untersuchungen über die Häufigkeit der Lautgruppen einerseits und die Schreibflüchtigkeit der verfügbaren Zeichen anderseits die Bahnen für eine rationelle Ökonomie in der Kurzschrift vorgezeichnet hat. Diejenigen Systeme der S., welche in der Zwischenzeit veröffentlicht worden sind, haben wohl diesen oder jenen neuen Einzelvorteil sich zu nutze gemacht, für den Allgemeinfortschritt der S. aber nichts geleistet. Faulmanns Phonographie, die zuerst von Braut 1875 herausgegeben ward, hebt sich durch ihre Einfachheit hervor. Das sogen. "Dreimännersystem" von Schrey, Johnen und Socin (1888), gewöhnlich nach dem Hauptautor Schrey allein benannt, versucht eine Vermittelung zwischen Gabelsberger, Stolze und Faulmann. Durch Vereine sind folgende kleinere Systeme vertreten:

Roller (1875) 105 1450

Faulmann (1875) 25 1000

Lehmanns "Stenotachygraphie" (1875) 40 860

Schrey (1888) 30 450

Merkes (1880) 15 150

Velten (1876) 10 150

Ganz vereinzelt bestehen auch Vereine nach den Systemen von Adler (1877), Herzog (1884) und einigen andern, wie denn das stenographische Vereinswesen in Deutschland, dem gegenwärtigen Hauptsitz stenographischer Thätigkeit, am meisten entwickelt ist. Ein regelmäßiger Gedankenaustausch zwischen den Stenographen aller Länder ist von Großbritannien aus durch die Einführung internationaler Stenographenkongresse geschaffen worden. Die erste Zusammenkunft dieser Art fand 1887 in London statt (vgl. "Transactions of the first international short-hand congress", Lond. u. Bath 1888). Einen Einblick in acht bedeutende Systeme der S. gewährt beifolgende Tafel "Stenographie". Für die umfängliche stenographische Litteratur besteht bei J. H. Robolsky in Leipzig eine besondere buchhändlerische Zentralstelle; Bücher von wirklichem Wert sind seltene Erscheinungen. Vgl. Pitman, A historv of short-hand (Lond. 1852); Anderson, History of short-hand (das. 1882) ; Rockwell, The teaching, practice and literature of short-hand (2. Aufl., Washingt. 1885); Scott de Martinville, Histoire de la sténographie (Par. 1849); Guénin, Recherches sur l'histoire, la pratique et l'enseignement de la sténographie (das. 1880); Depoin, Annuaire sténographique international (das. 1887); Gabelsberger, Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder S. (Münch. 1834); Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Litteratur der S. (Köslin 1855); Erkmann, Geschichte der S. im Grundriß (Görl.1875); Mitzschke, Beiträge zur Geschichte der Kurzschrift (Berl. 1876); Zeibig, Geschichte und Literatur der Geschwindschreibkunst (2. Aufl., Dresd. 1878) ; Blenck, Die geschichtliche Entwickelung etc. der S. (Berl. 1887); Krieg, Katechismus der S. (2. Aufl., Leipz. 1888); Moser, Allgemeine Geschichte der S. (das. 1889, Bd. 1.); "Panstenographikon" (Dresd. 1869-74); Faulmann, Historische Grammatik der S. (Wien 1887); Keil und Hödel, Verzeichnis der stenographischen Litteratur Deutschlands etc. (Leipz. 1880 u. 1888); Westby-Gibson, The bibliography of short-hand (Lond. u. Bath 1887).

Stenographiermaschine, ein neuerdings konstruierter Apparat, auf gleicher Idee beruhend und von ähnlicher Einrichtung wie die Schreibmaschine (s. d.), der indessen mit solcher Schnelligkeit arbeiten soll, daß er gehaltenen Reden wörtlich zu folgen vermag. Dieses Ziel ist aber unerreichbar, und die unter dem Namen S. gehenden Apparate sind in der That nur Schreibmaschinen von größerer Leistungsfähigkeit. Am meisten hat die S. des Italieners Michela von sich reden gemacht. Vgl. Petrie, Reporting and transcribing machines (Lond. 1882); Guénin, Les machines à écrire (in Nr. 4 des "Bulletin de l'Association des sténographes de Paris" vom 1. Febr. 1883). Vgl. Stenotelegraph.

Stenokardie (griech.), Herz- oder Brustkrampf.

Stenokephalen, s. v. w. Dolichokephalen, s. Menschenrassen, S. 475, und Schädellehre.

Stenopäisch (griech.), Bezeichnung für Brillen und andre optische Apparate, welche dem Licht nur durch eine enge Öffnung Zutritt zum Auge gestatten (z. B. zur Verkleinerung von Zerstreuungskreisen).

Stenops, Lori.

Stenosis (griech.), Verengerung oder auch Verschließung von Gefäßen oder Kanälen, wodurch die normale Zirkulation des Inhalts verhindert wird, so z. B. S. der Herzöffnungen, der Luftröhre etc.

Stenotachygraphie (griech., "Engschnellschrift"), Name der Kurzschrift von A. Lehmann; s. Stenographie, S. 291.

Stenotelegraph (griech.), von Cassagnes in Paris angegebener elektromagnetischer Druckapparat für stenographische Zeichen, der die gewöhnlichen Telegraphenapparate an Geschwindigkeit weit übertreffen soll. Als Geber dient der mechanische Stenograph von Michela, welcher seit 1880 im italienischen Senat benutzt wird (vgl. Stenographiermaschine). Michela zerlegt die Wörter in ihre phonetischen Elemente und verwendet zu deren Wiedergabe 20 Schriftzeichen, welche mittels einer Klaviatur auf mechanischem Weg hervorgebracht werden. Bei Cassagnes ist jede Taste mit einem Pol einer Linienbatterie verbunden, deren andrer Pol an der Erde liegt, und zwar sind zwei Batterien vorhanden, welche mit entgegengesetzten Polen so an den Geber geführt werden, daß die Polarität von Taste zu Taste wechselt. Die Tasten stehen mit den Kontaktplatten einer sehr gleichmäßig wirkenden Verteilerscheibe in Verbindung; über dieser Scheibe dreht sich eine metallische Bürste, welche die Leitung in jeder Sekunde mehrmals mit jeder Kontaktplatte in Berührung bringt. Auf der Empfangsstelle ist eine gleichartige Verteilerscheibe mit

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Stenschewo - Stephan.

völlig übereinstimmend sich drehender Bürste aufgestellt; letztere teilt jeden aus der Leitung kommenden Stromstoß einem der 20 mit den Kontaktplatten verbundenen Elektromagnete mit, welcher sodann die Wiedergabe des entsprechenden Zeichens auf dem Papierstreifen unter Zuhilfenahme einer Lokalbatterie durch eine einfache Druckvorrichtung herbeiführt. Nach jeder Zeichengebung tritt ein 21. Elektromagnet in Thätigkeit, dessen Anker beim Abfallen mittels eines Sperrrades den Papierstreifen um die Breite eines Zeichens vorschiebt. Neuerdings hat Cassagnes die Anzahl der Kontaktplatten in der Verteilerscheibe vergrößert, um bei jedem Umlauf mehr als ein stenographisches Zeichen telegraphieren zu können; statt einer einzigen Klaviatur treten dann 2 oder 3 gleichzeitig in Thätigkeit, wobei auf jeder Klaviatur ein andres Telegramm übermittelt wird. Außerdem hat der Erfinder seinen Stenotelegraphen noch zur automatischen Beförderung eingerichtet, indem er denselben mit einem mechanischen Lochapparat verbindet und den gelochten Streifen durch das Laufwerk der Verteilerscheibe hindurchgehen läßt, wobei eine Anzahl von Kontaktstiften durch die Löcher des Streifens die zum Abdruck der Schriftzeichen dienenden Ströme entsenden. Mit diesem Apparat sollen von Paris aus Versuche auf Entfernungen zwischen 200 und 920 km angestellt und Leistungen von 12,000-24,000 Wörtern in der Stunde erreicht worden sein.

Steuschéwo, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis Posen (West-), hat eine kath. Kirche und (1885) 1506 Einw.

Stentando (ital.), musikal. Bezeichnung, s. v. w. hemmend, zögernd. Stentato, s. v. w. ritenuto, aber mit dem Ausdruck des Gehemmten, Mühevollen; in der Malerei s. v. w. gezwungen, steif.

Stentor, bei Homer ein Thraker (oder Arkadier) mit eiserner Stimme, dessen Ruf so laut tönte wie der 50 andrer Männer; daher Stentorstimme.

Stenzel, Gustav Adolf Harald, deutscher Geschichtsforscher, geb. 21. März 1792 zu Zerbst, studierte in Leipzig Theologie und Geschichte, habilitierte sich, nachdem er als freiwilliger Jäger den Befreiungskrieg von 1813 mitgemacht, zu Leipzig, 1817 zu Berlin, folgte 1820 einem Ruf als Professor der Geschichte nach Breslau und ward 1821 Archivar des schlesischen Provinzialarchivs. 1848 war er Abgeordneter zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, später Mitglied der preußischen Zweiten Kammer. Er starb 2. Jan. 1854. Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: "Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern" (Leipz. 1827, 2 Bde.); "Geschichte des preußischen Staats" (Hamb. u. Gotha 1830-54, 5 Bde.) und "Geschichte Schlesiens" (Bresl. 1853, Bd. 1). Auch besorgte er die Herausgabe der "Scriptores rerum silesiacarum" (Bresl. 1835-1851, 5 Bde.) und der "Urkunden zur Geschichte Breslaus im Mittelalter" (das. 1845).

Stenzler, Adolf Friedrich, namhafter Sanskritist, geb. 9. Juli 1807 zu Wolgast, studierte 1826-1829 in Greifswald, Berlin und Bonn orientalische Sprachen, ging, nachdem er 1829 in Berlin promoviert, nach Paris, wo er die Vorlesungen von Chezy, S. de Sacy und A. Remusat besuchte, arbeitete dann bis 1833 in der Bibliothek des East-India House in London und erhielt noch im genannten Jahr die Professur der orientalischen Sprachen an der Universität Breslau, wo er bis 1872 zugleich als Kustos und zweiter Bibliothekar an der Universitätsbibliothek thätig war. Seine Hauptwerke sind: "Raghuvansa, Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., Lond. 1832); "Kumâra Sambhava, Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., das. 1838); "Mricchakatika. i. e. Curriculum figlinum, Sûdrakae regis fabula" (sanskr., Bonn 1847); "Yâjnavalkyas Gesetzbuch" (sanskr. u. deutsch, Berl. 1849); "Indische Hausregeln" (sanskr u. deutsch, 1. Teil: "Acvalâyana" . Leipz. 1864-65, 2 Bde.; 2. Teil: "Pâraskara", das. 1876-78, 2 Bde.); "Elementarbuch der Sanskritsprache" (Bresl. 1868, 5. Aufl. 1885); "Meghadûta, der Wolkenbote, Gedicht von Kalidasa" (mit Anmerkungen und Wörterbuch, das. 1874); "The Institutes of Gautama" (sanskr., Lond. 1876); außerdem Abhandlungen in Webers "Indischen Studien" und in der "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" (z. B. über die indischen Gottesurteile, im 9. Band) und Gelegenheitsschriften. S. starb 27. Febr. 1887 in Breslau.

Stepenitz, rechter Nebenfluß der Elbe im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, entspringt bei Meyenburg, fließt in südwestlicher Richtung und mündet nach 75 km langem Lauf bei Wittenberge.

Stepenitz (Groß- S.), Flecken im preuß. Regierungsbezirk Stettin, Kreis Kammin, am Einfluß des Gubenbachs in das Papenwasser, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Sägemühlen, Fischerei, Dampfschiffahrt nach Stettin und (1885) 1572 Einw.

Stephan, Name von zehn Päpsten: 1) S. I., ein Römer, folgte 253 Lucius als Bischof von Rom und entschied den Streit über die Ketzertaufe dahin, daß auch eine solche gültig sei; er starb 2. Aug. 257, nach der Sage als Märtyrer, und ward später kanonisiert. Sein Tag ist der 2. August. -

2) S. (II.), gewählt 27. März 752, starb zwei Tage nach der Wahl; wird daher gewöhnlich nicht gezählt. -

3) S. II. (III.) bestieg den päpstlichen Stuhl 752. Als er den Kaiser Konstantin Kopronymos gegen den Langobardenkönig Aistulf, welcher das Exarchat eroberte, vergebens um Schutz angefleht hatte, rief er die Hilfe des Königs der Franken, Pippin, an und erhielt 755 von diesem das wiedereroberte Exarchat nebst der Pentapolis geschenkt, wodurch der Grund zum Kirchenstaat gelegt ward. S. starb 26. April 757. -

4) S. III. (IV.), ein Sizilier, folgte auf Paul I. nach Abfetzung des Gegenpapstes Konstantin 768 und bestimmte, daß keiner, der nicht durch alle niedern Stufen der Geistlichkeit bis zur Würde eines Kardinaldiakonus gestiegen sei, auf den päpstlichen Stuhl erhoben werden sollte. Von dem Langobardenkönig Desiderius bedrängt, suchte er bei den Frankenkönigen Karl und Karlmann Hilfe. Er starb 772. -

5) S. IV. (V.), erst Diakonus zu Rom, Nachfolger Leos III. seit 816, krönte den Kaiser Ludwig den Frommen; starb 817. -

6) S. V. (VI.), ein Römer, solgte auf Hadrian III. 885, krönte den Herzog Guido von Spoleto zum Kaiser; starb 891. -

7) S. VI. (VII.) bestieg 896 den römischen Stuhl, ließ den ausgegrabenen Leichnam seines Vorgängers Formosus in den Tiber werfen, wurde aber selbst schon 897 im Kerker erdrosselt. -

8) S. VII. (VIII.), ein Römer, Nachfolger Leos VI. seit 929, stand ganz unter dem Weiberregiment der Theodora und Marozia; starb 931. -

9) S. VIII. (IX.), Verwandter des Kaisers Otto, folgte 939 Leo VII., ward aber von den Römern gefangen gesetzt und starb 942. -

10) S. IX. (X.) hieß früher Friedrich und war Bruder des Herzogs Gottfried von Lothringen, ward vom Papst als Gesandter nach Konstantinopel geschickt, blieb dann als Mönch in Monte Cassino, ward Kardinal und nach Viktors II. Tod 1057 zum Papst gewählt. Als solcher stand er ganz unter dem Ein-

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Stephan (Fürsten) - Stephan (Zuname).

fluß Hildebrands. Er starb bereits 29. März 1058 in Florenz. Vgl. Wattendorf, Papst S. IX. (Münster 1883).

Stephan, Name mehrerer Fürsten. Bemerkenswert sind:

1) S. von Blois, König von England, ward nach dem Tod König Heinrichs I., dessen Schwester Adele seine Mutter war, 1135 von den normännischen Großen an Stelle von Heinrichs Tochter Mathilde als König anerkannt, wofür er den Prälaten und Baronen einen umfassenden Freibrief gewährte. Die Widersetzlichkeit der Großen suchte er nicht immer mit Erfolg durch vlämische und französische Söldner niederzuhalten. Mit Schottland kämpfte er glücklich, als aber 1139 die von der Thronfolge ausgeschlossene Mathilde in England landete, fiel S. 1141 selbst in ihre Gewalt, ward 1142 zwar befreit, behauptete sich aber nur unter fortwährenden Kämpfen im Besitz der Herrschaft und starb 25. Okt. 1154, nachdem er Mathildens Sohn Heinrich Plantagenet als Erben anerkannt hatte.

2) Erzherzog von Österreich, Sohn des Erzherzogs Joseph (gest. 1847) und dessen zweiter Gemahlin, Hermine, gebornen Prinzessin von Anhalt-Bernburg-Schaumburg, geb. 14. Sept. 1817, wurde im Dezember 1843 Zivilgouverneur von Böhmen, 1847 nach dem Tod seines Vaters zum stellvertretenden Palatin von Ungarn ernannt und im November d. J. durch die Wahl des Reichstags und die Bestätigung des Kaisers definitiv mit dieser Würde betraut. Infolge der Märzereignisse 1848 wurde seine Stellung sowohl der nationalen Partei als auch der österreichischen Regierung gegenüber eine unhaltbare, namentlich als er im September vom Reichstag zum Oberbefehlshaber der ungarischen Armee gegen Jellachich ernannt worden war; er entsagte daher 24. Sept. dem Palatinat, zog sich 1850 auf seine Besitzungen in Nassau (Grafschaft Holzappel und Schaumburg) zurück und starb 19. Febr. 1867 in Mentone. Vgl. "Erzherzog S. Viktor von Österreich, sein Leben, Wirken etc." (Wiesb. 1868).

3) Bathori, König von Polen, geb. 1532 aus einer vornehmen ungarischen Familie (s. Bathori), ward 1571 von den siebenbürgischen Ständen zum Großfürsten von Siebenbürgen und 1575, nachdem er die Jagellonische Prinzessin Anna geheiratet, vom polnischen Reichstag zum König von Polen erwählt. Er verbesserte die Rechtspflege, suchte dem Jesuitenorden gegenüber die Gewissensfreiheit der Protestanten zu schützen, kämpfte im Bund mit Schweden glücklich gegen die Russen (1578-82) und eroberte einen Teil Livlands, versuchte aber mit seinem Günstling Zamojski vergeblich, ein starkes nationales Königtum in Polen zu schaffen und die Krone in seinem Geschlecht erblich zu machen. Er starb 12. Dez. 1586 in Grodno.

4) S. I., der Heilige, erster König von Ungarn, 997-1038, war der Sohn des Herzogs Geisa, Urenkels des Großfürsten Arpad (s. d.), hieß ursprünglich Wajk, ward 995 in seinem 20. Lebensjahr angeblich durch den Bischof Adalbert von Prag zum Christentum bekehrt und nahm in der Taufe den Namen Stephanus an. Mit der bayrischen Herzogstochter Gisela vermählt, zog er zahlreiche Deutsche nach Ungarn und rottete, zur Regierung gelangt, das Heidentum mit Feuer und Schwert in seinem Land aus. Er nahm den Königstitel an, ließ sich mit der vom Papst Silvester II. ihm gesandten Krone 1001 krönen und gab dem Land eine Verfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads für erblich erklärt und eine geregelte politische Verwaltung eingeführt wurde. Die widerspenstigen Stammeshäuptlinge im Süden und Osten seines Landes zwang er in siegreichen Kämpfen zur Anerkennung seiner Herrschaft. Er starb 1038 und ward 1087 heiliggesprochen (sein Tag der 20. August). Nach ihm werden Ungarn und seine Teile die "Länder der Stephanskrone" genannt. - S. II.-V., s. Ungarn (Geschichte).

Stephan, 1) Martin, Stifter einer nach ihm benannten Sekte, geb. 13. Aug. 1777 zu Stramberg in Mähren, machte, seit 1810 Pfarrer der böhmischen Gemeinde in Dresden, hier, im Muldenthal und im Altenburgischen Propaganda für ein starkgläubiges Altluthertum. Seine Veranstaltung von nächtlichen Erbauungs- und Erholungsstunden veranlagte endlich die Einleitung einer Untersuchung gegen ihn; er entzog sich jedoch derselben, indem er im Oktober 1838 sich von Bremen mit 700 seiner Anhänger nach Amerika einschiffte, wo er bereits zu Wittenberg am Mississippi Ländereien hatte ankaufen lassen. Er ließ sich dort zum Bischof ernennen, ward aber schon 30. Mat 1839 wegen Unzucht und Veruntreuung von seiner Gemeinde abgesetzt und nach Illinois gebracht, wo er 21. Febr. 1846 starb. Über S. und seine Sekte schrieben unter andern v. Polenz (Dresd. 1840) und Vehse (das. 1842).

2) Heinrich von, Staatssekretär des deutschen Reichspostamtes, geb. 7. Jan. 1831 zu Stolp in Pommern, trat 1848 in das Postfach ein, wurde 1856 als Geheimer expedierender Sekretär ins Generalpostamt nach Berlin berufen, 1858 zum Postrat, 1865 zum Geheimen Postrat und vortragenden Rat ernannt. In dieser Zeit war er in besonders hervorragender Weise auf dem Gebiet der internationalen Postreform thätig, indem er den Abschluß von Postverträgen mit fast allen europäischen Staaten bewirkte. Daneben fand er Gelegenheit, sich reiche Sprachkenntnisse zu erwerben und durch weite Reisen die internationalen Kulturhebel des Postwesens näher kennen zu lernen. Nachdem S. 1866 und 1867 die Verhandlungen zur Beseitigung der Thurn und Taxisschen Lehnspostwesens beendet und die taxissche Post durch einen Staatsvertrag vom 28. Jan. 1867 an die Krone Preußen übereignet hatte, wurde er im April 1870 zum Generalpostdirektor und obersten Chef des Postwesens des Norddeutschen Bundes ernannt. Gleich in den ersten Monaten seiner Verwaltung trat die große Aufgabe der Entwickelung der deutschen Feldpost im deutsch-französischen Krieg an ihn heran, welche von ihm in vollendeter Weise gelöst wurde. 1871 wurde S. zum kaiserlichen Generalpostdirektor, 1876 nach erfolgter Verschmelzung der Telegraphenverwaltung mit der Post zum Generalpostmeister und 1879 zum Staatssekretär des deutschen Reichspostamtes ernannt. Nach der Errichtung des Reichspostwesens begann S. das Werk des innern Ausbaues, welches eine neue Epoche für das Postwesen eröffnete und die deutsche Reichspost zu mustergültiger Höhe erhoben hat. Er schuf eine einheitliche Postgesetzgebung, führte den einheitlichen Tarif für Pakete durch, führte das von ihm erfundene neue Verkehrsmittel der Postkarten ein, rief den Postanweisungs- und Postauftragsverkehr sowie die für den litterarischen Verkehr wichtige Bücherpost ins Leben und führte eine Reihe erheblicher Erleichterungen bei Benutzung der Postanstalt ein. Dann folgte 1875 die auf Stephans Veranlagung eingeleitete Vereinigung der Telegraphie mit der Reichspost, welche zur Folge hatte, daß die Zahl der deutschen Telegraphenanstalten sich seitdem von 1700 auf 13,000 gehoben hat. Das bedeutendste Werk Stephans aber war die Gründung

294

Stephani - Stephansorden.

des Weltpostvereins. Er hat diese Bildung zuerst angeregt und sie mit umsichtiger und kräftiger Hand gefördert, so daß dieser Gemeinschaft jetzt mit geringen Ausnahmen alle zivilisierten Staaten der Erde angehören. Daneben hat S. in umfassendster Weise für Hebung der materiellen Lage und des geistigen Wohls der Post- und Telegraphenbeamten (Kaiser Wilhelm-Stiftung für die Post- und Telegraphenbeamten, Bewilligung von Stipendien für Studienreisen, Einrichtung der Postspar- und Vorschußvereine, deren Vereinsvermögen jetzt 14 Mill. Mk. beträgt, Errichtung der Post- und Telegraphenschule in Berlin mit akademischem Lehrkursus, Errichtung des Reichspostmuseums, Gründung von Amtsbibliotheken, Sonntagsruhe etc.) gesorgt. Bis in die neueste Zeit hinein hat S. die umfassendsten Umgestaltungen sowohl bei der Post als bei der Telegraphie durchgeführt; die Zahl der Postanstalten wurde von 5400 im J. 1871 auf 18,000 im J. 1888 erhöht. Das flache Land ist mit einem dichten Netz von Landbriefträgerverbindungen zu Fuß und zu Wagen durchzogen (Verstärkung der Zahl der Landbriefträger im Reichspostgebiet von 10,000 auf über 20,000), in den Städten machen die Fernsprecheinrichtungen zusehends Fortschritte; unterirdische Telegraphenleitungen sorgen für eine von atmosphärischen Störungen unabhängige Zuverlässigkeit des Verkehrs; überseeische Kabel und Postverbindungen haben sich von Jahr zu Jahr vermehrt, und seit 1886 haben die auf Stephans Initiative ins Leben gerufenen deutschen subventionierten Postdampfschiffe ihre Fahrten eröffnet. In den ersten zehn Jahren nach Gründung des Weltpostvereins lieferte die Verwaltung unter Stephans Leitung 180 Mill. Überschuß an das Reich ab. S. gründete im Verein mit Werner Siemens den Elektrotechnischen Verein in Berlin, welchem er seit seiner Errichtung als Ehrenpräsident vorsteht. Er ist Mitglied des preußischen Herrenhauses (seit 1872) und des preußischen Staatsrats, Ehrendoktor der Universität Halle und Ehrenbürger der Städte Stolp und Bremerhaven. Auch als Schriftsteller zeichnete sich S. aus. Außer einem "Leitfaden zur Anfertigung schriftlicher Arbeiten für junge Postbeamte" schrieb er: "Geschichte der preußischen Post" (Berl. 1859), "Das heutige Ägypten" (Leipz. 1872), "Weltpost und Luftschiffahrt" (Berl. 1874) sowie zahlreiche kleinere Essays. Er begründete das "Archiv für Post und Telegraphie" und gab das "Poststammbuch" (3. Aufl., Berl. 1877) heraus.

3) (Meister Stephan), s. Lochener.

Stephani, 1) Heinrich, verdienter Pädagog der Aufklärungszeit, geb. 1. April 1761 zu Gemünden im Würzburgischen, studierte zu Erlangen, ward 1808 bayrischer Kirchen- und Schulrat und 1818 Dekan in Gunzenhausen, trat aber 1834 infolge von theologischen Streitigkeiten vom geistlichen Amt zurück und starb 24. Dez. 1850 zu Gorkau in Schlesien. Er veröffentlichte zahlreiche ihrer Zeit angesehene theologische, kirchenrechtliche, pädagogische und methodologische Schriften. Sein bleibendes Verdienst besteht in der Ausbildung und Einführung der Lautiermethode beim ersten Leseunterricht, welche vom Lautwert der Buchstaben ausgeht, statt, wie die ältere Buchstabiermethode, von den Lautzeichen und Namen der Buchstaben.

2) Ludolf, Philolog und Archäolog, geb. 29. März 1816 zu Beucha bei Leipzig, studierte hier, erhielt auf Grund seiner kunstgeschichtlichen Schrift "Der Kampf zwischen Theseus und Minotaurus" (Leipz. 1842) durch Gottfr. Hermanns Empfehlung eine Hauslehrerstelle in Athen, gab diese aber bald auf, um zu wissenschaftlichen Forschungen eine Reise durch Nordgriechenland und Kleinasien zu unternehmen, die sich schließlich bis Unteritalien und Sizilien erstreckte. Nach seiner Rückkehr folgte er 1846 einem Ruf als Professor der Philologie an die Universität Dorpat und siedelte von da 1850 nach Petersburg über, wo er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Konservator der klassischen Altertümer eine große und erfolgreiche Thätigkeit entwickelte. Er starb 11. Jun. 1887 in Pawlowsk. Seine Hauptwerke sind: "Reise durch einige Gegenden des nördlichen Griechenland" (Leipz. 1843); "Über einige angebliche Steinschneider des Altertums" (das. 1851); "Der ausruhende Herakles" (das. 1854); "Antiquités du Bosphore Cimmérien" (Petersb. 1854, Prachtwerk mit Bilderatlas); "Nimbus und Strahlenkranz in den Werken der alten Kunst" (das. 1859); "Die Vasensammlung der kaiserlichen Eremitage" (das. 1869, 2 Bde); "Die Antikensammlung zu Pawlowsk" (das. 1872) etc. Zahlreiche Abhandlungen von S. enthalten die "Comptes rendus" der kaiserlichen Archäologischen Kommission.

Stéphanie, Louise Adrienne Napoléone, Großherzogin von Baden, Tochter des Grafen Claude de Beauharnais (s. Beauharnais 1) und Nichte der Kaiserin Josephine, geb. 28. Aug. 1789, war 1806 von Napoleon I. adoptiert, zur Fille de France und kaiserlichen Hoheit erklärt und 8. April mit Karl Ludwig Friedrich, Erbgroßherzog von Baden, vermählt, welcher ihr aber mehrere Jahre lang entschiedene Abneigung zu erkennen gab, da er nur gezwungen die Ehe eingegangen war. Seit 1811 Großherzogin, aber seit 1818 verwitwet, residierte sie in Mannheim und starb 29. Jan. 1860 in Nizza. Sie hinterließ zwei Töchter, Josephine, geb. 21. Okt. 1813, Witwe des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, und Maria, geb. 11. Okt. 1817, seit 1863 verwitwete Herzogin von Hamilton, gest. 18. Okt. 1888; ihre Söhne waren kurz nach der Geburt gestorben.

Stephanit, s. Sprödglaserz.

Stephanos, röm. Bildhauer zur Zeit Cäsars, durch eine Knabenstatue in Villa Albani bekannt, Schüler des Pasiteles (s. d.).

Stephanos von Byzanz, griech. Grammatiker, lebte in der ersten Hälfte des 6. Jahrh. n. Chr. und ward bekannt als Verfasser eines umfangreichen geographischen Wörterbuchs ("Ethnica"), das uns aber nur noch in einem Auszug des Grammatikers Hermolaos erhalten ist. Die besten Ausgaben sind die von Westermann (Leipz. 1839) und Meineke (Berl. 1849).

Stephansfeld, Irrenanstalt, s. Brumath.

Stephanskörner, Stephanskraut, s. Delphinium.

Stephauskrone, s. Stephan 4).

Stephansorden. 1) Königlich ungarischer Zivilverdienstorden, von Maria Theresia als Pendant des Militär-Maria-Theresienordens 5. Mai 1764 gestiftet und unter den Schutz des heil. Stephan gestellt. Großmeister ist der König von Ungarn. Der Orden soll 100 Ritter und drei Grade haben. Die Dekoration besteht in einem achteckigen, grün emaillierten, goldgeränderten Kreuz mit der Stephanskrone; im rot emaillierten Mittelschild steht auf einer goldenen, auf einen grünen Berg gestellten Krone ein silbernes apostolisches Kreuz und zu beiden Seiten M. T. mit der Umschrift: "Publicum meritorum praemium"; auf dem Revers, umgeben von einem Eichenkranz: "STO. ST.R.I.AP." Das große

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Stephansstein - Stephenson.

Kreuz tragen die Ritter erster Klasse und Kommandeure, das kleine die Ritter, sämtlich am grünen Band mit rotem Streifen in der Mitte in der üblichen Weise. Die Großkreuze tragen dazu einen brillantierten Silberstern, in dessen Mitte das Ordensmedaillon angebracht ist, und außerdem noch eine Kette aus S S und M T, der Königskrone und einem Wolkenkranz, in dem ein Band die Inschrift: "Stringit amore" trägt, und zwischen dem ein Adler schwebt.

Auch hat der Orden, der nur dem Adel zugänglich, eine besondere Ordenskleidung, Beamte und seinen Ordenstag an St. Stephan. Die Großkreuze heißen Kousins des Königs. Vgl. Dominus, Der S. und

seine Geschichte (Wien 1873). - 2) Toscanischer Militärorden, gestiftet 1562 von Cosimo de Me-

dici zur Bekämpfung der Seeräuberei und Verteidigung des Glaubens, mit religiöser Observanz, wurde 22. Dez. 1817 vom Großherzog Ferdinand III. erneuert und in vier Grade: Prioren- Großkreuze, Bali-Großkreuze, Kommendatoren und Ritter (di giustizia und di grazia), eingeteilt. Jeder Adlige von vier Ahnen, mit freiem Einkommen von 300 Skudi aus seinem Besitz, hat Anspruch auf den Orden, der in der Familie erblich ist, wenn der Ritter eine Kommende als Majorat stiftet. Die Cavalieri di grazia erhalten solche Kommende für ihre Verdienste. Die Dekoration besteht in einem achtspitzigen, rot emaillierten Kreuz mit Krone und goldenen Lilien in den Winkeln, das an rotem Band von den drei ersten Klassen am Hals, von den Rittern im Knopfloch getragen wird. Die Plaque wird auf der Brust getragen. Viktor Emanuel hob den Orden 16. Nov. 1859 auf.

Stephansstein, s. Chalcedon.

Stephanus, Name zahlreicher Heiligen der römisch-katholischen Kirche, von denen besonders zu nennen sind : 1) Einer der sieben Armenpfleger der Christengemeinde zu Jerusalem, der, ein eifriger Verkündiger des Evangeliums, vom fanatischen Pöbel als Gotteslästerer 36 oder 37 gesteinigt wurde und deshalb für den ersten Märtyrer gilt (Apostelgesch. 6 und 7); sein Tag ist der 26. Dezember. Die Steinigung des S. wurde in der bildenden Kunst häufig dargestellt, namentlich von Raffael (in den Teppichen des Vatikans), von Giulio Romano (in Santo Stefano zu Genua) u. a. 2) Erster König von Ungarn, s. Stephan 4).

Stephanus, Gelehrtenfamilie, s. Estienne.

Stephens, 1) Alexander Hamilton, amerikan. Politiker, geb. 11. Febr. 1812 zu Taliafero in Georgia, ward im Franklin College erzogen und studierte die Rechte, worauf er sich 1834 zu Crawfordsville in Georgia als Advokat niederließ, gleichzeitig aber sich der Politik widmete. Schon 1836 wurde er in die Legislatur, 1842 in den Senat von Georgia gewählt und 1843 zum Mitglied des Repräsentantenhauses ernannt, welchem er bis 1859 angehörte. Er schloß sich zuerst der Partei der Whigs, dann der demokratischen an, stimmte 1854 für die Kansas- und Nebraskabill und betrieb 1856 mit Eifer die Wahl Buchanans zum Präsidenten. 1859 schied er aus dem Kongreß, weil er die extremen Ansichten der Sklavenhalterpartei nicht billigte, wie er 1861 auch anfangs

gegen die Sezession war. Dennoch ließ er sich zum Vizepräsidenten der südlichen Konföderation wählen und bekleidete diesen Posten bis zu deren Untergang 1865. Er wurde auf Befehl der Unionsregierung verhaftet und nach Fort Warren bei Boston gebracht, im Oktober 1865 aber freigelassen. 1872-77 wieder demokratisches Mitglied des Kongresses, bemühte er sich um die Versöhnung der Parteien. Seit 1882 Gouverneur von Georgia, starb er 4. März 1883. Er veröffentlichte: "A constitutional view of the late war between the states" (Philad. 1869, 2 Bde.); "Compendium of the history of the U.S. (neue Ausg., New York 1883). Ein Teil seiner Reden und Briefe wurde von Cleveland ("A. H. S.. in public and private life", Philad. 1867) herausgegeben.

2) George, Archäolog und Philolog, geb. 13. Dez. 1813 zu Liverpool, kam mit 20 Jahren nach Schweden, dessen Bibliotheken er behufs altnordischer Studien eifrig durchforschte, wurde 1851 an der Universität zu Kopenhagen angestellt und 1855 zum Professor ernannt. Sein Hauptwerk ist: "The old-northern Runic monuments of ScandinaVia and England" (Lond. u. Kopenh. 1866-84, 3 Bde.; abgekürzte Ausg. 1884). Von seinen übrigen Schriften sind zu ermähnen: "Bihang till Frithiofs saga" (1841); "Svenska folksagor och afventyr" (1844) und "Sveriges historiska och politiska visor" (1853); die beiden letztern Schriften sind im Verein mit G.O. Hylten-Cavallius herausgegeben.

Stephenson (spr. stihwensson), 1) George, der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, geb. 8. Juni 1781 zu Wylam bei Newcastle als Sohn eines Kohlenarbeiters, arbeitete sich von einem gewöhnlichen Maschinisten zum Direktor der großen Kohlenwerke des Lord Ravensworth bei Darlington empor und baute 1812 die erste Lokomotive fürdas Kohlenwerk Killingworth. 1824 gründete er in Newcastle eine Maschinenfabrik, und im folgenden Jahr wurde nach seinem Prinzip die erste Eisenbahn zur Beförderung von Personen zwischen Stockton und Darlington angelegt. Er gehörte zu den ersten, welche hierbei die Anwendung glatter walzeiserner Schienen befürworteten und deren Konstruktion verbesserten. Die Erbauung der Liverpool-Manchester-Eisenbahn 1829 begründete seinen Ruf für immer. Bei der berühmten Preisausschreibung für die beste und schnellste Lokomotive dieser Bahn, welche ihr dreifaches Gewicht mit 10 engl. Meilen Geschwindigkeit in der Stunde ziehen sollte,

ohne Rauch zu erzeugen, errang Stephensons Rocket den Preis, indem sie ihr fünffaches Gewicht zog und 14-20 engl. Meilen in der Stunde zurücklegte, also die gestellten Bedingungen weit übertraf. Dieser Erfolg war hauptsächlich der Einführung des eine lebhaftere Verbrennung erzeugenden Blasrohrs sowie des nach einer Idee Booths, des Generalsekretärs der Gesellschaft, zu einer größern Dampfentwickelungsfähigkeit geeigneten Röhrenkessels zuzuschreiben. Von da an leitete S. den Bau der bedeutendsten Eisenbahnen in England oder baute Maschinen für dieselben und wurde zu gleichem Zweck nach Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien berufen. Er war zuletzt auch Eigentümer mehrerer Kohlengruben und der großen Eisenwerke von Claycroß und starb 12. Aug. 1848 in Tapton House bei Chesterfield. Seine Statue ward in Newcastle auf der Stephensonbrücke aufgestellt. Vgl. Smiles, The life of George S. (Lond. 1884).

2) Robert, Baumeister, Sohn des vorigen, geb. 16. Dez. 1803 zu Wilmington, studierte in Edinburg,

unterstützte seinen Vater bei dessen Unternehmungen, leitete den Bau mehrerer Eisenbahnlinien, verbesserte die Lokomotive, erbaute die unter dem Namen High Lewel Bridge bekannte eiserne Bogenhängwerkbrücke bei Newcastle, welche in sechs Öffnungen von je 37,5 m Weite und 25,8 m Höhe den Tyne überspannt, und erfand unter andern die sogen. Tubular- oder Röhrenbrücken, welche aus Blech zusammengesetzt und so weit sind, daß sie einem Eisenbahnzug die Durchfahrt gestatten. Eine Riesenbrücke dieser Art,

296

Steppe - Sterblichkeit.

die bekannte Britanniabrücke (s. d.), erbaute er von 1847 bis 1850 über den Menaikanal, indem er deren Röhren an dem Ufer zusammensetzte, auf Pontons zwischen die Pfeiler flößte und mittels hydraulischer Pressen bis zu dem Orte ihrer Bestimmung aufzog. Das bedeutendste Beispiel dieser Brückengattung ist die von S. entworfene, 3 km lange Viktoriabrücke bei Montreal in Kanada, welche den St. Lorenzstrom in 25 Öffnungen überspannt, deren mittlere eine Weite von 100,58 m besitzt. S. starb 12. Okt. 1859. Sein "Report on the atmospheric railway-system" wurde von Weber (Berl. 1845) deutsch bearbeitet. Vgl. Smiles, Lives of George and Robert S. (8. Aufl., Lond. 1868); Jeaffreson und Pole, Life of Robert S. (das. 1864, 2 Bde.).

Steppe (v. russ. stepj, "flaches, dürres Land"), in der Erdkunde Bezeichnung für ausgedehnte Ebenen, die nur mit Gras und Kräutern bewachsen sind, auch wegen Mangels an Bewässerung keinen Anbau gestatten, in ihrem sonstigen physiognomischen Charakter aber von der geognostischen Beschaffenheit des Bodens und dem Klima abhängig sind (vgl. Ebene). Die Steppen stellen mannigfaltige Übergänge zu den Wüsten dar und sind entweder Salzsteppen, deren kahler Boden effloreszierendes Salz und magere Vegetation von Salzpflanzen trägt, oder mit Gerölle bedeckte Steinsteppen oder eigentliche Grassteppen, die sich nach dem Regen mit einem dichten und einförmigen Pflanzenteppich überziehen, deren Ackerkrume aber nicht tief genug ist, als daß Bäume darin Wurzel schlagen könnten; auch die mit Flechten und Moosen überzogenen Sumpfsteppen (Tundren) sind hierher zu rechnen. Die Steppen kommen unter verschiedenen Namen in allen Kontinenten vor; sie heißen im südlichen Rußland und in Westasien Steppen, im nordwestlichen Deutschland Heiden, im südwestlichen Frankreich Landes, in Ungarn Pußten, in Nordamerika Savannen und Prärien, in Südamerika Llanos und Pampas etc. Vgl. Humboldt, Über die Steppen und Wüsten (in den "Ansichten der Natur", zuletzt Stuttg. 1871).

Steppenhuhn (Syrrhaptes Ill.), Gattung aus der Ordnung der Scharrvögel und der Familie der Flughühner (Pteroclidae), gedrungen gebaute Vögel mit kleinem Kopf, kurzem, seitlich wenig komprimiertem, auf der Firste leicht gebogenem Schnabel, sehr spitzen Flügeln, in welchen die erste Schwinge am längsten, nach der Spitze hin verschmälert und fast borstenartig ist, bis zur Spitze der Zehen mit zerschlissenen, daunenartigen Federn bekleideten, kleinen Füßen, fehlender Hinterzehe, durch eine Haut verbundenen Vorderzehen und breiten, kräftigen Nägeln. Das S. (Fausthuhn, S. paradoxus Ill.), ohne die verlängerten Mittelschwanzfedern 39 cm lang und ohne die verlängerten Schwingenspitzen 60 cm breit, am Kopf und Hals aschgrau, Kehle, Stirn und ein Streif über dem Auge lehmgelb, mit schwarzem und weißem Brustband, an der Brust grau isabellfarben, am Öberbauch schwarzbraun, Unterbauch hell aschgrau, Rücken lehmgelb, dunkel gefleckt und quergestreift, Schwingen aschgrau, die vorderste schwarz gesäumt, Schwanzfedern gelb, dunkel gebändert. Es bewohnt die Steppe östlich vom Kaspischen Meer bis zur Dsungarei, im W. nördlich bis 46°, im O. noch die Hochsteppen des südlichen Altai, geht im Winter südlich bis zum Südrand der Gobi, lebt im Frühjahr in kleinen Trupps, im Herbst in größern Flügen, in welchen aber die Paare stets beisammen bleiben. Sie laufen rasch, aber nicht anhaltend, fliegen schneller und schneidender als Tauben und nisten in kleinen Gesellschaften. Das Gelege besteht aus vier hell grünlichgrauen bis schmutzig bräunlichgrauen Eiern. 1860 zeigten sich Fausthühner in Holland und England, 1861 in Norwegen und Nordchina, 1863 aber erfolgte eine große Einwanderung, welche sich von Galizien bis Island, von Südfrankreich bis zu den Färöerinseln ausdehnte. Auf Borkum verschwanden die letzten im Oktober. Aber noch im folgenden Jahr wurden sie in Deutschland mehrfach beobachtet, und in Jütland und auf mehreren dänischen Inseln haben sie auch gebrütet. Eine ähnliche Einwanderung erfolgte 1888, blieb indes ebenfalls ohne weitere Folgen; nur im SO. Europas hat sich das S. seßhaft gemacht. In der Gefangenschaft hält es sich recht gut. Vgl. Holtz, Über das S. (Greifsw. 1888).

Steppenhund, s. Hyänenhund.

Steppenkuh, s. Antilopen, S. 640.

Steppstich, s. Nähen.

Ster (franz. stere, v. griech. stereos, starr, fest), Körpermaß (besonders Holzmaß), = 1 cbm, und zwar entweder Festmeter (fm) = 1 cbm fester Masse, oder Raummeter (rm) = 1 cbm Schichtmaß.

Sterbekassen (Grabe-, Leichenkassen, Totenladen, Sterbeladen, Begräbniskassen) sind kleine, im wesentlichen die Deckung der Beerdigungskosten bezweckende genossenschaftliche, oft zweckmäßig mit Krankenkassen verbundene Lebensversicherungsanstalten, welche im Todesfall das Sterbegeld an die Erben auszahlen oder, wenn solche nicht vorhanden, auch wohl die Beerdigung selbst besorgen. Es gab solche nachweisbar schon in Rom und bei den alten germanischen Völkern. Sie sind in Deutschland sehr verbreitet und werden namentlich von den untern Klassen benutzt, ohne daß es jedoch möglich wäre, genauere Zahlenangaben über dieselben zu machen. S. bestehen auch als Nebenzweige von etwa zehn deutschen großen Lebensversicherungsanstalten, meistens aber sind sie kleinere Privatvereine, an welchen die Beteiligung entweder nur einer bestimmten Zahl von Personen (geschlossene Kassen) oder einer nicht festgesetzten Zahl von Mitgliedern, entweder nur Personen bestimmter Kategorien (z. B. Beamten derselben Behörde, Arbeitern derselben Fabrik, Personen bestimmten Berufs etc.) oder jedem Beitrittswilligen offen steht. Viele derselben werden in alter unrationeller Weise ohne genügende Abstufung der Prämien (hier oft Totenopfer genannt) und ohne richtige Bemessung der Prämienreserven verwaltet und sind deshalb zum Teil wenig lebensfähig, doch haben es manche bereits zu hohem Alter gebracht. In England gehören viele S. zu den hauptsächlichsten Einrichtungen der Friendly Societies (s. d.), welchen gesetzlich verboten ist, für den Sterbefall von Frau und Kind mehr als die Begräbniskosten zu versichern. Vgl. Lebensversicherung und Krankenkassen; Hattendorf, Über S. (Götting. 1867); Heym, Die Grabekassen (Leipz. 1850); Fleischhauer, Die Sterbekassenvereine (Weim. 1882).

Sterbelehen, Abgabe, welche bei einem durch den Tod herbeigeführten Wechsel in der Person des Lehnsherrn oder des Beliehenen entrichtet werden mußte.

Sterbender Fechter, s. Gallierstatuen.

Sterbequartal, s. v. w. Gnadenquartal (s. Pension, S. 832). Vgl. Deservitenjahr.

Sterbethaler, s. Begräbnismünzen.

Sterbevogel, s. Seidenschwanz.

Sterbfall, s. Bauer, S. 464.

Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer, Mortalität), das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen einer Zeiteinheit (gewöhnlich das Jahr) zur Zahl derjeni-

297

Sterblichkeit (statistisch).

gen, welche vorher am Leben waren. Dagegen versteht man unter Intensität der S. den Bruch, welchen man erhält durch Division einer Anzahl Gestorbener durch die Zeit, welche die Personen, aus denen jene weggestorben sind, während der Dauer des Absterbens zusammen durchlebt haben. Zu unterscheiden ist die S. einer gesamten Bevölkerung und diejenige einer Gruppe, insbesondere von gleichaltrigen Personen. So kamen im Deutschen Reich im Durchschnitt der Jahre 1841-85 je auf 10,000 Köpfe der mittlern Bevölkerung 281,6 Todesfälle, die S. stellte sich demnach rund auf 0,028, dagegen findet man andre Zahlen für verschiedene Altersklassen. Die Feststellung der S. ist nicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für die Praxis (Lebensversicherung, Gesundheitspflege etc.) von hoher Wichtigkeit. Eine Tausende von Jahren umfassende Erfahrung hat zu dem bekannten Satz geführt, daß jeder Mensch einmal stirbt. Wenn man auch das höchste überhaupt nur erreichbare Alter nicht kennt, so hat man doch beobachtet, daß die Zahl derjenigen, welche die Grenze von 90 und 100 Jahren überschreiten, außerordentlich klein ist. Man fand ferner, daß die S. verschiedener Altersklassen, sobald sie nur für genügend große Zahlen ermittelt wird, gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Diese Thatsache gab dazu Veranlassung, an der Hand von Volkszählungen Geburts-, Sterbelisten etc., Sterblichkeit (Überlebens-, Mortalitäts-) Tafeln oder Absterbelisten aufzustellen (die ersten von den Engländern Graunt 1661 und Halley 1691, vom Holländer Kerseboom 1742, vom Franzosen Deparcieux 1746, vom Schweden Wargentin 1766). Aus denselben ist die Absterbeordnung, d. h. die Art zu ersehen, wie eine Anzahl Gleichalteriger (Neugeborner) sich durch Absterben von Jahr zu Jahr mindert. Diese Tafeln haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie aus großen Zahlen gewonnen werden. Sie geben alsdann die Wahrscheinlichkeit des Sterbens an, ihreZahlen werden darum in Wirklichkeit um so mehr zutreffen, auf eine je größere Zahl von Personen sie angewandt werden. So wird die Zahl derjenigen, welche von 1 Mill. 30jährigen Männern in den nächsten zwölf Monaten sterben werden, nicht viel von 0,928 Proz. abweichen, während der Prozentsatz, welcher von einer gegebenen kleinen Anzahl wirklich sterben wird, erheblich größer oder kleiner sein kann. Dann dürfen die Tafeln nur auf solche Bevölkerungsmassen angewandt werden, welche denen gleichartig sind, die Gegenstand der Erhebung waren. Denn die S. ist verschieden je nach Wohnort (Stadt, Land, Gegend), Geschlecht (im allgemeinen geringere S. des weiblichen Geschlechts), Beruf (Gefahr für Gesundheit, Anstrengung, Aufregung), Zivilstand, Lebensweise, Gesundheitspflege, Wohlstand etc. So wird die Sterblichkeitstafel einer Versicherungsanstalt, welche nur genügend gesunde Personen aufnimmt, andre Zahlen aufweisen als diejenige, welche für die Gesamtbevölkerung eines Landes aufgestellt wurde. Aus den Sterblichkeitstafeln ist zunächst die Sterbenswahrscheinlichkeit für jedes Lebensalter zu ersehen. Ist die Zahl der $n+1$-und die der $n$-jährigen Personen $m_{n+1}$ und $m_n$, so ist die Sterbenswahrscheinlichkeit der $n$-jährigen (für das nächste Jahr) gleich $\frac{m_{n+1}}{m_n}$, die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils (Überlebenswahrscheinlichkeit) ist gleich $1-\frac{m_{n+1}}{m_n}$. Die Wahrscheinlichkeit eines $n$-jährigen, in einem der nächsten vier Jahre zu sterben, ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}$, wenn $m_{n+4}$ die Zahl der übriggebliebenen $n+4$jährigen bedeutet. Dieselbe Zahl erhält man, wenn man die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Jahre miteinander multipliziert. Denn es ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}=\frac{m_{n+1}}{m_n}\frac{m_{n+2}}{m_{n+1}}\frac{m_{n+3}}{m_{n+2}}\frac{m_{n+4}}{m_{n+3}}$.

Das mittlere Lebensalter (Durchschnittsalter, vie moyenne) einer Anzahl Personen (gleichzeitig Lebender oder Gestorbener verschiedenen Alters) ist gleich der Summe der Jahre, welche alle zusammen durchlebt haben, dividiert durch die Anzahl der Personen. Von demselben ist zu unterscheiden die nur an der Hand von Sterblichkeitstafeln als eine Wahrscheinlichkeit zu berechnende mittlere Lebenserwartung (auch mittlere Lebensdauer oder Vitalität genannt), dieselbe ist gleich der Summe der nach Maßgabe der Tafel noch zu verlebenden Jahre, dividiert durch die Zahl der Personen. Die wahrscheinliche Lebensdauer oder Lebenserwartung (vie probable) ist gleich der Anzahl von Jahren, nach deren Verlauf gerade die Hälfte einer gegebenen Anzahl (wahrscheinlich) gestorben sein wird. Für diese Zeit sind also Sterbens- und Überlebenswahrscheinlichkeit einander gleich (je gleich 1/2). Nach der vom kaiserlichen Statistischen Amt aufgestellten deutschen

Sterbetafel (1871-81) ist die S.:

Eben vollendetes Alter

Zahl der Überlebenden

Sterbenswahrscheinlichkeit für das nächste Jahr

Mittlere (durchschnittliche) Lebenserwartung

Wahrscheinliche Lebenserwartung

männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl.

0^1 104520 103692 0,2850 0,2453 34,0 37,1 34,2 39,6

0 100000 100000 0,2527 0,2174 35,6 38,5 38,1 42,5

1 74727 78260 0,0649 0,0636 46,5 48,1 53,2 56,3

2 69876 73280 0,0332 0,0326 48,7 50,3 54,6 57,7

3 67997 70892 0,0231 0,0225 49,4 51,0 54,6 57,7

13 61320 64390 0,0035 0,0039 44,1 45,8 47,4 50,2

20 59287 62324 0,0075 0,0061 38,5 40,2 41,2 44,0

30 54454 57566 0,0093 0,0097 31,4 33,1 33,2 35,6

40 48775 51576 0,0136 0.0122 24,5 26,3 25^3 27,6

50 41228 45245 0,0215 0,0160 18,0 19,3 18,0 19,6

60 31124 36293 0,0382 0,0329 12,1 12,7 11,5 12,3

70 17750 21901 0,0811 0,0747 7,3 7,6 6,5 6,7

80 5035 6570 0,1745 0,1683 4,1 4,2 3,3 3,4

90 330 471 0,3190 0,3138 2,3 2,4 1,8 1,8

100 2 3 0,5193 0,5180 1,4 1,2 1,0 0,9

1 Einschließlich der Totgebornen, die Zahl 100,000 bedeutet die Lebendgebornen.

Die S. (Sterbenswahrscheinlichkeit) nimmt von Geburt an bis zum 13. Lebensjahr beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht ab; dann steigt sie mit einer kurzen Unterbrechung zuerst langsam, dann immer rascher bis zum höchsten Alter. Die S. des weiblichen Geschlechts bleibt mit Ausnahme der Zeit vom 9. bis 15., dann vom 27. bis zum 35. Lebensjahr stets hinter derjenigen des männlichen zurück. Die mittlere Lebenserwartung ist beim männlichen Geschlecht bis zum 50., bei dem weiblichen bis zum 54. Jahr kleiner und dann größer als die wahrscheinliche. Der Umstand, daß ermittelte Absterbeordnungen einen regelmäßigen Verlauf aufweisen, gab zur Aufstellung von Formeln Veranlassung, welche das Sterblichkeitsgesetz darstellen sollten, und aus denen die S., bez. die Zahl der Überlebenden für jedes Alter zu ermitteln sei (bereits Lambert für die Londoner Bevölkerung 1776, Th. Young 1826, Gompertz 1825 mit Erweiterungen von Makeham und Lazarus 1867, ferner Littrow 1832, Moser 1839,

298

Sterculia - Stereometer.

endlich Kaiser 1884), und zwar gelangte man, da die Sterbenswahrscheinlichkeit für kleine Zeitteilchen gleich dem Bruch aus dem Differential der jeweilig Lebenden und diesen letztern selbst ist, zu Exponentialfunktionen, deren Konstante durch Ausgleichungsrechnung an der Hand wirklicher Beobachtungen zu ermitteln sind; doch führen derartige Formeln nur für gewisse Zeitstrecken zu genügend genauen Ergebnissen. Vgl.Wappäus, Allgemeine Bevölkerungsstatistik (Leipz. 1859-61, 2 Bde.); Quételet, Sur l'homme (Par. 1835, 2 Bde.; deutsch, Stuttg. 1835); Derselbe, Physique sociale (Par. 1869, 2 Bde.); Moser, Die Gesetze der Lebensdauer (Berl. 1839); Casper, Die wahrscheinliche Lebensdauer der Menschen (das. 1843); Österlen, Handbuch der medizinischen Statistik (Tübing. 1865); Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik (8. Aufl., Leipz. 1879); Beneke, Vorlagen zur Organisation der Mortalitätsstatistik in Deutschland (Marb. 1875); die Veröffentlichungen des königlich preußischen Statistischen Büreaus: "Deutsche Sterblichkeitstafeln aus den Erfahrungen von 23 Lebensversicherungsgesellschaften" (Berl. 1883), nicht zu verwechseln mit der für die

ganze deutsche Bevölkerung aufgestellten Tafel (Novemberheft der "Statistik des Deutschen Reichs" von

1887); Oldendorff, Der Einfluß der Beschäftigung auf die Lebensdauer des Menschen (das. 1877-78, 2 Tle.); Westergaard, Die Lehre von der Mortalität etc. (Iena 1882).

Sterculia L. (Stinkbaum), Gattung aus der Familie der Sterkuliaceen, meist große Bäume mit wechselständigen, einfachen oder gelappten Blättern und filzigen Blüten in Rispen, sämtlich in heißen

Ländern. S. foetida L. (Stinkmalve) ist ein großer Baum in Ostindien und auf den Molukken mit großen, gefingerten Blättern und dunkel karminroten, orangegelb gescheckten, sehr stark und unangenehm, dem Menschenkot ähnlich riechenden Blüten, von welchem die jüngern, schleimigen Blätter nach Art der Malvenblätter benutzt, die haselnußgroßen Samen aber geröstet gegessen werden und ein gutes Öl liefern. Einige andre Arten werden in Gewächshäusern kultiviert. S. acuminata Beauv., welche die Kolanüsse liefert, s. v. w. Cola acuminata (s. Cola).

Stereiden, in der Pflanzenanatomie die einzelnen Bestandteile des Stereoms (s. d.).

Stereobat (griech.), der massive, abgestufte Unterbau der griechischen Tempel. Weiteres s. Säule (S.

350) und Tempel.

Stereochromie (griech.), eine 1846 in München von Schlotthauer (s.d.) und Oberbergrat Fuchs erfundene Art Malerei, welche eine Zeitlang angewendet wurde, um Wandflächen unmittelbar mit Gemälden, nach Art der Freskomalerei, zu bedecken. Es wurde dabei ein Malgrund hergerichtet, der bei Gemälden auf Leinwand in einer leichten Bindung, womit dieselbe gesättigt wurde, bei Wänden mit Stein oder Mörtel

aus einem wenige Linien dicken Bewurf bestand, der mit der Steinunterlage zu einer mechanisch völlig untrennbaren Masse sich verbindet. Auf diesem Grund wurde mit eigens präparierten Wasserfarben gemalt, und da diese sich mit dem Grund vereinigen und die Bildfläche schließlich durch Aufspritzen von Wasserglas steinhart gemacht wurde, so glaubte man in diesem Verfahren eine Technik gefunden zu haben, welche besonders Wandgemälde in großen Räumen gegen die nachteiligen Einflüsse des Temperaturwechsels, der Feuchtigkeit etc. unempfindlich machen würde. Doch hat auch die von Seibertz erfundene Vervollkommnung der S. durch Anwendung von trocknen Farben die Erwartungen, welche man von der S. hegte, nicht gerechtfertigt. Der von Kaulbach im Treppenhaus des Neuen Museums zu Berlin in großem Maßstab mit der S. gemachte Versuch hat vielmehr gezeigt, daß die Bildflächen über und über mit störenden Riffen überzogen werden, weshalb man die S. wieder aufgegeben hat.

Stereograph (griech.), eine von Liwtschack zu Wilna erfundene Maschine zur Anfertigung von Stereotypmatrizen ohne vorgängigen Schriftsatz. Die Herstellung der letztern erfolgt durch Einschlagen von Typen, eine nach der andern, in eine präparierte, halbweiche Platte, welche stets um die Breite der eingeschlagenen Type durch den Mechanismus der Maschine weiter geschoben wird, wobei der Arbeiter den Wortlaut des Manuskripts auf einer Tastatur, wie bei den meisten Setzmaschinen, abspielt. Bis jetzt sind technisch befriedigende Resultate mit dem Stereographen nicht erzielt worden.

Stereographie (griech.), perspektivische Zeichnung von Körpern auf einer Fläche.

Stereom (griech.), in der Pflanzenanatomie die Gesamtheit der Gewebe, welche die mechanische Festigkeit eines Pflanzenteils bedingen, nämlich die Bastzellen, das Kollenchym und das Libriform, im

Gegensatz zu dem Mestom (s.d.) oder dem Füllgewebe ohne mechanische Bedeutung.

Stereometer (griech.), Apparat zur Bestimmung des von fester Substanz ausgefüllten Volumens pulverförmiger Körper. Das S. von Say (s. Figur) besteht aus einem Glasgefäß A, dessen eben geschliffener Rand durch eine Glasplatte luftdicht verschlossen werden kann; nach unten setzt sich dasselbe in eine offene, mit einer Teilung versehene Glasröhre fort, deren zwischen zwei Teilstrichen enthaltener Rauminhalt genau bekannt ist. Wird die Röhre, während A offen ist, in ein mit Quecksilber gefülltes Standgefäßbis zum Nullpunkt o der Teilung eingetaucht und die Glasplatte aufgelegt, so ist ein bestimmtes Luftvolumen v abgesperrt, dessen Druck durch den herrschenden Barometerstand b angegeben wird. Zieht man nun das Gefäß A in die Höhe, so dehnt sich die in ihr enthaltene Luft um das an der Teilung abzulesende Volumen w aus, ihr Druck wird geringer, u. der äußere hebt eine Quecksilbersäule h in die Röhre. Nach dem Mariotteschen Gesetz hat man nun die Proportion v+w:v=b:b-h, aus welcher, da w, b und h bekannt sind, v berechnet werden kann. Wiederholt man denselben Versuch, nachdem der pulverförmige Körper, dessen Volumen x bestimmt werden soll, in das Gefäß A gebracht ist, so ist das Volumen der abgesperrten Luft, wenn die Röhre bis zum Nullpunkt eingetaucht ist, v-x. Erhebt man nun die Röhre wieder, bis das Volumen um w zugenommen hat, und wird dabei die Quecksilbersäule h' gehoben, so kann man aus der Proportion v-x+w: v-x=b : b-h' das Volumen x finden. Mittels Division des absoluten Gewichts des Pulvers (in Grammen) durch sein Volumen (in Kubikzentimetern)ergibt sich das spezifische Gewicht desselben. Die Volumenometer von Kopp und Regnault gründen sich auf dasselbe Prinzip und haben dieselbe Bestimmung wie das S.

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Stereometrie - Stereoskop.

Stereometrie (griech., "Körpermessung"), eigentlich die Lehre von der Ermittelung des Inhalts und der Oberfläche der Körper; im weitern Sinn der Teil der Geometrie, welcher sich mit den Gebilden beschäftigt, zu deren Konstruktion alle drei Dimensionen des Raums erforderlich sind, im Gegensatz zur Planimetrie. Vgl. Geometrie.

Stereoskop (griech.), optisches Instrument, welches dazu dient, zwei ebene Bilder desselben Gegenstandes derart zu kombinieren, daß der Beschauer den Eindruck eines körperlichen Gegenstandes erhält. Beim Betrachten naher Gegenstände bietet das Sehen mit zwei Augen ein wesentliches Mittel zur richtigen Schätzung der Entfernungen. Mit dem rechten Auge sehen wir einen nahen Gegenstand auf einen andern Punkt des Hintergrundes projiziert als mit dem linken, und dieser Unterschied wird um so bedeutender, je näher der Gegenstand rückt. Richten wir beide Augen auf einen nicht allzu weit entfernten Punkt, so machen die beiden Augenachsen einen Winkel (Gesichtswinkel) miteinander, der um so kleiner wird, je weiter sich der Gegenstand entfernt. Die Größe

dieses Winkels gibt uns daher ein Maß für die Entfernung der Gegenstände. Wir unterscheiden also beim Sehen mit zwei Augen deutlich, welche Punkte mehr vortreten, und welche mehr zurückliegen. Dazu kommt noch, daß wir nahe Gegenstände mit dem rechten Auge etwas mehr von der einen, mit dem linken Auge etwas mehr von der andern Seite sehen, und daß gerade die Kombination dieser etwas ungleichen Bilder zu einem Totaleindruck wesentlich

dazu beiträgt, die flächenhafte Anschauung des einzelnen Auges zu einer körperlichen, einer plastischen zu erheben. Eine auf einer Fläche ausgeführte Zeichnung oder ein Gemälde kann immer nur die Anschauung eines einzelnen Auges wiedergeben; bietet

man aber jedem Auge das passend gezeichnete Bild eines Gegenstandes dar, so werden sich beide Bilder zu einem einzigen Totaleindruck vereinigen. Wheatstone erreichte diese Vereinigung durch sein Spiegelstereoskop^ (Figur 1). Dasselbe besteht

aus zwei rechtwinkelig gegeneinandergeneigten Spiegeln ab u. a c, deren Ebenen vertikal stehen. Der Beobachter schaut mit dem linken Auge l in den linken, mit dem rechten Auge r in den rechten Spiegel. Seitlich von den Spiegeln find zwei vorschiebbare Brettchen angebracht, welche die umgekehrten perspektivischen Zeichnungen d und e eines Objekts aufnehmen. Durch die Spiegel werden nun die von entsprechenden Punkten der beiden Zeichnungen ausgehenden Strahlen so reflektiert, daß sie von einem einzigen hinter den Spiegeln gelegenen Punkt m zu kommen scheinen. Jedes Auge sieht also das ihm zugehörige Bild an demselben Orte des Raums, und der Beobachter erhält daher den Eindruck, als ob sich daselbst der Gegenstand körperlich befände. Brewster hat die Spiegel dieses Instruments durch linsenartig gebogene Prismen ersetzt, und diese Stereoskope (Fig. 2) sind jetzt allgemein im Gebrauch.

Fig. 1. Wheatstones Spiegelstereoskop.

^ Fig. 2. Brewster Linsenstereoskop.

Eine Sammellinse von etwa 18 cm Brennweite ist durchschnitten; die beiden Hälften A und B sind, mit ihren scharfen Kanten gegeneinander gerichtet, in einem

Gestell befestigt, und am Boden desselben wird das

Blatt, welches die beiden Zeichnungen aa' und bb' (gewöhnlich

photographische Bilder) enthält,

eingeschoben. Durch die Anwendung der Linsenstücke ist es zunächst möglich, die Bilder dem

Auge näher zu bringen; dann aber wirken sie auch wie Prismen, indem die Linsenhälfte vor dem rechten Auge das Bild etwas nach dem linken schiebt, während das Bild der mit dem linken Auge betrachteten Zeichnung etwas nach rechts gerückt erscheint. Auf diese Weise wird das vollständige Zusammenfallen der beiden Bilder bei CC' hervorgebracht. Wenn man durch eine zwischen den Bildern befindliche senkrechte Scheidewand dafür sorgt, daß

jedes Auge nur das ihm zugehörige, nicht aber das für das andre

bestimmte Bild sieht, so ist eine besondere Vorrichtung, um die Bilder zur Deckung zubringen, gar nicht nötig

(S. von Frick). Im S. von Steinhauser mit konkaven Halblinsen muß das für das rechte Auge bestimmte Bild links, das für das linke bestimmte rechts liegen;

die Bilder des Brewsterschen Stereoskops würden darin mit verkehrtem Relief erscheinen. Die Bedeutung der Stereoskope, welche durch die Photographie eine so wesentliche Förderung gefunden haben, ist bekannt; man benutzt sie außer zur Unterhaltung auch zur Veranschaulichung trigonometrischer und stereometrischer Lehrsätze und zum Studium der Gesetze des binokularen Sehens. Dove demonstrierte mit Hilfe des Stereoskops die Entstehung des Glanzes. Ist nämlich die Fläche einer Zeichnung blau und die entsprechende der andern gelb angestrichen, so sieht man sie, wenn man sie im S. durch ein violettes Glas

betrachtet, metallisch glänzend. Weiß und Schwarz

führen zu einem noch lebhaftern Bilde der Art. Auch zur Unterscheidung echter Wertpapiere von unechten hat Dove das S. benutzt. Betrachtet man nämlich die zu vergleichenden Papiere mit dem Instrument, so werden sofort die kleinsten Unterschiede bemerkbar. Die einzelnen Zeichen, die nicht genau mit dem Original übereinstimmen, decken sich nicht und befinden sich anscheinend in verschiedenen Ebenen. Es wurde schon erwähnt, daß der Gesichtswinkel sehr klein wird, wenn wir beide Augen auf einen weit entfernten Punkt richten. Darum vermindern sich die Vorteile des Sehens mit zwei Augen in dem Maß, als die zu beschauenden Gegenstände weiter weg liegen, und verschwinden bereits völlig beim Betrachten einer landschaftlichen Ferne. Die Augen liegen zu nahe, als daß sich einem jeden derselben ein merklich verschiedenes

Bild darstellen könnte. Helmholtz hat deshalb das

Telestereoskop konstruiert, welches dem Beschauer zwei sich deckende Bilder einer Landschaft darbietet, gleich als ob das eine Auge von dem andern mehrere Fuß abstände. Das Instrument besteht aus vier Planspiegeln, welche senkrecht in einem hölzernen Kasten und unter 45° gegen die längsten Kanten desselben geneigt befestigt sind. Das von dem fernen Objekt kommende Licht fällt auf die zwei äußern großen Spiegel, wird von diesen rechtwinkelig auf die beiden

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Stereotomie - Sterigmen.

innern reflektiert und gelangt, nachdem es auch von den kleinen innern Spiegeln rechtwinkelig reflektiert wurde, in die Augen des Beobachters. Jedes Auge erblickt in den kleinen Spiegeln das von den großen Spiegeln reflektierte Bild der Landschaft in einer solchen perspektivischen Projektion, wie sie von den beiden großen Spiegeln aus erscheint. Will man das Bild vergrößern, so kann man die Lichtstrahlen, ehe sie in die Augen gelangen, auch noch durch kleine Fernrohre gehen lassen. Wie man mikroskopische Bilder körperhaft erscheinen lassen kann, ist unter Mikroskop, S. 602, angegeben worden. Vgl. Brewster, The stereoscope (Lond. 1856); Ruete, Das S. (2. Aufl., Leipz. 1867); Steinhauser, Über die geometrische Konstruktion der Stereoskopbilder (Graz 1870).

Stereotomie (griech.), der Teil der Stereometrie, welcher die Durchschnitte der Oberflächen der Körper behandelt, insbesondere der sogen. Steinschnitt, welcher bei Gewölbekonstruktionen in Anwendung kommt. Ihre Darstellungen werden durch die beschreibende Geometrie zur Anschauung gebracht.

Stereotypie (griech.), das Verfahren, von aus beweglichen Lettern gesetzten Druckseiten vertiefte Formen abzunehmen und vermittelst derselben erhöhte, den Satzseiten genau entsprechende Druckplatten zu gewinnen. Die S. bietet sehr große Vorteile dar; ohne sie würde die Schnellpresse bei weitem nicht ihren jetzigen hohen Wert erlangt haben, und das Zeitungswesen hätte nicht annähernd seine gegenwärtige Entwickelung gewinnen können. Die S. ermöglicht jederzeit den Druck neuer Auflagen von den durch sie erzeugten Platten; das Papierstereotypieverfahren bietet sogar die Möglichkeit der Aufbewahrung billiger Matrizen, aus denen bei Bedarf Platten gegossen werden können, reduziert somit ganz außerordentlich die Anlagekosten für Druckwerke. Als erste Erzeugnisse der S. können betrachtet werden die Reproduktionen von Holzschnitten in einem 1483 zu Ulm von Konrad Dinkmut gedruckten Buch: "Der Seele Wurzgarten". Van der Mey und Johann Müller zu Leiden (1700-1716), Ged in Edinburg (1725-49), Valeyre in Paris (1735), Alexander Tilloch und Foulis zu Glasgow (um 1775), F. J. Joseph Hoffmann zu Schlettstadt im Elsaß (1783), der eine Anzahl experimentierender Nachfolger (unter andern Carez in Toul) erhielt, sind nacheinander als Erfinder der S. bezeichnet worden; zu dauernder Verbreitung aber wurde das Verfahren erst gebracht durch Earl Stanhope (s. d. 2) in London (1800) sowie um dieselbe Zeit durch Pierre und Firmin Didot und Herhan in Paris. Zu ihrer heutigen großen Bedeutung gelangte die S. durch die Erfindung von Genoux (1829), welcher die Matrize aus Lagen von Seidenpapier mit einem dazwischengestrichenen Gemisch von Kleister und Schlämmkreide etc. bildete. Bei dem Stanhopeschen oder Gipsverfahren wird die Satzform in einem eisernen Rahmen festgeschlossen (eingespannt) und leicht geölt, worauf der Gips als dünnflüssiger Brei über den Typensatz gegossen und mit Bürste oder Pinsel gehörig eingearbeitet wird. Die Gipsmatrize erstarrt in 15-20 Minuten; sie wird dann abgehoben und in einen Trockenofen gebracht. Der Guß geschieht in sargähnlichen eisernen verschließbaren Pfannen. Auf den Boden der Pfanne wird zuerst eine abgedrehte Eisenplatte gelegt, hierauf die erhitzte Gipsform mit der Bildfläche nach unten und nun der ebenfalls abgedrehte Pfannendeckel, welcher an allen vier Ecken abgestumpft ist, um dem Metall den Einlauf zu gestatten. Das Ganze wird durch einen Bügel geschlossen und mittels eines Krans in den mit flüssigem Metall versehenen Schmelzkessel versenkt; nach erfolgtem Guß wird die Pfanne aufgewunden und auf ein mit nassem Kies angefülltes Kühlfaß abgesetzt. Nach dem völligen Erstarren des Metalls wird die Stereotypplatte gerichtet, auf der Rückseite abgeebnet und an den Rändern bestoßen. Bei dem von Daulé in Paris um 1830 erfundenen Flaschenguß bleibt die Gipsmater in dem nach innen mit einem Vorstoß versehenen Rahmen, welcher hinlänglich groß ist, um noch Raum für einen Nachdruck gebenden Anguß zu gewähren. Nach dem Trocknen bringt man diesen Matrizenrahmen in die Gießflasche, die aus zwei abgeebneten Eisenplatten besteht, von denen die der Bildfläche zugekehrte mit Papier beklebt ist, um das Metall beim Eingießen weniger abzuschrecken. Beide Platten sind unten durch ein Scharnier verbunden und während des Gusses durch einen Schraubenbügel zusammengehalten. Bei dem Papierstereotypieverfahren wird die Matrize aus Seiden- und Schreibpapier angefertigt; zwischen die einzelnen Bogen kommen dünne, gleichmäßig ausgestrichene Schichten eines Breies, der aus gekochter, mit Schlämmkreide oder Magnesia, wohl auch mit Asbest oder China Clay, versetzter Weizenstärke besteht. Auf die mit einem zarten Pinsel oder auch mittels einer mit Flanell bezogenen Walze leicht geölte Form wird dann das Matrizenpapier gelegt und entweder mit einer Bürste gleichmäßig in den Schriftsatz eingeklopft, oder die Form wird mit der Matrize unter eine feststehende Walze geschoben, mit Filzen bedeckt und unter derselben durchgedreht; sodann schiebt man dieselbe mit der darauf befindlichen Papiermatrize in eine erhitzte Trockenpresse und bedeckt sie reichlich mit Filz und Fließpapier zum Aufsaugen der Feuchtigkeit; schon nach 6-8 Minuten ist die Matrize trocken und kann abgenommen werden. Nachdem sie beschnitten, in größern, beim Druck weiß bleibenden Stellen durch Hinterkleben von Pappstückchen oder auch durch Ausfüllen mit einer aus in dünner Gummiarabikumlösung verrührter Schlämmkreide erzeugten, leicht trocknenden Masse verstärkt und ein Eingußstreifen angeklebt worden, kommt sie mit dem Gesicht nach oben in das Gießinstrument, das dem beim Dauléschen Verfahren gebräuchlichen sehr ähnlich ist; ein verstellbarer eiserner Rahmen, Gießwinkel genannt, hält sie glatt und gibt das Maß ab für ihre Dicke, und der Guß kann erfolgen. Das Abschneiden des Angusses, das Anhobeln von Facetten an den Rändern der Platten geschieht in Zeitungsdruckereien mit eigens dafür hergerichteten Maschinen, wodurch eine große Betriebsbeschleunigung ermöglicht wird, so daß z. B. in der Londoner "Times" bei deren Morgenausgabe die letzte Druckplatte innerhalb 8 Minuten, vom Empfang der Satzform seitens des Stereotypeurs ab gerechnet, fertig gestellt werden kann. Für den Kleinbetrieb der Buchdruckereien hat man die S. durch Konstruktion kleiner, kompendiöser Stereotypie-Einrichtungen nutzbar gemacht; diese ermöglichen die Herstellung von Platten bis zu einer gegebenen Größe schon nach kurzer Übung bei geringen Anlagekosten. Vgl. außer den ältern Werken von Camus (Par. 1802) und Westreenen de Tiellandt (Haag 1833): H. Meyer, Handbuch der S. (Braunschw. 1838); Isermann, Anleitung zum Stereotypengießen (Lpz. 1869); Archimowitz, Die Papierstereotypie (Karlsr. 1862); Böck, Die Papierstereotypie (Leipz. 1885); Kempe, Wegweiser durch die S. und Galvanoplastik (das. 1888).

Sterigmen, s. Basidien.